id
stringlengths 3
7
| text
stringlengths 0
372k
| abstract
stringlengths 0
6.22k
| metadata
dict |
---|---|---|---|
c-13900
|
Looping (von englisch loop ‚Schleife‘, ‚Schlinge‘) wird eine Figur des Kunstfluges genannt. Es handelt sich dabei um einen vertikalen Kreis aufwarts oder abwarts. Schaut (zeigt) der Pilot beim Looping mit dem Oberkorper radial in das Innere des Kreises, spricht man von Innenlooping; schaut er hingegen aus dem Kreis heraus, von Außenlooping.
Bezeichnung Die Figur wird im deutschen Sprachraum i. d. R. Looping genannt; die offizielle deutsche Bezeichnung Uberschlag wird in der Praxis kaum verwendet. Im englischen Sprachraum heißt die Figur nicht Looping, sondern Loop; es handelt sich hier um einen Scheinanglizismus.
Geschichte Der Innenlooping wurde erstmals – mit einem Flachenflugzeug – am 27. Augustjul. / 9. September 1913greg. von dem russischen Piloten Pjotr Nikolajewitsch Nesterow geflogen. Im Westen war man lange der Meinung, Adolphe Pegoud habe den ersten Looping geflogen; dies lag an der großen Popularitat des Schaupiloten Pegoud, Nesterow hingegen war ein unbekannter russischer Militarpilot. Aus den militarischen Akten geht hervor, dass Nesterow fur sein Kunststuckchen von seinem Vorgesetzten sogar disziplinarisch bestraft wurde. Am 19. Mai 1914 flog die Russin Lidija Swerewa ihren ersten Looping.
Der erste Außenlooping nach modernem Kunstflugstandard wurde 1928 von Gerhard Fieseler geflogen.
Durchfuhrung Die Figur gehort zu den einfacher zu fliegenden Kunstflugmanovern. Ziel des Wettbewerbspiloten ist es, den Kreis moglichst rund zu fliegen. Der Looping beginnt im raschen Horizontalflug (bei den meisten Flugzeugen um 200 km/h). Um die Figur in einer Ebene zu fliegen, ist, z. B. durch seitlichen Blick zu den Flugelspitzen vor dem Horizont, zu kontrollieren, dass keine Querlage vorhanden ist. Durch koordiniertes Ziehen des Hohenruders wird der Vertikalkreis ausgefuhrt. Im Scheitelpunkt wird das Hohenruder einen Moment nachgelassen, da der Kreis sonst im oberen Bereich einem Ei gleichen wurde. Die g-Belastung bleibt wahrend der gesamten Flugfigur positiv, d. h. der Pilot hangt nie in den Gurten. Anschließend wird das Hohenruder wieder angezogen, um das Flugzeug abzufangen.
Die Schwierigkeit des Loopings besteht darin, ihn wirklich kreisrund zu fliegen. Dabei kommt es (wie bei allen Kunstflugfiguren) darauf an, wie es fur einen Zuschauer am Boden aussieht. Da das Flugzeug im oberen Teil des Loopings langsamer fliegt, muss dort auch die Drehrate kleiner sein. Weiter muss auch ein allfalliger Wind vom Piloten dadurch kompensiert werden, dass er die Drehrate in den verschiedenen Phasen der Figur entsprechend anpasst und bei Seitenwind sogar bewusst schiebt. Da der Pilot keinerlei direkte Anhaltspunkte hat, wie die Figur vom Boden aus aussieht, benotigt es sehr viel Erfahrung, um den Looping in allen Situationen wirklich sauber fliegen zu konnen, da Unsauberkeiten sofort sichtbar wurden. Der Looping ist daher, ungeachtet dessen, wie einfach er aufgebaut ist und von außen betrachtet erscheint, gleichzeitig eine der am schwierigsten sauber zu fliegenden Kunstflugfiguren.
Der Gleichgewichtssinn tauscht dem Piloten statt des Kreises eine hohe Welle vor, was mit der Physiologie der Bogengange zusammenhangt.
Varianten Der Looping kann sowohl mit positivem als auch negativem Lastvielfachen (also nach innen oder außen), und sowohl nach oben als auch nach unten geflogen werden. Je nach Variante ist die Ausgangslage die Normalflug oder die Ruckenfluglage.
Als Varianten des runden Loopings kann auch ein vier- oder achteckiger Looping geflogen werden, wobei diese Bezeichnung eigentlich falsch ist, da es naturlich keine Ecken sind, sondern einfach in einen normalen Looping gerade Strecken eingefugt werden.
Beim Segelflug und bei schwach motorisierten Motorflugzeugen muss die Anfangsgeschwindigkeit groß genug sein, um das Flugzeug auch im oberen Teil des Loopings gut steuern zu konnen. Beim Looping nach unten hingegen darf die Anfangsgeschwindigkeit nicht zu hoch sein, um die Betriebsgrenzen des Flugzeugs nicht zu uberschreiten.
Andere als Flachenflugzeuge = Hubschrauber =
Am 9. Mai 1949 wurde in Bridgeport, Connecticut, USA mit einem Hubschrauber Sikorsky S-52-1 der erste (dokumentierte) Looping geflogen. Der Testpilot Harold E. „Tommy“ Thompson (*1921 – 29. Oktober 2003) flog den Innenlooping fur United Technologies Sikorsky Aircraft mit einem S-52-1 mit erstmals Ganzmetall-Rotorblattern und einem 6-Zylinder-Motor mit 245 HP, nachdem er April und Mai 1948 in Cleveland mit demselben Helikopter drei Geschwindigkeitsrekorde (darunter 129,616 Meilen/Std.) aufgestellt hatte. Er flog insgesamt 10 Loopings knapp uber Grund uber bevolkertem Gebiet und es wurde ihm dafur die Fluglizenz entzogen, die er jedoch rasch zuruck erhielt. Er flog auch einen Looping wenige Fuß uber der Meeresoberflache und flog nach einer Heli-Crash-Notlandung im Fruhling 1950 bis 1979 keinen Hubschrauber mehr.
Mittlerweile wurden mit einer Reihe von Hubschraubertypen Loopings geflogen.
= Segelflugzeug =
Nichtangetriebene Flugzeuge konnen einen Looping nur aus Schwung heraus bewaltigen. Looping aufwarts und abwarts sind im Segelkunstflug moglich.
= Hangegleiter und Gleitschirm =
Mit fortgeschrittenen Drachen und Gleitschirmen wurden ebenfalls schon Loopings geflogen.
= Modellflug =
Loopings konnen auch mit Modellflugzeugen, darunter auch Modellhelikopter ausgefuhrt werden.
= Unbemanntes Luftfahrzeug =
Auch Multikopter-Drohnen konnen Loopings fliegen. Das Manover kann programmiert sein und mit Selbststeuerung durchgefuhrt werden.
Literatur William H. Longyard: Who’s who in aviation history. 500 biographies. Airlife Publishing Ltd, Shrewsbury 1994, ISBN 1-85310-272-5.
Peter Mallinson, Mike Woolard: Handbuch des Segelkunstflugs. Eqip, Konigswinter 2001, ISBN 3-9806773-5-4.
Einzelnachweise Weblinks Empfehlungen fur die Ausbildung im Segelkunstflug des Deutschen Aero Clubs
|
Looping (von englisch loop ‚Schleife‘, ‚Schlinge‘) wird eine Figur des Kunstfluges genannt. Es handelt sich dabei um einen vertikalen Kreis aufwarts oder abwarts. Schaut (zeigt) der Pilot beim Looping mit dem Oberkorper radial in das Innere des Kreises, spricht man von Innenlooping; schaut er hingegen aus dem Kreis heraus, von Außenlooping.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Looping_(Kunstflug)"
}
|
c-13901
|
Die Nymphenfledermaus (Myotis alcathoe) ist eine Fledermausart aus der Gattung der Mausohren. Sie wurde erst 2001 auf Basis genetischer Analysen und morphologischer Merkmale als eigene Art beschrieben. Die Nymphenfledermaus wurde erstmals in Griechenland und Ungarn von einer Forschergruppe um Professor Otto von Helversen nachgewiesen. Sowohl ihr wissenschaftlicher als auch ihr deutscher Name geht auf die griechische Mythologie zuruck. Die Nymphe Alcathoe, Tochter des Minyas, wurde von Dionysos zusammen mit ihren Schwestern in Fledermause verwandelt als Strafe fur ihren Boykott eines zu Ehren von Dionysos veranstalteten Festes. Professor Helversen wahlte diesen Namen, da die Art in einem Gebiet gefunden wurde, das durch abgelegene Schluchten und Ufergeholz dem ahnelt, in welchem sich die Tragodie zugetragen haben soll.
Der erste Nachweis dieser Art in der Schweiz gelang 2002 durch Fange vor einer Hohle im Waadtlander Jura in einer Hohe von 1500 m u. M. Auch in Frankreich und Deutschland wurde diese Art nachgewiesen.
Merkmale Die Nymphenfledermaus ist der Großen Bartfledermaus (Myotis brandtii) und der Kleinen Bartfledermaus (Myotis mystacinus) sehr ahnlich. Jedoch ist sie etwas kleiner als die beiden Bartfledermausarten und unterscheidet sich etwas im Gebiss von ihnen. Des Weiteren ist die Frequenz ihrer Ultraschallortungsrufe hoher als bei allen anderen Arten ihrer Gattung.
Lebensraum Die Nymphenfledermaus bevorzugt naturbelassene, von Wasser durchstromte Gebiete mit altem Mischwaldbestand, wie man sie in Talern oder Alluvialwaldern (Sumpfwalder mit hochstammigen Baumen) finden kann.
Verbreitung Die Art wurde bisher in Europa in Albanien, Bulgarien, Deutschland, Schweden, Frankreich, Griechenland, Polen, Schweiz, Slowakei, Spanien, Ungarn, Großbritannien und in der Turkei nachgewiesen. Der nordlichste deutsche Fund wurde im Kyffhausergebirge gemacht.
Bedrohung Da es sich bei der Nymphenfledermaus um eine relativ neu nachgewiesene Art handelt und uber ihre Verbreitung erst sehr wenig bekannt ist, wurde in der Schweiz noch keine Einstufung in eine Gefahrdungskategorie festgelegt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die Nymphenfledermaus bisher mit den Bartfledermausen verwechselt wurde und da diese als gefahrdet eingestuft sind, gilt dies mindestens auch fur die Nymphenfledermaus. Vor allem die Abhangigkeit von altem Baumbestand stellt ein Problem dar.
Literatur O. von Helversen, K.-G. Heller, F. Mayer, A. Nemeth, M. Volleth, P. Gombkoto: Cryptic mammalian species: a new species of whiskered bat (Myotis alcathoe n. sp.) in Europe. In: Naturwissenschaften. 88, Nr. 5, 2001, doi:10.1007/s001140100225, S. 217–223 (Publikation zum Erstnachweis, englisch).
Petr Benda, Manuel Ruedi, Marcel Uhrin: First record of Myotis alcathoe (Chiroptera: Vespertilionidae) in Slovakia. (PDF-Datei; 192 kB) In: Folia Zoologica. 52, Nr. 4, 2003, S. 359–365 (Publikation zum ersten Nachweis der Nymphenfledermaus in der Slowakei, englisch).
Einzelnachweise Weblinks Myotis alcathoe in der Roten Liste gefahrdeter Arten der IUCN 2009. Eingestellt von: A. M. Hutson, 2008. Abgerufen am 6. November 2009.
Neuzugang auf der Liste der deutschen Fledermausarten. In: Mediendienst Forschung-Aktuell. Nr. 781, 13. Februar 2006 (Pressemitteilung zum Erstnachweis in Deutschland)
news.bbc.co.uk uber Erstnachweise in Großbritannien
Nymphenfledermaus am Kyffhauser
Nationaler Bericht Fledermausschutz 2010 (PDF; 240 kB)
|
Die Nymphenfledermaus (Myotis alcathoe) ist eine Fledermausart aus der Gattung der Mausohren. Sie wurde erst 2001 auf Basis genetischer Analysen und morphologischer Merkmale als eigene Art beschrieben. Die Nymphenfledermaus wurde erstmals in Griechenland und Ungarn von einer Forschergruppe um Professor Otto von Helversen nachgewiesen. Sowohl ihr wissenschaftlicher als auch ihr deutscher Name geht auf die griechische Mythologie zuruck. Die Nymphe Alcathoe, Tochter des Minyas, wurde von Dionysos zusammen mit ihren Schwestern in Fledermause verwandelt als Strafe fur ihren Boykott eines zu Ehren von Dionysos veranstalteten Festes. Professor Helversen wahlte diesen Namen, da die Art in einem Gebiet gefunden wurde, das durch abgelegene Schluchten und Ufergeholz dem ahnelt, in welchem sich die Tragodie zugetragen haben soll.
Der erste Nachweis dieser Art in der Schweiz gelang 2002 durch Fange vor einer Hohle im Waadtlander Jura in einer Hohe von 1500 m u. M. Auch in Frankreich und Deutschland wurde diese Art nachgewiesen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Nymphenfledermaus"
}
|
c-13902
|
Alben William Barkley (* 24. November 1877 bei Lowes, Graves County, Kentucky; † 30. April 1956 in Lexington, Virginia) war ein US-amerikanischer Politiker und von 1949 bis 1953 der 35. Vizeprasident der Vereinigten Staaten wahrend der zweiten Amtszeit von Prasident Harry S. Truman. Außerdem vertrat er den Bundesstaat Kentucky in beiden Kammern des Kongresses.
Leben = Jugend und Ausbildung =
In seinem Taufschein stand noch „Willie“ Alben, als er jedoch selbst rechtlich in der Lage war, ließ er die Reihenfolge andern, da er seinen ursprunglichen ersten Vornamen als schlechtes Omen fur einen jungen Mann aus dem harten Kentucky hielt.
Als Sohn eines Tabakfarmers aus Kentucky ging Barkley bei seiner Ausbildung den schwierigen Weg. Um sich das College und die Universitat leisten zu konnen, musste er nebenbei arbeiten. Nach dem Abschluss am methodistischen Marvin College 1897 in Clinton, Kentucky studierte er in Virginia an der University of Virginia–Law School Rechtswissenschaften.
Barkley war in erster Ehe mit Dorothy Brower verheiratet, mit der er drei Kinder hatte. Nach Dorothys Tod heiratete er Jane Hadley Barkley.
= Anwalt und Bezirksrichter =
Nach Kentucky zuruckgekehrt eroffnete er eine Kanzlei in dem kleinen Ort Paducah. Von 1903 arbeitete er als ermittelnder Staatsanwalt des McCracken County. Die Anekdote, dass er wahrend des Wahlkampfes zu diesem Wahlamt (vergleichbar mit dem Sheriff) auf einem Maultier statt einem Pferd uber die rauen Straßen seiner Heimat geritten sei, dementierte er stets heftig und wiederholte sie in seinen spateren Memoiren. Doch von 1909 bis 1913 amtierte er bereits als Bezirksrichter des dortigen County.
= Kongressabgeordneter und Senator =
Barkley begann seine eigentliche politische Karriere als Demokrat ebenfalls 1913, als man ihn als Abgeordneten fur seinen Heimatstaat in das US-Reprasentantenhaus wahlte, wo er unter den leitenden Einfluss Woodrow Wilsons geriet. Offenbar fand seine Tatigkeit deutlichen Zuspruch bei seinen Wahlern, da er auch in den folgenden sieben Amtsperioden bis 1927 stets in seinem Amt bestatigt wurde.
Wie bei vielen anderen Kongressabgeordneten auch wahlte man ihn nun in die nachsthohere Position, den Senat, wo er bis 1949 seinen Sitz einnahm. Seine politische Reputation war dermaßen groß, dass ihn seine Fraktion von 1937 bis 1947 zu ihrem Parteifuhrer machte. Wahrend der Prasidentschaft Franklin D. Roosevelts war er im Senat der eigentliche Motor von dessen New-Deal-Politik. Die letzten beiden Jahre fungierte er als Minderheitsfuhrer, da nach den dazwischenliegenden Wahlen nun die Demokraten die Minderheit (45:52 Sitze) im Senat innehatten.
= Vizeprasidentschaft (1949–1953) =
Im Vorfeld der Prasidentschaftswahl 1948 wahlte Prasident Harry S. Truman ihn als Running Mate aus. Obwohl vieles fur einen Sieg der Republikaner Thomas E. Dewey und Earl Warren sprach, konnten die beiden Demokraten letztlich den Sieg erringen. Den Amtseid als Vizeprasident legte er am 20. Januar 1949 ab. Dank seiner langen politischen Erfahrung in beiden parlamentarischen Hausern konnte Barkley in der Folge ein großes Geschick bei der Leitung des Senats, dem er kraft seines Amtes als Prasident vorstand, unter Beweis stellen und somit Truman, der uber weniger vergleichbare Erfahrungen in der Bundespolitik verfugte, geschickt entlasten. Dabei genoss er dessen personliches Vertrauen und konnte als einer der ersten Vizeprasidenten sowohl politisches Profil als auch Geschick aufweisen.
Dank seiner eigenen Indiskretion bei einer Pressekonferenz war Barkley bald in der Offentlichkeit nur noch unter dem Spitznamen „The Veep“, den ihm sein Enkel gegeben hatte, anstelle des formlichen „Mr. Vice President“ bekannt; Alben verstand diesen Namen als Auszeichnung. Bezeichnenderweise war er der erste Vizeprasident, der dem Nationalen Sicherheitsrat vorsaß und auch offiziell bei der Ausarbeitung der gesamten Politik Trumans mitbestimmte.
Nachdem Prasident Truman bei der Wahl von 1952 auf eine weitere Kandidatur verzichtet hatte, endete mit Ablauf der Amtsperiode zum 20. Januar 1953 auch Barkleys Amtszeit. Sein Nachfolger als Vizeprasident wurde der Republikaner und spatere US-Prasident Richard Nixon. Nach Trumans Verzicht im Fruhjahr 1952 hatte Barkley zeitweise mit dem Gedanken einer eigenen Kandidatur fur das Weiße Haus gespielt, allerdings zeigte sich dafur innerparteilich nicht ausreichend Unterstutzung. Mit knapp 75 Jahren wurde der Vizeprasident von vielen auch als zu alt angesehen. Dank seiner langjahrigen Verdienste, Erfahrungen und Popularitat hatte er moglicherweise Chancen gehabt, aber eine deutliche Kritik an seinem hohen Alter ließ ihn diese Erwagung tief verletzt zuruckziehen. Kandidat der Demokraten wurde stattdessen der Gouverneur von Illinois, Adlai E. Stevenson, der hingegen Dwight D. Eisenhower unterlag. Nach Ende der Vizeprasidentschaft zog sich Barkley vorubergehend ins Privatleben zuruck.
= Ruckkehr in den Senat und Tod =
Knapp zwei Jahre nach Ende seiner Vizeprasidentschaft wurde „The Veep“ im November 1954 dank seiner Popularitat erneut fur Kentucky in den Senat gewahlt. Dabei konnte er den amtierenden Senator von den Republikanern, John Sherman Cooper, mit 54,5 Prozent der Stimmen schlagen. Dieses Mandat trat er im Januar 1955 an und ubte es aus, bis er am 30. April 1956 78-jahrig an einem Herzinfarkt starb.
Seinen Senatssitz ubernahm ubergangsweise Robert Humphreys, ehe Barkleys Vorganger Cooper dieses Mandat im Rahmen einer Sonderwahl Ende 1956 zuruckeroberte.
Ehrungen Die Michigan State University verlieh ihm 1950 die Ehrendoktorwurde. Außerdem verlieh ihm ebenfalls 1950 der US-Kongress die Congressional Gold Medal, die ihm Prasident Truman uberreichte.
Literatur Jules Witcover: The American Vice Presidency: From Irrelevance to Power. Smithsonian Books, Washington, D. C. 2014, ISBN 978-1-58834-471-7, S. 337–347 (= 35. Alben W. Barkley of Kentucky).
Alben W. Barkley, That Reminds Me, Garden City/New York 1954
Mark O.Hatfield, Vice Presidents of the United States, 1789-1993, Washington: United States Government Printing Office 1997, S. 423–429.
Libbey, J. K., Dear Alben, Mr. Barkley of Kentucky, Lexington/Kentucky 1979
Weblinks Alben W. Barkley im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Alben W. Barkley im Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch)
Alben W. Barkley in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
Zeitungsartikel uber Alben W. Barkley in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Einzelnachweise
|
Alben William Barkley (* 24. November 1877 bei Lowes, Graves County, Kentucky; † 30. April 1956 in Lexington, Virginia) war ein US-amerikanischer Politiker und von 1949 bis 1953 der 35. Vizeprasident der Vereinigten Staaten wahrend der zweiten Amtszeit von Prasident Harry S. Truman. Außerdem vertrat er den Bundesstaat Kentucky in beiden Kammern des Kongresses.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Alben_W._Barkley"
}
|
c-13903
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/US-Vizepräsident"
}
|
||
c-13904
|
Harry S. Truman (* 8. Mai 1884 in Lamar, Missouri; † 26. Dezember 1972 in Kansas City, Missouri) war ein US-amerikanischer Politiker der Demokratischen Partei und von 1945 bis 1953 der 33. Prasident der Vereinigten Staaten. Zuvor war er 1945 kurzzeitig Vizeprasident und vertrat zwischen 1935 und 1945 den Bundesstaat Missouri im US-Senat.
Harry Truman trat erst spat in die aktive Politik ein. Zunachst war er als Farmer tatig und nahm 1918/19 freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Scheitern seiner geschaftlichen Aktivitaten als Mitinhaber eines Herrenausstatters Anfang der 1920er Jahre ging der Demokrat Truman durch Initiative des lokalen Parteifuhrers Tom Pendergast in die regionale Politik, wo er ab 1927 Leiter der County-Verwaltung war. Auf Pendergasts Betreiben gelang ihm 1934 der Sprung in den US-Senat, dem er nach einer Wiederwahl 1940 noch bis Anfang 1945 angehorte. Durch den Vorsitz des Ausschusses fur die Rustungsproduktion wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde er uberregional bekannt, was ihm den Weg zur demokratischen Vizeprasidentschaftskandidatur bei der Wahl 1944 an der Seite Franklin D. Roosevelts ebnete. Allerdings amtierte er nur zwischen Januar und April 1945 als Vizeprasident; nach dem Tod Roosevelts musste er selbst die Prasidentschaft ubernehmen.
Wahrend das Deutsche Reich wenige Wochen nach seinem Amtsantritt kapitulierte, wurde der Pazifikkrieg erst nach den bis heute umstrittenen Atombombenabwurfen auf Hiroshima und Nagasaki beendet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen schon bald die politischen Spannungen mit der Sowjetunion zu, was zu einer Teilung Europas fuhrte und den Kalten Krieg begrundete. Truman begegnete dieser neuen Weltlage mit der Truman-Doktrin von 1947, die eine „Eindammung“ des Kommunismus forderte (Containment-Politik). Ab 1948 leisteten die USA mit dem Marshallplan umfassende okonomische Hilfen fur weite Teile Europas. Wahrenddessen wurde die Weiterentwicklung der Nuklearwaffen vorangetrieben.
Obwohl im Vorfeld der Prasidentschaftswahl 1948 mit Trumans Niederlage gerechnet wurde, konnte er sich uberraschend gegen seinen republikanischen Widersacher Thomas E. Dewey durchsetzen. Nach seiner Wiederwahl nahmen die politischen Verwerfungen mit dem Ostblock zu. Der Koreakrieg (1950–1953) wurde der erste Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt. Nach der unter US-Fuhrung erfolgten Intervention mit UN-Mandat gelang es nicht, den verlustreichen Krieg noch wahrend Trumans Amtszeit zu beenden. Innenpolitisch trat Truman mit seinem Fair Deal fur eine Fortsetzung des New Deals und eine progressive Politik ein. Seine Vorhaben, die unter anderem eine Ausweitung des Sozialstaates vorsahen, wurden aber wegen des Widerstands von konservativen Kraften im Kongress nur bedingt umgesetzt. Wegweisend war jedoch sein Eintreten fur die Rechte von Afroamerikanern, indem er 1948 mit dem Abbau der Rassentrennung in den Streitkraften begann. Fur die Wahl 1952 verzichtete Truman auf eine weitere Kandidatur und schied im Januar 1953 aus dem Prasidentenamt aus. Danach zog er sich bis zu seinem Tod 1972 ins Privatleben zuruck.
Obwohl Truman wahrend seiner Prasidentschaft als außerst unpopular galt, gehort er im 21. Jahrhundert bei Umfragen unter Amerikanern zu den beliebtesten US-Prasidenten. Auch die meisten Historiker bewerten seine Amtszeit heute uberwiegend sehr positiv.
Leben bis zur Prasidentschaft = Herkunft und Jugend =
Harry S. Truman wurde am 8. Mai 1884 in Lamar, Missouri geboren. Er stammte aus sehr einfachen Verhaltnissen; sein Vater John Anderson Truman (1851–1914) war ein Farmer, seine Mutter Martha Ellen Young Truman (1852–1947) war Hausfrau. Harry war das erste Kind der Eheleute Truman, nach ihm folgten noch ein Bruder und eine Schwester. Er hatte englische, schottische und irische Vorfahren.
Das „S“ in Harry S. Truman ist keine Abkurzung fur einen zweiten Vornamen, sondern ein Initial, das von den Namen seiner beiden Großvater (Anderson Shipp Truman und Solomon Young) herruhrt; eine im Suden der USA seinerzeit ubliche Weise, der eigenen Vorfahren zu gedenken. Da sich Trumans Eltern nicht entscheiden konnten, ob sie den Mittelnamen Shipp oder Solomon wahlen sollten, verwendeten sie bloß das Initial. Obwohl das „S“ somit keine Abkurzung ist, setzte Truman selbst einen Punkt dahinter.
Im Jahr 1890 ließ sich die Familie Truman im einige Kilometer entfernten Independence nieder, wo Harry die High School besuchte. Diese schloss er 1901 mit Erfolg ab. Im Anschluss war er fur kurze Zeit auf einer kaufmannischen Schule, allerdings kehrte er nach kurzer Zeit zu seinen Eltern zuruck, als sein Vater bei einer Weizen-Spekulation sein gesamtes Vermogen verlor.
= Beruf und militarische Laufbahn =
Von 1903 bis 1906 arbeitete er als Bankangestellter in Kansas City, Missouri, um dann seinem Vater beim Aufbau einer neuen Farm zu helfen. Nach dem Tod des Vaters 1914 ubernahm er die Leitung der Farm und versuchte parallel, mit risikoreichen Investitionen in eine Zinkmine und Olbohrungen Geld zu verdienen; beide Projekte schlugen fehl. Stattdessen bewirtschaftete er weiter die Farm und konnte sich mit Viehzucht und dem Anbau von Getreide ein bescheidenes Auskommen sichern. Auf der Farm arbeitete auch sein Bruder mit seiner Familie mit.
Im Jahr 1905 trat Truman der Nationalgarde bei. Er hoffte zunachst auf eine weitreichende militarische Ausbildung, allerdings wurde er aufgrund seiner Sehschwache ausgemustert, womit er nicht fur eine Laufbahn bei den US-Streitkraften in Frage kam. Truman war schon als Kind auf das Tragen einer Brille angewiesen. Im Jahr 1917 meldete er sich freiwillig zum Dienst in der US Army. Zuvor hatte er einen erneuten Sehtest zu absolvieren. Diesen bestand er jedoch, nachdem es ihm gelang, ohne das Wissen des Prufers die Buchstaben und Zahlen auf der Tafel auswendig zu lernen. Mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg wurde er in Europa eingesetzt und im Laufe des Krieges zum Artillerie-Offizier befordert. Er befehligte im November 1918 eine Batterie des 129. Feldartillerieregiments, die noch wenige Stunden vor dem Ende des Ersten Weltkriegs (Waffenstillstand am 11. November um 11 Uhr) Granaten verschoss. Nach Ruckkehr in die USA nahm er 1919 als Hauptmann seinen Abschied von der US Army.
Nach seiner Heimkehr aus dem Krieg in die Vereinigten Staaten heiratete er am 28. Juni 1919 seine Jugendliebe Bess Wallace (1885–1982). Aus der Ehe ging eine Tochter, Margaret (1924–2008), hervor. Margaret wurde spater Schauspielerin und Autorin; unter anderem veroffentlichte sie auch eine Biografie ihres Vaters.
Gemeinsam mit seinem engen Freund Edward Jacobson eroffnete Truman nach seiner Ruckkehr aus Europa ein Herrenbekleidungsgeschaft in Kansas City, dem maßiger Erfolg beschieden war. Nach einer nationalen Wirtschaftsflaute 1921 waren Truman und Jacobson ein Jahr spater gezwungen, das Geschaft aufzugeben. Am Ende blieben 25.000 US-Dollar Schulden, die Truman in den folgenden Jahren zuruckzahlen musste.
= Politische Anfange =
Bereits in der ersten Halfte der 1910er-Jahre begann Truman sich mehr fur die Politik zu interessieren. Die Begeisterung fur die fortschrittliche Politik von Prasident Woodrow Wilson brachte ihn schon bald zur Demokratischen Partei. Sein politisches Interesse und die Unterstutzung des Prasidenten waren zwei der Hauptgrunde Trumans, sich zum Dienst bei der Armee zu melden. Unterstutzt von Tom Pendergast, dem zu dieser Zeit einflussreichsten Mitglied der Demokraten aus Kansas City, wurde Truman 1922, nach dem Scheitern seiner geschaftlichen Aktivitaten, zum Judge of the County Court of Jackson County. Truman und Pendergast lernten sich bereits wahrend seiner Laufbahn bei der Armee kennen, nachdem Pendergasts Neffe gemeinsam mit Truman den Dienst absolviert hatte. Seine Wahl verdankte er neben Pendergast vor allem seiner Bekanntheit als Hauptmann im Ersten Weltkrieg; so konnte er sich auf die Unterstutzung ehemaliger Kameraden verlassen, von denen er viele aus der Region personlich kannte. Nach der zweijahrigen Amtszeit, in der er vor allem mit Verwaltungstatigkeiten betraut war, wurde er angesichts der starken Trends zur Republikanischen Partei im Jahr 1924 nicht wiedergewahlt. Danach war er fur zwei Jahre erneut auf der Familienfarm tatig.
Ende 1926 wurde Truman zum Presiding Judge von Jackson County gewahlt. Auch bei diesem Wahlerfolg half ihm sowohl seine Bekanntheit als ehemaliger Hauptmann als auch Tom Pendergast. Obwohl die wortliche Ubersetzung ins Deutsche „Vorsitzender Richter“ ware, handelte es sich nicht um eine juristische Tatigkeit. In anderen Bundesstaaten wird die Bezeichnung County Executive gebraucht, was in Deutschland etwa einem Landrat entspricht. Auf diesem Posten war er unter anderem fur die Erhaltung und den Bau der Infrastruktur verantwortlich. Truman legte seinen Fokus hier besonders auf die Kreisstraßen, Brucken und das Abwassersystem. Mit Unterstutzung der lokalen Parteifuhrung der Demokraten gelang es ihm auch, die Verwaltung umzustrukturieren und zu modernisieren. Allerdings waren die finanziellen Mittel fur die Durchfuhrung solcher Projekte zum Ende seiner Amtszeit begrenzt, da das Land seit 1929 unter der Weltwirtschaftskrise litt.
Im Jahr 1933 wurde Truman zum Leiter eines von der Bundesregierung unter Prasident Franklin D. Roosevelt initiierten Arbeitsbeschaffungsprogramm ernannt (er blieb jedoch zugleich Leiter der County-Verwaltung). Diese Beforderung hatte er erneut Pendergast zu verdanken. Diesem war es von der US-Regierung zugestanden worden, den Leiter des Programms zu bestimmen, nachdem er im Zuge der Prasidentschaftswahl 1932 einen wesentlichen Beitrag zum guten Abschneiden der Demokraten in der Region Kansas City geleistet hatte. Wahrend seiner Tatigkeit als Direktor des Programms trat Truman als engagierter Unterstutzer des Prasidenten und dessen Reformen im Rahmen des New Deal auf.
= Werdegang im Senat =
Im Jahr 1934 wollte sich Truman nicht erneut fur den Posten als Leiter der County-Verwaltung bewerben. Sein Mandat lief im Januar 1935 aus. Er fasste stattdessen eine Kandidatur als Gouverneur von Missouri oder das US-Reprasentantenhaus ins Auge. Pendergast, dessen Unterstutzung aufgrund seines Einflusses in der lokalen Parteiorganisation praktisch unumganglich war, zeigte sich jedoch nicht willens, Trumans Bestrebungen zu fordern. Nachdem in den lokalen Medien schon Trumans Ruckzug auf die Familienfarm erwartet wurde, erklarte sich Pendergast bereit, eine Kandidatur des scheidenden County-Verwaltungsleiters fur den US-Senat zu unterstutzen. Zuvor hatten vier Wunschkandidaten Pendergasts eine Bewerbung fur den Senat ausgeschlossen. Truman zeigte sich interessiert an einem derartigen Unterfangen, obgleich seine Frau Bess, die zeit ihres Lebens fur ihre Abneigung gegen das offentliche Leben bekannt war, von den Planen ihres Mannes anfangs wenig begeistert war.
Bei den parteiinternen Vorwahlen der Demokraten im Sommer 1934 konnte sich Truman dank der starken Wahlermobilisierung in Jackson County gegen zwei weitere Bewerber durchsetzen. Die eigentliche Wahl am 6. November 1934 konnte er gegen den republikanischen Amtsinhaber Roscoe C. Patterson mit 59 gegen 39 Prozent der Stimmen souveran fur sich entscheiden. Hauptverantwortlich fur seinen Sieg war die nationale Abkehr von der Republikanischen Partei, die fur die anhaltende Wirtschaftsdepression verantwortlich gemacht wurde. Die Demokraten unter Prasident Roosevelt erweckten mit den New-Deal-Reformen in der Bevolkerung neue Hoffnungen auf eine bessere Zukunft.
Am 3. Januar 1935 wurde Truman als neuer Senator vereidigt. Mit 50 Jahren trat er damit vergleichsweise spat ein hoheres politisches Amt an. Im Kongress wurde er von Senatskollegen zunachst argwohnisch als der „Senator von Pendergast“ bezeichnet, da Pendergasts Ansehen aufgrund seiner Spielsucht und Verbindungen zur Mafia Mitte der 1930er allmahlich im Schwinden begriffen war. Truman hatte sich zwar von Pendergasts illegalen Aktivitaten, in die er selbst nicht verwickelt war, distanziert und betont, im Senat nach eigenem Ermessen und nicht nach Pendergasts Willen abzustimmen, zeigte sich aber dennoch personlich loyal gegenuber „Boss Pendergast“, dessen Gesundheitszustand sich nach und nach verschlechterte. Nach seinem Amtsantritt trat Senator Truman als energischer Befurworter der Regierungspolitik Roosevelts auf und unterstutzte den New Deal. So sprach er sich gegen Spekulationsexzesse an der Wall Street aus, die zur Wirtschaftsdepression gefuhrt hatten und eine starkere Regulierung des Bankenwesens unumganglich machen wurden. Er teilte damit die Uberzeugung des Prasidenten, die Regierung habe das Recht, die Wirtschaft im Interesse der Allgemeinheit starker zu regulieren. Auch beklagte er einen zu großen Einfluss einzelner Interessengruppen aus den Großkonzernen. So war er auch fur die Aufdeckung von illegalen Aktivitaten von Eisenbahn-Unternehmen im Zuge einer Senatsuntersuchung verantwortlich.
Als 1940 die nachste Wahl fur sein Senatsmandat anstand, ging Truman durch seine Verbindung zu Pendergast, der im Jahr zuvor wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde, politisch geschwacht ins Wahljahr. Bei den demokratischen Vorwahlen sah er sich sowohl dem Gouverneur Missouris Lloyd C. Stark als auch dem Bezirksstaatsanwalt Maurice M. Milligan gegenuber, die Trumans Ablosung anstrebten. Truman konnte sich bei den Vorwahlen aber mit 40 Prozent der Stimmen gegen Stark (39 Prozent) und Milligan (19 Prozent) außerst knapp durchsetzen und wurde fur seine Partei erneut nominiert. Sein Vorsprung gegenuber Stark betrug lediglich rund 8.000 Stimmen aus uber 655.000 abgegebenen Voten. Die Senatswahl am 5. November 1940 gewann er dann ebenfalls: Mit 51,2 Prozent der Stimmen schlug er den republikanischen Staatssenator Manvel H. Davis recht eng, fur den sich 48,7 Prozent der Wahler aussprachen. Im Januar 1941 trat er eine weitere Wahlperiode als Vertreter Missouris im US-Senat an.
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Europa wandte sich Truman zusehends auswartigen Angelegenheiten zu. Nach seinem Wahlsieg ubernahm er den Vorsitz des Senatsausschusses, der fur die Uberwachung der Kriegsproduktion zustandig war. Mit dem Eintritt seines Landes in den Zweiten Weltkrieg nach dem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 gewann dieser Posten erheblich an Bedeutung (die USA hatten jedoch schon zuvor im Rahmen des Leih- und Pachtgesetzes Kriegsguter sowohl an den engen Verbundeten Großbritannien wie auch an die Sowjetunion geliefert, die sich im Krieg mit Hitlers Drittem Reich befanden). Das von Truman geleitete Komitee, das schon bald nach ihm benannt wurde, erlangte Anfang der 1940er-Jahre rasch nationale Bekanntheit, nachdem die Arbeitsgruppe auch Ressourcenverschwendung an den Pranger gestellt hatte. Wie der Historiker Herman-Joseph Rupieper feststellt, „ubte das Truman-Komitee auf eine konstruktive, nicht sensationsheischende Art Kritik und wurde sehr schnell von unterschiedlichen politischen Gruppen und Institutionen akzeptiert“. Auch auf die Unterstutzung Prasident Roosevelts konnte das Truman-Komitee zahlen.
Mit dem sich spatestens ab 1944 abzeichnenden Sieg der Alliierten uber das Deutsche Reich sprach sich Truman wie auch Roosevelt fur die Schaffung einer neuen internationalen Institution aus, was spater zur Grundung der Vereinten Nationen fuhrte. Truman verstand sich seit Beginn seines politischen Interesses als Internationalist und befurwortete schon nach dem Ende des Ersten Weltkrieges den von Prasident Woodrow Wilson vorgeschlagenen Volkerbund. Dessen Nicht-Ratifikation durch den US-Senat im Jahre 1919 betrachtete Truman als schweren Fehler. Doch anders als nach dem Ersten Weltkrieg schwand nun der Einfluss der isolationistischen Politiker im Kongress erheblich.
= Vizeprasidentschaft =
Im Vorfeld der Prasidentschaftswahl 1944 bewarb sich Prasident Roosevelt um eine nie dagewesene vierte Amtsperiode; 1944 gab es noch keine gesetzliche Beschrankung auf zwei Amtsperioden. Innerhalb der demokratischen Parteifuhrung wurde jedoch Unmut uber den bisherigen Vizeprasidenten Henry A. Wallace laut, der als zu linkslastig galt und dem Sympathien fur den sowjetischen Diktator Josef Stalin nachgesagt wurden. Die Fuhrungsgremien der Partei strebten daher eine Ablosung Wallaces nach der anstehenden Wahl an, obwohl dieser bei vielen Stammwahlern der Demokraten popular war. Im Sommer 1944 gab Roosevelt, der personlich seinem bisherigen Stellvertreter nahestand, dem Druck der Parteifuhrung nach und stimmte einer Neubesetzung des Amtes zu, ohne allerdings einen Wunschkandidaten fur Wallaces Nachfolge zu benennen. Fur die demokratische Parteifuhrung war Truman die erste Wahl als neuer Vizeprasident. Obwohl er im Kongress nicht zu den engsten Vertrauten des Prasidenten gehorte, war er als loyaler Unterstutzer von dessen Politik angesehen. Schlussendlich war auch der Prasident einverstanden, mit Truman als neuen Vizekandidaten in den Wahlkampf zu ziehen. Truman selbst bewarb sich nicht aktiv um den Posten, lehnte das Angebot aber nicht ab. In seiner Kandidatur sah er vor allem die Chance, den Ruf als „der Senator von Pendergast“ endgultig abzulegen. Auf dem demokratischen Parteitag im Juli 1944 wurde Truman dann als Running Mate Roosevelts nominiert. In der Schlussabstimmung sprachen sich 1.031 der Delegierten fur ihn aus, wahrend nur 105 Amtsinhaber Wallace favorisierten. Seine Nominierung wurde in Anspielung auf seine Herkunft als Second Missouri Compromise („zweiter Missouri-Kompromiss“) bezeichnet.
In die Wahlkampagne der Demokraten war Truman aktiv eingebunden, so absolvierte er eine Reihe von Wahlkampfauftritten in den gesamten Vereinigten Staaten. Die Wahl am 7. November endete mit einem komfortablen Sieg fur das demokratische Gespann: Sie erhielten 53,4 Prozent der Stimmen. Im Wahlmannergremium verbuchte das demokratische Team mit 432 gegen 99 Stimmen eine satte Mehrheit. Insgesamt hatten Roosevelt und Truman in 36 US-Bundesstaaten eine Mehrheit erreicht. Die Republikaner waren mit ihrem Kandidaten Thomas E. Dewey und dessen Running Mate John W. Bricker unterlegen.
Roosevelt begann seine vierte Amtszeit turnusgemaß am 20. Januar 1945. An diesem Tag legte Truman vor dem Weißen Haus den Amtseid als US-Vizeprasident ab; drei Tage zuvor legte er sein Senatsmandat offiziell nieder. Wahrend Roosevelt vor allem mit der Kriegsfuhrung und den politischen Fragen des nahenden Kriegsendes in Europa befasst war, gehorte Truman nicht zum engeren Machtzirkel um den Prasidenten. So wurde er bei den Konsultationen der Regierung zu den Kriegsangelegenheiten nicht naher eingebunden. Selbst vom streng geheimen Manhattan-Projekt, der Entwicklung von Kernwaffen, erfuhr er bis zu seinem Amtsantritt als Prasident nichts. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt nahm der Vizeprasident am Begrabnis von Tom Pendergast teil. In der Offentlichkeit wurde dies zum Teil kritisch gesehen, nachdem Pendergasts Ansehen in den letzten Jahren stark beschadigt war. Da er als Vizeprasident kraft seines Amtes auch Prasident des Senats war, leitete Truman dort mehrere Sitzungen. Ansonsten blieb Trumans Vizeprasidentschaft aufgrund ihrer kurzen Dauer relativ ereignislos.
Prasidentschaft (1945–1953) = Erste Amtszeit =
Amtsubernahme Am 12. April 1945 starb der seit geraumer Zeit gesundheitlich angeschlagene Roosevelt in seinem Haus in Georgia an einer Hirnblutung. Truman wurde am Abend des Tages ins Weiße Haus gerufen, wo ihn Eleanor Roosevelt vom Tod des Prasidenten unterrichtete. Diese Konversation blieb vor allem durch die Erwiderung der fruheren First Lady in Erinnerung, die auf Trumans Frage „Gibt es irgendetwas, das ich fur Sie tun kann?“ antwortete: „Gibt es irgendetwas, das wir fur Sie tun konnen? Denn Sie sind jetzt derjenige, der in Schwierigkeiten steckt.“
Gemaß der Verfassung der Vereinigten Staaten wurde Truman, nach nur 82 Tagen als Vizeprasident, umgehend im Beisein des Kabinetts als neuer Prasident vereidigt. Das Amt des Vizeprasidenten blieb fur die gesamte verbleibende Amtszeit bis Januar 1949 vakant, da die gesetzliche Grundlage fur die Ernennung eines neuen Vizeprasidenten damals noch fehlte. Die Reaktion in Offentlichkeit und Ausland auf den neuen Prasidenten war sehr gespannt, da Truman weder in der US-Bevolkerung noch den internationalen Partnern und Kriegsgegnern besonders bekannt war.
Nach seinem Amtsantritt blieben die Minister Roosevelts auf Bitten des neuen Prasidenten zunachst auf ihren Posten. Allerdings war mit Ausnahme von James V. Forrestal als Marineminister (und spater als Verteidigungsminister) bereits Ende des Jahres 1945 das Kabinett komplett umgebildet. Truman, der nicht zum engeren Machtzirkel um Roosevelts Kabinett gehorte, ersetzte die Ressortschefs nach und nach mit Politikern seines Vertrauens. 1947 wurde außerdem das Marineministerium in eine Unterbehorde des neu geschaffenen Verteidigungsministeriums umgewandelt; diesen Status erhielt auch das Heeresamt als Nachfolgebehorde des Kriegsministeriums. Nur der Verteidigungsminister besaß fortan noch Kabinettsrang.
Ende des Zweiten Weltkrieges und Atombombenabwurfe Als Truman die Fuhrung seines Landes ubernahm, war der Zweite Weltkrieg auf dem europaischen Schauplatz bereits kurz vor dem Ende. Die endgultige Niederlage des Deutschen Reiches war nur noch eine Frage von wenigen Wochen. An der militarischen Strategie seines Vorgangers hielt er fest; der Krieg sollte bis zur bedingungslosen Kapitulation des NS-Regimes fortgefuhrt werden. Hitlers Hoffnung auf einen Zerfall der alliierten Kriegsallianz nach Roosevelts Tod hatte sich nicht erfullt. Am 8. Mai 1945, seinem 61. Geburtstag, verkundete Truman uber das landesweite Fernsehen und Radio das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa. Am selben Tag zog er auch offiziell ins Weiße Haus ein.
Truman unterstutzte die Idee der Vereinten Nationen, deren Grundungsurkunde er im Juni 1945 unterzeichnete und an deren Grundungskonferenz er im selben Monat in San Francisco teilnahm.
Im Juli 1945 reiste der neue Prasident nach Potsdam zur dortigen Konferenz mit dem sowjetischen Parteichef Josef Stalin und dem britischen Premierminister Winston Churchill, welchen Clement Attlee nach Churchills Abwahl wahrend der Konferenz ersetzte. Am Ende der Konferenz stand das Potsdamer Abkommen, das unter anderem die Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen vorsah.
Auch nach dem Ende des Kriegs in Europa dauerten auf dem pazifischen Schauplatz die Kampfe mit dem Kaiserreich Japan (Pazifikkrieg) unvermindert an. Die USA arbeiteten seit geraumer Zeit am sogenannten Manhattan-Projekt zur Entwicklung von Atombomben. Dieses Projekt war so geheim, dass Truman erst nach seinem Amtsantritt als Prasident umfassend daruber informiert wurde. Wahrend seines Aufenthaltes in Potsdam wurde er am 16. Juli 1945 unterrichtet, dass mit dem Trinity-Test in der Wuste New Mexicos die erste nukleare Explosion ausgelost worden war. Dieser erfolgreiche Atombombentest warf rasch die Frage auf, ob diese neue Waffe gegen Japan eingesetzt werden sollte. Prasident Truman ordnete Anfang August die Atombombenabwurfe auf Hiroshima und Nagasaki an. Es war bis heute der einzige Einsatz von Atomwaffen in einer kriegerischen Auseinandersetzung. Insgesamt starben durch die beiden Atombomben etwa 155.000 Menschen sofort und 90.000 bis 140.000 Menschen an den unmittelbaren Folgen. Nach einigen Schatzungen starben bis 1950 etwa 200.000 Menschen aufgrund von Krebs und anderen Langzeitschaden. Nach dem Abwurf der zweiten Bombe am 9. August kapitulierte Japan bedingungslos. Die offizielle Kapitulation Japans erfolgte am 2. September 1945. Damit war der Zweite Weltkrieg endgultig beendet.
Als Alternative fur den Einsatz der Atombomben wurde in jener Zeit eine militarische Intervention auf die japanischen Hauptinseln gesehen. Truman lehnte diese jedoch ab, nachdem er zur Uberzeugung gelangt war, dass ein Einsatz der Atombomben den Krieg schneller beenden und das Leben amerikanischer Soldaten schonen wurde. Dieser Sachverhalt bleibt bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen. Kritiker sind der Uberzeugung, Japan habe kurz vor der Kapitulation gestanden und der Einsatz der Atombomben sei uberflussig gewesen. Nach ihrer Auffassung habe Truman lediglich die neu entwickelte Waffe unter realen Bedingungen testen und die neue militarische Starke der USA, vor allem gegenuber der Sowjetunion, demonstrieren wollen. Mit einer solchen Demonstration amerikanischer Militarmacht habe man Moskau davon abhalten wollen, die Nachkriegsordnung in Japan mitzubestimmen, indem die Kapitulation des Kaiserreichs vor einem Kriegseintritt der UdSSR vollzogen wurde. Andere Historiker argumentieren, Japan sei noch lange nicht zur Kapitulation bereit gewesen, was eine US-Intervention unausweichlich gemacht habe. Damalige Schatzungen gingen, basierend auf den Erfahrungen mit Kampfen um kleinere japanische Inseln, davon aus, dass eine solche Intervention auf den Hauptinseln auf beiden Seiten mehr Todesopfer gefordert und den Krieg um Monate oder Jahre verlangert hatte.
Innenpolitik der Nachkriegsjahre Bis zum Spatsommer 1945 hatte das Kriegsgeschehen nahezu vollstandig die US-Politik uberlagert. Mit der japanischen Kapitulation konnte Truman seinen Fokus nun verstarkt auf die Innenpolitik richten. Der Kriegseintritt hatte die USA Anfang der 1940er-Jahre endgultig aus der Great Depression geholt, es kam zu einem Wirtschaftsboom. Mit dem Kriegsende gab es, wie sich herausstellte falschlicherweise, Befurchtungen, die okonomische Situation konne sich wieder verschlechtern. In der Tat herrschte jedoch nahezu Vollbeschaftigung und der Lebensstandard verbesserte sich zusehends. Fur viele Amerikaner, auch in der Mittelschicht, wurden Eigenheim und Auto erschwinglich. Großte Herausforderung fur die Wirtschaft war nun die Umstellung der Kriegsproduktion auf zivile Basis. Die Kosten des Zweiten Weltkrieges resultierten in einer enormen Staatsverschuldung; 1946 erreichte das Defizit knapp 242 Milliarden US-Dollar. Truman trat daher fur umfassende Ausgabenkurzungen ein. Speziell beim Militar sollten die finanziellen Mittel drastisch zuruckgefahren werden. Bis 1948 wurden die Staatsausgaben um 19 Milliarden US-Dollar gesenkt, welches den ersten Abbau der Staatsschulden seit 1930 unter Herbert Hoover darstellte. So wurden die Verteidigungsausgaben von ihrem Spitzenwert 1945 in den folgenden zwei Jahren um 85 Prozent gesenkt. Anders als viele seiner wirtschaftspolitischen Ratgeber, welche Anhanger des Keynesianismus waren, orientierte sich Truman mehr an der traditionellen Lehre des Adam Smith. Daher lehnte er Deficit spending grundsatzlich ab, konnte diese Linie aber nach Ausbruch des Koreakriegs im Jahr 1950 nicht weiter verfolgen.
Im Herbst 1945 stellte Truman sein innenpolitisches Programm fur die Nachkriegsjahre vor. In ihm forderte er eine Fortsetzung der New-Deal-Reformen, wie sie Roosevelt geplant hatte, und damit einen Ausbau des amerikanischen Sozialstaates. Ein zentrales Anliegen Trumans war die Einfuhrung einer allgemeinen Krankenversicherung. Eine flachendeckende Gesundheitsversorgung, so der Prasident, sei „ein Recht und kein Privileg“. Speziell staatliche Hilfen fur besonders Bedurftige und Senioren waren eine Kernforderung Trumans. An diesem Ziel hielt er bis zum Ende seiner Prasidentschaft fest, obgleich der Kongress mit den Stimmen von Republikanern und konservativen Sudstaaten-Demokraten, die gemeinsam eine konservative Koalition formierten, blockierte. Auch in anderen wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen stemmte sich die konservative Koalition gegen den Prasidenten, dem vorgeworfen wurde, fur zu viele staatliche Eingriffe einzutreten.
Trotz der allgemein positiven wirtschaftlichen Lage sah sich der Prasident in den Nachkriegsjahren mit einer nie dagewesenen Zahl an Streiks konfrontiert, die zunehmend seiner Popularitat schadeten. Besonders die rasante Inflation fuhrte zu Rufen nach hoheren Lohnen. Auch bessere Arbeitsbedingungen wurden gefordert, etwa in der Stahlindustrie. Dort kam es im Januar 1946 zu einem Streik von 800.000 Beschaftigten. Nach dessen Ende folgte im Fruhjahr 1946 ein Streik der Kohlearbeiter, woraufhin es landesweit zu Versorgungsengpassen kam. Die Mehrheit der US-Burger reagierte verargert auf diese Situation und forderte eine Intervention der Regierung. Truman sah in den Streiks eine Gefahrdung des Allgemeinwohls und sah sich daher zu Gegenmaßnahmen gezwungen. Er forderte eine Zwangsrekrutierung der Streikenden in die Streitkrafte. Sein Vorhaben passierte das Reprasentantenhaus, scheiterte aber am Widerstand des Senats. Sein Vorschlag rief scharfe Kritik bei den Gewerkschaften hervor. Die oppositionellen Republikaner hingegen warfen dem Prasidenten vor, nicht entschieden genug gegen die Streiks vorzugehen.
In diesem politischen Klima, das Trumans Popularitat in der Bevolkerung erheblich schadete, gelang es den Republikanern bei den Kongresswahlen im November 1946 erstmals seit 16 Jahren wieder eine Mehrheit in beiden Kammern der Legislative zu erringen. Obwohl der Prasident nach Konstituierung des neuen Kongresses im Januar 1947 mit den republikanischen Fuhrern in außenpolitischen Fragen eng kooperierte, kam es in innenpolitischen Fragen zu erbitterten Auseinandersetzungen. Truman sah sich als Verteidiger von Roosevelts Erbe, das er gegen einen republikanischen Kongress zu verteidigen habe, der Sozialreformen revidieren wolle und eine Klientelpolitik zugunsten der oberen Einkommen und Großkonzerne betrieb. Die Republikaner verstanden ihren Wahlsieg als Mandat der Bevolkerung, einen als zu uberhand nehmenden Sozialstaat sowie wirtschaftsschadliche Regulierungen drastisch zuruckzufahren. Auch der in den Jahren seit der Great Depression gewonnene Einfluss der Gewerkschaften war vielen Republikanern ungelegen, da er in ihren Augen dem Wirtschaftswachstum schadete. So verabschiedete der Kongress im Sommer 1947 das sogenannte Taft-Hartley-Gesetz, mit dem er Einfluss der Arbeitnehmervereinigungen stark eingeschrankt und ausufernde Streiks eingedammt werden sollten.
Prasident Truman legte sein Veto gegen die Vorlage ein. Allerdings gelang es den Republikanern mithilfe der konservativen Demokraten aus dem Suden den Einspruch des Prasidenten mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit zu uberstimmen. Trumans Veto verbesserte sein Ansehen bei den Gewerkschaften wieder, die sich 1948 großtenteils fur eine Wiederwahl des Prasidenten aussprachen. Zwei weitere Vetos Trumans gegen die von den Republikanern angestrebten Steuersenkungen konnten nicht zuruckgewiesen werden.
Bemuhungen in Burgerrechts- und Rassenfragen Als Prasident trat Truman entschieden gegen Rassendiskriminierung auf. Er hielt die soziale und okonomische Benachteiligung von Afroamerikanern fur unvereinbar mit den Idealen der amerikanischen Verfassung. Im Dezember 1946 berief er Charles Edward Wilson, den Prasidenten von General Electric, zum Vorsitzenden einer temporaren Kommission uber Burgerrechte. Das President’s Committee on Civil Rights sollte Maßnahmen und neue Gesetze zum Schutz und zur Verbesserung der Burgerrechte aller US-amerikanischen Staatsburger vorschlagen. Die Kommission bestand aus insgesamt 15 Mitgliedern, unter ihnen der Sohn des verstorbenen Prasidenten, Franklin D. Roosevelt Jr. Sie legte fristgerecht im Dezember 1947 einen 178-seitigen Bericht mit dem Titel To Secure These Rights vor.
Zu den wegweisendsten innenpolitischen Entscheidungen Trumans zahlt seine Executive Order vom 26. Juli 1948 zur Aufhebung der Rassentrennung in den Streitkraften der Vereinigten Staaten. Fur diese Haltung wurde er vor allem vom konservativen Parteiflugel aus dem Suden vehement kritisiert. Seine Forderung nach tatsachlicher Gleichberechtigung von Farbigen waren mitverantwortlich fur die Abspaltung des Parteiflugels zur Wahl 1948 und leitete eine langsame Abkehr des Sudens von der Demokratischen Partei, die dort seit ihrem Bestehen ihre Hochburgen hatte, ein. Die Zuwendung der Sudstaaten zu den Republikanern wurde durch die Politik der demokratischen Prasidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson endgultig besiegelt, die sich ebenfalls fur die Gleichberechtigung von Schwarzen engagierten und hier, wie auch Truman, im Gegensatz zu den meisten Politikern aus dem Suden eine Zustandigkeit der Bundesregierung sahen (siehe auch Solid South). In vielen Bundesstaaten des Nordens und des Westens vollzog sich hingegen eine umgekehrte Entwicklung. Von Truman geforderte gesetzliche Vorstoße in diesem Bereich erwiesen sich jedoch angesichts der ablehnenden Haltung sudstaatlicher Politiker als schwierig. Dennoch wird Trumans Politik als Beginn fur die Schaffung von gleichen Lebensbedingungen der Farbigen in den USA gesehen. Viele seiner politischen Bestrebungen in diesem Bereich wurden in den 1960er-Jahren unter Prasident Lyndon B. Johnson umgesetzt; darunter auch die zivile Abschaffung der Rassentrennung.
Beginn des Kalten Krieges und Marshallplan Bereits wahrend der Potsdamer Konferenz traten mehr und mehr politische Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmachten (besonders den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Konigreich) auf. Diese fußten insbesondere auf sehr verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Systemen. Die US-Regierung sah in der nachfolgenden Zeit zunehmend Indizien, die UdSSR unter Stalin wolle ihren Einfluss uber Europa ausdehnen. In den Ostblockstaaten installierte die UdSSR sogenannte Satellitenstaaten. In diesen Landern wurden sozialistische Gesellschaftssysteme eingerichtet. Gegenuber politisch Andersdenkenden, insbesondere gegenuber der Sowjetunion kritischen Politikern, reagierte man mit Verfolgung und auch Mord. Das Bekanntwerden massiver Spionageaktionen der Sowjetunion in Großbritannien, den USA und Kanada durch Dokumente des ubergelaufenen Kryptographen Igor Gouzenko bewirkte im Jahr 1945 zusatzlich eine deutlich konfliktfreudigere Haltung des Westens sowie der US-Regierung unter Truman.
Die politischen Spannungen zwischen den beiden neuen Supermachten USA und UdSSR nahmen in den folgenden Jahren massiv zu. Das gegenseitige Misstrauen wuchs, als mit der Irankrise 1946 und im Hinblick auf die politische Entwicklung der Turkei weitere Konfliktherde hinzukamen. In den Jahren 1945 und 1946 hatte Stalin den Versuch unternommen, die von Kurden und Aseris bewohnten Provinzen Irans abzuspalten, um dort prosowjetische Staaten zu etablieren. So wollte Stalin beispielsweise in Teheran eine kommunistische Regierung installieren, die der dauerhaften Besetzung Irans durch sowjetische Truppen zustimmen und aus dem Iran einen prosowjetischen Satellitenstaat gemacht hatte. Erst die Drohung Prasident Trumans mit ernsthaften Konsequenzen, bis hin zum Einsatz von Atomwaffen, ließ Stalin einlenken.
Angesichts der gespannten weltpolitischen Lage verkundete Truman am 12. Marz 1947 vor dem Kongress seine als Truman-Doktrin bekannt gewordene Außenpolitik, die aktive Unterstutzung der „in ihrer Freiheit bedrohten freien Volker“, zunachst Griechenland und der Turkei, die den Kalten Krieg von westlicher Seite her begrundete. Truman setzte sich auch dafur ein, dass die Mittel fur den Marshallplan mit breiter Mehrheit im Kongress bewilligt wurden. Am 3. April 1948 wurde schließlich das Marshallplan-Gesetz von Truman unterzeichnet und dieses fuhrte weiter zum Nordatlantikpakt. Dieses Programm sah umfassende Wiederaufbauhilfe der USA in zahlreichen europaischen Landern und zur Erschließung unterentwickelter Gebiete in Form von Krediten und Warenlieferungen vor. Dabei blieb Truman personlich stets bemuht alle Verstandigungsmoglichkeiten mit Stalin und der sowjetischen Politik auszunutzen. Ziel war einerseits die wirtschaftliche und soziale Regeneration dieser Staaten sowie andererseits die Vorbeugung gegenuber einem weiteren Ausbreiten des Kommunismus in Europa. In der amerikanischen Regierung war man zu der Auffassung gelangt, der Kommunismus konne sich im europaischen Raum ausbreiten, falls die aus den Zerstorungen des Krieges resultierenden Hungersnote und wirtschaftlichen Probleme nicht beseitigt wurden. Gleichzeitig wurde durch den wirtschaftlichen Aufbau in Europa den USA ein neuer Handelspartner entstehen und somit auch die US-Wirtschaft fordern. Das Wiederaufbauprogramm wird in historischem Kontext heute als Erfolg gewertet, da zahlreiche europaische Lander, insbesondere Deutschland, davon profitierten. Staaten im Ostblock sowie die UdSSR selbst lehnten angebotene Hilfen aus dem Marshallplan ab.
Anerkennung Israels Truman stand den Bestrebungen, im Nahen Osten mit Israel einen judischen Staat zu errichten, positiv gegenuber. Schon als Senator trat er als Befurworter des Zionismus auf. Obwohl die Schaffung eines judischen Staates auch in der amerikanischen Bevolkerung popular war, gab es innerhalb des Kabinetts auch Bedenken. So warnte Verteidigungsminister James V. Forrestal den Prasidenten, die Anerkennung eines solchen Staates konne die Beziehungen zu Saudi-Arabien belasten, die jedoch aufgrund der Abhangigkeit vom Ol von elementarer Bedeutung fur die USA seien. Truman wies dies jedoch zuruck und erklarte, er werde seine Entscheidungen nicht nach Ol, sondern nach Recht fallen. Fur den Prasidenten war die Anerkennung und Unterstutzung Israels, in das viele Uberlebende des Holocaust fluchten konnten, angesichts der judischen Verfolgung durch das NS-Regime wenige Jahre zuvor vor allem eine moralische Angelegenheit, aber auch eine Konsequenz aus innenpolitischem Druck, vor allem von Seiten des Kongresses. Als Israel sich am 14. Mai 1948 fur unabhangig erklarte, erkannte Truman die Souveranitat des Landes noch am selben Tag an. Auch die Sowjetunion vollzog dies wenige Tage spater. Trumans Entscheidung zur Anerkennung des neuen judischen Staates war Ausgangspunkt fur die bis heute engen politischen Beziehungen der Vereinigten Staaten und Israel. Andererseits hielt er die Juden fur sehr selbstsuchtig. In seinem Tagebuch schrieb er am 21. Juli 1947, dass es den Juden egal sei, wie viele Fluchtlinge ermordet oder misshandelt wurden, solange mit den Juden anders umgegangen werden wurde.
= Prasidentschaftswahl 1948 =
Fur die nachste Prasidentschaftswahl, die turnusgemaß am 2. November 1948 stattfand, trat Truman zur Wiederwahl an. Da er bisher nur in der Nachfolge Roosevelts das Prasidentenamt innehatte, wollte er eine eigene Legitimierung von den Wahlern. Auf der Democratic National Convention, dem Nominierungsparteitag der Demokraten, setzte er sich mit 947 zu 266 Delegiertenstimmen klar gegen den Sudstaaten-Senator Richard B. Russell durch. Auf dem Parteitag wahlte er den Senator Alben W. Barkley zu seinem Kandidaten fur das Amt des Vizeprasidenten. Im Vorfeld des Konvents gab es jedoch aufgrund Trumans geringer Popularitat auch kritische Stimmen innerhalb der Partei, die forderten, Truman durch einen anderen Kandidaten zu ersetzen. In allen Meinungsumfragen lag er deutlich hinter seinem republikanischen Herausforderer Thomas E. Dewey, der schon 1944 republikanischer Kandidat war.
Im September und Oktober 1948 bereiste Truman mit dem Zug das ganze Land und hielt mehr als 200 Reden. Bei seinen Ansprachen warb er fur sein liberales Programm und griff die Republikaner scharf an. Weitaus scharfer als den innenpolitisch gemaßigten Dewey griff er den seit Januar 1947 republikanisch dominierten Kongress an. So bezeichnete er diesen als „Do-nothing-congress“ („Nichtstuer-Kongress“). Trotz der positiven Resonanz auf Trumans Auftritte wurden in der Offentlichkeit und den Medien seine Chancen auf einen Wahlsieg als gering angesehen. Die Zuversicht des Prasidenten wurde als Zweckoptimismus abgetan. Hinzu kam, dass man fur Truman mit weiteren Stimmenverlusten durch eine Splittergruppe der Demokratischen Partei, die Dixiecrats, rechnete. Diese sudstaatliche Gruppierung, die vor allem Trumans liberale Positionen sowie seine Haltung zu den Burgerrechten der Farbigen kritisierte, hatte Mitte 1948 mit Strom Thurmond einen eigenen Prasidentschaftskandidaten aufgestellt. Auch Trumans Vorganger im Amt des Vizeprasidenten, Henry A. Wallace, kandidierte fur die Progressive Partei fur das Prasidentenamt. Es wurde erwartet, dass Wallace, der im Wahlkampf ein linkes Programm vertrat, Truman weitere Stimmen kosten wurde.
Selbst am Wahltag rechnete trotz Trumans energischer Wahlkampagne keiner mit einem Wahlsieg des Prasidenten. Die Tageszeitung Chicago Tribune erschien am Tag nach der Wahl sogar mit einer Titelzeile, die den Gewinn der Prasidentschaftswahl fur Dewey verkundete, obwohl Truman gewonnen hatte. Eines der wohl bekanntesten Pressefotos jener Zeit zeigt einen lachelnden Truman, der am Tag nach der Wahl ein Exemplar der Zeitung mit der Falschmeldung von seiner Niederlage (Schlagzeile: „Dewey Defeats Truman“) ins Bild halt.
Nach Auszahlung der Stimmen stand jedoch Trumans Wahlsieg fest: Er hatte 49,6 Prozent der Stimmen errungen sowie eine Stimmenmehrheit in 28 Bundesstaaten. Damit entfielen 303 der 531 Elektoren im Wahlmannergremium auf Truman (266 waren zum Sieg erforderlich). Fur Dewey sprachen sich 45,1 Prozent der Wahler aus, er hatte in 16 Bundesstaaten die Stimmenmehrheit und damit 189 Wahlmanner erhalten. Die Dixiecrats hatten landesweit lediglich 2,4 Prozent der Stimmen und 39 Wahlmanner gewonnen, alle aus den Sudstaaten; im Rest des Landes waren die Dixiecrats chancenlos. Zudem hatten die Demokraten auch die gleichzeitig stattfindenden Kongresswahlen fur sich entschieden, nachdem sie die Zwischenwahlen 1946 noch verloren hatten.
= Zweite Amtszeit =
Nach seinem Wahlsieg vom November 1948 legte Truman den Amtseid fur eine volle Amtsperiode im Rahmen einer feierlichen Zeremonie am 20. Januar 1949 vor dem Kapitol ab. Bei diesen Feierlichkeiten wurde auch Alben W. Barkley als Vizeprasident vereidigt. Es war die erste prasidiale Vereidigungszeremonie in der amerikanischen Geschichte, die vom Fernsehen ubertragen wurde.
In seiner Antrittsrede sprach Truman uber Wirtschaftswachstum und den Kampf gegen den Kommunismus in der ganzen Welt. In diesem Zusammenhang erklarte er auch, dass die entwickelten Industrienationen den unterentwickelten Landern helfen mussen, sich selbst zu helfen. Die Rede gilt daher laut Thomas Fuster von der NZZ als grundlegender Anstoß fur die Entwicklungspolitik.
„Fair Deal“ Fur Trumans innenpolitisches Programm, das er zur Wahl von 1948 vorstellte, wurde in Anlehnung an Roosevelts New Deal der Begriff Fair Deal gepragt. Obwohl auch seine Demokraten im Zuge der Wahlen dieses Jahres wieder eine Mehrheit im Kongress erreichten, wurden aufgrund des Widerstandes der konservativen Koalition nur wenige seiner Vorschlage tatsachlich umgesetzt. Der Prasident hielt an seiner Forderung nach einer allgemeinen Krankenversicherung in Form des heutigen Medicare und Medicaid fest, was der Kongress jedoch mit den Stimmen der Konservativen Koalition ablehnte. Diese Vorhaben wurden erst in den 1960er-Jahren unter Lyndon B. Johnson realisiert. Auch eine von Truman angestrebte Rucknahme des Taft-Hartley-Gesetze kam wegen der Blockadehaltung der konservativen Koalition nicht zustande. Realisiert wurde hingegen der Housing Act of 1949 zur Forderung des Sozialen Wohnungsbaus. Im Zuge des Programms beteiligte sich der Bund am Bau von rund 800.000 Wohnungen.
Wettrusten Nach dem Atombombeneinsatz in Japan trieb die US-Regierung die Weiterentwicklungen von Nuklearwaffen rasch voran. Im Anbetracht der sich verschlechternden Beziehungen mit der UdSSR wurde eine Aufrustung, bei Atomwaffen im Besonderen, als elementares Interesse der USA definiert, um im Falle einer militarischen Auseinandersetzung die Verteidigung des Landes und der Verbundeten gewahrleisten zu konnen. Vor allem setzte man mit der nuklearen Bewaffnung aber auf Abschreckung, um so einen Atomkrieg verhindern zu konnen. Die systematische Aufrustung fuhrte zu einem Rustungswettlauf mit der Sowjetunion (spater auch mit Rotchina), der im Wesentlichen erst mit Ende des Kalten Krieges um das Jahr 1989 ein Ende fand.
Im Dezember 1945 beschloss Prasident Truman die Durchfuhrung von Versuchen mit Kernwaffen, um deren Zerstorungspotential zu ermitteln. Das Bikini-Atoll und das benachbarte Eniwetok-Atoll wurden als Testgebiete gewahlt, weil sie weitab von allen regularen Schifffahrts- und Flugverkehrsrouten lagen. Auf Anfrage des Militargouverneurs der Marshallinseln stimmte das Oberhaupt der Bikinianer, Konig Juda, zu, dass sein Volk seine Heimat verlassen werde, im Glauben, zu einem spateren Zeitpunkt auf die Inseln zuruckkehren zu konnen. Die insgesamt 167 Bikinianer wurden auf das kleinere, unbewohnte Rongdrik-Atoll umgesiedelt. Allerdings sind weite Teile der Testgebiete, die noch bis 1954 genutzt wurden, bis zum heutigen Tage derart verstrahlt, dass eine Neubesiedlung nicht moglich scheint. Zum damaligen Zeitpunkt bestand jedoch in der US-Regierung kein Bewusstsein uber die langfristigen Folgen der Atomwaffentests. Die USA haben bis heute nur in Teilen Entschadigungszahlungen geleistet.
Als die Sowjetunion im August 1949 erfolgreich die erste Atombombe zundete, geriet die Truman-Administration unter starken Druck von Kongress und Offentlichkeit, die Weiterentwicklung von Kernwaffen noch intensiver voranzutreiben. Noch kurz zuvor war man auf Seiten von Regierung und Geheimdiensten davon ausgegangen, dass die Sowjets erst einige Jahre spater zum Bau einer Atombombe im Stande waren. Auf amerikanischer Seite war man sich damals jedoch im Unklaren, dass bereits das Manhattan-Projekt mit sowjetischen Spionen (wie Klaus Fuchs) unterwandert war, welche die Atomwaffengeheimnisse von Amerikanern und Briten an die UdSSR verrieten. Unter Leitung des Kernphysikers Edward Teller entwickelten die USA in den kommenden Jahren die Wasserstoffbombe. Mit der Durchfuhrung des Tests Ivy Mike konnte Truman am 31. Oktober 1952 den ersten erfolgreichen Test einer Wasserstoffbombe verkunden (nach dem Ende von Trumans Prasidentschaft zog die UdSSR ebenfalls nach).
McCarthy-Ara und „unamerikanische Umtriebe“ Noch in Trumans Ara, besonders seiner zweiten Amtsperiode, hatte mit den Aktivitaten des House Un-American Activities Committee (HUAC) des Reprasentantenhauses und mit dem Untersuchungsausschuss des Senators Joseph McCarthy die sogenannte McCarthy-Ara begonnen, die Jagd auf tatsachliche und vermeintliche Kommunisten in den USA. Die damit verbundenen Auswuchse, die sich zu einer wahren Hysterie ausgewachsen hatten, veranlassten den Prasidenten spater zu der scharfen Grundsatzkritik:
Koreakrieg Korea war nach dem Zweiten Weltkrieg auf Hohe des 38. Breitengrades in Nord und Sud geteilt worden. Wahrend im Norden ein von der Sowjetunion gestutztes kommunistisches Regime etabliert wurde, entstand im Suden eine antikommunistische Regierung mit Unterstutzung der USA. Im Juni 1950 kam es auf Betreiben des nordkoreanischen Machthabers Kim Il-sung zu einer Invasion des Nordens in den Suden mit dem Ziel der Wiedervereinigung Koreas unter kommunistischer Fuhrung. Die UdSSR unter Stalin billigte dieses Vorgehen und lieferte Kriegsausrustung an Nordkorea (russische Soldaten wurden aber nicht entsandt). Mit einem UN-Mandat schickten die USA und einige weitere westliche Staaten Truppen unter dem Kommando von General Douglas MacArthur auf die koreanische Halbinsel zur Abwehr der Invasion. Die US-Kriegsfuhrung erwies sich zunachst als erfolgreich, indem die nordkoreanischen Einheiten immer weiter zuruckgedrangt wurden. Truman autorisierte auf General MacArthurs Bestreben den weiteren Vormarsch der US-Truppen sowie deren Verbundeter bis an die Grenze zur Volksrepublik China. MacArthur hatte eine Kriegsbeteiligung Chinas, das im Jahr zuvor unter kommunistische Fuhrung geriet, als sehr unwahrscheinlich bezeichnet. Als sich dies jedoch Ende des Jahres als unwahr erwies und chinesische Streitkrafte in den Konflikt eingriffen, wurde MacArthur von Truman entlassen. Da MacArthur in der US-Bevolkerung und unter vielen amerikanischen Politikern ein hohes Ansehen genoss, fuhrte die Entscheidung des Prasidenten zu kontroversen Diskussionen.
Bedingt durch die chinesische Beteiligung an dem Konflikt dauerte dieser immer langer an und entwickelte sich angesichts der schwierigen militarischen Lage zu einer Farce. Der Frontverlauf stabilisierte sich entlang der vormaligen Grenze am 38. Breitengrad. Vorschlage der Militars zum Einsatz von Atomwaffen, wie sie bereits Douglas MacArthur gemacht hatte, lehnte Truman angesichts der unkalkulierbaren Folgen strikt ab. Da seit 1949 auch die UdSSR uber Atomwaffen verfugte, erschien Truman das Risiko eines sich global ausweitenden Konflikts in Form eines Atomkrieges zu groß. Diplomatische Anlaufe zur Beendigung des Krieges blieben lange Zeit erfolglos, sodass sich die Kampfe bis uber Trumans Amtszeit hinaus hinzogen. Erst nach dem Ende seiner Prasidentschaft wurde 1953 ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, jedoch kein Friedensvertrag, womit der Konflikt formal bis zum heutigen Tage andauert.
Renovierung des Weißen Hauses Wahrend Trumans Amtszeit fand eine umfassende Renovierung des Weißen Hauses statt, die spater als Truman Reconstruction bekannt wurde. Mitte der 1940er-Jahre befand sich der Amtssitz des Prasidenten in schlechtem Zustand. Die letzte große Restauration der Anfang des 19. Jahrhunderts erbauten Residenz hatte wahrend Theodore Roosevelts Amtszeit zu Beginn der 1900er-Jahre stattgefunden. Die Arbeiten begannen 1948 und wurden 1952 abgeschlossen. Dabei wurde das Weiße Haus großflachig erneuert: Die Innenstruktur wurde entfernt und komplett erneuert, es wurden einige Anderungen am Grundriss durchgefuhrt und die Architektur wurde verstarkt. Eine vollstandige Entkernung wurde durchgefuhrt, aber die innere Struktur – nunmehr in Stahlbeton – weitgehend rekonstruiert. Im zweiten Stock auf der Sudseite wurde ein neuer Balkon errichtet, der den Namen Truman Balcony erhielt. Dieser war anfangs außerst umstritten. Vorwurfe, er verschandelte den Prasidenten-Amtssitz, wies Truman zuruck.
In dieser Periode residierte der Prasident im Blair House, das sich unweit des Weißen Hauses in Washington befindet. Der West Wing, wo sich auch das Oval Office befindet, wurde aber nicht restauriert und blieb daher regular in Benutzung.
Versuchtes Attentat Truman uberlebte am 1. November 1950 ein Attentat, bei dem einer der beiden puerto-ricanischen Attentater, Griselio Torresola, und einer der Manner aus seiner Leibwache (Leslie Coffelt) erschossen wurden, das den Prasidenten selbst jedoch nicht ernsthaft gefahrdete. Oscar Collazo, der zweite Attentater, erhielt die Todesstrafe, welche Truman durch eine prasidiale Verfugung auf lebenslangen Freiheitsentzug abmilderte. Sein Nachfolger Jimmy Carter, von 1977 bis 1981 US-Prasident, begnadigte Collazo, der nach eigenen Angaben keine personlichen Motive gegen Truman hatte, im September 1979.
= Wahl 1952 und Ende der Amtszeit =
Truman hatte ebenso wie sein Vorganger Franklin D. Roosevelt fur eine weitere Amtszeit kandidieren und damit im Falle eines Wahlsieges eine nahezu zwolfjahrige Prasidentschaft ausuben konnen. 1951 wurde zwar durch den 22. Verfassungszusatz die maximal mogliche Prasidentschaft auf zehn Jahre limitiert (zwei Jahre Ubernahme als Vizeprasident und acht Jahre als gewahlter Prasident), jedoch galt diese Regelung noch nicht fur den amtierenden Prasidenten. Anfang des Jahres 1952 wurde es daher in US-Medien als moglich angesehen, dass der Amtsinhaber erneut kandidiert. Truman stand bei der ersten Primary zur Prasidentschaftswahl 1952 in New Hampshire noch auf dem Wahlzettel, verlor aber gegen Estes Kefauver. Am 29. Marz 1952 gab er eine Erklarung ab, keine weitere Amtszeit anzustreben. In seinen Memoiren schrieb Truman spater, er habe sich schon nach seiner Wiederwahl 1948 entschlossen, 1952 nicht mehr anzutreten. Im Wahlkampf unterstutzte er danach den demokratischen Prasidentschaftskandidaten Adlai Ewing Stevenson, nachdem sein Wunschkandidat Fred M. Vinson, der Oberste Bundesrichter und ehemalige Finanzminister, eine Kandidatur abgelehnt hatte. Bei der Wahl im November 1952 unterlag Stevenson aber Dwight D. Eisenhower, der fur die Republikaner antrat. Eisenhower loste Truman am 20. Januar 1953 als Prasident ab.
= Berufungen an den Supreme Court =
Truman ernannte in seiner Zeit als Prasident vier Richter an den Obersten Gerichtshof der USA:
Harold Hitz Burton – 1945
Fred M. Vinson (Chief Justice) – 1946
Tom C. Clark – 1949
Sherman Minton – 1949
Vinson, der von 1946 bis zu seinem Tod 1953 im Amt blieb, ist bis heute der letzte Vorsitzende Richter des Obersten Gerichtshofs (Chief Justice), der von einem demokratischen US-Prasidenten ernannt wurde. Weitere Berufungen erfolgten an niedrigere Bundesgerichte.
Ruhestand und Tod Nachdem Truman aus dem Amt geschieden war, zog er sich nach Missouri ins Privatleben zuruck, und seine offentlichen Auftritte wurden seltener. Nachdem Mitte der 1950er-Jahre Trumans begrenzte finanzielle Spielraume bekannt geworden waren, verabschiedete der US-Kongress den Former Presidents Act, der allen ehemaligen Prasidenten den Anspruch auf Pensionsvergutungen sowie weitere Leistungen wie Personenschutz und ein eigenes Buro einraumte. Bis dato hatten weder Truman noch einer seiner Vorganger Pensionsgelder fur ihre Tatigkeit als Staatsoberhaupt erhalten. Nach seinem Ausscheiden verfasste er seine doppelbandigen Memoiren. Der erste Band, der lediglich von seinem ersten Amtsjahr handelt, wurde 1955 veroffentlicht. Der zweite Teil erschien im Jahr 1956. Ein Jahr darauf eroffnete in Independence, Missouri das Harry S. Truman Presidential Library and Museum, die Prasidentenbibliothek Trumans.
Im Vorfeld der Prasidentschaftswahl 1960 außerte sich Truman kritisch gegenuber John F. Kennedy, den er fur das Weiße Haus als zu jung und unerfahren ansah. Nach Kennedys Wahlsieg unterstutzte der ehemalige Prasident jedoch dessen Politik ebenso wie jene seines Nachfolgers Lyndon B. Johnson. Im Juli 1965 wurde er in seiner Heimatstadt Independence von Prasident Johnson besucht, der in Trumans Gegenwart den Social Security Act of 1965, ein Gesetz zur Schaffung von Medicare und Medicaid, unterzeichnete. Johnson wollte damit an Trumans Bemuhen erinnern, der zu seiner Amtszeit ein ahnliches Gesetz zu verabschieden versucht hatte, jedoch damit im Kongress gescheitert war.
Truman starb am 26. Dezember 1972 im Alter von 88 Jahren und wurde kurz darauf in seiner Heimatstadt beerdigt. Zu seinem Begrabnis erschienen neben zahlreichen weiteren Gasten die US-Prasidenten Johnson und Richard Nixon.
Ku Klux Klan Truman stand in der Kritik, sich kurzzeitig mit dem Ku Klux Klan beschaftigt zu haben. Im Zuge seiner Kandidatur fur ein Richteramt in Jackson County im Jahr 1922 rieten ihm seine Freunde Edgar Hinde und Spencer Salisbury, dem Klan beizutreten. Der Klan war zum damaligen Zeitpunkt im Jackson County politisch machtig und zwei von Trumans Gegnern in den Vorwahlen hatten Klan-Unterstutzung. Trotz anfanglicher Widerstande zahlte Truman schließlich zehn US-Dollar Mitgliedsbeitrag fur den Klan. Laut Salesbury wurde Truman in den Klan aufgenommen, war jedoch hierauf ein passives Mitglied.
Freimaurerei Truman war ein sehr aktiver Freimaurer. Aufgenommen wurde er in der Belton Lodge No. 450 in Grandview, Missouri. Als er 1909 den Antrag auf Aufnahme stellte, gab er als Beruf „Farmer“ an. 1911 grundeten er und einige andere Freimaurer die Grandview Lodge No. 618. Er diente dort als erster Meister vom Stuhl. 1940 wurde er zum Großmeister der Großloge von Missouri gewahlt und diente ihr bis zum Oktober 1941.
Nachwirkung Am Ende seiner Amtszeit im Januar 1953 galt Truman als einer der unpopularsten Prasidenten in der amerikanischen Geschichte. Nach Umfragen zu jener Zeit waren nur rund 24 Prozent der US-Burger zufrieden mit der Arbeit des Prasidenten. Dies entsprach dem Niveau an Zustimmung von Richard Nixon auf dem Hohepunkt der Watergate-Affare 1974. Der andauernde und verlustreiche Koreakrieg, die Korruptionsvorwurfe gegen einige Mitglieder seiner Regierung (nicht gegen Truman selbst) sowie das politische Klima, das von Hysterie und Furcht gegenuber dem Kommunismus (McCarthy-Ara) gepragt war, waren Grunde hierfur.
Trumans offentliches Ansehen begann jedoch nach dem Ende seiner politischen Laufbahn wieder zuzunehmen. Insbesondere nach seinem Tod im Jahr 1972 stieg er postum zu einem der beliebtesten US-Prasidenten auf. Historiker fuhren als Grund fur diese Entwicklung die Truman zugeschriebene Willensstarke in Bezug auf die Außenpolitik im beginnenden Kalten Krieg an. Besondere Wertschatzung bei Historikern sowie vielen US-Amerikanern findet der von Truman maßgeblich mitinitiierte Wiederaufbau in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Programme wie der Marshallplan hatten nicht nur dies- und jenseits des Atlantiks betrachtliches Wirtschaftswachstum generiert, sondern auch die Demokratie in Europa gestarkt. Innenpolitisch finden heute insbesondere seine Bemuhungen um die Burgerrechte Wertschatzung.
Trumans Entscheidung zum Abwurf der Atombomben uber Japan wird vor allem außerhalb der Vereinigten Staaten nicht nur kontrovers diskutiert, sondern auch kritisiert.
Besondere historische Bedeutung wird dem 33. US-Prasidenten auch aufgrund seines Wahlsiegs von 1948 zuteil, da in der Offentlichkeit zuvor fest von seiner Niederlage ausgegangen worden war.
Ehrungen 1945 und 1948 war er Mann des Jahres des Time Magazine.
1963 stiftete die AHEPA eine Statue von Truman der Stadt Athen
1975 wurde ihm die Harry S. Truman Scholarship Foundation als Presidential Memorial gewidmet.
Der US-Flugzeugtrager CVN-75 wurde 1996 auf seinen Namen getauft.
Seit September 2000 ist das Gebaude des Außenministeriums, das Harry S. Truman Building, nach ihm benannt.
Kulturelle Rezeption 1975 wurde mit Give ’em Hell, Harry! ein Film und Theaterstuck veroffentlicht, in der Hauptrolle spielt James Whitmore.
1995 wurde der Fernsehfilm Truman von HBO produziert. Vorlage war die Biographie Truman von David McCullough, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet worden war. Gary Sinise stellte Truman dar.
2021 veroffentlichte Arte den Dokumentationsfilm Prasident Trumans Kalter Krieg (Regie: Mickael Gamrasni).
Werke Harry S. Truman: Memoirs By Harry S. Truman: 1945 Year of Decisions. William S. Konecky Associates 1955, ISBN 978-1-56852-062-9 (Band 1)
Harry S. Truman Memoirs By Harry S. Truman: Years of Trial and Hope. William S. Konecky Associates 1956, ISBN 978-1-56852-062-9 (Band 2)
Quelle Dokumentsammlung Harry S. Truman Administration (1945–1952) im Office of the Historian, United States Department of State
Public Papers of the Presidents of the United States: Truman, Harry S. in National Archives and Records Administration
Literatur A. J. Baime: The Accidental President: Harry S. Truman and the Four Months That Changed the World, Mariner Books, 2018, ISBN 978-1-328-50568-2.
Robert Dallek: Harry S. Truman: The American Presidents Series: The 33rd President, 1945–1953, Times Books 2008, ISBN 978-0-8050-6938-9.
Robert H. Ferrell: Harry S. Truman: A Life, University of Missouri, 1996, ISBN 978-0-8262-1050-0.
Jeffrey Frank: The Trials of Harry S. Truman: The Extraordinary Presidency of an Ordinary Man, 1945–1953. Simon & Schuster, New York 2022, ISBN 978-1-5011-0289-9.
Alonzo Hamby: Man of the People: A Life of Harry S. Truman. Oxford University Press, New York NY 1995, ISBN 0-19-504546-7.
David McCullough: Truman. Simon and Schuster, New York NY 1992, ISBN 0-671-86920-5.
Merle Miller: Plain Speaking. Putnam, New York 1973 (eine „oral biography“, basierend auf Interviews mit Truman von 1961); deutsch Offen gesagt. Harry S. Truman erzahlt sein Leben. Ubersetzt von Hans Joachim Lange und Elfi Lange. DVA, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1982, ISBN 3-421-01709-3.
David L. Roll: Ascent to Power: How Truman Emerged from Roosevelt's Shadow and Remade the World, Dutton, 2024, ISBN 978-0-593-18644-2.
Hermann-Josef Rupieper: Harry S. Truman (1945–1953): Der unpopulare Gestalter der Nachkriegswelt. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Prasidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgefuhrte und aktualisierte Auflage. Beck, Munchen 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 323–334.
Joe Scarborough: Saving Freedom: Truman, the Cold War, and the Fight for Western Civilization. Harper, New York 2021, ISBN 978-0-06-295050-5.
Elizabeth Edwards Spalding: The First Cold Warrior: Harry Truman, Containment, and the Remaking of Liberal Internationalism. University Press of Kentucky, Lexington 2006, ISBN 978-0-8131-2392-9.
S. Noma (Hrsg.): Truman, Harry S. In: Japan. An Illustrated Encyclopedia. Kodansha, 1993. ISBN 4-06-205938-X, S. 1627.
Weblinks Literatur von und uber Harry S. Truman im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Zeitungsartikel uber Harry S. Truman in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Dorlis Blume, Irmgard Zundorf: Harry S. Truman. Tabellarischer Lebenslauf im LeMO (DHM und HdG)
Harry S. Truman im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
American Presidents: Harry S. Truman (1884–1972). Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: Alonzo L. Hamby)
The American Presidency Project: Harry S. Truman. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Prasidenten (englisch)
Harry S. Truman in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
Life Portrait of Harry S. Truman auf C-SPAN, 18. Oktober 1999, 157 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit dem Historiker Alonzo Hamby und Kuratoren-Fuhrung durch das Harry S. Truman Presidential Library and Museum)
Harry S. Truman Presidential Library and Museum
Einzelnachweise
|
Harry S. Truman (* 8. Mai 1884 in Lamar, Missouri; † 26. Dezember 1972 in Kansas City, Missouri) war ein US-amerikanischer Politiker der Demokratischen Partei und von 1945 bis 1953 der 33. Prasident der Vereinigten Staaten. Zuvor war er 1945 kurzzeitig Vizeprasident und vertrat zwischen 1935 und 1945 den Bundesstaat Missouri im US-Senat.
Harry Truman trat erst spat in die aktive Politik ein. Zunachst war er als Farmer tatig und nahm 1918/19 freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Scheitern seiner geschaftlichen Aktivitaten als Mitinhaber eines Herrenausstatters Anfang der 1920er Jahre ging der Demokrat Truman durch Initiative des lokalen Parteifuhrers Tom Pendergast in die regionale Politik, wo er ab 1927 Leiter der County-Verwaltung war. Auf Pendergasts Betreiben gelang ihm 1934 der Sprung in den US-Senat, dem er nach einer Wiederwahl 1940 noch bis Anfang 1945 angehorte. Durch den Vorsitz des Ausschusses fur die Rustungsproduktion wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde er uberregional bekannt, was ihm den Weg zur demokratischen Vizeprasidentschaftskandidatur bei der Wahl 1944 an der Seite Franklin D. Roosevelts ebnete. Allerdings amtierte er nur zwischen Januar und April 1945 als Vizeprasident; nach dem Tod Roosevelts musste er selbst die Prasidentschaft ubernehmen.
Wahrend das Deutsche Reich wenige Wochen nach seinem Amtsantritt kapitulierte, wurde der Pazifikkrieg erst nach den bis heute umstrittenen Atombombenabwurfen auf Hiroshima und Nagasaki beendet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen schon bald die politischen Spannungen mit der Sowjetunion zu, was zu einer Teilung Europas fuhrte und den Kalten Krieg begrundete. Truman begegnete dieser neuen Weltlage mit der Truman-Doktrin von 1947, die eine „Eindammung“ des Kommunismus forderte (Containment-Politik). Ab 1948 leisteten die USA mit dem Marshallplan umfassende okonomische Hilfen fur weite Teile Europas. Wahrenddessen wurde die Weiterentwicklung der Nuklearwaffen vorangetrieben.
Obwohl im Vorfeld der Prasidentschaftswahl 1948 mit Trumans Niederlage gerechnet wurde, konnte er sich uberraschend gegen seinen republikanischen Widersacher Thomas E. Dewey durchsetzen. Nach seiner Wiederwahl nahmen die politischen Verwerfungen mit dem Ostblock zu. Der Koreakrieg (1950–1953) wurde der erste Stellvertreterkrieg im Ost-West-Konflikt. Nach der unter US-Fuhrung erfolgten Intervention mit UN-Mandat gelang es nicht, den verlustreichen Krieg noch wahrend Trumans Amtszeit zu beenden. Innenpolitisch trat Truman mit seinem Fair Deal fur eine Fortsetzung des New Deals und eine progressive Politik ein. Seine Vorhaben, die unter anderem eine Ausweitung des Sozialstaates vorsahen, wurden aber wegen des Widerstands von konservativen Kraften im Kongress nur bedingt umgesetzt. Wegweisend war jedoch sein Eintreten fur die Rechte von Afroamerikanern, indem er 1948 mit dem Abbau der Rassentrennung in den Streitkraften begann. Fur die Wahl 1952 verzichtete Truman auf eine weitere Kandidatur und schied im Januar 1953 aus dem Prasidentenamt aus. Danach zog er sich bis zu seinem Tod 1972 ins Privatleben zuruck.
Obwohl Truman wahrend seiner Prasidentschaft als außerst unpopular galt, gehort er im 21. Jahrhundert bei Umfragen unter Amerikanern zu den beliebtesten US-Prasidenten. Auch die meisten Historiker bewerten seine Amtszeit heute uberwiegend sehr positiv.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_S._Truman"
}
|
c-13905
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Pridi_Banomyong"
}
|
||
c-13906
|
Der Begriff Monarchie (altgriechisch μοναρχια monarchia, deutsch ‚Alleinherrschaft‘, aus μονος monos, deutsch ‚ein‘ und αρχειν archein, deutsch ‚herrschen‘) bezeichnet eine Staatsform mit einer Person, dem Monarchen, welcher das Amt des Staatsoberhaupts typischerweise auf Lebenszeit oder bis zu seiner Abdankung innehat. Die Monarchie bildet somit das Gegenstuck zur modernen Republik. In der Regel wird das Amt aus dem Kreis adliger Personen durch Vererbung (dynastisches Prinzip) oder Wahl ubertragen.
Die Machtbefugnisse der betreffenden Person konnen je nach Form der Monarchie variieren: Dieses Spektrum reicht von fast keiner (parlamentarische Monarchie) uber eine durch eine Verfassung begrenzte (konstitutionelle Monarchie) bis hin zu alleiniger, uneingeschrankter politischer Macht (absolute Monarchie). Die entartete, illegitime und despotische Form der Monarchie ist die Tyrannis.
Zusatzlich wird zwischen Erb- und Wahlmonarchie unterschieden: In der erstgenannten Form wird der Herrscher durch Erbfolge, in der zweitgenannten durch eine Wahl meist auf Lebenszeit bestimmt. In Erbmonarchien wird der Herrschaftsanspruch des Staatsoberhauptes in der Regel auf eine gottliche Bestimmung zuruckgefuhrt (sakrale Elemente). Auch eine Verehrung als eigenstandige Gottheit oder Person gottlichen Ursprungs (Gottkonig, Sakralkonigtum) ist moglich (sehr verbreitet in antiken Reichen, z. B. im alten Agypten oder – in abgewandelter Form – im Romischen Reich, aber auch in neuerer Zeit, z. B. im Kaiserreich China oder bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan).
Die Staatstheorie beziehungsweise -ideologie, die die Monarchie rechtfertigt, ist der Monarchismus oder auch Royalismus. Ein Anhanger der Monarchie wird als Monarchist oder Royalist bezeichnet, ein Gegner als Republikaner, Monarchomach oder auch Antimonarchist.
Geschichtliche Entwicklung Die Art von Monarchie, welche sich in Auslegung auf eine Gottheit oder auf einen vergottlichten Ursprungsheros und dessen Abstammungslinie legitimiert, geht in aller Regel der Kulturgeschichte voran. Sie ist Merkmal der gentilizischen und traditionellen Gesellschaft, soweit in ihr der Familienverband und das System der Abstammung großes Gewicht haben. In diesem Sinne besteht das deutsche Wort „Konig“ als alte Ableitung von cunne ‚Volksstamm‘ fort.
Die entsprechende Monarchie kann bis in das alte Agypten zuruckgefuhrt werden, wo der Pharao als zukunftiger Gott verehrt wurde. Vergleichbar sind Romulus fur das romische Konigtum, und spater Gaius Iulius Caesar und Kaiser Augustus. Fur andere Kulturkreise lasst sich das kaiserliche System im alten China aufrufen, das den Herrscher unter anderem als „Sohn des Himmels“ (chinesisch 天子, Pinyin tianzi) bezeichnete, in seiner Herrschaft ein „Mandat des Himmels“ (天命, tianming) erblickte und ihm dadurch absolute Macht verlieh.
Zur gelegentlich vorkommenden parallelen Herrschaft mehrerer Monarchen siehe Dyarchie.
Antike Theoriebildung Im antiken Griechenland wurde Monarchie zunachst pejorativ verstanden und synonym zur Tyrannis verwendet. In der attischen Demokratie wurde das Wort dann auf die mythischen Konige wie Theseus angewendet, nicht aber auf die negativ bewerteten Herrscher des Perserreichs. Herodot (ca. 480–420 v. Chr.) bezeichnet die „guten“ Alleinherrscher, die am Gemeinwohl orientiert sind, als Monarchen. Auch bei Platon (427–347 v. Chr.) ist die Monarchie die am Gemeinwohl orientierte idealtypische Herrschaft eines Einzelnen. Dies Verstandnis wurde zunachst von seinem Schuler Aristoteles (384–324 v. Chr.) und spater vom griechischen Historiker Polybios (um 200 v. Chr. bis etwa 118 v. Chr.) weiterentwickelt. Sie fallt wie die Tyrannis unter die Herrschaft eines einzelnen: Aristoteles benutzt hierfur Monarchie als Oberbegriff, der die gute Basilie (βασιλεια ‚Konigsherrschaft‘) und die schlechte Tyrannis umfasst.
Grundsatzlich war in der antiken Staatstheorie das Konzept verbreitet, dass jede am Gemeinwohl orientierte Herrschaftsform (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) ein entartetes, nur an den Einzelinteressen der Herrschenden orientiertes Gegenstuck hat (Tyrannis, Oligarchie, Ochlokratie). Aus der Erkenntnis heraus, dass diese sechs Grundformen der Verfassungen notwendigerweise instabil sind, hat vor allem Polybios die Idee des Verfassungskreislaufs entwickelt, die diese Herrschaftsformen zueinander in Beziehung setzt. Empirisch haben die antiken Autoren aber vor allem Mischformen gefunden.
Mittelalter Im 15. Jahrhundert wurde im romisch-deutschen Reich verfassungspolitisch zwischen dem Konig, der unter Einbeziehung der Kurfursten und Reichsfursten regierte, und dem alleinherrschenden Monarchen (monarcha, unus princeps) unterschieden. Angesichts einer „Vielheit von Herrschaftsgewalten“ (pluralitas principum) sei der Konig, wie der Erzbischof von Trier Jakob I. von Sierck 1452/53 konstatierte, kein Monarch, dem „jedermann in samtlichen Sachen gehorchen musse“, oder wie zeitgleich Enea Silvio Piccolomini, der Sekretar Konig Friedrichs III. und spatere Papst Pius II., schrieb, „der befehlen und zwingen konne“. Nach seiner Auffassung sollte der Konig aber, im Gegensatz zu der Vorstellung des Kurfursten, von Rechts wegen ein Monarch sein. Dies deckte sich mit den Lehren der am romisch-kanonischen Recht ausgebildeten Juristen im Reich, die den Konig und Kaiser als imperator modernus und princeps, als Nachfolger der antiken Imperatoren betrachteten und ihm eine entsprechende „Machtvollkommenheit“ (plenitudo potestatis) zusprachen. Diese Position vertraten die kaiserliche Seite und insbesondere der rechtsgelehrte kaiserliche Fiskal, aber auch in Rechtsgutachten gelehrte Juristen und Rate von Fursten und Juristen von Reichsstadten. Demnach besaß der Kaiser eine am Recht und an den bestehenden Gesetzen orientierte „ordentliche“ Rechtsmacht (ordinaria potestas) und eine „absolute“ oder „freie“, von den menschlichen Gesetzen entbundene Rechtsmacht (absoluta potestas). Die Kurfursten forderten Kaiser Friedrich III. 1486 auf, gegenuber dem kaiserlichen Kammergericht kunftig nur seine „ordentliche Gewalt und nicht die Vollkommenheit der kaiserlichen Gewalt“ zu gebrauchen und auf Eingriffe in den Gang der Rechtsprechung zu verzichten. Ein Wandel weg von einer monarchischen Auffassung von der koniglich-kaiserlichen Herrschaftsgewalt vollzog sich seit der Reichsreformgesetzgebung des Wormser Reichstags von 1495 und der Wahlkapitulation Karls V. von 1519, als der Vertragscharakter bei der Gesetzgebung und in den Beziehungen zwischen Kaiser und Reichsstanden deutlich hervortrat, die Gewalt des Kaisers daher als „limitiert“ erschien und das Reich eher als Aristokratie denn als Monarchie klassifiziert wurde. Von juristischer Seite nahm im fruhen 16. Jahrhundert vor allem Ulrich Zasius in Rechtsgutachten eine rechtliche Einhegung der kaiserlichen summa potestas und plenitudo potestatis vor.
Wahl- und Erbmonarchie Die Wahlmonarchie (mit oft eingeschranktem Kandidaten- und Wahlerkreis) scheint historisch alter als die Erbmonarchie zu sein, die die Burgerkriegsgefahr bei der Erbfolge erfolgreich verringerte. Das Konigreich Polen und das Heilige Romische Reich Deutscher Nation waren bis zu ihrem Ende Wahlmonarchien. Folgende vier Lander sind gegenwartig Wahlmonarchien: der Vatikan, Kambodscha, Malaysia und die Vereinigten Arabischen Emirate.
In Europa war bis zur Christianisierung meist eine Form der Wahlmonarchie zu finden. Sowohl germanische als auch keltische Stamme wahlten ihre „Hauptlinge“, welche jedoch in der Regel machtigen und einflussreichen Familienclans entstammten. Dennoch galt fur diese keine automatische Erbfolge wie in einer Erbmonarchie. Bei Tod oder bei Verlust des Konigsheils wurde ein neuer Anfuhrer durch verschiedene Rituale (Thing, Schilderhebung) gewahlt oder proklamiert. In der Sachsischen Ordnung wurde nur fur die Zeit eines Krieges, eines Feld- oder Beutezuges ein Herzog gewahlt, der nach Ende dieses Krieges wieder zum einfachen Freien wurde. Eine andere Herrschaft wurde von den freien Bauernkriegern abgelehnt.
Diese vorfeudalistische Ordnung, die teilweise demokratische Zuge hatte, fand ihr Ende mit der Christianisierung. Als im Romischen Reich Kaiser Konstantin der Große mit dem Toleranzedikt von Mailand im Jahr 313 das Christentum den anderen Religionen gleichstellte, begann eine Allianz zwischen den kirchlichen Institutionen und der staatlichen Autoritat. Die damalige Kirche legitimierte die absolute Herrschaft und die Erbfolge mit der Ideologie der Herrschaft von Gottes Gnaden. Im Gegenzug sicherte sie sich selbst dadurch eine privilegierte Stellung und Partizipation an der Macht, die sie in den meisten Landern bis in die Zeit der Franzosischen Revolution behielt.
Europa wurde im Mittelalter zunehmend von Erbmonarchien beherrscht: Der Monarch stand an der Spitze von Herrschaftsgebieten, die als Lehen an Gefolgsleute vergeben wurden. Dieses Feudalsystem bildete die Grundlage der Verwaltung und des Militarwesens in den beherrschten Gebieten, litt jedoch am zunehmenden Anspruch der Lehnsnehmer, selbst in Erbfolge uber ihre Gebiete zu verfugen und aus diesen wiederum an Gefolgsleute Lehen zu vergeben. Bis zum Aufziehen fruher Formen des modernen Staats verliert der romisch-deutsche oder polnische Monarch daher faktisch immer weiter an Macht an den so gebildeten feudalen Adel, wogegen die franzosische oder preußische Monarchie ihn entmachtete und eine absolutistische Monarchie durchsetzen konnte.
Formen der Monarchie Im 19. und fruhen 20. Jahrhundert bildeten sich im Europa der Neuzeit weitere Differenzierungen bzw. Subtypen heraus, die neben der Staatsform auch Aufschluss uber das Regierungssystem bzw. die Machtverteilung geben. Die Unterteilung erfolgt heute meist in absolute, konstitutionelle und parlamentarische Monarchie. Diese Trias wird auch von bedeutenden Politologen wie Karl Loewenstein, Ernst Fraenkel und Eckhard Jesse verwendet.
= Absolute Monarchie =
In dieser Form besitzt der Monarch dem Anspruch nach die alleinige Staatsgewalt; der Adel verliert seine Position im Feudalsystem im Austausch gegen Privilegien im Staats- und Militarwesen. Der Monarch ist legibus absolutus (Latein fur „von den Gesetzen losgelost“), das bedeutet, dass er den Gesetzen, die er selbst erlasst, nicht untersteht. Das bekannteste Beispiel fur den Anspruch auf absolute Herrschaft des Monarchen ist der Sonnenkonig Ludwig XIV., dessen Selbstverstandnis « L’Etat, c’est moi » (deutsch: „Der Staat bin ich“) als geradezu prototypisch fur diese Entwicklung angesehen werden kann. Der absolute Machtanspruch ist auf Dauer jedoch nicht gegen den Adel und das aufstrebende Burgertum durchzusetzen; dort, wo die absolute Monarchie uberlebt, nimmt sie einzelne Elemente der Republik oder Demokratie an. Trotz Schwierigkeiten in der Abgrenzung des Begriffes konnen heute (2022) Brunei, die Vatikanstadt, Saudi-Arabien, Eswatini, Katar und Oman als derzeit existierende absolute Monarchien gelten. In Nepal musste der bis dahin absolut regierende Konig im Fruhjahr 2006 seine weitgehende Entmachtung hinnehmen. Im Mai 2008 wurde in Nepal die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen. In Bhutan wurde die absolute Monarchie am 18. Juli 2008 durch eine Verfassung in eine konstitutionelle Monarchie umgewandelt. Die entartete, despotische und selbstherrliche Form der absoluten Monarchie wird auch als Tyrannis bezeichnet.
= Konstitutionelle Monarchie =
In einer konstitutionellen Monarchie ist die Macht des Monarchen nicht mehr absolut, sondern durch die Verfassung (Konstitution) begrenzt und geregelt. Monarch und Parlament mussen sich die Macht teilen. So bedurfen Gesetze der Zustimmung beider Organe. Die Regierung wird aber weiterhin vom Monarchen und nicht von einer Volksvertretung gelenkt und ist von diesem abhangig, d. h., er kann die Regierung absetzen. Beispiele dafur sind das Deutsche Kaiserreich (1871–1918) sowie Monaco (seit 1911). Die konkrete Machtverteilung zwischen Parlament und Monarch variiert dabei und kann mal in die eine oder in die andere Richtung schlagen. Das Furstentum Liechtenstein ist zum Beispiel eine konstitutionelle Erbmonarchie, in der die Regierung vom liechtensteinischen Landtag bestimmt und lediglich vom Fursten ernannt wird. Allerdings ist die Regierung auch in Liechtenstein vom Vertrauen des Fursten abhangig. Somit stellt das Furstentum Liechtenstein eine konstitutionelle Monarchie mit stark demokratisch-parlamentarischen Zugen dar.
= Parlamentarische Monarchie =
Parlamentarische Monarchien besitzen ein parlamentarisches Regierungssystem. Der Regierungschef und ggf. auch die anderen Regierungsmitglieder werden vom Parlament gewahlt oder faktisch bestimmt und sind von dessen Vertrauen abhangig. Der Monarch hat im Gegensatz zur konstitutionellen Monarchie nicht die Moglichkeit, die Regierung abzusetzen. Er ubt in der Regel wenig bis gar keinen Einfluss auf die Staatsgeschafte aus, da diese vom Parlament und der Regierung gefuhrt werden, die somit Trager der Staatsgewalt sind. Daher kommen dem Monarchen zumeist nur noch reprasentative und staatsnotarielle Aufgaben zu, wie die formelle Ernennung des Regierungschefs und der Minister oder die Unterzeichnung von Gesetzen. Hierbei ist sein Spielraum stark begrenzt, da er die Entscheidungen des Parlaments nicht blockieren kann – er verfugt uber kein Veto-Recht. Die Monarchie steht unter dem Primat des Parlaments und konnte sogar durch das Parlament oder ein Referendum abgeschafft werden.
Fast alle westeuropaischen Monarchien haben sich im Laufe des 19. und fruhen 20. Jahrhunderts zu parlamentarischen Monarchien entwickelt. Die parlamentarische Monarchie ist in der Regel sukzessive als Folge von Demokratisierungsprozessen in den europaischen Monarchien entstanden. Sie ist das Resultat des Versuchs, die Monarchien zu demokratisieren, ohne sie abzuschaffen. Weitere Beispiele sind die 15 Commonwealth-Monarchien.
= Abgrenzung =
Was die Zuordnung einzelner Staaten zu der konstitutionellen oder der parlamentarischen Monarchie erschwert, ist die Tatsache, dass Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit haufig auseinanderklaffen. Rein verfassungsrechtlich, also de jure sind die meisten Monarchien konstitutionell, in der politischen Praxis aber ist die Mehrheit der Monarchien parlamentarisch. Die Monarchen verzichten auf die Wahrnehmung ihrer Prarogativen, mischen sich nicht in das politische Tagesgeschaft ein und beschranken sich auf ihre reprasentative und vermittelnde Rolle. Ausschlaggebend fur die Zuordnung ist letztendlich „nicht das Ausmaß der formellen Machtbefugnisse […], sondern die praktische Ausgestaltung des Amtes als Staatsoberhaupt“. Krisen- oder Ausnahmesituationen konnen jedoch auch zu einem Wandel im Amtsverstandnis fuhren.
Im englischsprachigen Raum ist der Begriff parliamentary monarchy unublich, weshalb hier stets von constitutional monarchy gesprochen wird. Eine Differenzierung anhand der Begrifflichkeit ist daher nicht moglich. Die Trennung zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie ist also im Englischen oft nicht so scharf wie im Deutschen. Grund fur diese Ungenauigkeit ist die Auffassung, dass eine Monarchie mit Verfassung (und damit in der Regel mit einem Reprasentativsystem) sich zwangslaufig zu einem parlamentarischen Regierungssystem entwickelte. Schließlich sind Gesetzgebung und Haushalt Machtmittel des Parlaments, um eine Politik eigener Wahl durchzusetzen.
Liste der gegenwartigen Monarchien = Anerkannte unabhangige Staaten =
Die folgende Liste umfasst 43 Monarchien, davon 42 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sowie die Vatikanstadt (offiziell vertritt der Heilige Stuhl die Vatikanstadt als Volkerrechtssubjekt in diplomatischen Beziehungen). Folglich sind etwa ein Viertel der anerkannten unabhangigen Staaten Monarchien. Die Liste der unabhangigen souveranen Monarchien umfasst derzeit folgende Staaten:
= Subnationale Monarchien =
Abgesehen von den oben aufgefuhrten Landern gibt es folgende Monarchien, die jeweils innerhalb eines international anerkannten unabhangigen Staates mit foderalem Aufbau liegen. Teilweise sind diese Gesamtstaaten sogar auf Bundesebene republikanisch verfasst.
= Kronbesitzungen der britischen Krone =
Siehe auch Liste der Monarchien in Afrika
Liste der Monarchien in Asien
Liste der Monarchien in Europa
Liste der reichsten Monarchen
Monarchismus im deutschsprachigen Raum
Thronpratendent
Autokratie
Liste von Kopfbedeckungen monarchischer Oberhaupter auf Staatsebene
Literatur Horst Dreitzel: Monarchiebegriffe in der Furstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormarz. 2 Bande. Bohlau, Koln u. a. 1991, ISBN 3-412-22788-9.
Hartmut Fahndrich (Hrsg.): Vererbte Macht. Monarchien und Dynastien in der arabischen Welt. Campus, Frankfurt am Main / New York 2005, ISBN 3-593-37733-0.
Pierre Miquel: Europas letzte Konige. Die Monarchie im 20. Jahrhundert. DVA, Stuttgart 1994, ISBN 3-421-06692-2 (zuletzt: Albatros, Dusseldorf 2005, ISBN 3-491-96149-1)
Torsten Oppelland: Die europaische Monarchie. Ihre Entstehung, Entwicklung und Zukunft. Merus, Hamburg 2007, ISBN 978-3-939519-52-2.
Gisela Riescher, Alexander Thumfart: Monarchien. Nomos, Baden-Baden 2008, ISBN 978-3-8329-3827-7.
Weblinks Literatur von und uber Monarchie im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Der Begriff Monarchie (altgriechisch μοναρχια monarchia, deutsch ‚Alleinherrschaft‘, aus μονος monos, deutsch ‚ein‘ und αρχειν archein, deutsch ‚herrschen‘) bezeichnet eine Staatsform mit einer Person, dem Monarchen, welcher das Amt des Staatsoberhaupts typischerweise auf Lebenszeit oder bis zu seiner Abdankung innehat. Die Monarchie bildet somit das Gegenstuck zur modernen Republik. In der Regel wird das Amt aus dem Kreis adliger Personen durch Vererbung (dynastisches Prinzip) oder Wahl ubertragen.
Die Machtbefugnisse der betreffenden Person konnen je nach Form der Monarchie variieren: Dieses Spektrum reicht von fast keiner (parlamentarische Monarchie) uber eine durch eine Verfassung begrenzte (konstitutionelle Monarchie) bis hin zu alleiniger, uneingeschrankter politischer Macht (absolute Monarchie). Die entartete, illegitime und despotische Form der Monarchie ist die Tyrannis.
Zusatzlich wird zwischen Erb- und Wahlmonarchie unterschieden: In der erstgenannten Form wird der Herrscher durch Erbfolge, in der zweitgenannten durch eine Wahl meist auf Lebenszeit bestimmt. In Erbmonarchien wird der Herrschaftsanspruch des Staatsoberhauptes in der Regel auf eine gottliche Bestimmung zuruckgefuhrt (sakrale Elemente). Auch eine Verehrung als eigenstandige Gottheit oder Person gottlichen Ursprungs (Gottkonig, Sakralkonigtum) ist moglich (sehr verbreitet in antiken Reichen, z. B. im alten Agypten oder – in abgewandelter Form – im Romischen Reich, aber auch in neuerer Zeit, z. B. im Kaiserreich China oder bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan).
Die Staatstheorie beziehungsweise -ideologie, die die Monarchie rechtfertigt, ist der Monarchismus oder auch Royalismus. Ein Anhanger der Monarchie wird als Monarchist oder Royalist bezeichnet, ein Gegner als Republikaner, Monarchomach oder auch Antimonarchist.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Monarchie"
}
|
c-13907
|
Als Siam (auch Siem, Sejem, Sayam, thailandisch สยาม [sajaːm] ) wurde bis 1939 das Land in Sudostasien bezeichnet, das zum Großteil dem heutigen Thailand entspricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der japanischen Besatzung wurde der Name von 1946 bis 1949 noch einmal verwendet.
Das Kerngebiet des historischen Siam lag im Becken des Mae Nam Chao Phraya (Chao-Phraya-Fluss). Zur Zeit seiner großten Ausdehnung im 19. Jahrhundert entsprach sein Einflussbereich etwa dem heutigen Staatsgebiet von Thailand, Kambodscha und Laos sowie Teilen von Malaysia, Myanmar und Vietnam.
Siam war, wie andere sudostasiatische Reiche, bis weit in das 19. Jahrhundert kein Nationalstaat mit fest definierten Grenzen. Mit Siam wurden vielmehr im Ausland die Gebiete bezeichnet, die von einem bestimmten Machtzentrum – Sukhothai von 1238 bis 1351, Ayutthaya bis 1767, Thonburi bis 1782 und dann Rattanakosin beziehungsweise Bangkok – abhangig waren. Der Grad der Abhangigkeit war jedoch gestuft und nahm vom Zentrum zum Rand hin ab. Wahrend in Gebieten nahe der jeweiligen Hauptstadt der Konig direkt oder durch von ihm eingesetzte Gouverneure herrschte, bestanden an den Randern Gemeinwesen mit großer Autonomie und eigenen Herrschern, die Siam zu Tribut verpflichtet waren. Diese konnten aber auch von mehreren Reichen gleichzeitig abhangig sein, also zu einander uberlappenden Einflusszonen gehoren (Mandala-Modell).
Erst ab der Regierungszeit Konig Ramas IV. (Mongkut; 1851–1868) wurde Siam auch als Eigenbezeichnung verwendet, zuvor war die Eigenbezeichnung jeweils der Name der Hauptstadt gewesen. Die Vorstellung von Siam als Gebietskorperschaft bzw. als einem geographisch definierten Staatsgebiet (Geo-body) hat sich erst wahrend der Kolonisierung der Siam umgebenden Gebiete durch Frankreich und Großbritannien entwickelt. Siam selbst war nie eine Kolonie.
Geschichte des Begriffs = Fruhe Verwendungen =
Thailandische Historiker verweisen gerne auf ein Relief im Angkor Wat (sudliche Galerie) aus dem 12. Jahrhundert, auf dem zum ersten Mal von „Siam“ die Rede ist. Hier wird in einer langen Truppen-Parade vor Suryavarman II. ein gewisser Jayasinghavarman dargestellt, der Truppen aus Lavo (heute Lop Buri) und eine Gruppe von „Syam Kuk“-Soldnern anfuhrt. Diese „braunhautigen Menschen“ – dies ist wohl die ursprungliche Bedeutung – sollen aus der Gegend des Flusses Kok stammen, der in der heutigen Provinz Chiang Rai fließt. Im Pali-Englisch-Lexikon von Rhys Davids (The Pali Text Society, London) wird Sayam, das die Wurzel Sama hat, ubersetzt mit ‚schwarz, gelb, grun oder golden‘.
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts wird in chinesischen Quellen „Siem“ erwahnt, ein Thai-Volksstamm aus dem Chao-Phraya-Tal.
Einer der ersten Thai-Texte, die den Begriff „Siam“ verwenden, ist das epische Gedicht Yuan Phai aus der Zeit Konig Borommatrailokanats von Ayutthaya (um 1475). Dort wird „Siam“ aber nur in Komposita mit Sanskrit- oder Pali-Begriffen verwendet und zwar in der fur diese Sprachen ublichen Syntax Bestimmungswort–Grundwort, statt wie auf Thai ublich Grundwort–Bestimmungswort. Konkret ist im Yuan Phai von „siam-phak“ (von Pali bhaga) die Rede, also der „Region Siam“. Ahnlich ist die Verwendung von „siam-desa“ („Land Siam“) und „siam-rattha“ („Staat Siam“) in der im fruhen 16. Jahrhundert in Chiang Mai auf Pali verfassten Jinakalamali-Chronik: auch dort kommt „Siam“ nur in Kombination mit Pali-Worten vor, ist also klar als Fremd- oder Lehnwort und nicht als ursprunglicher Thai-Begriff erkennbar. Demgegenuber steht die Verwendung von Thai, welches bereits in den Ramkhamhaeng-Inschriften der Sukhothai-Ara (um 1300) zur Beschreibung individueller Personen, der eigenen Ethnie, sozialer Einheiten, der eigenen Schrift und des Kalenders verwendet wird und in der fur die thailandische Sprache typischen Syntax (Grundwort–Bestimmungswort) mit Thai-Erbworten kombiniert wird (z. B. Muang Thai, „Gemeinwesen der Thai“). Diese Verwendung zieht sich bis ins fruhe 19. Jahrhundert. In den 1805 unter Rama I. kodifizierten Drei-Siegel-Gesetzen kommt zwar uber hundert Mal Thai, aber nur dreimal Siam vor, und zwar ausschließlich in Kombination mit Lehnworten aus dem Sanskrit und (aus Thai-Sicht) umgekehrter Syntax: „siam-phasa“ (von Sanskrit bhasa) fur „siamesische Sprache“ und „siam-prathet“ (von prades) fur das „Land Siam“.
= ‚Siam‘ als Fremd- und als Eigenbezeichnung =
Die ersten Europaer, die uber Siam berichteten, waren die Portugiesen, die unter Vizekonig Afonso de Albuquerque nach der Eroberung von Malakka im Jahr 1511 dort von einem „Konigreich Sayam“ und einem Konig in Ayutthaya erfahren hatten.
Simon de La Loubere, der sich 1687 als franzosischer Gesandter in Ayutthaya aufhielt, schrieb 1691 in seinem Buch Du royaume de Siam (deutsch Beschreibung des Konigreichs Siam):
„Der Name Siam ist den Siamesern unbekannt. Es ist dieses eines von den Worten, deren sich die Portugiesen in Indien bedienen, und deren Ursprung man kaum entdecken kann. […] Die Siamesen haben sich selbst den Namen Tai gegeben, das ist die Freien, welche Bedeutung dieses Wort in ihrer Sprache gegenwartig hat. […] Diejenigen, welche die Sprache von Pegu [d.i. die Mon-Sprache] verstehen, versichern, daß Siam in dieser Sprache frey heiße.“
(„Le nom de Siam est inconnu aux Siamois. C’est un de ces mots dont les Portugais des Indes se servent, & dont on a la peine de decouvrir l’origine. […] Les Siamois se sont donne le nom de Tai, c’est a dire libres, selon ce que ce mot signifie aujourd’huy en leur Langue […] Et ceux qui savent la Langue du Pegu assurent que Siam en cette Langue veut dire libre“).
Sein Zeitgenosse Kosa Pan, Leiter der siamesischen Gesandtschaft zum franzosischen Hof Ludwigs XIV. im Jahr 1686, sprach auf Franzosisch von Siam, in seinen auf Thai verfassten Berichten schrieb er jedoch Krung Sri Ayudhya (‚strahlende Stadt Ayutthaya‘).
Der preußische Landvermesser und Kartograph Heinrich Berghaus bestatigte in seiner 1832 im Band Asia erschienenen Erlauterung der Karte Hinterindiens, dass ‚Siam‘ die europaische, zuerst von den Portugiesen verwendete, Fremdbezeichnung, die Eigenbezeichnung dagegen „Muan-Thai“ oder „Meuang-Tai“ sei. Er fuhrte den Begriff allerdings auf die birmanische Bezeichnung Shan (fur das bis heute so genannte Tai-Volk, das Berghaus zusammen mit den Siamesen als eine einzige Nation betrachtete) zuruck.
Erst Konig Rama IV. (Mongkut) begann damit, als Krung Sayam (กรงสยาม, wortlich ‚Stadt Siam‘) zu unterzeichnen. Dies bezeichnete entsprechend der weiterhin ublichen Identifikation von Herrscher, Hauptstadt und Reich erstens ihn personlich, zweitens die Stadt Bangkok und drittens das von ihm beherrschte Konigreich. Mit der Bezeichnung ‚Siam‘ betonte der Hof unter Mongkut die ethnische Vielfalt und Große des Reichs, das eben nicht nur das „Land der Thai“ (muang thai) umfasste, sondern auch die Volker und Furstentumer, die „den Schutz des Konigs gesucht“ hatten (Lao, Khmer, Malaien und ‚Khaek‘, also Inder oder Muslime). In seiner Korrespondenz mit Europaern unterschrieb Mongkut mit Rex Siamensium (Latein fur ‚Konig der Siamesen‘). Als Mongkuts Sohn Chulalongkorn (Rama V.) 1872 Indien besuchte, stellte er sich als „Konig von Siam, Souveran der Laos und Malaien“ vor.
= Siam als „Geo-body“ =
Bis in die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts gab es aber noch keine Vorstellung, welcher geographische Raum genau mit ‚Siam‘ bezeichnet sei. Wie andere vorkoloniale „Reiche“ in Sudostasien, die aufgrund ihrer netzwerkartigen Struktur besser als Mandalas beschrieben werden, definierte sich sein Herrschaftsbereich durch personliche Loyalitaten und Abhangigkeiten und nicht anhand von raumlichen Grenzen. ‚Siam‘ war demnach immer das, was der Herrschaft des jeweiligen Konigs unterstand. Die Bindung der Furstentumer an seinen Randern an die Zentralgewalt konnte im Laufe der Zeit zu- und abnehmen. Die siamesischen Konige bemuhten sich bis zu Rama IV. nie, ihr Herrschaftsgebiet erforschen oder kartographieren zu lassen. Siam hatte, in der von dem thailandischen Historiker Thongchai Winichakul eingefuhrten Terminologie, keinen „geo-body“.
Im 19. Jahrhundert schritt jedoch die Kolonisierung Sudostasiens durch Großbritannien und Frankreich voran. Die beiden Imperien vermaßen und kartographierten ihre Kolonialgebiete detailliert und legten deren Grenzen, wie in Europa ublich, exakt fest. Dadurch wurde zwangslaufig auch Siam raumlich definiert, und zwar zunachst negativ: Siam umfasste demnach die Gebiete, die (noch) nicht von Briten oder Franzosen kolonisiert waren, den „Raum dazwischen“.
Die vierte Auflage von Meyers Konversations-Lexikon (erschienen 1885–1892) definierte Siam als „großes Reich auf der Halbinsel Hinterindien“ mit einer Flache von 726.850 km² und 5.750.000 Einwohnern. Dieses wurde gegliedert in „eigentliches Siam und Laoland“, „Siemrab und Battambong“ (also die nach 1867 bei Siam verbliebenen nordlichen und westlichen Teile Kambodschas) sowie „tributare Malaienstaaten“.
Die beiden Kolonialmachte dehnten ihren Herrschaftsanspruch auch auf zuvor von Siam abhangige Gebiete aus. Das einschneidendste Ereignis in dieser Entwicklung war der sogenannte Paknam-Zwischenfall 1893, bei dem franzosische Kanonenboote den Chao-Phraya-Fluss in Richtung Bangkok befuhren und sich ein Feuergefecht mit einem siamesischen Kustenfort lieferten. Als die Franzosen anschließend eine Seeblockade errichteten, sah Siam sich gezwungen, die franzosischen Forderungen zu erfullen und große Teile des heutigen Laos an Frankreich abzutreten, um wenigstens seine Unabhangigkeit zu erhalten.
Zugleich setzte Konig Chulalongkorn radikale politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche und militarische Reformen durch. Diese verstarkten die Integration der am Rand des Herrschaftsbereichs gelegenen Regionen, die zuvor nicht als Teile des eigentlichen Siam gesehen worden waren und hochgradige Autonomie genossen hatten, in den siamesischen Staat. Die heutige Nord- und Nordostregion wurden anschließend nicht mehr als Lander der „Lao“, sondern als konstitutive Teile Siams betrachtet, ebenso die nordmalaiischen Sultanate im Suden des Reiches. So bekam Siam auch von innen eine positive raumliche Definition als „unser Raum“, der gegen die Bedrohung von außen zu verteidigen war.
Nach weiteren erzwungenen Abtretungen an das britische und das franzosische Kolonialreich nahm Siam 1909 genau die Grenzen des heutigen Thailands an. 1932 unternahm eine Gruppe jungerer Militars und Intellektueller einen Umsturz, der die Staatsform von einer absoluten zu einer konstitutionellen Monarchie anderte.
= Umbenennung in Thailand und Namensdiskussion seitdem =
Am 24. Juni 1939 wurde der Landesname auf Veranlassung des autoritar regierenden Ministerprasidenten Plaek Phibunsongkhram von „Siam“ in „Thailand“ (Thai: ประเทศไทย – [pratʰeːt-tʰai]) geandert. Als Grund wurde angegeben, dass „Siam“ ein Name sei, der nur von Auslandern benutzt worden sei. ‚Thailand‘ sollte zum einen die Vorherrschaft der Tai-Stamme – die als einheitliche Thai-Nation definiert wurden – innerhalb des Landes manifestieren, als auch den Anspruch, die zerstreute „thailandische Volkerfamilie“, die teilweise in „verlorenen Gebieten“ lebte, in einem „Groß-Thailandischen Reich“ zusammenzufuhren, also zu expandieren. Dieses hat bis heute fur kontroversen Diskussionsstoff gesorgt. Nach der vorlaufigen Entmachtung Phibunsongkhrams erfolgte mit der neuen Verfassung von 1946 die Ruckbenennung in Siam, nach der zweiten Machtubernahme des nationalistischen Feldmarschalls wurde jedoch bereits 1949 wieder „Thailand“ durchgesetzt.
Einige Intellektuelle, einschließlich Sulak Sivaraksa und der Historiker Charnvit Kasetsiri, bevorzugen weiterhin die Bezeichnung ‚Siam‘. Ihr wichtigstes Argument ist, dass ‚Siam‘ weniger nationalistisch konnotiert sei als ‚Thailand‘ und anders als dieses auch die Minderheitenethnien einschließe.
Anlasslich der Verabschiedung einer neuen Verfassung im Jahr 2007 schlug M. L. Panadda Diskul, Prasident der Prinz-Damrong-Rajanubhab-Bibliothek, vor, den Namen „Siam“ parallel zu „Thailand“ als zweiten Namen zu benutzen. Griechenland sei schließlich auch als Hellas bekannt, die Schweiz auch als Helvetia und die Niederlande auch als Holland. Die junge Generation solle nicht glauben, dass „Siam“ nur der Name von Einkaufszentren oder eines Kinos sei.
Siehe auch Geschichte Thailands
Sukhothai (Konigreich) fur die Epoche von 1238 bis 1438
Konigreich Ayutthaya fur die Epoche von 1351 bis 1767
Konigreich Thonburi fur die Phase von 1767 bis 1782
Rattanakosin und Chakri-Dynastie fur die Zeit ab 1782
Literatur Chris Baker, Pasuk Phongpaichit: A History of Thailand. 2. Auflage, Cambridge 2009.
Volker Grabowsky: Kleine Geschichte Thailands. C. H. Beck, Munchen 2010, ISBN 978-3-406-60129-3, insbesondere Abschnitt „Thailand oder Siam?“, S. 17–20.
Jit Phumisak: ความเป็นมาของคำสยาม ไทย, ลาว และขอม และลักษณะทางสังคมของชือชนชาติ (Khwampenma khong kham Sayam Thai Lao lae Khom lae laksana thangsangkhom khong chu chongchat; „Etymologie der Bezeichnungen Siam, Thai, Lao und Khom sowie die gesellschaftlichen Eigenschaften der Ethnonyme“), 1976.
Sven Trakulhun: Siam und Europa. Das Konigreich Ayutthaya in westlichen Berichten 1500–1670. Wehrhahn, Laatzen 2006, ISBN 3-86525-252-4.
Thongchai Winichakul: Siam Mapped. A History of the Geo-Body of a Nation. University of Hawai’i Press, Honolulu 1994, ISBN 0-8248-1337-5.
David K. Wyatt: Thailand, a Short History. Silkworm Books, Chiang Mai 2001, ISBN 974-7047-44-6.
Zeitgenossische Berichte
Francois-Timoleon de Choisy: Journal du voyage de Siam fait en 1685 et 1686. S. Mabre-Cramoisy, Paris 1687.
Guy Tachard: Voyage de Siam, des Peres Jesuites, Envoyez par le Roy aux Indes & a la Chine. Avec leurs Observations Astronomiques, Et leurs Remarques de Physique, de Geographie, d’Hydrographie, & d’Histoire. Arnould Seneuze et Daniel Horthemels, Paris 1686 (online bei Google Books).
Guy Tachard: Second Voyage du Pere Tachard et des Jesuites envoyez par le Roy au Royaume de Siam. Pierre Mortier, Amsterdam 1688.
Francois Henri Turpin: Histoire civile et naturelle du royaume de Siam. Costard, Paris 1771 (Digitalisat).
Claude de Forbin: Voyage du comte de Forbin a Siam. Hachette, Paris 1853.
Miscellaneous Articles written for the Journal of Siam Society by His Late Royal Highness Prince Damrong. The Siam Society, Bangkok 1962 (ohne ISBN).
Weblinks Siam. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 14, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig/Wien 1885–1892, S. 925.
Beschreibung des Konigreichs Siam, auszugsweise Ubersetzung des Buches von La Loubere. Archiviert vom Original am 23. Juni 2012; abgerufen am 29. November 2015.
Strategic Siam changes its name to Thai (englisch) – Illustrierter Artikel uber die Namensanderung aus „Life“, 31. Juli 1939
Einzelnachweise
|
Als Siam (auch Siem, Sejem, Sayam, thailandisch สยาม [sajaːm] ) wurde bis 1939 das Land in Sudostasien bezeichnet, das zum Großteil dem heutigen Thailand entspricht. Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Ende der japanischen Besatzung wurde der Name von 1946 bis 1949 noch einmal verwendet.
Das Kerngebiet des historischen Siam lag im Becken des Mae Nam Chao Phraya (Chao-Phraya-Fluss). Zur Zeit seiner großten Ausdehnung im 19. Jahrhundert entsprach sein Einflussbereich etwa dem heutigen Staatsgebiet von Thailand, Kambodscha und Laos sowie Teilen von Malaysia, Myanmar und Vietnam.
Siam war, wie andere sudostasiatische Reiche, bis weit in das 19. Jahrhundert kein Nationalstaat mit fest definierten Grenzen. Mit Siam wurden vielmehr im Ausland die Gebiete bezeichnet, die von einem bestimmten Machtzentrum – Sukhothai von 1238 bis 1351, Ayutthaya bis 1767, Thonburi bis 1782 und dann Rattanakosin beziehungsweise Bangkok – abhangig waren. Der Grad der Abhangigkeit war jedoch gestuft und nahm vom Zentrum zum Rand hin ab. Wahrend in Gebieten nahe der jeweiligen Hauptstadt der Konig direkt oder durch von ihm eingesetzte Gouverneure herrschte, bestanden an den Randern Gemeinwesen mit großer Autonomie und eigenen Herrschern, die Siam zu Tribut verpflichtet waren. Diese konnten aber auch von mehreren Reichen gleichzeitig abhangig sein, also zu einander uberlappenden Einflusszonen gehoren (Mandala-Modell).
Erst ab der Regierungszeit Konig Ramas IV. (Mongkut; 1851–1868) wurde Siam auch als Eigenbezeichnung verwendet, zuvor war die Eigenbezeichnung jeweils der Name der Hauptstadt gewesen. Die Vorstellung von Siam als Gebietskorperschaft bzw. als einem geographisch definierten Staatsgebiet (Geo-body) hat sich erst wahrend der Kolonisierung der Siam umgebenden Gebiete durch Frankreich und Großbritannien entwickelt. Siam selbst war nie eine Kolonie.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Siam"
}
|
c-13908
|
Die Thammasat-Universitat (Thai: มหาวิทยาลัยธรรมศาสตร์, RTGS: Mahawitthayalai Thammasat, Aussprache: [tʰammaʔsaːt], ubersetzt „Universitat der Rechtswissenschaft“ oder der „Moral- und Sittenlehre“) in Bangkok ist eine der renommiertesten Universitaten Thailands. Sie wurde 1934 gegrundet und ist bekannt fur ihre besondere Rolle bei der Demokratisierung des Landes.
Geschichte Die Universitat wurde am 27. Juni 1934 unter maßgeblicher Beteiligung des liberalen Politikers und spateren Ministerprasidenten Pridi Phanomyong gegrundet. Sie trug zunachst den Namen „Universitat der moralischen Wissenschaft und Politik“ (Thai: มหาวิทยาลัยวิชาธรรมศาสตร์และการเมือง, Mahawitthayalai Thammasat lae Kanmueang). Der Begriff Thammasat ist von Sanskrit dharmasastra, ‚Lehre vom Dharma‘ abgeleitet. Es war uber Jahrhunderte eine Art Grundgesetz des alten Siam, eine Sammlung uberlieferter ethischer, religioser, politischer und rechtlicher Normen, die auf die indische Manusmrti („Kodex des Manu“) zuruckgefuhrt wird. Noch heute wird sie „Universitat des Volkes“ genannt, weil sie sich besonders um einen Hochschulzugang fur alle Menschen des Landes bemuht. Die juristische Fakultat bestand schon vor der Grundung der Thammasat-Universitat. Sie war 1907 als Rechtsschule des Justizministeriums gegrundet worden.
Seit 1934 haben uber 200.000 Studenten an der Universitat studiert, von denen funf Premierminister von Thailand, mehrere Prasidenten des Obersten Gerichts, einige Parlamentsmitglieder und Senatoren oder erfolgreiche Geschaftsleute geworden sind.
Die Thammasat-Universitat war zunachst eine spezialisierte Institution, die nur Studien in Jura, Politikwissenschaft und Diplomatie, Wirtschaftswissenschaft sowie Handel und Buchhaltung anbot. Erst ab den 1950er-Jahren kamen nach und nach weitere Studiengange und Fakultaten hinzu. Der Name der Universitat wurde 1952 zu Thammasat-Universitat verkurzt. Im Jahr 1962 war sie die erste thailandische Universitat, die eine Fakultat fur Liberal Arts eroffnete. Das 1955 eingerichtete Graduierteninstitut fur offentliche Verwaltung wurde 1966 als National Institute of Development Administration ausgegliedert.
Wahrend der 1970er-Jahre war die Thammasat-Universitat ein Zentrum der prodemokratischen Studentenbewegung. Sie war ein Ausgangspunkt des Volksaufstandes im Oktober 1973, der zum vorlaufigen Ende der Militardiktatur fuhrte. Konig Bhumibol Adulyadej ernannte den parteilosen Rektor der Universitat, Sanya Dharmasakti, ubergangsweise zum Ministerprasidenten und betraute ihn mit der Ausarbeitung einer neuen, liberaleren Verfassung.
Die Thammasat-Universitat mit ihrer politisch aktiven Studentenschaft und ihrem neuen Rektor Puey Ungphakorn war ein Hassobjekt fur die politische Rechte, die alle progressiven und linksgerichteten Bestrebungen als Unterstutzung des Kommunismus ansah. Im August 1975 uberfiel die Miliz der Roten Buffel die Thammasat-Universitat und versuchte, ihre Gebaude niederzubrennen. Nachdem der entmachtete Militardiktator Thanom Kittikachorn 1976 aus dem Exil nach Thailand zuruckgekehrt war, demonstrierten wieder tausende Studenten und Aktivisten auf dem Campus der Thammasat. Die Proteste wurden am 6. Oktober im Massaker an der Thammasat-Universitat und auf dem Sanam Luang von Polizei und ultrarechten Burgerwehren brutal niedergeschlagen. Dabei starben zahlreiche Studenten der Universitat.
Seit 1984 unterhalt die Universitat eine eigene Fakultat fur Soziologie. Im Jahr 1986 wurde der 40 Kilometer nordlich von Bangkok gelegene Campus Rangsit eroffnet, zunachst als Außenstelle fur naturwissenschaftliche und technische Facher, inzwischen werden die Bachelor-Studiengange aller Fakultaten dort gelehrt. Im Jahr 1991 wurde die medizinische Fakultat der Thammasat-Universitat gegrundet.
Im Jahr 1992 war der Platz vor dem Bodhibaum auf dem Universitatsgelande erneut Ausgangspunkt fur politische Proteste, die sich zu Massenprotesten weit uber die Universitat hinaus ausweiteten und in den blutigen Ereignissen des „Schwarzen Mai“ kulminierten.
Standorte Die Universitat ist auf zwei getrennte Standorte verteilt. Der ursprungliche Standort, Tha-Phrachan-Campus genannt, liegt auf dem Gelande des ehemaligen Palastes (Wang Na) des Vizekonigs am Mae Nam Chao Phraya (Chao-Phraya-Fluss) in der Nahe des Großen Palastes und des Nationalmuseums. Ein neuer Standort wurde im Jahr 1986 etwa 40 Kilometer weiter nordlich in Amphoe Khlong Luang, Provinz Pathum Thani eroffnet, der Campus Rangsit. Hier wurden ursprunglich die naturwissenschaftlichen und technischen Fakultaten angesiedelt. Inzwischen ist der gesamte Lehrbetrieb, mit Ausnahme einiger Master- und Doktoratsstudiengange, dorthin uberfuhrt. Das Rektorat und die große Versammlungshalle fur feierliche Anlasse befinden sich aber immer noch auf dem Tha-Phrachan-Campus. Außerdem gibt es Außenstellen in Pattaya und in Lampang.
2019 wurde in Rangsit der großte Dachgarten Asiens mit Bio-Anbau eroffnet.
= Emblem und Grunder =
Das Emblem der Universitat zeigt die Verfassung Thailands auf zwei Darreichungsschalen (phan) liegend, vor dem Hintergrund eines Dharmachakras (Rad des Gesetzes). Es steht einerseits fur buddhistische Werte und andererseits fur den Einsatz fur Demokratie. Als „Vater“ der Universitat wird Pridi Phanomyong verehrt, nach dem die zentrale Universitatsbibliothek benannt ist und dem ein Platz und eine Statue auf dem Tha-Phrachan-Campus gewidmet sind. Jedes Jahr wird der Geburtstag des Universitatsgrunders als „Pridi-Tag“ begangen, an dem Studenten der Statue Blumenstrauße und -gestecke darbringen.
= Partnerschaften =
Die Universitat ist ein ordentliches Mitglied von LAOTSE – ein internationales Netzwerk der fuhrenden Universitaten in Europa und Asien – sowie des Greater Mekong Subregion Academic and Research Network. Sie arbeitet unter anderem mit der Universitat zu Koln, Padagogische Hochschule Ludwigsburg, Universitat Hamburg, Universitat Bielefeld, TU Munchen, TU Darmstadt, Universitat Lund, Sciences Po und der HEC Paris zusammen. Die rechtswissenschaftliche Fakultat der Thammasat-Universitat unterhalt auch ein Zentrum fur deutsches Recht. Sie ist seit 2009 außerdem Standort des German-Southeast Asian Center of Excellence for Public Policy and Good Governance (CPG), einer „Denkfabrik“ zur Forderung des Dialogs uber Rechtsstaatlichkeit und Gute Regierungsfuhrung in Kooperation mit den Universitaten Frankfurt am Main, Munster und Passau. Es wird vom Auswartigen Amt und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst finanziert.
Auf dem Rangsit Campus fanden 1998 die Asienspiele statt. 2007 wurden dort die Weltuniversitatsspiele (die Olympischen Spiele fur Studenten) abgehalten.
Die Universitat befindet sich in einem standigen Konkurrenzkampf mit der Chulalongkorn-Universitat, die als angesehenste des Landes gilt. Jedes Jahr im Januar messen sich die Fußballmannschaften der beiden Einrichtungen im Chula-Thammasat-Traditionspiel, das im Suphachalasai-Stadion ausgetragen wird. Viele hochrangige Verwaltungsleute (und Regierungschefs) sind an der Thammasat-Universitat ausgebildet worden.
In der Nahe des Rangsit-Campus gibt es einen Bahnhof der nach der Thammasat-Universitat benannt ist. Er liegt an der nach Norden aus Bangkok herausfuhrenden Eisenbahnstrecke, die dem Verkehr der Nordbahn und der Nordostbahn der Thailandischen Staatsbahn mit den Endzielen Chiang Mai, Nong Khai und Ubon Ratchathani dient.
Fakultaten (2003) Freie Kunste
Ingenieurwissenschaften
Journalismus und Massenkommunikation
Kunstwissenschaft
Krankenpflege
Medizin
Naturwissenschaften und Technologie
Politikwissenschaft
Recht
Soziologie
Sozialwesen
Wirtschaftswissenschaften
Zahnmedizin
Assoziiert, aber rechtlich selbststandig
Sirindhorn International Institute of Technology (SIIT) (Ingenieurwissenschaften und Technologie)
Ehemalige Dozenten Pridi Phanomyong (1900–1983), Grunder und erster Rektor
Wichit Wichitwathakan (1898–1962), Dozent fur Geschichte und Jura
Sanya Dharmasakti (1905–2002), Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultat, Rektor
Puey Ungphakorn (1916–1999), 1960–1972 Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultat, 1975–1976 Rektor
Prinzessin Galyani Vadhana (1923–2008), Leiterin der Abteilung Fremdsprachen der Fakultat fur freie Kunste
Thanin Kraivichien (1927–2025), Dozent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultat
Ammar Siamwalla, Dozent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultat
Abhisit Vejjajiva (* 1964), Dozent an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultat
Bekannte Absolventen Kukrit Pramoj (1911–1995), Ministerprasident (1975–1976)
Puey Ungpakorn (1916–1999), Rektor der Thammasat-Universitat (1975–1976)
Tanin Kraivixien (1927–2025), Ministerprasident (1976–1977)
Nuon Chea (1926–2019), Chefideologe der Roten Khmer
Samak Sundaravej (1935–2009), Ministerprasident (2008)
Chaovarat Chanweerakul (* 1936), Interims-Ministerprasident (2008)
Chuan Leekpai (* 1938), Ministerprasident (1992–1995, 1997–2001)
Apichart Sukhagganond (* 1945), Vorsitzender der Wahlkommission Thailands
Somchai Wongsawat (* 1947), Ministerprasident (2008)
Prinzessin Bajrakitiyabha (* 1978)
Ranking Im QS World University Ranking 2013 belegte die Thammasat-Universitat in den Fachergruppen Geistes- sowie Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften den zweiten Platz innerhalb Thailands hinter der Chulalongkorn-Universitat. In modernen Sprachen war sie sogar auf Platz eins.
Weblinks Thammasat-Universitat
Sirindhorn International Institute of Technology
Fakultat Wirtschaftswissenschaften
Einzelnachweise
|
Die Thammasat-Universitat (Thai: มหาวิทยาลัยธรรมศาสตร์, RTGS: Mahawitthayalai Thammasat, Aussprache: [tʰammaʔsaːt], ubersetzt „Universitat der Rechtswissenschaft“ oder der „Moral- und Sittenlehre“) in Bangkok ist eine der renommiertesten Universitaten Thailands. Sie wurde 1934 gegrundet und ist bekannt fur ihre besondere Rolle bei der Demokratisierung des Landes.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Thammasat-Universität"
}
|
c-13909
|
Bangkok (thailandisch กรงเทพมหานคร, Krung Thep Maha Nakhon, [kruŋ tʰeːp maʔhaː naʔkʰɔːn], ; kurz กรงเทพฯ, Krung Thep, [kruŋ tʰeːp]; historische Schreibung zum Teil auch Bankok) ist seit 1782 die Hauptstadt des Konigreichs Thailand. Sie hat einen Sonderverwaltungsstatus und wird von einem Gouverneur regiert. Die Hauptstadt hat 10.539.000 Einwohner (Stand 2020) und ist die mit Abstand großte Stadt des Landes. In der Bangkok Metropolitan Region (BMR), der großten Metropolregion in Thailand, leben insgesamt 14.626.225 Menschen (Stand 2020).
Die Stadt ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Thailands mit Universitaten, Hochschulen, Palasten und uber 400 Wats (buddhistische Tempelanlagen und Kloster) sowie wichtigster Verkehrsknotenpunkt des Landes. In Bangkok ist auch die Wirtschafts- und Sozialkommission fur Asien und den Pazifik (UNESCAP) beheimatet. Mit mehr als 17 Millionen auslandischen Touristen war Bangkok im Jahr 2013 die meistbesuchte Stadt der Welt. Seitdem belegt Bangkok einen der beiden ersten Platze, wobei je nach Zahlweise und Jahr entweder London oder Hongkong den anderen Platz belegen.
Die Zeit zu UTC betragt +7 Stunden. Der Zeitunterschied zu Mitteleuropa betragt +6 Stunden im Winter und +5 Stunden im Sommer, da es in Thailand keine Sommerzeit gibt.
Name der Stadt Der zeremonielle Name der Stadt Bangkok in Thai lautet in transkribierter Form Krung Thep Maha Nakhon Amon Rattanakosin Mahinthara Ayuthaya Mahadilok Phop Noppharat Ratchathani Burirom Udom Ratchaniwet Maha Sathan Amon Piman Awatan Sathit Sakkathattiya Witsanukam Prasit (). Es ist die alte Thai-Bezeichnung der Stadt und mit 168 lateinischen Buchstaben der langste Ortsname einer Hauptstadt weltweit.
In thailandischer Schrift lautet der Name (139 Zeichen ohne Leerzeichen):
Devas (thailandisch Thep) sind in der hinduistischen Mythologie eine Kategorie von 33 gottlichen Wesen, die gemeinsam mit dem Gott Indra den Himmel auf der Spitze des Bergs Meru bewohnen. Weil die Devas als geflugelte Wesen dargestellt werden, wird Krung Thep in westlichen Texten oft mit „Stadt der Engel“ ubersetzt.
Bevor der Ort im Jahr 1782 zur Hauptstadt erhoben wurde, war sein Name schlicht Bang Kok (บางกอก, ). Bang bezeichnet einen Ort an einer Wasserstraße, Kok leitet sich moglicherweise von Makok ab, der thailandischen Bezeichnung fur die Fruchte von Spondias pinnata („Gelbe Balsampflaume“) oder Elaeocarpus hygrophilus. Anderen Theorien zufolge kommt es von Ko ‚Insel‘ oder Khok ‚Hugel‘. Dieser Name tauchte in Europa zum ersten Mal auf einer portugiesischen Landkarte von 1511 auf.
Auch nachdem sie zur Hauptstadt ausgebaut worden war und einen ihrer Bedeutung als royales, religioses und kosmologisches Zentrum des Reichs (Mandala) entsprechenden, viel klangvolleren Namen bekommen hatte, wurde die Stadt in den europaischen Sprachen weiterhin als Bangkok bezeichnet.
Thailander verwenden dagegen gewohnlich die Kurzform Krung Thep. Die offizielle Bezeichnung, beispielsweise auf Autokennzeichen, lautet Krung Thep Maha Nakhon.
Im Jahre 1989 vertonte die thailandische Rockgruppe Asanee-Wasan in ihrem Album Fak tong („Kurbis“) den Song Krung Thep Mahanakhon, dessen Text ausschließlich aus dem vollstandigen zeremoniellen Namen Bangkoks besteht. Viele Thailander nutzen seitdem dieses Lied, um sich den langen Namen besser merken zu konnen.
Siegel Das Siegel von Bangkok zeigt die Gottheit Indra auf Erawan, dem mythologischen Elefanten, der in einigen Abbildungen auch drei Kopfe haben kann. In seiner Hand halt Indra einen Blitz. Das Siegel basiert auf einer Zeichnung des Prinzen Narisara Nuwattiwong.
Geographie = Geographische Lage =
Die Stadt liegt an der Nahtstelle der Indochinesischen und der Malaiischen Halbinsel am Mae Nam Chao Phraya (Chao-Phraya-Fluss) und nordlich des Golfs von Thailand durchschnittlich funf Meter uber dem Meeresspiegel. Der Chao Phraya hat eine Breite von etwa 400 Metern.
Das westlich des Chao Phraya gelegene Gebiet wird Thonburi genannt und war bis 1971 eine eigenstandige Stadt, wahrend der ostlich gelegene Teil vor mehr als zweihundert Jahren nur ein kleines Dorf war, hauptsachlich bewohnt von chinesischen Handlern. Das Stadtgebiet hat eine Flache von 1.565,2 Quadratkilometern, die gesamte Metropolregion eine Bodenflache von 7.761,5 Quadratkilometern.
Fur Bangkok ist die folgende Landnutzung dokumentiert.
= Stadtgliederung =
Bangkok ist unterteilt in 50 Distrikte (Khet, manchmal falschlicherweise auch Amphoe genannt) und diese sind weiter in 169 Khwaeng, den Tambon vergleichbar, eingeteilt. Es folgen die Khets in deutscher Transkription und in thailandisch:
Bang Bon (บางบอน), Bang Kapi (บางกะปิ), Bang Khae (บางแค), Bang Khen (บางเขน), Bang Kho Laem (บางคอแหลม), Bang Khun Thian (บางขนเทียน), Bang Na (บางนา), Bang Phlat (บางพลัด), Bang Rak (บางรัก), Bang Sue (บางซือ), Bangkok Noi (บางกอกนอย), Bangkok Yai (บางกอกใหญ), Bueng Kum (บึงกม), Chatuchak (จตจักร), Chom Thong (จอมทอง), Din Daeng (ดินแดง), Don Mueang (ดอนเมือง), Dusit (ดสิต), Huai Khwang (หวยขวาง), Khan Na Yao (คันนายาว), Khlong Sam Wa (คลองสามวา), Khlong San (คลองสาน), Khlong Toei (คลองเตย), Lak Si (หลักสี), Lat Krabang (ลาดกระบัง), Lat Phrao (ลาดพราว), Min Buri (มีนบรี), Nong Chok (หนองจอก), Nong Khaem (หนองแขม), Pathum Wan (ปทมวัน), Phasi Charoen (ภาษีเจริญ), Phaya Thai (พญาไท), Phra Khanong (พระโขนง), Phra Nakhon (พระนคร), Pom Prap Sattru Phai (ปอมปราบศัตรพาย), Prawet (ประเวศ), Rat Burana (ราษฎร์บรณะ), Ratchathewi (ราชเทวี), Samphanthawong (สัมพันธวงศ์), Sai Mai (สายไหม), Saphan Sung (สะพานสง), Sathon (สาทร), Suan Luang (สวนหลวง), Taling Chan (ตลิงชัน), Thawi Watthana (ทวีวัฒนา), Thonburi (ธนบรี), Thung Khru (ทงคร), Watthana (วัฒนา), Wang Thonglang (วังทองหลาง) und Yan Nawa (ยานนาวา).
Siehe auch: Distrikte von Bangkok
= Innenstadt =
Bangkok hat weder eine klar definierte Innenstadt noch einen zentralen Geschaftsbezirk. Diese Funktion ist vielmehr auf mehrere Bezirke verteilt. Der alteste Teil der Stadt ist die Rattanakosin-Insel im Bezirk Phra Nakhon, um den Großen Palast, Sanam Luang, Wat Ratchabophit und Sao Ching Cha („Riesenschaukel“). In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann das „Chinesenviertel“ um die Yaowarat- und die Charoen-Krung-Straße (damals „New Road“, die erste asphaltierte Straße Bangkoks) im Bezirk Samphanthawong zum zentralen Geschaftsviertel der Stadt. In den 1950er und 1960er Jahren siedelten sich dann Banken und Großkanzleien entlang der Silom-, Surawong- und Si-Phraya-Straße im Bezirk Bang Rak an. Seit den 1990er Jahren sind im Bezirk Sathon und entlang der Witthayu-Straße (Bezirk Pathum Wan) vorwiegend teure Burohochhauser und entlang der Rama-I- und Phloenchit-Straße (ebenfalls Pathum Wan) große Einkaufszentren und Luxushotels entstanden. Durch die Einrichtung der beiden Massenverkehrssysteme Skytrain (BTS) und U-Bahn (MRT) hat sich die Ausbreitung der Gebiete mit zentraler Geschaftsfunktion noch verstarkt. Attraktiv sind jetzt fast alle Gebiete, die mit einem der beiden Verkehrsmittel erreichbar sind. Das gilt insbesondere fur das Gebiet um die Sukhumvit-Straße (Bezirke Khlong Toei und Watthana) und den mittleren Abschnitt der Ratchadaphisek-Straße (Bezirke Phaya Thai und Huai Khwang).
= Klima =
Bangkok befindet sich in der tropischen Klimazone. Die Jahresdurchschnittstemperatur betragt 28,9 °C, die jahrliche Niederschlagsmenge 1.702 Millimeter im Mittel. Hauptregenzeit ist wahrend des Monsuns zwischen Mai und Oktober, in einzelnen Stadtgebieten muss besonders im September und Oktober mit Uberschwemmungen gerechnet werden. Der meiste Niederschlag fallt im September mit 334.9 Der Monat mit den geringsten Regenmengen ist Dezember mit durchschnittlichen Regenmengen von 11,6 Millimeter.
Die durchschnittlichen Temperaturen liegen das ganze Jahr uber zwischen 26,1 °C und 30,4 °C. Die mittlere Tagestemperatur betragt maximal 34,9 °C, minimal 20,8 °C bei hoher Luftfeuchtigkeit. Laut der World Meteorological Organization ist Bangkok damit im Jahresdurchschnitt die heißeste Stadt der Welt.
Warmster Monat ist der April mit maximal 36 °C und minimal 27 °C mittlere Tagestemperatur. Der kalteste Monat ist in der Gegend um Bangkok der Dezember mit maximal 32 °C und minimal 23 °C Tagesmitteltemperatur. Die Trockenzeit geht von Dezember bis Marz. April und Mai sind die heißesten Monate in Bangkok.
= Umweltprobleme =
Bangkok hat mit erheblichen Umweltproblemen zu kampfen. Eine dichte Wolke aus Abgasen liegt permanent uber der Stadt. Experten haben festgestellt, dass in den Hauptverkehrsstraßen die Luftverschmutzung bereits gesundheitsschadliche Werte erreicht hat. Seit dem Bau der Hochhauser ist die Ventilation der Straßen nicht mehr gewahrleistet, so dass die Konzentration der Giftstoffe dramatisch ansteigt. Saisonal mischt sich Rauch von Brandrodung mit den Abgasen und verursacht Krankheiten bei zahlreichen Bewohnern.
Uber Bronchitis, Asthma oder Erschopfung klagt bereits jeder siebte Bewohner. Besonders Belastete, wie Motorrad-Boten, Tuk-Tuk-Fahrer, Verkehrspolizisten und Straßenhandler, tragen haufig Atemschutzmasken.
Probleme bereitet Bangkok auch die Wasserversorgung. So besitzt die Stadt kein zentrales Wasserversorgungsnetz. Auch der Aufbau eines Abwassersystems steht erst am Anfang. Bis in die 1990er Jahre leiteten die Industrie und private Haushalte das Abwasser zentral ohne jegliche Sauberung in den Mae Nam Chao Phraya (Chao-Phraya-Fluss).
Die Abfalle verschmutzen die Luft und vergiften haufig jegliches Leben in den Gewassern. Zahlreiche Fabriken in der Metropolregion – darunter auch in vielen Wohngebieten – durfen eigene Brunnen zur geregelten Wasserversorgung errichten, was zu einem kontinuierlichen Absinken des Grundwasserspiegels beitragt.
Die Grundwasserabsenkung trug mindestens bis in die 1970er-Jahre erheblich zu einer Landsenkung bei und fuhrte zeitweise zu einer Absenkung um mehr als 10 cm pro Jahr. Die jahrliche Absenkung findet weiterhin statt, hat sich aber auf bis zu 2 cm pro Jahr verringert. Die derzeitige Senkung wird vor allem auf die hohe Gebaudelast zuruckgefuhrt.
Geschichte = Ursprung =
Bangkok bildete ursprunglich nur ein kleines Fischerdorf am ostlichen Ufer des Chao Phraya. Im Jahr 1511 wurde es zum ersten Mal auf einer portugiesischen Landkarte verzeichnet. Um 1680 gab es sudlich des Dorfes nur drei bewohnte Platze: ein Zollhaus, die von den Hollandern 1622 angelegte Faktorei namens Fort Amsterdam sowie den Ort Ban Vat. Noch wahrend der geschichtlichen Epoche des Konigreichs Ayutthaya entwickelte sich der Ort zu einem ansehnlichen Handelshafen und bedeutenden Haltepunkt an der Wasserroute zur Hauptstadt.
Der Ursprung des heutigen Bangkok liegt in der Kleinstadt Thonburi, heute Teil der Hauptstadt, am westlichen Ufer des Chao Praya. General Taksin machte Thonburi im Jahr 1772, nachdem die Hauptstadt des Konigreiches Ayutthaya 1767 im Krieg mit Birma weitgehend zerstort worden war, zur neuen Hauptstadt. Zehn Jahre spater verlegte der neue Konig Rama I., Begrunder der bis heute regierenden Chakri-Dynastie, den Regierungssitz auf das ostliche Ufer und begann damit das Gebiet namens Rattanakosin, mit dem damals vor allem von Chinesen bewohnten Dorf Bang Kok, nach dem Vorbild der fruheren Residenzstadt zur Hauptstadt auszubauen.
Der offizielle Name der Stadt lautet seit damals in der Kurzform Krung Thep (). Das ist jedoch nur eine Kurzform des vollstandigen Namens, des weltweit langsten Stadtenamens (siehe oben Name der Stadt). Westliche Handler und Reisende verwendeten stattdessen den Namen des Dorfes Bangkok, woraus die heute international bekannte Bezeichnung wurde.
= Die Stadt der Kanale =
Rattanakosin wurde durch einen Kanal, den Khlong Lot, zu einer kunstlichen Insel in einer Biegung des Chao Phraya in deren Zentrum der neue Konigspalast und der konigliche Tempel, der Wat Phra Kaeo mit dem Smaragd-Buddha (Phra Kaeo), dem Nationalheiligtum Thailands, errichtet wurden.
In jener Zeit war die ganze Stadt von einem dichten Netz von Kanalen (Khlongs) durchzogen. Der Verkehr spielte sich zum Großteil auf diesen Khlongs ab. Selbst die Markte fanden auf dem Wasser statt („Schwimmende Markte“). Straßen gab es kaum. Damals wurde Bangkok auch manchmal als das Venedig des Ostens bezeichnet. Die meisten Khlongs wurden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nacheinander zugeschuttet um Raum fur den stetig zunehmenden Straßenverkehr und die wachsende Stadt zu schaffen.
1863 wurde die erste gepflasterte Straße der Stadt Thanon Charoen Krung (wortlich ubersetzt „Straße zur Vergroßerung der Hauptstadt“; westliche Auslander nannten sie New Road – „Neue Straße“) an Stelle eines fruheren Elefanten-Trampelpfads fertiggestellt. Wahrend der Regentschaft Konig Chulalongkorn (Rama V.) (regierte 1868–1910) entstanden eine Eisenbahnlinie die Bangkok mit dem Norden des Landes verband, Straßenbahnlinien fur den innerstadtischen Verkehr, eine große Anzahl neuer Straßen und die Mehrzahl der oft von europaischen Stilen beeinflussten Regierungsgebaude.
= Das moderne Bangkok =
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs die Stadt uber ihre fruheren Grenzen hinaus nach Norden und Osten. Einen weiteren Wachstumsschub, insbesondere fur die westlich des Flusses gelegenen Stadtteile, bedeutete die Einweihung der ersten Brucke, der Memorial Bridge, uber den Chao Praya im Jahr 1932. Wahrend des Zweiten Weltkrieges war Bangkok fur einige Jahre von japanischen Streitkraften besetzt und wurde ab 1944 von den Alliierten bombardiert. Nach dem Ende des Krieges erholte sich die Stadt aber rasch und wuchs bestandig weiter.
Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren die meisten Khlongs bereits zugeschuttet und durch Boulevards und Straßen ersetzt worden. Wahrend dieser Zeit entstanden auch die Fernverkehrsstraßen in alle Himmelsrichtungen, wie die Sukhumvit-Straße. Ab den 1960er und 1970er Jahren wurden so viele Hauser gebaut und Stadtautobahnen ausgebaut wie nie zuvor. In den 1970er-Jahren war Bangkok Schauplatz einschneidender politischer Ereignisse: zunachst des Volksaufstandes gegen die Militardiktatur im Oktober 1973, drei Jahre spater dann des Massakers an linken Studenten und Demonstranten auf dem Campus der Thammasat-Universitat. Mit dem Wirtschaftsboom der 1980er Jahre (siehe „Tigerstaaten“) setzte eine weitere neue Entwicklung ein, die zur Errichtung einer großen Zahl von Hochhausern fuhrte und das Stadtbild nachhaltig veranderte. Die Zahl der Bewohner stieg zugleich rasant und machte Bangkok schließlich zu einer der großten Metropolen der Welt. Im Mai 1992 gab es in der Hauptstadt abermals Massenproteste gegen die damalige Regierung, die im sogenannten „Schwarzen Mai“ brutal niedergeschlagen wurden.
= 21. Jahrhundert =
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben in Bangkok uber sechs Millionen Menschen, in der Metropolregion sogar uber zehn Millionen. Wirtschaftlich erholt sich die Stadt zusehends vom Zusammenbruch am Ende des Booms der 1990er Jahre, was nicht zuletzt auch in neuen Bauvorhaben seinen Ausdruck findet. Eines der großten stadtischen Probleme stellt der Straßenverkehr dar. Auch der Ausbau des offentlichen Verkehrsnetzes mit Bangkok Metro und Bangkok Skytrain konnte die Situation bislang nur minimal entspannen.
Nach mehreren politischen Krisen im Land seit 2006 war Bangkok im April und Mai 2010 Schauplatz von blutigen Unruhen, die international fur Aufsehen sorgten.
Ende Oktober 2011 uberschwemmte die großte Flutkatastrophe seit 50 Jahren mehrere Bezirke Bangkoks, viele Bezirke mussten evakuiert werden.
Ende 2013 und Anfang 2014 war Bangkok abermals Schauplatz politisch motivierter Unruhen. Die Oppositionsbewegung gab im Januar 2014 das Ziel aus, das offentliche Leben in Bangkok komplett lahmzulegen („Shutdown Bangkok“). Der Konflikt endete im Mai 2014 mit einem neuerlichen Militarputsch.
Bevolkerung Den Daten der Volkszahlung von 2000 zufolge waren 99 % der Einwohner von Bangkok thailandische Staatsburger. 94,5 % waren Buddhisten, 4,1 % Muslime und 1 % Christen. 37,3 % sind nicht in Bangkok geboren, sondern aus einer anderen Provinz zugezogen.
= Einwohnerentwicklung =
Bangkok ist ein Beispiel fur ein dynamisches, jedoch nicht geplantes stadtisches Wachstum. 1947 uberschritt die Einwohnerzahl erstmals die Millionengrenze. 1960 lebten in Bangkok bereits 2,1 Millionen Menschen. Zwischen 1970 (3,1 Millionen) und 2000 (6,3 Millionen) hat sich die Einwohnerzahl verdoppelt. 2010 lebten in der Hauptstadt nach Angaben des Nationalen Statistikamtes (NSO) 8,2 Millionen Menschen. Das entspricht einem Wachstum zwischen 2000 und 2010 von 2,6 % pro Jahr.
Die Bevolkerungsdichte betrug 5.270 Einwohner pro Quadratkilometer (in Munchen, der am dichtesten besiedelten Gemeinde Deutschlands, waren es zum Vergleich 4.275). Die Stadt ist weitaus großer als alle anderen Stadte Thailands. Sie hatte 2010 bereits 8-mal so viele Einwohner wie die nachstgroßere Stadt Chiang Mai (953.000 Einwohner), die Bangkok Metropolitan Region (BMR) sogar 15-mal so viel wie das nachstgroßere Ballungsgebiet, welches auch durch Chiang Mai gebildet wurde (953.000 Einwohner).
Da die Hauptstadt um ein Vielfaches großer ist als alle anderen Großstadte Thailands und da hier die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen gefallt werden, ist Bangkok eine Primatstadt. Sie ist weltweit einer der am extremsten ausgepragten Falle einer Primatstadt: Im Jahr 2000 hatte sie 40-mal so viele Einwohner wie die damals zweitgroßte Stadt des Landes, Nakhon Ratchasima. Das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt war 2006 zehnmal hoher als in der armsten Provinz des Landes (Bangkok: 319.322 Baht, Mae Hong Son 33.231 Baht). Wahrend die Hauptstadtregion sich wirtschaftlich entwickelte, profitierten weite Teile des Landes nicht oder hatten gar einen Ruckgang des Bruttoinlandsproduktes zu verzeichnen. Durch diese Vorrangstellung hatte die Stadt in den letzten Jahrzehnten einen immensen Wanderungszuwachs.
In der Metropolregion wurden bei der Volkszahlung 2000 etwa 10,2 Millionen Menschen gezahlt. Bei der Zahlung im Jahr 2010 waren es bereits 14,6 Millionen. Das entspricht einem Wachstum zwischen 2000 und 2010 von 3,7 % pro Jahr. Die Bevolkerungsdichte betrug 1.877 Einwohner pro Quadratkilometer. Zur BMR gehoren die Stadt Bangkok und die sie umgebenden Provinzen Nakhon Pathom, Nonthaburi, Pathum Thani, Samut Prakan und Samut Sakhon.
Die folgende Ubersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1910 handelt es sich um Schatzungen, von 1919 bis 2010 um Volkszahlungsergebnisse des Nationalen Statistikamtes Thailand. Die Einwohnerzahlen beziehen sich auf die eigentliche Stadt ohne den Vorortgurtel.
= Entwicklung der Wohnsituation =
Ein großes Problem fur die Metropole Bangkok ist es, die vielen in den letzten Jahren zugezogenen Menschen, vor allem Landfluchtlinge, ausreichend zu versorgen. Fur zahlreiche Menschen mussten Wohnungen gebaut werden.
In Khlong Toei befindet sich der Hafen von Bangkok. Der Bezirk ist außerdem bekannt fur das großte Slumgebiet Bangkoks. Der Nordwesten des Bezirks erfullt dagegen Funktionen eines zentralen Geschaftsviertels Bangkoks. Hier sitzen die thailandische Borse, das Konigin-Sirikit-Kongresszentrum, Banken, Hotels und Einkaufszentren.
Die zunehmende Nachfrage nach Bauland steigerte die Wohnungs- und Grundstuckspreise erheblich. Deshalb werden viele Siedlungen fur die weniger Verdienenden am Stadtrand errichtet. Die offentlichen Einrichtungen (Krankenhauser und Schulen) sind unzureichend. Mull und Abwasser werden nicht mehr ausreichend entsorgt, der Grundwasserspiegel sinkt durch den gestiegenen Verbrauch immer schneller.
Vor allem die Menschen in den Siedlungen sind durch Infektionserkrankungen wie Cholera, Diarrhoe und Typhus gefahrdet, die durch unzureichende hygienische Bedingungen verbreitet werden. Hinzu kommen Atemwegs- und Hauterkrankungen aufgrund der giftigen Emissionen der zahlreichen Industriebetriebe und des Autoverkehrs. Einige Industriebetriebe haben jedoch in den letzten Jahren den Großraum Bangkok aus Kostengrunden verlassen, da hier ein hoherer Mindestlohn zu zahlen ist und die Grundstuckspreise hoch sind. Außerdem wurde die Infrastruktur außerhalb der Hauptstadt verbessert.
Ein weiteres Problem in Bangkok ist der zunehmende Verkehr. Das Straßennetz ist trotz zahlreicher Autobahnen vollig uberlastet. Außerdem verfugt Bangkok mit einem relativ kleinen U-Bahn- und Hochbahnnetz nur uber wenige Massentransportmittel, hat aber eines der großten Busnetze weltweit. 2021 wurden zwei S-Bahn-Linien eroffnet, um die Vororte besser mit dem Stadtzentrum zu verbinden, außerdem gibt es einen neuen Hauptbahnhof um den Schienenpersonenfernverkehr und den OPNV besser miteinander zu verknupfen. Durch die zahlreichen Autos kommt es in der Stadt zu sehr großer Luftverschmutzung (hohe Ozon- und Kohlenstoffmonoxidwerte).
Politik = Stadtregierung =
Das heutige Bangkok entstand 1972 aus der Zusammenlegung der alten Provinz Bangkok (offiziell Phra Nakhon) und der Provinz Thonburi, die die westlich des Chao Phraya gelegenen Stadtteile des heutigen Bangkok umfasste.
Bangkok ist ein besonderes Verwaltungsgebiet. Anders als die 76 Provinzen Thailands (Changwat) hat sie einen direkt gewahlten Gouverneur. Gouverneurswahlen finden im Regelfall alle vier Jahre statt. Der Gouverneur steht der hauptstadtischen Lokalverwaltung (Bangkok Metropolitan Administration, BMA) vor. Diese ist eigenverantwortlich fur den offentlichen Nahverkehr, Straßen, Stadtplanung, Wohnungsbau, Abfallwirtschaft, Umweltschutz und offentliche Ordnung zustandig.
Ab 2009 war M.R. Sukhumbhand Paribatra von der Demokratischen Partei der Gouverneur von Bangkok. Er wurde im Marz 2013 mit 46,2 % gegenuber Pongsapat Pongcharoen von der Pheu-Thai-Partei mit 39,7 % wiedergewahlt. Im Oktober 2016 wurde er vom Vorsitzenden der Machthabenden Militarjunta Prayut Chan-o-cha abgesetzt und durch den Polizeigeneral Aswin Kwanmuang ersetzt. Seit der Gouverneurswahl am 22. Mai 2022 ist Chadchart Sittipunt amtierender Gouverneur von Bangkok. Chadchart Sittipunt konnte die Wahl in allen 50 Distrikten Bangkoks fur sich entscheiden. Er trat als Unabhangiger an und gewann die Wahl mit einem Erdrutschsieg mit 52,65 % (1,38 Millionen) aller Stimmen, ein neuer Hochstrekord.
Die Stadtverwaltung wird von einem Stadtrat (Bangkok Metropolitan Council) kontrolliert. Nach der Kommunalwahl von 2022 gehoren ihm 50 Mitglieder an, davon 20 Abgeordnete der Pheu-Thai-Partei, 14 der Move-Forward-Partei, 9 der Demokratischen Partei, drei der Rak-Krungthep-Partei, zwei der Phalang-Pracharat-Partei und zwei der Thai-Srang-Thai-Partei.
Die Stadtverwaltung (BMA) ist nur fur die eigentliche Stadt Bangkok und nicht fur die uber die Stadtgrenzen hinausgewachsene Agglomeration Groß-Bangkok (Greater Bangkok Area, GBA) oder gar die noch großere Metropolregion Bangkok (Bangkok Metropolitan Region, BMR) zustandig.
= Stadtepartnerschaften =
Bangkok unterhalt mit folgenden Stadten Partnerschaften:
seit dem 19. Februar 1962: Washington D.C., USA
seit dem 26. Mai 1993: Peking, Volksrepublik China
seit dem 19. Juni 1997: Moskau, Russland
seit dem 23. November 2005: Chaozhou, Volksrepublik China
seit dem 16. Juni 2006: Seoul, Sudkorea
seit dem 26. September 2011: Chongqing, Volksrepublik China
seit dem 4. Januar 2013: Phnom Penh, Kambodscha
Neben Stadtepartnerschaften unterhalt Bangkok noch zahlreiche Stadtefreundschaften und Stadtekontakte.
Kultur und Sehenswurdigkeiten = Uberblick =
In der Stadt gibt es uber 400 Wats (buddhistische Tempelanlagen). Der bedeutendste ist der Wat Phra Kaeo (Wat Phra Sri Rattana Satsadaram), der den sogenannten „Smaragd-Buddha“ beherbergt und landesweit eine hohe Verehrung genießt.
Zusammen mit dem Großen Palast, dem Wat Pho (Wat Phra Chetuphon), dem altesten und großten Tempel Bangkoks, sowie dem Wat Mahathat, der eine der großen buddhistischen Universitaten (Mahachulalongkornrajavidyalaya-Universitat) Sudostasiens beherbergt, bildet der Wat Phra Kaeo auf der Rattanakosin-Insel das historische Zentrum der Stadt.
In Bangkok befinden sich zudem das thailandische Nationalmuseum, die Nationalgalerie, die Nationalbibliothek und das Nationaltheater.
= Theater =
Das Nationaltheater in Bangkok befindet sich auf dem Gelande des alten Wang Na, des Palastes des Zweiten Konigs von Thailand (des Uparat) an der Thanon Na Phra That. Vor dem Osteingang befindet sich eine Statue von Phra Pinklao, der als jungerer Bruder von Konig Mongkut von diesem zum vorletzten Uparat ernannt wurde.
Das Gebaude wurde nach einem Brand von 1960 bis 1965 in seiner gegenwartigen Form aufgebaut: das T-formige Gebaude zeigt eine Mischform thailandischer und westlicher Baukunst. Uber dem Haupteingang des Theaters befindet sich ein Relief, das den Schutzgott der Kunste, den hinduistischen Gott Ganesha darstellt. Im Gebaude finden Auffuhrungen des klassischen thailandischen Tanzes statt. Der Saal besitzt eine originelle Trapezform. 2006 wurden Renovierungsarbeiten durchgefuhrt.
Das konigliche Theater Sala Chalermkrung (สาลา-เฉลิม-กรง) war ein Geschenk von Konig Prajadhipok (Rama VII.) an sein Volk und wurde am 2. Juli 1933 zum 150. Rattanakosin-Jubilaum eroffnet. Es war das erste Theater Thailands mit Klimaanlage und auch das erste Kino Thailands. Seit 2006 wird hier der thailandische Maskentanz Khon regelmaßig aufgefuhrt, der Szenen aus dem Epos Ramakien enthalt.
Im neu erbauten Joe Louis Theatre auf dem Gelande des Suan-Lum-Night-Bazaar wird das Ramayana-Epos als thailandisches Puppenspiel aufgefuhrt. Vor der Auffuhrung werden die traditionellen Figuren vorgestellt. Drei Kunstler agieren mit bunten, aufwandig bestickten Stabpuppen, die vom Familienoberhaupt Sakorn Yanghiawsod (Joe Louis) seit den 1950er Jahren angefertigt werden.
= Museen =
Das Nationalmuseum beherbergt eine beachtliche Sammlung von Artefakten und Kunstgegenstanden von der thailandischen Bronzezeit bis zur neuesten Zeit. Der ganze Komplex besteht aus historischen Gebauden im thailandischen Stil, befand sich hier doch bis zur Zeit von Konig Chulalongkorn der Wang Na, der Palast des Uparat, des sogenannten Vize-Konigs von Siam.
Die Bootshauser am Khlong Bangkok Noi, einer Dependance des Nationalmuseums direkt hinter der Pinklao-Brucke, beherbergen die Konigsbarken (Royal barges). Diese kunstvoll geschnitzten und verzierten Barken werden nur bei der koniglichen Barkenprozession benutzt.
Die Nationalgalerie (National Gallery Museum) liegt gegenuber dem Nationalmuseum an der Thanon Chao Fa. Dort sind alte und zeitgenossische Gemalde bedeutender thailandischer Kunstler ausgestellt.
Jim Thompsons Thai-Haus am Khlong Saen Saep in der Soi Kasemsan 2, einer Quergasse der Rama-I.-Straße (Thanon Phra Ram 1), ist ein Ensemble aus mehreren, einander zugeordneten Holzhausern im altthailandischen Stil. Dieses wurde von Jim Thompson (* 1906), jenem legendenumwobenen Mann geschaffen, der nach Ende des Zweiten Weltkrieges die thailandische Seidenindustrie wiederbelebt und weltbekannt gemacht hat, und der 1967 unter mysteriosen Umstanden spurlos verschwunden ist. Heute ist der Komplex ein Museum, in dem Thompsons exquisite Sammlung asiatischer Kunst zu sehen ist. Nur etwa 500 Meter Fußweg entfernt liegt das Kunst- und Kulturzentrum Bangkok.
Der Wang Suan Pakkad (Suan-Pakkad-Palast) ist ein Komplex von acht Thai-Hausern inmitten eines Gartens an der Thanon Si Ayutthaya. Fruher die Residenz von Prinz Chumbhot, beherbergt er eine bedeutende Sammlung asiatischer Antiquitaten. Besonders sehenswert ist dabei der „Lackpavillon“, ein kleiner Holzpavillon aus der Zeit von Konig Narai von Ayutthaya (1656–1688), der bis zum Jahr 1959 im Wat Ban Kling bei Ayutthaya als Kuti diente. Er ist ausgeschmuckt mit Wandbildern in Lai-Rot-Nam-Technik (Schwarzgoldlack) aus der spaten Ayutthaya- oder fruhen Rattanakosin-Periode.
Im Bangkok Doll Museum (Puppenmuseum) in der Soi Ratchataphan hinter der Thanon Ratchaprarop werden Puppen aus einheimischer Fabrikation ausgestellt. Im Ban Kamthieng, einem 200 Jahre alten Thai-Haus im Lan-Na-Thai-Stil im Garten der Siam Society in der Thanon Asok Montri ist eine Sammlung von Arbeitsgeraten thailandischer Bauern und Fischer zu sehen.
Die Queen’s Gallery an der Thanon Ratchadamnoen nahe der Phan-Fa-Lilat-Brucke zeigt regelmaßig auf vier Etagen Ausstellungen bekannter und weniger bekannter zeitgenossischer thailandischer Kunstler. Oft sind diese Ausstellungen von Konigin Sirikit gesponsert.
Das Museum Siam zeigt Exponate zu den Themen Thailandische Geschichte und Thailandische Lebensweise.
= Bauwerke =
Großer Palast und Wat Phra Kaeo Dieses bedeutendste Wahrzeichen Bangkoks am Ufer des Chao Phraya besteht aus uber 100 Gebauden in verschiedenen architektonischen Stilen. Das gesamte Gelande mit einer Flache von mehr als 200.000 Quadratmetern wird von einer 1,9 Kilometer langen zinnenbewehrten Mauer umfasst.
Ein besonderes Kleinod dieses Ensembles ist der Wat Phra Kaeo (Tempel des Smaragd-Buddha), ein Glanzstuck thailandischer Kunst. Zu seinen Kostbarkeiten gehort der Smaragd-Buddha, die am meisten verehrte Buddhastatue Thailands.
Weitere Attraktionen dieses großen Palastes sind die Amarin-Winichai-Thronhalle, die Dusit-Maha-Prasat-Thronhalle und der große Chakri-Palast. Weiter dazu zahlen der „Royal Thai Decorations and Coin Pavillon“ mit einer standigen Ausstellung koniglicher Insignien, Preziosen, Medaillen und Munzen sowie anderer Zahlungsmittel, die Anfang des 11. Jahrhunderts in Umlauf waren.
Vor dem Großen Palast befindet sich der Sanam Luang (auch Phramen-Ground, also das „Phra-Meru“-Feld genannt), ein weitlaufiger, von Tamarindenbaumen umsaumter Paradeplatz, der seit der Grundung Bangkoks fur die Kremation von Mitgliedern der koniglichen Familie, aber auch fur andere offentliche Zeremonien benutzt wird, wie etwa die konigliche Pflugzeremonie im Monat Mai. Um den Platz herum gruppieren sich mehrere Prachtbauten: das Amt der Schonen Kunste (Fine Arts Department) mit der Silpakorn-Kunsthochschule, die Thammasat-Universitat und das Nationalmuseum, das Nationaltheater, das Justizministerium sowie der Lak Muang (Stadtpfeiler), das spirituelle Zentrum der historischen Stadt.
Weitere Tempelanlagen Wat Pho („Tempel des liegenden Buddha“) ist eine weitlaufige Tempelanlage direkt sudlich des Grand Palace. Dort befindet sich die riesige, mit Blattgold uberzogene Statue eines liegenden Buddha – 46 Meter lang und 15 Meter hoch – seine Fußsohlen sind mit Perlmutt eingelegt. Wat Pho war einst auch die erste offentliche Bildungseinrichtung des Landes. Der Tempel ist außerdem beruhmt fur seine traditionelle Thai-Massage.
Wat Arun („Der Tempel der Morgendammerung“) ist ein beeindruckender Tempelbau und das Wahrzeichen Bangkoks auf dem anderen Ufer des Chao Praya, gegenuber dem Grand Palace. Seine etwa 75 Meter aufragende Pagode ist mit Porzellan-Kacheln uberzogen und funkelt in der Sonne.
Wat Traimit („Tempel des Goldenen Buddha“) ist ein Heiligtum am Ende der Thanon Yaowarat in „Chinatown“, in der Nahe des Bangkoker Hauptbahnhof Hualampong. Dort thront ein drei Meter hoher Buddha aus funfeinhalb Tonnen massivem Gold.
Wat Benchamabophit („Marmortempel“) liegt an der Thanon Si Ayutthaya, neben dem Chitralada-Palast, der Residenz von Konig Bhumibol Adulyadej. Dieser ist einer der neuesten Tempel Bangkoks. Er wurde wahrend der Herrschaft von Konig Rama V. (1868–1910) aus weißem Carrara-Marmor errichtet. Auffallig sind Elemente der Sakralarchitektur Europas, zum Beispiel bunte Glasfenster. Im Wandelgang (Phra Rabieng) rund um den Ubosot befindet sich eine Sammlung von Buddha-Statuen aus Bronze der verschiedensten Kunststile Thailands.
Wat Suthat an der Thanon Bamrung Mueang ist bekannt fur seine erlesenen Wandgemalde aus dem 19. Jahrhundert, die noch anlasslich des 200-jahrigen Jubilaums der Stadt Bangkok mit finanzieller Hilfe der Bundesrepublik Deutschland restauriert worden waren. Die Riesenschaukel vor dem Tempel, Sao Ching Cha genannt, wurde vor langer Zeit fur brahmanische Rituale verwendet. Einige Geschafte in der Umgebung bieten buddhistische Devotionalien feil.
Wat Saket („Der Goldene Berg“): Das Interessanteste an diesem Tempel ist der aus dem 19. Jahrhundert stammende sogenannte „Goldene Berg“. Der goldene Chedi, der einen kunstlichen Hugel mit seiner 87 Meter hohen vergoldeten Pagode kront, beherbergt Buddha-Reliquien. Von dort kann die Altstadt von Bangkok besichtigt werden.
Weitere bedeutende Tempel im Zentrum von Bangkok sind Wat Mahathat am Rand des Sanam Luang Felds, der die Haupt-Universitat der buddhistischen Mahanikai-Glaubensgemeinschaft, die Mahachulalongkornrajavidyalaya-Universitat beherbergt, Wat Ratchanatdaram an der Thanon Ratchadamnoen hinter dem Rama-III-Memorial-Park mit seinem Loha Prasat (einer Pagode, die aufgrund ihres Baumaterials „Eisen-Palast“ genannt wird), Wat Ratchabopit, ein Tempel an der Thanon Ban Mo mit einer Mischung von einheimischen und europaischen Stilelementen sowie Wat Intharawihan in der Thanon Wisutkasat mit einer 32 Meter hohen stehenden Buddhafigur.
Zu einer umfangreichen Ubersicht siehe auch Liste buddhistischer Tempel in Bangkok.
Weitere Bauwerke Lak Muang (Schrein der Stadtsaule), das Bangkoker „Stadtheiligtum“, liegt an der Sudostecke des Sanam Luang Feldes. Es beherbergt den von Konig Rama I. (1736–1809) gelegten Grundstein Bangkoks – eigentlich eine Saule. Diese steht im Ruf, Wunsche zu erfullen. Den ganzen Tag lang werden von den Glaubigen Tanzerinnen dafur bezahlt, mit ihren Tanzen die dort ansassigen Stadtgeister zu betoren und ihnen so Gesundheit und Wohlstand abzuhandeln.
Der Wimanmek-Palast (das himmlische Palais) – es ist das großte Teakholz-Gebaude der Welt – liegt hinter dem Parlament. Es beherbergt auf drei Stockwerken 81 Zimmer, Sale und Vorzimmer und ist mit Erinnerungsstucken des Konigshauses von Ende des 19. Jahrhunderts mobliert. Das Teakholz ist an zahlreichen Stellen mit Blattgold uberzogen.
Sehenswert sind auch der Chao Phraya und die noch erhalten gebliebenen Kanale von Bangkok (Khlongs), die noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weite Teile der Stadt durchzogen. Fur den Bau von Straßen wurden viele dieser alten Verkehrswege zugeschuttet. Zusammen mit dem Chao Phraya, dem „Fluss der Konige“, zeigen sie anschaulich, wie das Leben und Treiben auf dem Wasser im Wesentlichen schon seit einigen Jahrhunderten kaum verandert ablauft.
Sehenswurdigkeiten am Chao Phraya sind die Phra-Phutthayotfa-Brucke (umgangssprachlich Thai „Saphan Phut“, englisch „Memorial Bridge“), die erste Brucke zwischen Bangkok und Thonburi, eingeweiht zum 150. Jahrestag der Grundung Bangkoks, und die Rama-VIII.-Brucke, die erst im Mai 2002 eingeweiht wurde.
Seit 1941 steht das Siegesdenkmal auf einem heute sehr verkehrsreichen Platz mit Kreisverkehr.
= Parks =
Der Lumphini-Park ist der großte Park im Zentrum von Bangkok. Dort werden jeden Morgen „Tai-Chi“-Ubungen praktiziert. Der Park ist ummauert und enthalt einen kunstlichen See, der mit mietbaren Ruder- und Tretbooten befahren werden kann. Der 576.000 Quadratmeter große Lumphini-Park wurde bereits in den 1920er Jahren von Konig Vajiravudh (Rama VI.) auf koniglichem Grundbesitz geschaffen.
Im Dusit-Zoo, Bangkoks altestem zoologischen Garten neben der Royal Plaza, sind die meisten bekannten afrikanischen und asiatischen Saugetiere und Vogel und noch viele weitere Tierarten zu sehen. Auf dem Areal befinden sich Cafes und ein kunstlich angelegter See mit Flachen zur Erholung. Das Gelande wird von zwei Kanalen durchflossen, wovon einer im Herbst Austragungsort eines beruhmten Floßwettbewerbs anlasslich des Loi-Krathong-Festes ist.
Sehenswert ist auch der Konig-Rama-IX.-Park, ein etwa 80 Hektar großer Park und botanischer Garten in der Soi 103 (Udomsuk) der Thanon Sukhumvit. Er wurde im Jahre 1987 anlasslich des 60. Geburtstages von Konig Bhumibol Adulyadej eroffnet.
Der Rommaninat-Park an der Thanon Maha Chai war bis Mitte der 1990er Jahre das Stadtgefangnis von Bangkok. Die Stadtverwaltung siedelte das Gefangnis vor die Tore der Stadt aus und machte einen schonen Park daraus. Er bietet fur viele Anwohner eine allabendliche Sport- und Erholungsmoglichkeit.
= Sport =
In zwei großen und mehreren kleinen uber Bangkok verteilten Stadien gibt es die Moglichkeit, den thailandischen Nationalsport Muay Thai, besser bekannt unter dem Namen Thaiboxen, mit all seinen Ritualen anschauen zu konnen. Sowohl im Lumpini- als auch im Ratchadamnoen-Stadion sind einige der besten Kampfer des Landes zu sehen. Die Veranstaltungen finden die ganze Woche abwechselnd in beiden Stadien statt. Abgesehen vom Kampf im Ring findet zusatzliche Unterhaltung durch das Wetten auf den Ausgang der Kampfe und durch Musikbegleitung statt, die von einem traditionellen Ensemble (Pi Phat) gespielt wird, das auf der Pi oder „Thai-Oboe“ basiert.
Eine andere beliebte Sportart ist das traditionelle „Sepak Takraw“. Hierbei handelt es sich um eine Art Ballspiel, bei dem ein geflochtener Rattanball mit allen Teilen des Korpers – außer mit den Handen – so lang wie moglich in der Luft gehalten werden muss. Professionelle Teams spielen auf dem Sanam-Luang-Feld vor dem Großen Palast in Bangkok gegeneinander. Eine weitere Version dieser Sportart ist das Netztakro, das im Nationalstadium und im Hua Mak-Stadion gespielt wird.
Ebenfalls ein traditioneller Sport in Thailand ist der Drachenkampf, bei dem ein symbolischer Kampf der Geschlechter in der Luft stattfindet. Hierbei kampfen die großen „mannlichen“ Drachen, genannt Chula, gegen die kleineren, „weiblichen“ Pakpao. Die riesigen Chulas mussen von einem ganzen Team Manner gelenkt werden. Diese bunten Veranstaltungen finden im Marz und April auf dem Sanam-Luang-Feld statt, weil dann jeden Nachmittag der dazu notwendige Wind aufkommt.
Neben den traditionellen, fur Thailand typische Sportarten, wird in Bangkok auch Fußball gespielt. Im Rajamangala-Nationalstadion tragt die thailandische Fußballnationalmannschaft fast alle ihre Heimspiele aus. Daneben gibt es funf Fußballvereine, die in der hochsten Liga des Landes, der Thai Premier League spielen.
Zudem sind in Bangkok Galopprennen sehr popular. Hierbei ist das Wetten auf den Ausgang der Rennen legal. Es gibt in Bangkok sogar zwei Galopprennbahnen: der „Royal Bangkok Sports Club“ und der „Royal Turf Club of Thailand“.
= Regelmaßige Veranstaltungen =
Staatliche Feiertage und große religiose Feste werden in Bangkok besonders prunkvoll begangen: Zum Geburtstag der Konigin oder des Konigs (5. Dezember) finden Paraden in den geschmuckten Straßen statt. Bei großen Festen werden sogar die Koniglichen Barken zu Wasser gelassen. Auch das chinesische Neujahrsfest ist Anlass zu dreitagigen Feierlichkeiten in Chinatown.
Wisakha Bucha, das großte buddhistische Fest, wird im Wat Phra Keo und auf dem Sanam Luang begangen. Bereits ab acht Uhr ziehen 30 bis 40 liebevoll dekorierte Wagen mit Statuen, die Szenen aus dem Leben von Buddha darstellen, durch die Thanon Rachdamnoen zum Konigspalast.
Wahrend der kuhlen Jahreszeit von Mitte Februar bis Ende Marz finden auf dem Sanam Luang Drachenwettkampfe statt. Zur Pflugzeremonie auf dem Sanam Luang Mitte Mai stromen Bauern aus dem ganzen Land nach Bangkok. Wahrend der Songkran-Feiern werden in Bangkoks Straßen wahre Wasserschlachten ausgetragen. Zu dieser Zeit fuhren zahlreiche Absperrungen zum Verkehrschaos, vor allem in der Altstadt; in Chinatown ist es hingegen ruhig.
= Gastronomie =
In Bangkok gibt es Restaurants fur praktisch jeden Geschmack. Alle wichtigen europaischen, nah- und fernostlichen Geschmacksrichtungen sind in vielen Feinschmecker-Restaurants vertreten. Die hochste Restaurant-Dichte haben wohl die Gebiete, in denen sich die Touristen hauptsachlich aufhalten, allen voran die Thanon Sukhumvit mit ihren zahlreichen Nebenstraßen. Reisefuhrer behaupten, in diesen Gebieten sei man nie weiter als 50 Meter vom nachsten Restaurant entfernt.
Dennoch gibt es einige erwahnenswerte Besonderheiten in Bangkok:
Garkuchen, Straßen-, Marktstande: An den zahlreichen Garkuchen und Straßenstanden, die sich in Bangkok praktisch „an jeder Straßenecke“ befinden, kann man fur europaische Verhaltnisse unglaublich preiswert satt essen, muss aber auch Abstriche an Ausstattung und Hygiene machen. Das Essen aus diesen Freiluft-Kuchen ist aus dem taglichen Leben vieler Thais in den großen Stadten nicht mehr wegzudenken. Hausfrauen kochen immer seltener selbst, sie werden schon scherzhaft „Plastic Bag Housewives“ genannt, da sie das Garkuchen-Essen in Plastiktuten nach Hause tragen. Noch vor 100 Jahren, als Bangkok noch das „Venedig des Ostens“ war, wurden Snacks, Nudelsuppen oder vollstandige Mahlzeiten hauptsachlich aus kleinen Booten heraus verkauft, heute konnen diese Stande aus zwei Rattankorben bestehen, die uber der Schulter getragen werden, es mogen Handkarren sein, Motorrad-Beiwagen oder auch einfache Tische, die am Straßenrand stehen.
Food Courts, Food Center: Eine mehr oder weniger große Anzahl von Garkuchen in einer hygienischen Umgebung – meist im Souterrain oder im obersten Stockwerk der großen Einkaufszentren und Supermarkte. Jede Garkuche stellt ihre eigene Spezialitat her. Bezahlt wird hier nicht mit Bargeld, sondern mit „Coupons“ in verschiedenen Denotationen, die vorher am Eingang gekauft werden konnen, nicht benutzte Coupons konnen zuruckgegeben werden. Zunehmend kommen statt Coupons aufladbare Plastikkarten zum Einsatz.
Riverside: Viele alteingesessene Restaurants in Bangkok befinden sich am Ufer des Chao Phraya. Manche Terrassen liegen direkt am Ufer, andere sind auf Stelzen in den Fluss hinein gebaut. Das Essen ist traditionell thailandisch.
Hotel Dining: Die großen Hotels der Stadt versuchen sich regelmaßig gegenseitig zu ubertreffen, indem sie Sonderangebote oder Essen vom Buffet „soviel man essen kann“ anbieten. In den Tageszeitungen gibt es taglich seitenlange Hinweise auf spezielle Veranstaltungen oder Sonderpreise in den Hotel-Restaurants.
English afternoon tea: Einige Hotels, allen voran das Oriental Hotel im renovierten Author’s Wing, bieten auch den englischen Nachmittagstee an. Dies ist weniger eine Veranstaltung zum satt werden, sondern eher eine gesellschaftliche Moglichkeit, den heißen Nachmittag bis zum nachsten Abendessen zu uberbrucken, so wie es vor 100 Jahren die westliche Aristokratie vorfuhrte.
Dinner Cruises: Mehrere Hotels und Restaurants bieten Rundfahrten mit Restaurant-Service an. Die Auswahl geht vom großen „Riverside 2“, einem fast 100 Meter langen, modernen Flussschiff mit Restaurants fur uber 1000 Menschen, bis zur „Mahora“, einer antiken, holzernen Reisbarke, die zum schwimmenden Restaurant fur kleinere Gesellschaften umgebaut wurde. Die Fahrt dauert etwa zwei bis drei Stunden, sie fuhrt eine Strecke den Fluss hinab, dann zuruck zum Ausgangspunkt. Zur Unterhaltung wird Live-Musik geboten, auf den großen Schiffen mit lautstarker Disko-Musik bis hin zu kleinen Ensembles, die traditionelle Musik darbieten.
siehe auch: Thailandische Kuche
= Handel =
Große Einkaufszentren konzentrieren sich vor allem in der unteren Thanon Sukhumvit (Sukhumvit-Straße), der Thanon Silom (Silom-Straße) und besonders am Siam Square. Hier liegen das MBK, das Siam Discovery Center, Zen, Central World und das Siam Paragon nebeneinander, in dem es neben allen erdenklichen Luxusmarken wie Ferrari und Lamborghini auch ein riesiges begehbares Aquarium gibt.
In den Einkaufszentren sind Geschafte, Buros, Restaurants, Kinos und Kaufhauser untergebracht. Die Einkaufspalaste, die zu den großten der Welt zahlen, liegen an den Ausfallstraßen außerhalb des Zentrums, beispielsweise Seacon Square und Seri Center in der Thanon Srinagarindra weit ostlich der Innenstadt, sowie der Future Park im Stadtteil Rangsit, nordlich des Flughafens Don Mueang.
In der Millionenstadt Bangkok haben einige Markte mit landlichem Charakter uberlebt, auf denen frisches Obst und Gemuse, Fisch und Fleisch angeboten wird. Die legendaren schwimmenden Markte gibt es allerdings nur noch außerhalb der Metropole. Auf den meisten Markten Bangkoks werden vor allem Textilien und Drogerieartikel verkauft, aber auch Pflanzen und Souvenirs.
In Bangkok gunstig angeboten werden Silber- und Niellowaren, Puppen und Masken, Holzschnitzereien, Abreibungen von Tempelreliefs auf dunnem Reispapier, Bronze-Artikel, Baumwolltextilien, Sonnenschirme, Facher und vieles mehr. Der Handel mit Antiquitaten ist in Thailand seit 1989 verboten. Deshalb lebt eine ganze Branche von der Produktion teilweise tauschend echter Falschungen.
Wirtschaft und Infrastruktur Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Bangkok ein Bruttoinlandsprodukt von 307 Milliarden US-Dollar in Kaufkraftparitat. In der Rangliste der wirtschaftsstarksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 35. Platz. Das BIP pro Kopf liegt bei 19.705 US-Dollar (KKP). In der Stadt waren knapp 7 Millionen Arbeitskrafte beschaftigt.
= Wirtschaft =
Die Stadt ist eines der bedeutendsten Wirtschafts- und Transportzentren in Sudostasien. Bangkok ist sowohl Verkehrsknotenpunkt als auch Hafenstadt, uber diese Stadt laufen 90 Prozent des Außenhandels; dort konzentrieren sich Industrie und Verwaltung. Die Stadt erwirtschaftete 2006 nach Angaben des Nationalen Statistikamtes (NSO) 28,0 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) des Landes; die Bangkok Metropolitan Region (BMR) 43,7 %. Das BIP Bangkoks betrug 2,190 Billionen Baht (Thailand: 7,816 Billionen). Es lag damit um das 261-fache uber dem BIP der wirtschaftlich schwachsten Provinz Thailands, Mae Hong Son (BIP 2006: 8,406 Milliarden Baht).
Die Thailandische Borse (Stock Exchange of Thailand) hat ihren Sitz in Bangkok. Der Vorganger wurde 1962 in privater Form einer limited partnership gegrundet und 1963 als Bangkok Stock Exchange zur limited company. Seit dem 1. Januar 1991 tragt die Borse den heutigen Namen. Außerdem befinden sich in der Stadt das Hauptquartier der Wirtschafts- und Sozialkommission fur Asien und den Pazifik der Vereinten Nationen (UN) sowie weitere UN-Stellen. Zahlreiche Weltkonzerne besitzen Buros oder Fabriken in Bangkok. Dazu gehoren unter anderem Toyota, Unilever, Procter & Gamble, Philips, Sony, Compaq und Tesco.
Fertiggerichte, Holz und Textilien sind Bangkoks wichtigste Exportwaren. Die Stadt befindet sich in einer Tiefebene, in der uberwiegend Reis angebaut wird, der dann in den Reismuhlen Bangkoks, einem der wichtigsten Industriezweige, weiterverarbeitet wird. Weitere bedeutende industrielle Produkte sind unter anderem Lebensmittel und Kraftfahrzeuge sowie Textilien, Zement, Schmuck, Solarzellen und Solarmodule. Ferner gibt es hier eine rege Musik- und Filmindustrie.
Olraffinerien und Werften gibt es in Bangkok zahlreiche. Die Stadt ist als Schmuck- und Juwelenhandelszentrum bekannt. Sie ist das weltweite Zentrum fur die Aufarbeitung minderwertiger und die Herstellung synthetischer Steine. Relativ gering sind die im eigenen Land geforderten Saphire und Rubine, das meiste wird importiert.
Tourismus Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle. Die Khaosan Road, in der Nahe des Palastkomplexes, ist der Treffpunkt fur Rucksacktouristen aus aller Welt. Am anderen Ende des touristischen Spektrums verfugt Bangkok mit dem Hotel Oriental und dem Peninsula uber Luxushotels, die seit Jahren zu den Besten der Welt gezahlt werden.
Nach Angaben der Staatlichen Tourismusbehorde (TAT) besuchten 2006 Bangkok 36,2 Millionen Gaste. Das entspricht einem Wachstum von 3,83 % gegenuber 2005. Unter den Touristen waren 23,8 Millionen Thais (+5,45 %) und 12,4 Millionen Auslander (+0,84 %). Die Zahl der Personen, die in einem Hotel, Gaste- oder Apartmenthaus ubernachteten und der Polizei gemeldet wurden, lag 2006 bei 13,9 Millionen (+3,56 %). Darunter waren 3,2 Millionen Thais (+11,25 %) und 10,7 Millionen Auslander (+1,46 %). Die meisten auslandischen Touristen in Bangkok kamen aus folgenden Landern: Japan (1.495.912), Volksrepublik China (1.357.387), USA (682.083), Singapur (618.853), Großbritannien (494.990), Australien (442.982), Hongkong (442.632), Taiwan (433.269), Malaysia (370.188), Indien (361.156), Deutschland (343.922) und Sudkorea (305.185).
Obwohl Prostitution wie in vielen anderen Landern offiziell illegal ist, stellt das Gewerbe auch in Bangkok sowohl einen wichtigen Wirtschaftsfaktor als auch ein großes Problem dar. Sextouristen kommen vor allem aus Japan, Malaysia, Singapur, Taiwan, Australien, Europa, den arabischen Staaten und den USA nach Thailand. Die bekanntesten und beruchtigtsten Rotlichtbezirke in Bangkok sind Patpong, Nana Plaza und Soi Cowboy.
In Bangkok finden sich auch viele fur die Wirtschaft des Landes arbeitende Institute, wie das Rice Research Institute.
= Verkehr =
Fernverkehr Die Stadt ist wichtigster Knotenpunkt des Straßen- und Eisenbahnnetzes in Thailand.
= Flugverkehr =
Bangkok ist Sitz eines fur Sudostasien bedeutenden internationalen Flughafens. Bis September 2006 war dies der Bangkok International Airport (Don Mueang), 22 Kilometer nordlich des Stadtzentrums.
Die Eroffnung des Suvarnabhumi Airport – der sich etwa 30 km ostlich der Hauptstadt in der Gemeinde Bang Phli der Provinz Samut Prakan befindet und eine Passagierkapazitat von 45 Millionen Fluggasten pro Jahr hat – fand baubedingt erst am 28. September 2006 statt. Der neue Suvarnabhumi Airport hat den Flughafencode „BKK“ vom alten Don Mueang Airport ubernommen, dieser wurde vorerst nur noch von Charterflugen und Privatmaschinen angesteuert. Im Jahr 2011 hatte der Flughafen „BKK“ rund 47,5 Millionen Passagiere abgefertigt. Die Fahrt von Suvarnabhumi mit dem Taxi in die Innenstadt dauert in der Regel etwa 30 bis 60 Minuten, wobei bei extremen Verkehrsaufkommen zu Hauptverkehrszeiten auch bis zu drei Stunden eingeplant werden konnen. Seit 2010 besteht mit dem Suvarnabhumi Airport Railway Link (SARL) auch eine Schnellbahn-Verbindung zwischen Innenstadt und Flughafen.
Am 25. Marz 2007 wurde der alte Flughafen Don Mueang mit dem Flughafencode „DMK“ fur Inlandsfluge wiedereroffnet. Seit dem 1. Oktober 2012 fliegt die Billigfluggesellschaft AirAsia anstelle des großeren Flughafens Bangkok Suvarnabhumi ausschließlich den Flughafen Don Mueang an.
= Eisenbahnverkehr =
Die erste Eisenbahnstrecke Thailands von Bangkok nach Pak Nam wurde am 11. April 1893 eroffnet. Am 21. Dezember 1900 stellte eine englische Gesellschaft die Eisenbahnverbindung Bangkok-Ayutthaya-Khorat fertig, anschließend baute man die Linie Bangkok-Ratchaburi-Petchaburi aus, die am 19. Juni 1903 fertig gestellt wurde.
Bis zur Eroffnung des neuen Hauptbahnhofs Bang Sue Grand Station im August 2021, fuhren die meisten Reisezuge von Hua Lamphong, dem Hauptbahnhof Bangkoks, Richtung Norden, Nordosten, Osten und Suden. Der alte Hauptbahnhof soll im Anschluss in ein Museum umgewandelt werden. Nach Kabin Buri fahren zudem Zuge ab Makkasan Station. Zuge Richtung Kanchanaburi und Mae Nam Khwae („River Kwai“) und einige langsame Zuge in den Suden fahren vom Bahnhof in Bangkok Noi ab. Statt vom alten Bahnhofsgebaude starten die Zuge von der New Station, zu der ein kostenloser Shuttle in funf Minuten fahrt. Fur den Guterverkehr besteht am nordlichen Stadtrand der mechanisierte Rangier- und Guterbahnhof Bang Sue. Hierbei handelt es sich um einen der weltweit nur wenigen Rangierbahnhofe in Meterspur.
= Busverkehr =
Bangkok hat drei Fernbusbahnhofe, von denen die meisten Busse (außer einigen AC-Bussen und Minibussen) abfahren: Der ostliche Busbahnhof (Richtung Ostkuste) an der Thanon Sukhumvit, gegenuber der Einmundung der Soi Ekamai (daher auch kurz Ekamai genannt); der sehr große nordliche und nordostliche Busbahnhof (kurz Mo Chit) an der Thanon Kamphaeng Phet 2 im Bezirk Chatuchak und der sudliche Busbahnhof (kurz Sai Tai), sudlich der Nationalstraße 338, an der Auffahrt der Thanon Borommaratchachonnani.
= Seeverkehr =
Der Hafen von Bangkok liegt am linken (ostlichen) Chao-Phraya-Ufer und belegt eine Flache von mehr als 3,6 Quadratkilometern. Im Alltagsleben wird er Khlong Toei genannt, heißt aber eigentlich „Pak Nam“ (so viel wie Mundung, wortlich Wassermund). Der Seehafen ist einer der großten Sudostasiens. 2004 wurden 15,3 Millionen Tonnen Fracht umgeschlagen (2003: 14,6 Millionen). Bereits Ende des 19. Jahrhunderts bestanden regelmaßige Dampferverbindungen nach Hongkong, Singapur und Saigon.
Nahverkehr = Straßenverkehr =
Allgemeines
Außerhalb der Rattanakosin-Insel wird der Straßenverkehr in Bangkok von Fernstraßen bestimmt, entlang derer die Stadt seit der Aufgabe der traditionellen Wasserstraßen, der Khlongs, gewachsen ist. Die dennoch zahlreich vorhandenen Wasserwege, deren Uberbruckung nicht immer erschwinglich war, fuhren auch heute noch zu einer weit geringeren Vernetzung der Straßen, als es in vergleichbaren Großstadten ublich ist.
Viele Nebenstraßen sind bis heute aufgrund der fehlenden Brucken Sackgassen geblieben. Dies fuhrt zu einem geringen Durchgangsverkehr in den betroffenen Wohnvierteln, aber damit auch zu einer hoheren Verkehrsdichte auf den großeren Straßen. Die Nebenstraßen, auf denen Kfz-Verkehr moglich ist, werden Soi genannt. Sois haben alle einen eigenen Namen, die jedoch bei kleineren Nebenstraßen im taglichen Sprachgebrauch nur in seltenen Fallen verwendet werden. Meist wird die Soi-Nummer benannt, beispielsweise Sukhumvit Soi 16. Großere Nebenstraßen wiederum sind haufig nur mit dem Soi-Namen bekannt, beispielsweise Soi Ekkamai (เอกมัย) statt Sukhumvit Soi 63.
Auf errichteten Radwegen nimmt Radverkehr etwas zu, wird 2019 berichtet.
Verkehrsbelastung
In den 1970er Jahren haben europaische Stadtplaner ohne großen Erfolg versucht, das chronische Verstopfungs-Problem von Bangkoks Straßen mit modernen Bruckenkonstruktionen zu beseitigen. In den 1980er Jahren wurde ein umfangreiches Einbahnstraßensystem eingerichtet. Busse erhielten wahrend der Hauptverkehrszeit eine eigene Busspur, wo sie auch in Einbahnstraßen in beide Richtungen fahren konnen. Erst die Errichtung zahlreicher mautpflichtiger Hochstraßen und zusatzlicher Brucken (englisch fly-over), sowie die Errichtung einer elektrischen Hochbahn, der sogenannten „Bangkok Skytrain“ (BTS), und der Metro (MRT) haben eine gewisse Besserung erreicht.
Offentlicher Nahverkehr
Der straßengebundene offentliche Nahverkehr wird gegenwartig uberwiegend von dieselbetriebenen Stadtbussen bewaltigt, die ein dichtes Busnetz bilden, das praktisch jeden Winkel der Stadt abdeckt. Es werden Stadtbusse unterschiedlicher Klassen eingesetzt: Busse mit Klimaanlage, Busse mit Ventilator und Busse mit offenen Fenstern (von den Thai spottisch air thammachat, „Natur-Klimaanlage“, genannt). 2010 wurde zusatzlich eine neue Buslinie (BRT) eingefuhrt, die einen Großteil der Strecke auf extra abgetrennten Busspuren zurucklegt.
Individualverkehr wird vorwiegend durch die zahlreichen Taxis, Motorradtaxis und Tuk Tuks (offene Motorroller mit Sitzbank) abgewickelt, die Fahrgaste durch die Stadt befordern. Insbesondere die Tuk Tuks haben vor allem in der Vergangenheit das Stadtbild Bangkoks erheblich gepragt und sind noch immer eine besondere Touristenattraktion. In ihrer Funktion werden sie jedoch mittlerweile von den Motorradtaxis abgelost.
= Schienenverkehr =
Am 22. September 1888 fuhr die Straßenbahn Bangkok als erstes als Pferdestraßenbahn und ab 1. Februar 1893 als erstes als elektrische Straßenbahn in Bangkok. Der Verkehr wurde am 1. Oktober 1968 eingestellt. Bis Ende der 1990er Jahre verfugte Bangkok uber kein schienengebundenes Massentransportmittel. Durch den Aufbau eines Schnellbahnnetzes versucht man dem Verkehrschaos Herr zu werden, nachdem in den Jahrzehnten zuvor eher auf Ausbau des Straßenverkehrsnetzes gesetzt wurde.
Am 5. Dezember 1999 nahm die Hochbahn Bangkok Skytrain, das erste offentliche Schnellbahnprojekt der Stadt, ihren Betrieb auf. Sie verkehrt auf zwei Linien mit 32 Kilometer Lange und 30 Stationen. Es war die erste elektrisch betriebene Bahn mit Europaischer Normalspur (1435 Millimeter Spurweite) und befordert derzeit 250.000 Fahrgaste pro Tag. Beide Linien kreuzen sich am Umsteigebahnhof Siam am belebten Siam Square.
Am 3. Juli 2004 wurde der erste Streckenabschnitt der Bangkok Metro eroffnet. Er ist 21 Kilometer lang, fuhrt uber 18 Bahnhofe und besitzt dieselbe elektrische und technische Ausrustung wie der Skytrain. Umsteigemoglichkeiten zur Skytrain bestehen in Si Lom/Saladaeng, Sukhumvit/Asok und Chatuchak/Mo Chit. Die Kapazitat pro Fahrtrichtung betragt circa 40.000 Fahrgaste pro Stunde. In Planung sind Erweiterungen nach Norden bis Charansanitwongse und Tha Phra, nach Suden bis nach Bang Khae, mit einer moglichen Ausfuhrung als Ringstrecke.
Am 5. Dezember 2009 wurde der Suvarnabhumi Airport Rail Link eroffnet. Die auf Stelzen gefuhrte Hochbahn ist eine Stadtbahn im Offentlichen Personennahverkehr von Bangkok, die den Flughafen Bangkok-Suvarnabhumi mit der Innenstadt Bangkoks verbindet. Betreiber ist die staatliche Eisenbahngesellschaft Thailands, die State Railway of Thailand (SRT).
Mit den SRT Red Lines bestehen zwei am 2. August 2021 eroffnete meterspurige Vorortbahnen, die vom Bahnhof Bang Sue, wo Anschluss an die blaue Linie der Metro, zu zahlreichen Buslinien sowie zu Fernverkehrszugen besteht und welcher den bisherigen Hauptbahnhof ersetzen soll, nach Rangsing und Taling Chan, welche elektrifiziert sind und eine Hochstgeschwindigkeit von bis zu 160 km/h erreichen. Daneben gibt es dieselbetriebene Vorortzuge von Hua Lamphong nach Lop Buri, Kaeng Koi, Prachin Buri und Suphanburi, von Thon Buri nach Ratchaburi sowie zwischen Wongwian Yai und Maekong mit Fahrbetrieb zwischen Machachai und Ban Laem.
Die Einschienenbahn Bangkok erganzt seit 2023 das U-Bahn-System.
= Schiffsverkehr =
Personenfahren (Thai: เรือยนต์ขามฟาก) – kleine, relativ hohe Boote mit Dach – uberqueren von zahlreichen Piers aus den Mae Nam Chao Phraya. Allerdings stimmen die Anlegestellen nicht mit den Piers der Expressboote uberein.
Die langen „Expressboote“ (เรือดวนเจาพระยา) mit vielen Sitzplatzen verkehren auf dem Mae Nam Chao Phraya uber 18 Kilometer zwischen Nonthaburi (Norden) und Krung-Thep-Brucke (Suden) sowie flussaufwarts uber Nonthaburi hinaus bis Pak Kret.
Ruea Hang Yao (เรือหางยาว, wortl.: Langschwanzboote, sogenannt, weil sie von einem Außenbordmotor an einer langen Stange angetrieben werden) – schmale Boote mit Sitzplatzen fur etwa 15 Personen. Sie verkehren regelmaßig im Linienverkehr auf den Khlongs von Bangkok und Thonburi. Sie werden vor allem von Pendlern genutzt, um in die Vororte zu gelangen.
= Bildung =
Bangkok beherbergt verschiedene technische Institute, mehrere Hoch- und Fachschulen und sechs Universitaten, von denen zwei im weltweiten Forschungsverbund eingegliedert sind: die Chulalongkorn-Universitat und die Thammasat-Universitat. Nahe dem Wat Phra Kaeo befindet sich die Kunstakademie, die 1921 gegrundete Silpakorn-Universitat.
Die Chulalongkorn-Universitat (benannt nach Rama V. Chulalongkorn) ist eine der altesten Universitaten Thailands. Sie wurde am 26. Marz 1917 von Konig Rama VI. Vajiravudh gegrundet, nachdem sie seit 1899 als Verwaltungsfachschule existierte. Von Beginn an legte man sehr viel Wert auf die studentische Selbstverwaltung. Heute (2023) lernen uber 40.000 Studenten an der Universitat, die Zahl der akademischen Mitarbeiter betrug 2019 etwa 4.000.
Die Thammasat-Universitat wurde am 27. Juni 1934 als „Universitat der moralischen Wissenschaft und Politik“ gegrundet und wird heute noch „Universitat des Volkes“ genannt, weil sie sich besonders um einen Hochschulzugang fur alle Menschen des Landes bemuht. Seit 1934 haben etwa 240.000 Studenten an der Universitat studiert, von denen einige Premierminister von Thailand, Prasidenten des Obersten Gerichts, Parlamentsmitglieder, Senatoren und erfolgreiche Geschaftsleute geworden sind.
Die Kasetsart-Universitat (benannt nach dem Zweck der Universitat) ist eine der beruhmten Universitaten und war die erste thailandische landwirtschaftliche Universitat. Sie wurde am 2. Februar 1943 gegrundet, nachdem sie seit 1914 als padagogische Fachhochschule existierte. Heute lernen circa 47.000 Studenten an der Universitat, die Zahl der akademischen Mitarbeiter betragt etwa 5.200.
Der Thailand Research Fund im Khet Phaya Thai organisiert die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten des Landes.
Personlichkeiten = Sohne und Tochter der Stadt =
Mitglieder des Konigshauses:
Rama IV. Mongkut (1804–1868), Konig von Siam (1851–1868)
Rama V. Chulalongkorn (1853–1910), Konig von Siam (1868–1910)
Prinz Damrong Rajanubhab (1862–1943), Innenminister Thailands
Rama VI. Vajiravudh (1880–1925), Konig von Siam (1910–1925)
Prinz Abhakorn Kiartiwongse (1880–1923), Admiral und Arzt
Prinz Mahidol Adulyadej (1892–1929), Vater der Konige Ananda Mahidol und Bhumibol Adulyadej, Arzt
Rama VII. Prajadhipok (1893–1941), Konig von Siam (1925–1935)
Sirikit (* 1932), Konigin von Thailand
Rama IX Bhumibol Adulyadej (1927–2016), Konig von Siam (1946–2016)
Rama X Maha Vajiralongkorn (* 1952), seit dem 13. Oktober 2016 amtierender Konig von Thailand
Hotel und Gastronomie:
Norbert Kostner (1945), italienischer Koch im Hotel Oriental in Bangkok
Kunst und Kultur:
Diego von Bergen (1872–1944), deutscher Diplomat
Pin Malakul (1903–1995), Schriftsteller und Padagoge
William Schiøpffe (1926–1981), danischer Jazzmusiker
Sippanondha Ketudat (1931–2006), Physiker und Politiker
Emmanuelle Arsan (1932–2005), Schriftstellerin und Schauspielerin
Amorn Surangkanjanajai (* 1953), Schauspieler
Thongchai „Bird“ McIntyre (* 1958), Sanger und Schauspieler
Pen-Ek Ratanaruang (* 1962), Filmregisseur und Drehbuchautor
Chintara Sukapatana (* 1965), Schauspielerin
Apichatpong Weerasethakul (* 1970), Filmregisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent
Philipp Gut (* 1971), Schweizer Journalist und Buchautor
Tata Young (* 1980), Schauspielerin
Martin Kaul (* 1981), Journalist
Paula Taylor (* 1983), britisch-thailandische Schauspielerin, Fotomodell
Mario Maurer (* 1988), Fotomodell und Schauspieler
Lalisa Manoban (* 1997), Sangerin und Model
Politik:
Phraya Manopakorn Nititada (1884–1948), Justizbeamter erster Premierminister von Thailand (1932/1933)
Phraya Phahon Phonphayuhasena (1887–1947), General, Premierminister von Thailand (1933–1938)
Prinz Wan Waithayakon (1891–1976), Diplomat, thailandischer UN-Botschafter, Prasident der 11. UN-Generalversammlung, Außenminister
Thawi Bunyaket (1904–1971), Politiker; Landwirtschaftsminister und Premierminister von Thailand (1945)
Pote Sarasin (1905–2000), Diplomat, Premierminister von Thailand (1957) und Generalsekretar der SEATO (1957–1963)
Sanya Dharmasakti (1905–2002), Jurist, Prasident des Obersten Gerichtshofs, Premierminister (1973–1975)
Seni Pramoj (1905–1997), Politiker, Premierminister (1945–1946, 1975/1976)
Sarit Thanarat (1908–1963), Premierminister von Thailand (1959–1963)
Rak Panyarachun (1914–2007), stellvertretender Außenminister (1955 bis 1957)
Upadit Pachariyangkun (1920–2012), Außenminister von Thailand (1976–1980)
Kriangsak Chomanan (1917–2003), General, Premierminister von Thailand (1977–1980)
Chatichai Choonhavan (1920–1998), Premierminister von Thailand (1988–1991)
Thanin Kraivichien (1927–2025), Premierminister (1976/1977), Mitglied des Kronrats
Anand Panyarachun (* 1932), Diplomat und Manager, Premierminister von Thailand (1991/1992)
Surayud Chulanont (* 1943), General und Premierminister Thailands (2006–2008)
Religion:
George Yod Phimphisan (1933–2017), romisch-katholischer Ordensgeistlicher und Bischof von Udon Thani
Sport:
Erik Tegner (1896–1965), danischer Tennisspieler
Prinz Birabongse Bhanutej („Prinz Bira“, 1914–1985), Automobilrennfahrer
Nat Indrapana (1938–2018), IOC-Mitglied
Teerasak Po-on (* 1958), Fußballtrainer und -spieler
Khunying Patama Leeswadtrakul (* 1965), IOC-Mitglied
Pairoj Borwonwatanadilok (* 1967), Fußballspieler und Fußballtrainer
Phayong Khunnaen (* 1967), Fußballtrainer
James Wattana (* 1970), Snookerspieler
Natipong Sritong-in (* 1972), thailandisch-franzosischer Fußballtrainer und -spieler
Patanapong Sripramote (* 1974), Fußballtrainer und -spieler
Eric Koston (* 1975), professioneller Skateboarder
Narong Wisetsri (* 1976), Fußballspieler
Paradorn Srichaphan (* 1979), Tennisspieler
Theerawesin Seehawong (* 1980), Fußballspieler und -trainer
Jutamass Tawoncharoen (* 1981), Leichtathletin
Danai Udomchoke (* 1981), Tennisspieler
Sanchai Ratiwatana (* 1982), Tennisspieler
Sonchat Ratiwatana (* 1982), Tennisspieler
Anucha Kitphongsri (* 1983), Fußballspieler
Kritnaphop Mekpatcharakul (* 1983), Fußballspieler
Thritthi Nonsrichai (* 1983), Fußballspieler
Nongnuch Sanrat (* 1983), Leichtathletin
Wachara Sondee (* 1983), Leichtathlet
Sangwan Jaksunin (* 1984), Leichtathletin
Pakasit Saensook (* 1984), Fußballspieler
Nopphon Phon-adom (* 1985), Fußballspieler
Santiphap Siri (* 1985), Fußballspieler
Tadpong Lar-tham (* 1986), Fußballspieler
Pavarit Saensook (* 1987), Fußballspieler
Sittipan Chumchuay (* 1988), Fußballspieler
Tassaporn Wannakit (* 1989), Leichtathletin
Woranet Tornueng (* 1990), Fußballspieler
Kittisak Boontha (* 1992), Fußballspieler
Nattakit Fongwitoo (* 1993), Fußballspieler
Cee Nantana Ketpura (* 1993), Badmintonspielerin
Surawich Logarwit (* 1993), Fußballspieler
Rawinda Prajongjai (* 1993), Badmintonspielerin
Pathomtat Sudprasert (* 1993), Fußballspieler
Tinn Isriyanet (* 1993), Badmintonspieler
Taravadee Naraphornrapat (* 1994), Beachvolleyballspielerin
Itthipol Yodprom (* 1994), Fußballspieler
Wishaya Trongcharoenchaikul (* 1995), Tennisspieler
Panupan Juheang (* 1996), Fußballspieler
Peerapong Srinok (* 1996), Fußballspieler
Meechok Marhasaranukun (* 1997), Fußballspieler
Kantaphon Wangcharoen (* 1998), Badmintonspieler
Yuthapichai Lertlam (* 1999), Fußballspieler
Kantaphat Manpati (* 1999), Fußballspieler
Korrakot Pipatnadda (* 1999), Fußballspieler
Supanut Suadsong (* 1999), Fußballspieler
Thanadol Kaosaart (* 2001), Fußballspieler
Thanathorn Namchan (* 2001), Fußballspieler
Rattanachat Niamthaisong (* 2001), Fußballspieler
Kasidit Samrej (* 2001), Tennisspieler
Mai Napatt Nirundorn (* 2002), Tennisspielerin
Payanat Thodsanid (* 2002), Fußballspieler
Thonthan Chim-ong (* 2003), Fußballspieler
Arisa Weruwanarak (* 2003), Leichtathletin
Carl Wattana Bennett (* 2004), Autorennfahrer
Puttipat Kaewsawad (* 2005), Fußballspieler
Wirtschaft:
Dhanin Chearavanont (* 1938), Unternehmer
Pita Limjaroenrat (* 1980), Unternehmer und Politiker
Charoen Sirivadhanabhakdi (* 1944), Unternehmer
Vichai Srivaddhanaprabha (1958–2018), Unternehmer
Wissenschaft:
Sulak Sivaraksa (* 1933), Sozialwissenschaftler, Trager des Alternativen Nobelpreises
Beatrice Heuser (* 1961), Historikerin, Politikwissenschaftlerin und Hochschullehrerin
Peter Zinoman (* 1965), Historiker
Ulrike Brandt-Bohne (* 1977), deutsche Biologin und Fernsehmoderatorin
Sonstiges:
Jens Soring (* 1966), deutscher Staatsburger, wegen Doppelmordes in Virginia (USA) inhaftiert gewesen
Literatur Marc Askew: Bangkok. Place, Practice and Representation. Routledge, London / New York 2002, ISBN 0-415-18853-9.
Karl Husa, Helmut Wohlschlagel: Booming Bangkok: Eine Megastadt in Sudostasien im Spannungsfeld von Metropolisierung und Globalisierung. In: Karl Husa, Erich Pilz, Irene Stacher: Mega-Cities: Die Metropolen des Sudens zwischen Globalisierung und Fragmentierung (= Historische Sozialkunde. Band 12). Brandes und Apsel, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-86099-172-8.
Frauke Kraas: Bangkok. Ungeplante Megastadtentwicklung durch Wirtschaftsboom und soziokulturelle Persistenzen. In: Geographische Rundschau. 48, Heft 2, 1996, S. 89–96.
Peter Nitsch: Bangkok – Urban Identities. Bildband. rupa publishing, Munchen 2007, ISBN 978-3-9809430-7-9.
Maryvelma O’Neil: Bangkok. A Cultural History. Oxford University Press, New York 2008, ISBN 978-0-19-534251-2.
Steve Van Beek: Bangkok Einst und Jetzt. AB Publications, Bangkok 2001, ISBN 974-87616-2-2 (englische Version: ISBN 974-87063-9-7).
William Warren: Bangkok. Reaktion Books, London 2002, ISBN 1-86189-129-6.
Roger Willemsen, Ralf Tooten: Bangkok Noir. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-10-092106-2.
Belletristik
Christopher G. Moores Vincent-Calvino-Detektivreihe spielt großtenteils in Bangkok. Der dritte Roman Nana Plaza aus der Reihe gewann 2004 den Deutschen Krimi-Preis in der Kategorie International.
Chris Burslem: Tales of Old Bangkok: Rich Stories from the Land of the White Elephant. Kindle Edition, Earnshaw Books, Hong Kong 2016, ISBN 988-19984-2-5.
Weblinks Literatur von und uber Bangkok im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Bangkok Stadtverwaltung – Bangkok Metropolitan Administration (in Thai und Englisch)
Offizielle Website von Bangkok (in Thai und Englisch)
Einzelnachweise
|
Bangkok (thailandisch กรงเทพมหานคร, Krung Thep Maha Nakhon, [kruŋ tʰeːp maʔhaː naʔkʰɔːn], ; kurz กรงเทพฯ, Krung Thep, [kruŋ tʰeːp]; historische Schreibung zum Teil auch Bankok) ist seit 1782 die Hauptstadt des Konigreichs Thailand. Sie hat einen Sonderverwaltungsstatus und wird von einem Gouverneur regiert. Die Hauptstadt hat 10.539.000 Einwohner (Stand 2020) und ist die mit Abstand großte Stadt des Landes. In der Bangkok Metropolitan Region (BMR), der großten Metropolregion in Thailand, leben insgesamt 14.626.225 Menschen (Stand 2020).
Die Stadt ist das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Thailands mit Universitaten, Hochschulen, Palasten und uber 400 Wats (buddhistische Tempelanlagen und Kloster) sowie wichtigster Verkehrsknotenpunkt des Landes. In Bangkok ist auch die Wirtschafts- und Sozialkommission fur Asien und den Pazifik (UNESCAP) beheimatet. Mit mehr als 17 Millionen auslandischen Touristen war Bangkok im Jahr 2013 die meistbesuchte Stadt der Welt. Seitdem belegt Bangkok einen der beiden ersten Platze, wobei je nach Zahlweise und Jahr entweder London oder Hongkong den anderen Platz belegen.
Die Zeit zu UTC betragt +7 Stunden. Der Zeitunterschied zu Mitteleuropa betragt +6 Stunden im Winter und +5 Stunden im Sommer, da es in Thailand keine Sommerzeit gibt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bangkok"
}
|
c-13910
|
Als Spiralhornantilope („Pseudonovibos spiralis“) wird ein vermeintlicher Vertreter der Horntrager aus Sudostasien bezeichnet, dessen Existenz bisher nicht bewiesen werden konnte. Da noch nie ein Wissenschaftler dieses Tier zu Gesicht bekommen hat, beschaftigt sich hauptsachlich die Kryptozoologie mit dieser Antilope. Sowohl in deutsch- als auch in englischsprachiger Literatur wird das Tier oft bei seinem vietnamesischen Namen Linh Duong oder bei seinem kambodschanischen Namen Kting Voar genannt.
Ursprunge und Hinweise Im Jahr 1993 erwarben deutsche Wissenschaftler bei Handlern in Saigon im Suden von Vietnam mehrere Horner und Hornpaare von Horntragern, die nach Untersuchungen in ihrem Aufbau von allen bis daher bekannten Hornern abwichen. Im Jahr darauf wurde von den deutschen Zoologen Wolfgang Peter und Alfred Feiler auf Grundlage von acht Hornscheiden von vermutlich sechs Tieren die neue Gattung und Art „Pseudonovibos spiralis“ beschrieben, die Horner befinden sich heute im Museum fur Tierkunde Dresden, der Holotyp, ein Hornpaar, tragt die Katalognummer MTD B18479. Insgesamt waren zu dem Zeitpunkt Horner von einem Dutzend Tieren bekannt. Ein lebendes Exemplar bekamen die Forscher nicht zu Gesicht, nach Aussage von Einheimischen sei das Tier aber eher selten, doch existent und sollte im Hochland von Đa Lat verbreitet sein. Der lokale Name ware demzufolge Linh Duong, was ubersetzt in etwa „Bergziege“ bedeutet. Weitere Horner der ratselhaften Antilope wurden 1994 bis 1995 im nordostlichen Kambodscha erworben, was an das vermutete Verbreitungsgebiet westlich anschließt. Die dortigen Bewohner nannten das Tier Kting Voar, zu Deutsch „wilde Kuh mit lianenformigen Hornern“ oder Kting Sipuoh, zu Deutsch „wilde Kuh, die Schlangen frisst“. Zuvor wurden bereits zwei ahnlich gestaltete Horner aus dem Naturkundemuseum der University of Kansas bekannt, die in das Jahr 1929 zuruckdatieren und aus Sudvietnam etwa 125 km nordostlich von Saigon stammen; sie waren somit damals der alteste Hinweis auf die Art, wurden aber zuerst als Horner des Kouprey (Bos sauveli) interpretiert. Die ursprungliche Verwechslung des altesten verfugbaren Materials mit dem Kouprey veranlasste Peter und Feiler in ihrer Erstbeschreibung den wissenschaftlichen Namen „Pseudonovibos“ zu vergeben, der sich aus dem griechischen Wort ψευδω (pseudo, „ich tausche vor“) und der Bezeichnung Novibos als Alternativname fur den Kouprey zusammensetzt.
Die Entdeckung von „Pseudonovibos spiralis“ erfolgte in der Region des Truong Son in Sudostasien, das als Biodiversitats-Hotspot gilt. Hier waren ebenfalls in den 1990er Jahren zahlreiche Paarhuferarten entdeckt worden, darunter die Saola (Pseudoryx nghetinhensis) und der Riesenmuntjak (Muntiacus vuquangensis). Daher war die Beschreibung eines weiteren Vertreters der Horntrager nicht ganz ungewohnlich, die IUCN stufte die Art 1996 auf ihrer Roten Liste vorsorglich mit dem Status „gefahrdet“ (endangered) ein. Im Jahr 1997 konnten auch verschiedene Sammlungen chinesischer Texte aus dem 15. bis 18. Jahrhundert prasentiert werden, welche Abbildungen von Tieren zeigten, die ein ziegenartiges Außeres zeigen und Horner aufweisen, die in etwa denen von „Pseudonovibos spiralis“ entsprechen.
Zum mutmaßlichen Aussehen und der Lebensweise von „Pseudonovibos spiralis“ Die Horner haben gemeinsam betrachtet die Form einer Leier. Sie sind nach außen und aufwarts gerichtet, ehe sie sich im letzten Viertel nach innen biegen und eine kleine Spirale beschreiben. Die Hornlange schwankt zwischen 30,8 cm und 55,8 cm. Bemerkenswert sind quer verlaufende Riffelungen, die einen relativ gleichmaßigen Abstand von 1,5 bis 2,5 cm zueinander haben, der aber zur Spitze hin etwas zunimmt. Je nach Lange besitzen die Horner 13 bis 21 Riffel, die Flache zwischen den einzelnen Aufwolbungen ist glatt. Auf der Ruckseite sind die Riffelungen durch eine langs verlaufende Leiste unterbrochen. Es gibt zwei unterschiedliche Horntypen, die den Forschern zufolge eventuell auf einen Geschlechtsdimorphismus zuruckgefuhrt werden konnte. Der eine Horntyp hat einen runden Querschnitt, der zweite einen seitlich abgeplatteten bis kieligen, letzterer sollte demnach Mannchen gehoren. Die Grundfarbe der Horner ist zumeist schwarz.
Aus der Beschaffenheit und Große der Horner ließe sich ein Tier mit einer Schulterhohe von 110 bis 120 cm und einem Gewicht von 200 bis 300 kg schließen. Nach Auskunft einheimischer Jager sei es außerlich einem Buffel ahnlich und besaße ein einfarbig schwarzgraues Fell. Es lebe in kleinen Familiengruppen in Bergwaldern. Das Klima der Region wird durch hohe Temperaturen und Jahresniederschlage um 1500 bis 2500 mm charakterisiert.
Problematische Zuordnungen Die Erstbeschreiber von „Pseudonovibos spiralis“ favorisierten noch eine nahe Stellung bei den Gazellenartigen (Antilopini) und sahen eine mogliche Verwandtschaft zur Kropfgazelle (Gazella subgutturosa) oder zur Mongolischen Gazelle (Procapra gutturosa). Eine erste DNA-Analyse erfolgte 1999 am Paratypus des Fundmaterials in Dresden. Sie sprach fur eine nahere Beziehung zu den Ziegenartigen (Caprini). Eine weitere Genanalyse wurde im Jahr 2001 vorgelegt. Das dafur erforderliche Material hatte einer der beteiligten Wissenschaftler 1995 als Hornpaar von einem Nachfahren eines Jagers erstanden, der das Tier den Aussagen zufolge um 1920 einfing. Die Ergebnisse ließen eine Verbindung mit den Rindern (Bovini) vermuten, speziell zu Bubalus und Syncerus. Eine morphologische Studie der Horner aus der University of Kansas schlug ebenfalls eine Verwandtschaft mit den Rindern vor, ebenso wurde in dieser mit spiral-horned ox ein Trivialname eingefuhrt, der sich nach Meinung der Autoren einerseits an der moglichen Verwandtschaft und der Form der Horner orientierte, andererseits der Khmer-Bezeichnung Kting Voar Rechnung trug, die als der vermutete Lokalname angesehen wurde.
Falschung oder reales Lebewesen? Eine zwei Jahre nach der ersten Genanalyse aus dem Jahr 1999 durchgefuhrte Uberprufung des Ergebnisses unter Einbeziehung aller bekannten Gensequenzen der Ziegenartigen, was ursprunglich nicht erfolgte, erbrachte eine nahe Beziehung von „Pseudonovibos spiralis“ zur Gamse (Rupicapra rupicapra). Da aus biogeographischen und evolutionshistorischen Grunden diese Verwandtschaft als unwahrscheinlich zu betrachten ist, wurde das Ergebnis auf eine Verunreinigung der Probe zuruckgefuhrt.
Ebenfalls im Jahr 2001 veroffentlichten franzosische Wissenschaftler um Alexandre Hassanin und Herbert Thomas eine weitere genetische und eine erste histologische Untersuchung an sechs zusatzlichen Hornern, wobei zwei aus neuen Erwerbungen in Kambodscha, vier jedoch von einem Baumwollpflanzer stammten, der diese im Jahr 1925 erhielt und die sich nun in Privatbesitz befanden. Diese waren noch mit den knochernen Hornzapfen verbunden, wobei anatomische und genetische Untersuchungen dieser eine Zuweisung zum Hausrind (Bos taurus) erbrachten. Die histologischen Untersuchungen zeigten dann auf, dass die auffalligen Riffelungen der Hornscheiden, die als typisch fur „Pseudonovibos spiralis“ galten, kunstlich hergestellt worden waren: Die einzelnen, naturlich gebildeten Schichten des Keratins verliefen nicht durchgangig, wie es bei einem normalen Wachstum zu erwarten ware, sondern waren jeweils in den Bereichen der Aufwolbungen und Eintiefungen unterbrochen, was als Hinweis auf eine nachtragliche Manipulation zu werten ist. Eine Begutachtung des Holotypmaterials aus Dresden, die aber nicht im Detail erfolgte, erbrachte ebenfalls Hinweise auf eine kunstliche Herstellung der Riffelungen, wobei als Grundlage moglicherweise ein Horn des Wasserbuffels (Bubalus bubalis) diente.
In einer Wiederholung der Genanalyse von 2001, die eine Nahverwandtschaft zu den afrikanischen und asiatischen Wildrindern vorstellte, konnte Hassanin auf der Grundlage von RNA-Sequenzanalysen nachweisen, dass es sich bei den verwendeten Proben um Chimaren von drei verschiedenen Arten handelt: dem Hausrind, dem Wasserbuffel und der Saiga (Saiga tatarica). Eine im gleichen Zeitraum unternommene Befragung lokaler Handler in Sudostasien fuhrte zu der Erkenntnis, dass solche Horner, wie sie fur „Pseudonovibos spiralis“ als typisch charakterisiert wurden, kunstlich hergestellt werden und Teil der Folklore sind, die sich, anhand des Alters einiger Fundstucke wenigstens bis in die 1920er Jahre zuruckverfolgen lasst. Demnach wird die Hornscheide vom Hornzapfen entfernt und in Essig getrankt, spater dann in Blattern von Zuckerpalmen und Bambus erhitzt, bis sie weich ist. Danach wird die Spitze gedreht und die Riffelung eingedruckt. Als Grundlage dienten zumeist Horner von Wasserbuffeln und Hausrindern. Alle diese Studien bestatigen die vorausgegangenen Vermutungen, dass es sich bei dem der Erstbeschreibung zugrunde liegenden Material um Falschungen oder kunstlich verandertes Material handelt. Die Untersuchungsergebnisse geben zu erkennen, dass „Pseudonovibos spiralis“ nicht existiert. Der jahrelang gefuhrte Streit um die Existenz der Art fand unter anderem Niederschlag in den angesehenen Fachzeitschriften Nature und Science.
Einzelnachweise
|
Als Spiralhornantilope („Pseudonovibos spiralis“) wird ein vermeintlicher Vertreter der Horntrager aus Sudostasien bezeichnet, dessen Existenz bisher nicht bewiesen werden konnte. Da noch nie ein Wissenschaftler dieses Tier zu Gesicht bekommen hat, beschaftigt sich hauptsachlich die Kryptozoologie mit dieser Antilope. Sowohl in deutsch- als auch in englischsprachiger Literatur wird das Tier oft bei seinem vietnamesischen Namen Linh Duong oder bei seinem kambodschanischen Namen Kting Voar genannt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Spiralhornantilope"
}
|
c-13911
|
Die IUCN (International Union for Conservation of Nature; offiziell International Union for Conservation of Nature and Natural Resources; deutsch Internationale Union zur Bewahrung der Natur), ehemals bezeichnet als Weltnaturschutzunion (1990–2008), ist eine internationale Nichtregierungsorganisation und Dachverband zahlreicher internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen.
Ziel ist die Sensibilisierung der menschlichen Gesellschaften fur den Natur- und Artenschutz und diese so zu beeinflussen, dass eine nachhaltige und schonende Nutzung der naturlichen Ressourcen sichergestellt ist.
Der Verein erstellt unter anderem die Rote Liste gefahrdeter Arten und kategorisiert Schutzgebiete mittels der World Commission on Protected Areas (‚Weltkommission fur Schutzgebiete‘). Zudem publiziert die IUCN zahlreiche Positionspapiere zu Fragen des Umwelt- und Naturschutzes und entwickelt internationale Standards, wie z. B. den Standard zur Identifikation von Key Biodiversity Areas (‚Schlusselgebiete der biologischen Vielfalt‘). Sie hat Beobachterstatus bei der UN-Vollversammlung.
Geschichte Die IUCN wurde am 5. Oktober 1948 nach einer internationalen Konferenz in Fontainebleau, Frankreich als International Union for the Protection of Nature (IUPN) gegrundet. Die Initiative zur Grundung ging vom damaligen ersten Generaldirektor der UNESCO, dem britischen Biologen Julian Huxley aus. Bei ihrer Grundung war die IUPN die einzige internationale Organisation, die sich dem gesamten Spektrum des Naturschutzes widmete. 1956 anderte sie ihren Namen in International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), welcher heute zwar rechtlich immer noch gultig ist, aber selbst von der IUCN offiziell nur noch in der verkurzten Form International Union for Conservation of Nature verwendet wird. Zwischen 1990 und 2008 wurde auch der Name World Conservation Union verwendet.
Der Haupt-Sitz der IUCN befindet sich in Gland in der Schweiz.
Mitglieder Die Mitglieder der IUCN sind staatliche Ministerien und Regierungsbehorden, internationale Nichtregierungsorganisationen, nationale Nichtregierungsorganisationen und Organisationen indigener Volker. Zurzeit hat die IUCN uber 1.400 Mitglieder aus uber 170 Landern, welche sich zusammensetzen aus:
92 staatliche Mitglieder (in der Regel Ministerien, jedoch nicht der Staat selbst wie bei den Vereinten Nationen; darunter die jeweiligen Ministerien der Staaten der Europaischen Union, das Außenministerium der Vereinigten Staaten, das Umweltministerium von Russland und das Außenministerium der Volksrepublik China),
121 Mitglieder aus Regierungsorganisationen, wie z. B. dem deutschen Bundesamt fur Naturschutz,
106 Mitglieder aus internationalen Nichtregierungsorganisationen,
1107 Mitglieder aus nationalen Nichtregierungsorganisationen,
52 Mitglieder aus angeschlossenen Organisationen (Affiliates),
23 Mitglieder von Organisationen indigener Volker.
= Nationale Mitglieder in Deutschland =
Laut Mitgliederdatenbank der IUCN sind aus Deutschland Mitglied:
als staatliches Mitglied:
Bundesministerium fur Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz
als Regierungsorganisation:
Bundesamt fur Naturschutz
Deutsche Gesellschaft fur Internationale Zusammenarbeit
als internationale Nichtregierungsorganisation:
Ecologic Institute
EuroNatur – Stiftung Europaisches Naturerbe
Foderation Europarc
Global Nature Fund
ICLEI – Local Governments for Sustainability
SEH-Societas Europaea Herpetologica – die europaische Herpetologenvereinigung
SAVE Foundation
VDZ-Verband der Zoologischen Garten
als nationale Nichtregierungsorganisation:
Bund Naturschutz in Bayern
Deutscher Angelfischerverband
Deutscher Jagdverband
Deutscher Naturschutzring
Naturschutzbund Deutschland
Sharkproject Germany e. V.
Wilhelma, Zoologisch-Botanischer Garten Stuttgart
WWF Deutschland
Zoo Berlin
Zoo Leipzig
Zoologische Gesellschaft Frankfurt
Zoologische Gesellschaft fur Arten- und Populationsschutz
Zoologischer Garten Koln
als angeschlossene Organisation:
Bayerische Akademie fur Naturschutz und Landschaftspflege
= Nationale Mitglieder in Osterreich =
Laut Mitgliederdatenbank der IUCN sind aus Osterreich Mitglied:
als Regierungsorganisation:
Bundesministerium fur Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft
als nationale Nichtregierungsorganisation:
Nationalpark Hohe Tauern
Naturschutzbund Osterreich
Sharkproject Austria
Umweltdachverband
Wiener Tiergarten Schonbrunn
WWF Osterreich
= Nationale Mitglieder in der Schweiz =
Laut Mitgliederdatenbank der IUCN sind aus der Schweiz Mitglied:
als staatliches Mitglied:
Bundesamt fur Umwelt BAFU
als internationale Nichtregierungsorganisation:
European Association of Zoo and Wildlife Veterinarians
Fondation Internationale du Banc d’Arguin
Programme for the Endorsement of Forest Certification Schemes
Save Our Seas Foundation
World Association of Zoos and Aquariums
World Business Council for Sustainable Development
World Wide Fund for Nature
als nationale Nichtregierungsorganisation:
Akademie der Naturwissenschaften Schweiz
Borneo Tropical Rainforest Foundation
European Outdoor Conservation Association
Helvetas Swiss Intercooperation
Nos Oiseaux
Pro Natura
Schweizer Vogelschutz
WWF Schweiz
Zooschweiz
Kommissionen Neben den oben genannten zahlenden Mitgliedern besteht die Organisation aus einem „Knowledge Network“ von circa 16.000 freiwilligen Mitgliedern weltweit, die in sechs Kommissionen und 10 Regionalkomitees organisiert sind. Die großte Kommission ist die Species Survival Commission (SSC) mit mehr als 10.000 Mitgliedern. Die Mitglieder der Kommissionen sind meist in „Specialist Groups“ oder „Task Forces“ organisiert. Diese konnen taxonomisch („Amphibian Specialist Group“), geographisch („Arctic Plant Specialist Group“) oder thematisch („Conservation Planning Specialist Group“) ausgerichtet sein. Sie beraten das IUCN-Sekretariat und die IUCN-Mitglieder, fuhren Rote-Liste-Bewertungen durch, erarbeiten Naturschutzstrategien fur gefahrdete Arten, implementieren diese und betreiben Offentlichkeitsarbeit.
CEC – Kommission fur Bildung und Kommunikation (engl.: Commission on Education and Communication)
CEM – Kommission fur Okosystemmanagement (engl.: Commission on Ecosystem Management)
CEESP – Kommission fur Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialpolitik (engl.: Commission on Environmental, Economic and Social Policy)
SSC – Kommission zur Erhaltung der Artenvielfalt (engl.: Species Survival Commission)
WCEL – Weltkommission fur Umweltrecht (engl.: World Commission on Environmental Law)
WCPA – Weltkommission fur Schutzgebiete (engl.: World Commission on Protected Areas)
Aufgaben und Tatigkeiten = Kongresse =
Seit 1948 kommen die Mitglieder regelmaßig zu einer Generalversammlung zusammen, die seit 1994 als World Conservation Congress (‚Weltnaturschutzkongress‘) veranstaltet wird. Aktuell findet die Konferenz alle vier Jahre statt, zuletzt im Jahr 2016 auf Hawaii, Vereinigte Staaten. An der Konferenz nahmen rund 10.000 Vertreter von Behorden und NGOs aus fast allen Landern der Erde teil. Im Mittelpunkt stand 2016 die Situation der Elefanten weltweit. Der folgende Kongress war fur 2020 geplant, musste jedoch wegen der COVID-19-Pandemie auf 2021 verschoben werden;. Er fand vom 3. bis 11. September 2021 in Marseille statt. Berichtet wurde von der Hoherstufung des Komodowarans und der leichten Erholung bei einigen Thunfischarten, etwa beim Roten Thun, wenn auch nicht fur alle Populationen, so Bruno Oberle. Wahrend des Kongresses werden zahlreiche Resolutionen verabschiedet, die Arbeitsschwerpunkte der IUCN und ihrer Mitglieder fur die nachsten vier Jahre bestimmen. Auf dem Kongress in Marseille im September 2021 wurden etwa 39 Resolutionen beschlossen, darunter das Marseille-Manifest und ein Aufruf, das Amazonasgebiet bis zum Jahr 2025 zu 80 % unter Schutz zu stellen.
Die IUCN fuhrt seit 1962 etwa alle zehn Jahre den World Parks Congress (‚Weltparkkongress‘) durch, bei dem Strategien zum Schutz der Natur in Schutzgebieten festgelegt werden. Zuletzt fand der sechste World Parks Congress im November 2014 in Sydney, Australien statt.
= Gefahrdungsstufen nach der Roten Liste =
Seit 1964 fuhrt die IUCN die internationale Rote Liste gefahrdeter Tier- und Pflanzenarten. Sie unterscheidet die nebenstehenden Gefahrdungsstufen. Hierbei werden sowohl gefahrdete, als auch nicht gefahrdete Arten einer Bewertung unterzogen.
Der Gefahrdungsstatus aller Vogel, Saugetiere und Amphibien wurde beurteilt, wahrend dies bisher bei nur 18.000 (von den ca. 1,4 Millionen beschriebenen) Arten wirbelloser Tiere geschehen ist. Einer der Gefahrdungsstufen – verletzlich, stark gefahrdet oder vom Aussterben bedroht – waren im Jahr 2017 8170 Wirbeltiere, 4553 wirbellose Tiere und 11.674 Pflanzen zugeordnet. Insgesamt galten 24.440 Tier- und Pflanzenarten als bedroht.
Rote-Liste-Bewertungen folgen strikten wissenschaftlichen Kriterien, die seit dem Jahr 2001 gultig sind. Sie werden von Experten fur die betroffene Artengruppe erstellt und nach dem Peer-Review-Verfahren begutachtet, bevor sie in einer Online-Datenbank publiziert werden. Fur die meisten Artengruppen sind die Spezialistengruppen der Species Survival Commission verantwortlich. Die Vogelschutzorganisation BirdLife International erstellt im Auftrag der IUCN die Rote Liste gefahrdeter Arten der Vogel.
= Kategorisierung von Schutzgebieten =
Die IUCN verwendet ein 1978 eingefuhrtes System, das IUCN Protected Areas Categories System, in dem Schutzgebiete weltweit vergleichbar kategorisiert werden. Es stellt keine Hierarchie dar, sondern eine Klassifizierung des Schutzzieles und des Managements.
Daneben gibt es auch weitere, modernere Konzepte von Schutzgebieten, an deren Entwicklung die IUCN mitarbeitet, so etwa die Lichtschutzgebiete (Dark sky places, DSP) als Kategorien der Schutzgebiete vor Lichtverschmutzung. Betreut wird diese Agenda von der IUCN Dark Skies Advisory Group (DSAG, seit 2009).
Die IUCN ist Mitinitiator der World Database on Protected Areas (WDPA), der umfassendsten Datenbank aller terrestrischen und marinen Schutzgebiete auf der Erde. Als gemeinsames Projekt des United Nations Environment Programme (UNEP) und der IUCN wird die Datenbank vom UNEP World Conservation Monitoring Centre (UNEP-WCMC) gemanagt. Die Seite ProtectedPlanet.net ist das frei zugangliche online interface fur die WDPA.
= Umweltrechtsprogramm =
Das Umweltrechtsprogramm (ELP) ist ein wichtiges Programm der IUCN. Es wird ausgefuhrt durch die gemeinsamen Bemuhungen der Weltkommission fur Umweltrecht (WCEL), dem IUCN Umweltrechtszentrum, einem weltweiten Netzwerk von ca. 950 Umweltrechtsspezialisten aus mehr als 130 Landern und dem IUCN Environmental Law Centre (ELC), welches 1970 in Bonn eroffnet wurde und zurzeit mehr als 15 rechts-, politik- und informationswissenschaftliche Arbeitskrafte beschaftigt. Im Februar 1999 bezog das ELC mit etwa 30 Mitarbeitern eine bundeseigene Liegenschaft im Bonner Ortsteil Plittersdorf, Godesberger Allee 108–112.
Das ELP umfasst eine Reihe von Aktivitaten auf der nationalen, regionalen und globalen Ebene, die Entscheidungstrager mit Informationen, rechtlichen Analysen, Beratung, Gesetzentwurfen, und der Ausbildung und Kapazitatsbildung dient. Das Umweltrechtsprogramm ist auch ein Forum zum Austausch von Informationen und Erfahrungen zwischen Regierungen, nichtstaatlichen Organisationen und Anderen.
Leiter des ELP und Direktor des Umweltrechtszentrums in Bonn ist Alejandro O. Iza, Vorsitzender der Weltkommission fur Umweltrecht ist Antonio H. Benjamin.
= Weitere Projekte =
Die IUCN berat das Welterbekomitee in allen Belangen des Naturschutzes. Bevor Statten zum Weltnaturerbe der UNESCO erklart werden, evaluiert sie den Vorschlag. Auf diesem Gutachten basiert das Welterbekomitee dann seine Entscheidung. Fur alle Statten des Weltnaturerbes unterhalt die IUCN zudem ein Monitoring und gibt regelmaßige Berichte zum Stand der Erhaltung ab.
Das Brusseler Regional-Buro der IUCN fur Europa koordiniert seit 2004 die Aktivitaten rund um das Grune Band Europa, ein Projekt zur Schaffung eines Biotopenverbundes entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs, sowie die Erstellung Europaischer Roter Listen.
Im Jahr 2000 gab die Invasive Species Specialist Group (ISSG) der IUCN Species Survival Commission erstmals eine Liste mit dem Titel 100 of the World’s Worst Invasive Alien Species mit 100 als besonders problematisch angesehenen invasiven Arten heraus.
Eine andere Arbeitsgruppe der IUCN ist die aus der fruheren Wolf Specialist group der IUCN hervorgegangene Large Carnivore Initiative for Europe.
Die IUCN engagiert sich seit 2005 fur einen minimalen Energieverbrauch und kohlenstofffreies Bauen, indem sie energiesparende Materialien einsetzt, die von Jean-Luc Sandoz in den Fußstapfen von Julius Natterer an der EPFL entwickelt wurden.
Im Jahr 2011 wurde die sogenannte Bonn Challenge zur Wiederherstellung entwaldeter und erodierter Flachen gestartet.
Fuhrungs-Gremium und Personen Der Weltnaturschutzkongress (Mitgliederversammlung) ist das hochste Entscheidungsgremium der IUCN, er tritt alle 4 Jahre zusammen und wahlt den Rat, einschließlich des Prasidenten und billigt das Arbeitsprogramm der IUCN fur die nachsten vier Jahre sowie den Haushalt. Der IUCN-Rat ist das wichtigste Leitungsgremium der IUCN, er gibt die strategischen Richtlinien fur die Aktivitaten der Union vor, erortert spezifische politische Fragen und gibt Leitlinien fur die Finanzierung und die Mitgliederentwicklung vor.
= Prasidenten der IUCN =
Als IUCN-Prasidenten fungierten fuhrende Wissenschaftler aus verschiedenen akademischen Disziplinen wie Botanik, Zoologie, Genetik, Recht, Psychologie, Politik, Physik und Mathematik:
1948–1954: Charles J. Bernard, Niederlande
1954–1958: Roger Heim, Frankreich
1958–1963: Jean Georges Baer, Schweiz
1963–1966: Francois Bourliere, Frankreich
1966–1972: Harold Jefferson Coolidge Jr., Vereinigte Staaten
1972–1978: Donald J. Kuenen, Niederlande
1978–1984: Mohamed Kassas, Agypten
1984–1990: M. S. Swaminathan, Indien
1991–1994: Shridath Ramphal, Guyana
1994–1996: Jay D. Hair, Vereinigte Staaten
1996–2004: Yolanda Kakabadse, Ecuador
2004–2008: Mohammed Valli Moosa, Sudafrika
2008–2012: Ashok Khosla, Indien
2012–2021: Zhang Xinsheng, China Volksrepublik
seit 2021: Razan Khalifa Al Mubarak, Vereinigte Arabische Emirate
Vizeprasident war von 1960 bis 1969 Luc Hoffmann, Grundungsmitglied des WWF und Grunder der MAVA-Stiftung.
= Generaldirektoren der IUCN =
Der Rat der IUCN ernennt einen Generaldirektor oder bestatigt diesen, der fur die Gesamtleitung der IUCN und die Fuhrung des Sekretariats verantwortlich ist.
1948–1955 – Jean Paul Harroy, Belgien
1955–1958 – Tracy Philipps, Vereinigtes Konigreich
1959–1960 – M.C. Bloemers, Niederlande
1961–1962 – Gerald Watterson, Vereinigtes Konigreich
1963–1966 – Sir Hugh Elliott, Vereinigtes Konigreich
1966–1970 – Joe Berwick, Vereinigtes Konigreich
1970–1976 – Gerardo Budowski, Venezuela
1977–1980 – David Munro, Kanada
1980–1982 – Lee M. Talbot, Vereinigte Staaten
1983–1988 – Kenton Miller, Vereinigte Staaten
1988–1994 – Martin Holdgate, Vereinigtes Konigreich
1994–1999 – David McDowell, Neuseeland
1999–2001 – Marita Koch-Weser, Deutschland
2001–2006 – Achim Steiner, Deutschland/Brasilien
2007–2014 – Julia Marton-Lefevre, Frankreich
2015–2019 – Inger Andersen, Danemark
2020–2023 – Bruno Oberle, Schweiz
seit 2023 – Grethel Aguilar, Costa Rica
Literatur EUROPARC und IUCN (Hrsg.): Richtlinien fur Management-Kategorien von Schutzgebieten. Interpretation und Anwendung der Management Kategorien in Europa. Grafenau 2000 (Online [PDF; 4,5 MB; abgerufen am 30. November 2015] Quelle: Nationalpark Bayerischer Wald).
Weblinks Website der IUCN (englisch)
Einzelnachweise
|
Die IUCN (International Union for Conservation of Nature; offiziell International Union for Conservation of Nature and Natural Resources; deutsch Internationale Union zur Bewahrung der Natur), ehemals bezeichnet als Weltnaturschutzunion (1990–2008), ist eine internationale Nichtregierungsorganisation und Dachverband zahlreicher internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen.
Ziel ist die Sensibilisierung der menschlichen Gesellschaften fur den Natur- und Artenschutz und diese so zu beeinflussen, dass eine nachhaltige und schonende Nutzung der naturlichen Ressourcen sichergestellt ist.
Der Verein erstellt unter anderem die Rote Liste gefahrdeter Arten und kategorisiert Schutzgebiete mittels der World Commission on Protected Areas (‚Weltkommission fur Schutzgebiete‘). Zudem publiziert die IUCN zahlreiche Positionspapiere zu Fragen des Umwelt- und Naturschutzes und entwickelt internationale Standards, wie z. B. den Standard zur Identifikation von Key Biodiversity Areas (‚Schlusselgebiete der biologischen Vielfalt‘). Sie hat Beobachterstatus bei der UN-Vollversammlung.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/IUCN"
}
|
c-13912
|
Die Rote Liste gefahrdeter Arten, auch nur Rote Liste oder im Original Red Data Book genannt, ist die von der IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) veroffentlichte Liste weltweit vom Aussterben gefahrdeter Tier- und Pflanzenarten. Sowohl von der IUCN als auch von anderen internationalen Organisationen, Staaten, politischen Gliederungen wie Bundeslandern oder von Naturschutzverbanden werden ahnliche Listen mit geographischer oder taxonomischer Beschrankung veroffentlicht, die ebenfalls Rote Liste genannt werden. Heute gibt es neben Roten Listen gefahrdeter Arten auch solche gefahrdeter Biotoptypen.
Rote Listen gelten als wissenschaftliche Fachgutachten zum Aussterberisiko von Arten, die Gesetzgebern und Behorden als Grundlage fur ihr Handeln in Bezug auf den Arten-, Natur- und Umweltschutz dienen sollen. Nur in wenigen Staaten, so in der Schweiz, sind sie rechtswirksam.
Nationale und regionale Listen Von Staaten oder Bundeslandern fur ihr Gebiet herausgegebene Rote Listen haben einen regionalen Bezug und dadurch eine andere Bedeutung als die internationalen Roten Listen der IUCN. Sie konnen auf geografische Besonderheiten eingehen und ermoglichen dem Artenschutz vor Ort eine umfassendere Darstellung.
In Deutschland werden die nationalen Roten Listen vom Bundesamt fur Naturschutz in Bonn herausgegeben. Aktuell ist die seit 2009 erscheinende und auf sechs Bande angelegte Rote Liste gefahrdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands. Die Rote Liste der Brutvogel Deutschlands wird vom Nationalen Gremium Rote Liste Vogel im Auftrag des Deutschen Rats fur Vogelschutz herausgegeben. Sie liegt in der funften Fassung vom 30. November 2015 vor. Alle Bundeslander veroffentlichen eigene Rote Listen, sie werden von den fur Umwelt- und Naturschutz zustandigen Ministerien oder Landesbehorden herausgegeben. Nach dem Grundsatz „Gefahrdung heißt nicht Schutz“ haben die Roten Listen in Deutschland lediglich den Status von Sachverstandigengutachten, sie dienen dem Gesetzgeber und den Behorden als Informationsquelle.
In Osterreich werden die nationalen Roten Listen vom Umweltbundesamt herausgegeben. Mehrere osterreichische Bundeslander veroffentlichen regionale Rote Listen.
In der Schweiz veroffentlicht das Bundesamt fur Umwelt (BAFU) die nationalen Roten Listen. Hier sind die Roten Listen seit 1991 nach Artikel 14 Absatz 3 der Bundesverordnung uber den Natur- und Heimatschutz ein rechtswirksames Instrument des Natur- und Landschaftsschutzes: „Biotope werden als schutzenswert bezeichnet aufgrund (…) der gefahrdeten und seltenen Pflanzen- und Tierarten, die in den vom BAFU erlassenen oder anerkannten Roten Listen aufgefuhrt sind“.
Eine standig zunehmende Zahl weiterer Staaten veroffentlicht nationale Rote Listen. Daneben gibt es auch Rote Listen zwischenstaatlicher Organisationen wie der Europaischen Union und der HELCOM. Die IUCN veroffentlichte bislang mehrere regional begrenzte Listen wie beispielsweise zur Sußwasserfauna Ostafrikas.
Geschichte = IUCN =
Die ersten als Red Data Book bezeichneten Publikationen der IUCN erschienen 1966. Es gab zwei Bande, einen fur Saugetiere, herausgegeben von Noel Simon, und einen fur Vogel, herausgegeben von Jack Vincent. Beide Bande waren im Schuber gelieferte Loseblatt-Sammlungen. Dieses Werk hatte verschiedene Vorlaufer, deren Geschichte etwas unklar ist. Die Idee wird allgemein dem britischen Ornithologen und Naturschutzer Peter Markham Scott zugeschrieben, damals Chairman der IUCN Survival Service Commission. Dieser initiierte eine zuerst 1962, ebenfalls noch als Loseblatt-Serie konzipierte Sammlung Animals and plants threatened with extinction, wie die spateren Editionen bereits in einem roten Einband, aber noch nicht danach benannt. Sie ging zuruck auf altere Sammlungen, die aber wohl zum internen Gebrauch bestimmt waren und nie publiziert wurden. Diese erste Zusammenstellung enthielt zunachst fast ausschließlich Datenblatter zu Saugetierarten. Der Name Red Data Book geht auf den Versicherungskatalog fur vermisste Schiffe der Londoner Versicherung Lloyds zuruck. Die erste Version enthielt detaillierte Beschreibungen von 211 Saugetierarten und 312 Vogelarten. In der 2. Version, die von 1966 bis 1971 erschien, wurden 528 Saugetierarten, 628 Vogelarten, 119 Reptilienarten und 34 Amphibienarten klassifiziert. Außerdem wurde erstmals die Einteilung in vier verschiedene Gefahrdungskategorien vorgenommen. Die 3. Auflage erschien 1972. Die 4. Auflage erschien 1981 und enthielt 305 Saugetier-, 258 Vogel-, 90 Reptilien-, 40 Amphibien- und erstmals 193 Fischarten. Ab der 5. Auflage 1982 wurden gesonderte Listen fur einzelne Tiergruppen erstellt (z. B. Primaten und Schmetterlinge). Ab der 6. Auflage 1988 wurden die Artbeschreibungen aus der Liste gestrichen. Weitere Ausgaben sind 1990, 1992, 1994 und 1996 erschienen. 1992 wurde die heute gultige Einteilung der Arten in acht Kategorien eingefuhrt (EX, EW, CR, EN, VU, NT, LC, DD). 1994 wurden erstmals Wirbellose eingestuft: 1.205 Weichtierarten und 1.184 Insektenarten.
Die letzte Ausgabe in Buchform erschien 1996 und enthielt 5.205 Arten, davon 1.891 wirbellose Arten. Außerdem wurde erstmals die Kategorie EX aufgefuhrt.
Die erste Onlineausgabe (nur Tiere) erschien im Jahr 1996; 1998 wurden auch erstmals Pflanzen aufgenommen. 2000 erschien die erste Rote Liste, die Pflanzen und Tiere enthielt.
Die 2007 veroffentlichte Ausgabe der IUCN enthielt 16.308 bedrohte Arten.
Ein besonderer Schwerpunkt bei der Prasentation der Roten Liste 2008 der IUCN wurde auf die Saugetiere gelegt. In der ersten umfassenden Studie dieser Art nach uber zehn Jahren (an ihr waren 1.800 Wissenschaftler aus 130 Landern beteiligt) galten mindestens 1.141 von 5.488 Saugetierarten (21 Prozent) als „bedroht“ (Kategorien CR, EN oder VU).
Die folgende Tabelle zeigt exemplarisch, wie viel Prozent der derzeit untersuchten Arten einer Gruppe die IUCN als bedroht, ausgestorben oder mit zu wenigen Daten vorhanden einstuft:
Es wurden bis dahin offiziell 181.931 Tierarten und Pflanzenarten untersucht.
Vier der obigen Gruppen (taxonomische Klassen Amphibien, Saugetiere, Vogel und Knorpelfische) sind zugleich die einzigen, deren Bedrohungsstatus auf der Evaluierung von zumindest drei Viertel der bekannten Arten beruht. Es ist daher anzunehmen, dass in anderen, weniger umfassend untersuchten Gruppen von Tierarten oder Pflanzenarten (zum Beispiel Wirbellose, Baum oder Graser) weit mehr Arten bereits ausgestorben sind, als bisher bekannt ist, und viele Arten aussterben, bevor sie entdeckt werden.
Von den Saugetieren haben mittlerweile 6.387 Arten einen eigenen IUCN-Gefahrdungsstatus (Stand: IUCN Red List 2023-1): 86 Arten gelten als ausgestorben (Extinct), 1 Art gilt als in der Wildnis ausgestorben (Extinct In The Wild), leben also nur noch in Gefangenschaft (der Davidshirsch. 325 Arten halten die Forscher dabei fur akut vom Aussterben bedroht (Critically Endangered), so beispielsweise den Feldhamster, von dem behauptet wird, dass der Bestand pro Jahr um 50 Prozent zuruckgeht, was zu einem Aussterben bis 2050 fuhren wird, wenn sich nichts andert. Die Zahl der tatsachlich bedrohten Saugetier-Spezies konnte sogar noch hoher sein, da zu 846 weiteren Arten nicht genugend Informationen vorliegen (Data Deficient). Damit ware es moglich, dass bis zu 38 Prozent aller von der IUCN beschriebenen Arten von Saugetieren bedroht sind.
Die Roten Listen der IUCN werden in unregelmaßigen Abstanden, mindestens aber zweimal jahrlich, aktualisiert und fortgeschrieben. Die zum jeweiligen Zeitpunkt aktuelle Rote Liste ist uber die Website der IUCN abrufbar.
= Entwicklung in Deutschland =
Erste kommentierte Verzeichnisse gefahrdeter Pflanzen- und Vogelarten wurden in Deutschland 1951, 1966 und 1967 veroffentlicht. Sie enthielten Schutzanweisungen und konnen als Vorlaufer der Roten Listen angesehen werden.
1971 wurde die erste als solche bezeichnete Rote Liste in Deutschland veroffentlicht: Es handelte sich um eine Liste der Deutschen Sektion des Internationalen Rates fur Vogelschutz. 1974 erschien die erste Rote Liste der Blutenpflanzen. 1977 wurde die erste Rote Liste der Tiere und Pflanzen der Bundesrepublik als Sammelwerk publiziert.
Die Roten Listen Deutschlands nutzten seit den 1970er Jahren weitgehend die Gefahrdungskriterien der IUCN. Seit 1986 wurde wiederholt daruber diskutiert, das verwendete Kriteriensystem anzupassen. Es sollte nicht nur das aktuelle Aussterberisiko einer Art im Sinne einer Zustandsbeschreibung aufgezeigt werden, sondern auf Artebene eine umfassende Gefahrdungsanalyse unter Einschluss langfristiger Entwicklungen vorgenommen werden. Die Weiterentwicklung der bei der Erstellung Roter Listen angewandten Methodik fuhrte seit den 1990er Jahren dazu, dass sich die Roten Listen Deutschlands von jenen der IUCN in weit starkerem Maß unterscheiden, als dies die unterschiedlichen Bezeichnungen der Gefahrdungskategorien ausdrucken.
In den Jahren 1996 (Pflanzen) und 1998 (Tiere) wurden die beiden letzten bundesweiten Roten Listen in jeweils einem Band herausgegeben, sie sind teilweise noch gultig. Die Liste der Pflanzen umfasste erstmals im Sinne eines Inventars alle vorkommenden Arten, unabhangig von ihrem Gefahrdungsstatus.
Die ab 2009 herausgegebene achtbandige Rote Liste gefahrdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands ist auch fur alle Artengruppen der Tiere und Pilze ein umfassendes Artenverzeichnis. Es wurden erstmals uber alle Organismengruppen hinweg einheitliche Gefahrdungskriterien angewendet, die sich deutlich von jenen der IUCN unterscheiden. Auf Artebene werden erstmals kurzfristige Bestandstrends als Hilfe fur die Beurteilung von Maßnahmen des Artenschutzes, die Verantwortung Deutschlands fur den Schutz in globalem oder europaischem Maßstab, die letzten Nachweise ausgestorbener oder verschollener Arten, und ihr Status als Neobiota dargestellt. Daruber hinaus sind fur viele Arten auch Angaben zum Gefahrdungsstatus in den Bundeslandern und den naturraumlichen Großregionen enthalten. Mehrere Artengruppen, so die Raubfliegen, Hundertfußer, Tausendfußer, Asseln und Regenwurmer, wurden erstmals bewertet. Seit 2018 wird die Erstellung der Roten Listen Deutschlands im Auftrag des Bundesamtes fur Naturschutz vom Rote-Liste-Zentrum koordiniert.
Heute wird in Deutschland sowohl fur die nationalen Roten Listen als auch fur die der Bundeslander ein Erscheinen im Abstand von etwa zehn Jahren, fur Brutvogel von funf Jahren angestrebt. Eine Aufstellung der jeweils aktuellen nationalen Roten Liste findet sich auf der Website des Bundesamts fur Naturschutz.
= Entwicklung in der Schweiz =
Die erste Rote Liste der Schweiz erschien 1977 mit der Roten Liste der Vogel. 1982 wurden neben einer Revision dieser Liste auch Rote Listen der Amphibien und Reptilien und der Gefaßpflanzen veroffentlicht. Bis 1990 folgten Listen der Segetal- und Ruderalpflanzen, der Schnaken, Tagfalter, Libellen und Fische und Rundmauler. Alle diese Listen wurden von Fachleuten erarbeitet und als Broschuren oder wissenschaftliche Publikationen veroffentlicht.
Offizielle Anerkennung erlangten die Roten Listen Ende der 1980er Jahre mit der Grundung des Bundesamtes fur Umwelt, Wald und Landschaft (BUWAL), einem Vorlaufer des heutigen Bundesamts fur Umwelt (BAFU), und 1991 mit dem neuen Biotopschutzartikel der Natur- und Heimatschutzverordnung, der Biotope wegen ihrer in den Roten Listen aufgefuhrten Arten als schutzenswert charakterisiert. Unter diesen neuen Rahmenbedingungen wurde 1991 vom Bundesamt eine Rote Liste der Farne und Blutenpflanzen veroffentlicht. 1994 folgte ein Sammelband mit elf Roten Listen, die 2.400 Wirbellose und 376 Wirbeltierarten erfasste.
Seit 1999 ist die Erstellung der Roten Listen der Schweiz im Rote-Listen-Programm des Bundesamts fur Umwelt (BAFU) zusammengefasst, und seit 2000 werden einheitlich die Kriterien der IUCN angewendet. Damit wurde, ohne die Qualitat fruher erschienener Listen in Frage zu stellen, eine Vergleichbarkeit der Roten Listen fur verschiedene Staaten oder Organismengruppen angestrebt.
Bis zum Jahr 2010 wurden von den 45.890 bekannten Arten der Schweiz 10.350 fur die Roten Listen bewertet, davon wurden 3.741 als gefahrdet oder regional ausgestorben eingestuft, das sind 36 Prozent. Zu diesem Zeitpunkt lagen 27 Rote Listen vor, neben allen Klassen der Wirbeltiere wurden 15 Gruppen wirbelloser Tiere, Gefaßpflanzen, Moose, Armleuchteralgen, Großpilze, Baumflechten und Bodenflechten beurteilt.
Im Unterschied zu Deutschland und Osterreich wurden in der Schweiz nur wenige kantonale oder regionale Rote Listen erstellt, so 1983 fur das Aletschgebiet und 1986 fur den Kanton Aargau. Bis 2010 wurden fur die Kantone Basel-Stadt, Basel-Land, Waadt, Genf, Aargau, Schaffhausen und Zurich eine oder mehrere Rote Listen veroffentlicht. Die Grunde fur den weitgehenden Verzicht auf regionale Rote Listen war zunachst die geringe Große des Landes und die Berucksichtigung der Regionen in den ersten nationalen Roten Listen. Heute gilt die Tatsache, dass die Gefahrdungskriterien der IUCN an großere raumliche Einheiten angepasst sind, als wesentlicher Grund.
In Anlehnung an die Roten Listen wurde in der Schweiz seit 1998 auch eine Blaue Liste der erfolgreich erhaltenen oder geforderten Tier- und Pflanzenarten mit geforderten und von der Roten Liste entfernten Arten angestrebt, die einzige im Rahmen eines Pilotprojekts erarbeitete und veroffentlichte Blaue Liste umfasste die Kantone Aargau, Schaffhausen und Zurich. Die Zielrichtung bestand darin zu zeigen, dass sich die Forderung der Biodiversitat lohnt und Erfolge erzielt werden konnen. Das Konzept selbstandiger Blauer Listen hat sich nicht durchgesetzt, der Grundgedanke wird jedoch durch Hinweise auf Entwicklungen gegenuber fruheren Ausgaben in die Roten Listen integriert.
Biotoptypen Zu den wichtigsten und rechtsverbindlichen Listen der europaweit bedrohten Biotoptypen gehoren die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (kurz FFH-Richtlinie) und die Vogelschutzrichtlinie der EU, deren Intention neben dem klassischen Artenschutz primar der Schutz der Biotope ist. Dabei sind zum einen die Biotope, welche die Habitate der Arten der FFH- und Vogelschutzrichtlinie bilden, zu schutzen und zum anderen die in Anhang I der FFH-Richtlinie gelisteten Biotoptypen – in der deutschen Version der Richtlinie als Lebensraumtypen bezeichnet – als solche, unabhangig vom Schutz der Arten, die mit dem jeweiligen Biotoptyp verbunden sind.
Fur Deutschland gibt das Bundesamt fur Naturschutz eine Rote Liste der gefahrdeten Biotoptypen heraus. Nur mehr ein Viertel (25,1 %) der Biotoptypen konnen in Deutschland als ungefahrdet angesehen werden. Dem stehen 72,2 % gefahrdete Biotoptypen gegenuber, wobei 48,4 % als stark gefahrdet oder von vollstandiger Vernichtung bedroht eingestuft werden mussten.
Neben der deutschlandweiten Gefahrdungseinstufung haben auch einzelne Bundeslander Rote Listen der Biotoptypen aufgelegt, beispielsweise Baden-Wurttemberg oder Sachsen-Anhalt.
In Osterreich wird vom Umweltbundesamt die „Rote Liste Biotoptypen in Osterreich“ herausgegeben. Die jungste Ausgabe erschien im Dezember 2015 und stellt dabei fur die zuordenbaren Biotoptypen einen Bezug zu den Lebensraumtypen der europaischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie her. Neben der osterreichweiten Gefahrdungseinstufung haben auch einzelne Bundeslander Rote Listen der Biotoptypen aufgelegt, beispielsweise Karnten bereits 1998 mit Aktualisierung im Jahr 2012.
Gefahrdungskategorien Seit der zweiten Ausgabe des Red Data Book der IUCN von 1966 wurde der Gefahrdungsgrad einzelner Arten durch deren Einordnung in verschiedene Gefahrdungskategorien dargestellt. Die ersten nationalen oder regionalen Roten Listen verwendeten meist eigene Kategorien, wodurch die Vergleichbarkeit weder zwischen verschiedenen Staaten oder Regionen noch zwischen verschiedenen taxonomischen Gruppen gegeben war. Mittlerweile wird vielfach eine Vereinheitlichung der Gefahrdungskategorien angestrebt, so werden die Kategorien der IUCN in vielen nationalen Roten Listen verwendet, und die Roten Listen Deutschlands und der deutschen Bundeslander verwenden ein einheitliches Kategoriensystem. Das langfristige Beibehalten einmal eingefuhrter Kategorien vereinfacht den Vergleich ermittelter Gefahrdungsgrade uber lange Zeitraume.
= IUCN =
Die Roten Listen der IUCN basieren auf der wissenschaftlichen Beurteilung durch Experten fur die jeweiligen Artengruppen. Hierbei wird mit Hilfe quantitativer Kriterien die Wahrscheinlichkeit, dass eine Art (oder ein untergeordnetes Taxon wie zum Beispiel eine Unterart) in naher Zukunft aussterben wird, beurteilt. Die Einstufung erfolgte zunachst rein qualitativ. Seit 1994 ist ein formalisiertes Bewertungsverfahren eingefuhrt worden, dessen Fortschreibung, die Version 3.1 aus dem Jahr 2001, allen neueren Bewertungen zugrunde liegt. In einigen Gruppen beruht die gegenwartige Einstufung aber noch auf den alteren Kriterien von 1994, wenn diese noch nicht wieder einer erneuten Bewertung unterzogen wurden.
Hierzu wird die Gefahrdung nach mindestens einem der folgenden Kriterien bewertet:
Die Populationsentwicklung uber die letzten drei Generationen (oder die letzten zehn Jahre, je nachdem welcher Wert langer ist).
Die Große des Verbreitungsgebiets der Art in Kombination mit der Frage, ob der Bestand der Art rucklaufig ist, die Population stark fragmentiert ist und/oder stark schwankt.
Die absolute Populationsgroße der Art in Kombination mit einem kontinuierlichen Ruckgang.
Bei sehr kleinen Populationen auch ausschließlich die Populationsgroße.
Eine quantitative Gefahrdungsanalyse.
Je nach Auspragung dieser Kriterien wird der Gefahrdungsgrad basierend auf Schwellenwerten ermittelt. So fuhrt zum Beispiel eine geringere Große der Population, ein kleineres Verbreitungsgebietes oder ein starkerer Ruckgang der Populationsgroße zur Einordnung einer beurteilten Art in eine hohere Gefahrdungskategorie. Dabei reicht jeweils eines der Kriterien aus (oder-Verknupfung). Erfullt eine Art die Grenzwerte mehrere Kriterien, so wird dasjenige herangezogen, nachdem die Art die hochste Gefahrdungskategorie hat.
Die IUCN verwendet die nebenstehenden Kategorien, die auch in den nationalen Roten Listen der Schweiz, skandinavischer Staaten, der USA und weiterer Lander angewendet werden. Bei ungefahr 5 Prozent aller beschriebenen Arten wurde bisher der Gefahrdungsstatus vom IUCN ermittelt. Besonders gut untersucht sind Wirbeltiere, vor allem Vogel, Saugetiere, Amphibien und Knorpelfische, aber auch Zikaden, Koniferen und Hummer. Sehr schlecht untersucht sind bislang die Pilze, von denen nur 818 Arten beurteilt wurden (Stand: 2024). Es gibt also Artgruppen in der Roten Liste, welche deutlich unterreprasentiert sind.
Extinct (EX): ausgestorben (nach dem Jahr 1500), es gibt auf der Welt kein lebendes Individuum mehr
Extinct in the Wild (EW): in der Natur ausgestorben, es gibt lediglich Individuen in Kultur, in Gefangenschaft oder in eingeburgerten Populationen außerhalb des naturlichen Verbreitungsgebietes
Regionally Extinct (RE): regional ausgestorben, in nationalen und regionalen Roten Listen die Entsprechung von „in der Natur ausgestorben“
Critically Endangered (CR): vom Aussterben bedroht, extrem hohes Risiko des Aussterbens in der Natur in unmittelbarer Zukunft
Endangered (EN): stark gefahrdet, sehr hohes Risiko des Aussterbens in der Natur in unmittelbarer Zukunft
Vulnerable (VU): gefahrdet, hohes Risiko des Aussterbens in der Natur in unmittelbarer Zukunft
Near Threatened (NT): potenziell gefahrdet, die Beurteilung fuhrte nicht zur Einstufung in die Kategorien vom Aussterben bedroht, stark gefahrdet oder gefahrdet, die Schwellenwerte wurden jedoch nur knapp unterschritten oder werden wahrscheinlich in naher Zukunft uberschritten
Least Concern (LC): nicht gefahrdet, die Beurteilung fuhrte nicht zur Einstufung in die genannten Kategorien
Data Deficient (DD): ungenugende Datengrundlage, die vorhandenen Informationen reichen nicht fur eine Beurteilung des Aussterberisikos aus
Not Evaluated (NE): nicht beurteilt, die Art existiert, es wurde jedoch keine Beurteilung durchgefuhrt, zum Beispiel bei invasiven Arten
Die Kategorien „vom Aussterben bedroht“ (critically endangered), „stark gefahrdet“ (endangered) und „gefahrdet“ (vulnerable) konnen zusammengefasst werden, um die Zahl der „gefahrdeten“ Arten anzugeben (threatened).
= Deutschland =
Die Gefahrdung von Arten wird durch die Einstufung in die vom Bundesamt fur Naturschutz (BfN) entwickelten Rote-Liste-Kategorien wiedergegeben. Dabei bedeuten:
0 ausgestorben oder verschollen
1 vom Aussterben bedroht
2 stark gefahrdet
3 gefahrdet
G Gefahrdung unbekannten Ausmaßes
R extrem selten
V Vorwarnliste (noch ungefahrdet, verschiedene Faktoren konnten eine Gefahrdung in den nachsten zehn Jahren herbeifuhren)
* ungefahrdet
D Daten unzureichend
♦ nicht bewertet
Die Listen geben die Gefahrdungssituation in Deutschland bzw. dem betreffenden Bundesland wieder. Von Bedeutung ist dies insbesondere fur die Kategorie 0. Diese bedeutet hier, dass die Art in der entsprechenden Region ausgestorben ist. Da es in Deutschland nur extrem wenige endemische Arten gibt, existieren in der Regel andernorts noch weitere Populationen. Es handelt sich also, im Gegensatz zur Kategorie der IUCN, um ein „nur“ lokales Aussterben.
Davon abweichend wird in alteren Ausgaben der nationalen Roten Listen oder jenen der Bundeslander ein Status angegeben:
4 potenziell gefahrdet (nur bei Roten Listen der Lander; soll kunftig durch R ersetzt werden)
* vorkommend (indigen oder archaophytisch) und ungefahrdet
n Neophyt; im jeweiligen Bundesland (nach 1492) neu eingeburgerte Art
u unbestandige Art; im jeweiligen Bundesland nicht fest eingeburgert
# eventuell zu erwarten, aber bislang nicht nachgewiesen
– im jeweiligen Gebiet nicht vorkommend
Siehe auch Anlage 1 zur Bundesartenschutzverordnung: Liste der geschutzten Pflanzen und Tiere
Artenvielfalt
Okologie
Washingtoner Artenschutzubereinkommen
Liste der Kakteenarten in der Roten Liste gefahrdeter Arten
Liste der neuzeitlich ausgestorbenen Saugetiere
Das gegenwartige Massenaussterben
Liste gefahrdeter Nutztierrassen
Literatur Milos Andera, Vladimir Zadraz: Bedrohte Tiere. Werner Dausien, Hanau 1998, ISBN 3-7684-2800-1.
Evzen Kus, Vaclav Pfleger: Seltene und bedrohte Tiere. Gondrom, Prag 2000, ISBN 3-8112-1830-1.
Dietmar Mertens: Ausgestorbene und bedrohte Tiere. Tessloff, Nurnberg 2005, ISBN 3-7886-0296-1 (Was ist was. Band 56).
Francesco Salvadori, Piero Cozzaglio: Seltene Tiere. Unipart, Stuttgart 1992, ISBN 3-8122-3077-1.
Kerstin Viering, Roland Knauer: Bildatlas Bedrohte Tierarten. Naumann & Gobel Verlagsgesellschaft mbH, Koln 2012, ISBN 978-3-625-13359-9.
Weblinks The IUCN Red List of Threatened Species. Website der Weltnaturschutzunion (englisch)
Lexikon bedrohter Tier- und Pflanzenarten des WWF Deutschland
Floraweb mit Roter Liste gefahrdeter Pflanzen
Rote Listen Tiere, Pflanzen und Pilze Bundesamt fur Naturschutz (Deutschland)
Rote Liste der Brutvogel Naturschutzbund Deutschland
Rote Listen gefahrdeter Biotoptypen und Arten Umweltbundesamt (Osterreich)
Rote Listen der Schweiz
Bibliothek – Rote Listen, mit Links zu Roten Listen zahlreicher Lander (bei Deutschland und Osterreich auch Rote Listen von Bundeslandern)
Einzelnachweise
|
Die Rote Liste gefahrdeter Arten, auch nur Rote Liste oder im Original Red Data Book genannt, ist die von der IUCN (International Union for Conservation of Nature and Natural Resources) veroffentlichte Liste weltweit vom Aussterben gefahrdeter Tier- und Pflanzenarten. Sowohl von der IUCN als auch von anderen internationalen Organisationen, Staaten, politischen Gliederungen wie Bundeslandern oder von Naturschutzverbanden werden ahnliche Listen mit geographischer oder taxonomischer Beschrankung veroffentlicht, die ebenfalls Rote Liste genannt werden. Heute gibt es neben Roten Listen gefahrdeter Arten auch solche gefahrdeter Biotoptypen.
Rote Listen gelten als wissenschaftliche Fachgutachten zum Aussterberisiko von Arten, die Gesetzgebern und Behorden als Grundlage fur ihr Handeln in Bezug auf den Arten-, Natur- und Umweltschutz dienen sollen. Nur in wenigen Staaten, so in der Schweiz, sind sie rechtswirksam.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Rote_Liste_gefährdeter_Arten"
}
|
c-13913
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Witten–Wengern_Ost/Schwelm"
}
|
||
c-13914
|
Johanna Friederika Henriette Katharina Davidis (* 1. Marz 1801 in Wengern; † 3. April 1876 in Dortmund) war eine deutsche Autorin von Kochbuchern. Obwohl zu ihrer Zeit bereits viele ahnliche Kochbucher erschienen waren und unter anderem das Allgemeine deutsche Kochbuch fur burgerliche Haushaltungen von Sophie Wilhelmine Scheibler mehrfach neu aufgelegt wurde, entwickelte sich Davidis’ Praktisches Kochbuch zu einem der bedeutendsten Kochbucher des spaten 19. und fruhen 20. Jahrhunderts, das zur Grundausstattung vieler deutscher Haushalte gehorte. Die vielen heute noch antiquarisch erhaltlichen Exemplare zeigen, dass das Buch rege benutzt und mit Anmerkungen versehen wurde. Viele Familien vererbten das Praktische Kochbuch von Generation zu Generation weiter.
Das Kochbuch war jedoch nur ein Teil eines umfassenden Erziehungs- und Bildungsprogramms, das Henriette Davidis fur Madchen und Frauen konzipierte. Von der Puppenkochin uber die junge unverheiratete Frau bis zur Hausfrau mit eigener Verantwortung fur Haushalt und Personal boten Henriette Davidis’ Bucher sich als Lehrbucher und Nachschlagewerke an. Dahinter stand wohl die Erkenntnis, dass die Tatigkeit der Hausfrau ein eigener anspruchsvoller Beruf war, auf den die jungen Frauen des neu entstehenden Burgertums oft nur unzureichend vorbereitet waren.
Davidis war, wahrend sie ihre Bucher verfasste, selbst als Hauswirtschaftslehrerin, Erzieherin und Gouvernante, spater nur noch als Autorin tatig. Obwohl ihre Bucher, insbesondere das Praktische Kochbuch, das im Jahr ihres Todes bereits in 21. Auflage erschien, schon zu ihren Lebzeiten sehr erfolgreich waren, konnte sie von den Ertragen nur ein eher bescheidenes Leben fuhren und bezog erst im Alter von 74 Jahren eine eigene Wohnung. Gelegentlich wird angegeben, „Henriette Davidis“ sei ein Pseudonym einer Helena Clemen, in Wirklichkeit handelte es sich bei Helena Clemen jedoch um eine Leserin, die Anregungen an die Autorin gesandt hatte, die auch verwendet wurden.
Heute erinnert das Henriette-Davidis-Museum in Wetter-Wengern mit Ausstellungen uber Kochbucher und einer Schriftenreihe an sie. Das Deutsche Kochbuchmuseum in Dortmund widmete ihr ebenfalls einen großen Teil seiner Ausstellung. Teile eines steinernen Herdes, der aus dem Pfarrhaus in Wengern stammt, wurden mit einer Gedenktafel in das Widerlager der 1934 fertiggestellten Eisenbahnbrucke der Elbschetalbahn bei Wengern eingemauert, wo sie noch heute zu sehen sind. Das Pfarrhaus hatte dem Bau der Brucke weichen mussen.
Zu Ehren von Henriette Davidis wurde am 7. Mai 2024 an der Kaiserstraße in Dortmund ein Denkmal eingeweiht.
Leben = Jugend und Ausbildung =
Henriette Davidis wurde 1801 im westfalischen Wengern an der Ruhr, heute einem Stadtteil von Wetter, als zehntes von dreizehn Kindern des Pfarrers Ernst Heinrich Davidis und seiner hollandischen Ehefrau Maria Katharina Litthauer geboren. Ernst Heinrich Davidis war 1780 in Amsterdam ordiniert worden, hatte neun Jahre in der niederlandischen Stadt Breda als Garnisonsprediger gearbeitet und danach eine Stelle als Hilfsprediger in Wengern angetreten. 1792 ubernahm er die Pfarrstelle.
Nach der Konfirmation verließ Henriette 1816 ihr Elternhaus und zog zu ihrer Schwester Elisabeth nach Schwelm, die dort mit dem Schlossherrn von Haus Martfeld verheiratet war. In Schwelm besuchte Henriette Davidis zwei Jahre lang die hohere Tochterschule. Sie kehrte 1818 in ihr Elternhaus zuruck. Auch dort war sie Schulerin einer privaten hoheren Tochterschule. Spater zog sie nach Bommern zu ihrer Schwester Albertine, um in deren Landgut und mit der Erziehung der vier Kinder zu helfen. Als ihr Vater 1828 starb, kehrte sie nach Wengern zuruck und kummerte sich um ihre Mutter, bis diese 1838 ebenfalls starb. Danach begleitete sie eine kranke Dame in die Schweiz, bevor sie um 1840 nach Windheim zog. Nach 1839 verlebte Henriette viele Jahre ihre Ferientage bei Verwandten in Stemwede-Levern. Sie wohnte im Pfarrwitwenhaus nahe dem Schlingerschen Posthof (spater Gasthaus „Zur grunen Linde“, heute Amtshaus der Gemeinde Stemwede), dem an der alten Postlinie Hannover-Osnabruck gelegenen Gast- und Posthaus. Anspruchsvolle Postreisende, die so manche Kuche kannten, waren Henriette Anreiz, fur die fremden Gaste Speisen zu bereiten.
Von 1841 bis 1848 arbeitete Henriette Davidis im Haus Heine als Erzieherin an einer Madchenarbeitsschule in Sprockhovel. Wahrend dieser Zeit erschien 1845 ihr Praktisches Kochbuch. Zuverlassige und selbstgeprufte Recepte der gewohnlichen und feineren Kuche, 1847 und 1848 folgten die Arrangements zu kleinen und großeren Gesellschaften und die Praktische Anweisung zur Bereitung des Roßfleisches, die spater als Anhang im Praktischen Kochbuch aufgingen. Fur das Praktische Kochbuch hatte Davidis umfangreiche Recherchen betrieben und uber einen langeren Zeitraum Rezepte zusammengetragen.
= Arbeit als Lehrerin und Autorin =
Nach der Zeit in Sprockhovel arbeitete Henriette Davidis in Bremen als Erzieherin und Gouvernante. 1855 zog sie wieder nach Bommern zu ihrer Schwester Albertine, wo sie bis 1857 blieb. In dieser Zeit muss sie sich, moglicherweise durch den Erfolg des Kochbuches beflugelt, entschlossen haben, neben dem reinen Kochbuch auch eine umfassendere Hauswirtschaftslehre sowie erzieherische Schriften fur junge Madchen und Frauen zu verfassen. 1850 erschien dann Der Gemusegarten als Teil I eines geplanten Vollstandigen Haushaltsbuches; im selben Jahr verfasste sie auch noch ein unveroffentlichtes Buch uber die Krankenpflege; es folgten 1856 Puppenkochin Anna, 1857 Die Jungfrau und 1858 Puppenmutter Anna. Das geplante mehrbandige Haushaltungsbuch kam allerdings nicht zustande. Nach einem Band mit Gedichten und Novellen erschien 1861 Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbstandigen und sparsamen Fuhrung des Haushaltes, das den Abschluss des Bildungsprogramms fur die angehende Hausfrau bildete.
Im Mai 1857 zog sie nach Dortmund, wo sie bis zu ihrem Tod lebte, zunachst zur Untermiete, spater in einer eigenen Wohnung. Spatestens jetzt konnte sie vermutlich von ihren Veroffentlichungen leben. Neben der Arbeit an Jungfrau und Hausfrau uberarbeitete sie ihre fruheren Werke, die sich bereits gut verkauften, fur neue Auflagen. Ab den 1860er Jahren schrieb Henriette Davidis, die nun bereits als anerkannte Autoritat in Hauswirtschaftsfragen gegolten haben durfte, auch regelmaßig fur Zeitschriften wie Daheim, eine nach dem Vorbild der Gartenlaube gestaltete Zeitschrift, die sich an ein burgerliches Publikum richtete und von 1865 bis 1944 erschien. In dieser Zeit veroffentlichte sie auch noch zwei weitere kleinere Schriften: Diatetik fur Hausfrauen. Die Gesundheits- und Krankenpflege im Hause … und Kraftkuche von Liebig’s Fleischextract fur hohere und unbemittelte Verhaltnisse. Letztere war eine im Auftrag der Firma Liebig abgefasste Werbeschrift, die die Darstellung der Vorzuge des neuentwickelten Liebig’schen Fleischextraktes mit dem „Gutesiegel“ der Fachfrau Davidis geschickt kombinierte.
Henriette Davidis blieb unverheiratet (zwei Verlobte starben jeweils, bevor es zur Heirat kam) und lebte selbst nicht das Leben der sich selbst zurucknehmenden hingebungsvollen Hausfrau, das sie in ihren Buchern propagierte. Als berufstatige Frau und erfolgreiche Autorin setzte sie sich scheinbar selbst in Widerspruch zu ihren Werken. Die Grunde dafur sind jedoch heute nicht mehr zu ermitteln, auch weil das im Sommer 1874 erstellte Manuskript der Autorin Erinnerungen aus meinem Leben und Wirken ungedruckt blieb und verschollen ist. Henriette Davidis starb am 3. April 1876 in Dortmund. Ihr Grab befindet sich auf dem Dortmunder Ostenfriedhof.
= Auseinandersetzungen mit den Verlegern =
Henriette Davidis war als Autorin des Praktischen Kochbuchs zunachst nicht in einer verhandlungsstarken Position gegenuber dem Verlag Velhagen & Klasing, bei dem ihr erstes Werk erschien. Wie den meisten Autoren ging es ihr wohl zuallererst darum, das Buch uberhaupt zu veroffentlichen. Vermutlich war sie weder uber das erst im Entstehen begriffene Urheberrecht noch uber gangige Honorare informiert und wurde als Frau von den Verlegern als Vertragspartnerin auch nicht allzu ernst genommen, denn sie ubereignete dem Verlag das Kochbuch gegen ein Honorar von 450 Talern als Eigentum, ohne sich weitere Rechte an dem Text vorzubehalten. Spater warf sie den Verlegern vor: „Ganzliche Unkunde in solchen Sachen, wie sie mir damals eigen war, konnte nur auf einen Kontract wie der unsrige eingehen (…),“ denn am Verkaufserfolg des Buches war sie nicht beteiligt und erhielt auch fur die Uberarbeitungen nur vergleichsweise geringe Honorare (50 Taler fur die 2. Auflage, spater 100, nach der 5. Auflage 200 Taler). Schon 1856 war sie jedoch so erfahren, dass sie das Puppenkochbuch bei Grote in Dortmund erscheinen ließ, weil ihr das von Velhagen & Klasing gebotene Honorar zu niedrig war.
Bei der Uberarbeitung der 12. Auflage des Praktischen Kochbuchs, fur die sie wieder nur 200 Taler erhalten sollte, kam es 1867 zum Streit mit dem Verlag: „Miete, Steuer, sparsamen Lebensunterhalt, Kleidung und andere Ausgaben; niemals konnte ich davon erubrigen (…) wahrend Sie, meine Herren, die reifen Fruchte meiner Muhen genießen.“ Der Verlag reagierte schließlich auf die selbstbewusste Beschwerde mit einer Erhohung des Honorars auf 300 Taler. Es folgten weitere Uberarbeitungen, Erweiterungen und Auseinandersetzungen uber Inhalt und Ausstattung des Buches, bis Henriette Davidis sich nach der erheblich erweiterten 20. Auflage bei den Verlegern schließlich im Juli 1875 fur erhaltene 1000 Taler bedanken konnte.
= Bedeutung als Autorin =
Henriette Davidis’ Werke lassen sich unter die Frauen-Literatur einordnen, wie sie in Form von Anstandsbuchern und Ratgebern, aber auch Lyrikanthologien, Zitatenschatzen und ganzen Bibliotheken speziell fur Frauen aufbereiteter Klassiker in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts einen großen Teil des Buchmarktes beherrschte. Diese oftmals von Frauen fur Frauen verfassten Haushaltungsbucher und Frauen-Breviere wirkten „neben ihrer originaren Ratgeber- und Trostfunktion … norm- und systemerhaltend“. Auch wenn ihr eigener Lebensweg einer berufstatigen Frau als eher untypisch gelten kann und sie sich, wie die erhaltene Korrespondenz mit ihren Verlegern beweist, durchaus zu behaupten wusste, bewegte sich Henriette Davidis mit ihren Werken innerhalb eines vorgegebenen Rahmens gesellschaftlicher Konventionen und burgerlicher Normen. Auch ihre Leserinnen sollten nicht aus diesem Rahmen heraustreten, sondern vielmehr befahigt werden, sich innerhalb ihres familiaren Umfeldes zu bewahren. Die Betonung dieser Lebensaufgabe der Hausfrau, beispielsweise im Vorwort des Praktischen Kochbuchs, deutet aber zugleich an, dass dies nicht (mehr) den ausschließlich denkbaren Lebensweg einer Frau darstellte und mit der aufkommenden Industrialisierung auch eine Berufstatigkeit der Frau starker in den Bereich des Moglichen geruckt war. Der Beruf der Hausfrau wird dementsprechend als der Berufstatigkeit des Mannes ebenburtige Arbeit herausgestellt.
In Reaktion auf das Erstarken des Burgertums im 19. Jahrhundert hatte sich auch die Kochbuchliteratur gewandelt: Die burgerliche Kuche wurde zum Begriff, allgemeine Schulbildung und sinkende Druckkosten ermoglichten breiten Kreisen den Zugang zu dieser Art von Literatur. Gleichzeitig bildete sich die burgerliche Kleinfamilie heraus, in deren hauslichem Zentrum die Hausfrau stand, die das Kochbuch als Bildungs- und Lehrbuch nutzte. Hatten sich Kochbucher zuvor eher an professionelle Koche gerichtet, boten sie nun einen systematischen Zugang zu den Grundlagen des Kochens und der Hauswirtschaft, der sich bewusst auch an Anfanger richtete. Das Praktische Kochbuch entwickelte sich vor diesem Hintergrund zu einem beliebten Hochzeitsgeschenk.
Noch zu ihren Lebzeiten wurde Henriette Davidis als Autoritat in Fragen der Haushaltsfuhrung angesehen. In den 1860er und 1870er Jahren waren ihre Expertisen, heute wurde man von Testimonials sprechen, insbesondere fur fortschrittliche Neuheiten gefragte Werbemittel. Sie sprach sich fur Gerate und Produkte wie fur das Geliermittel „Agar Agar“ oder fur Liebig’s Fleischextract aus, die Hersteller druckten die Expertisen zusammen mit ihrem Portrat auf die Verpackungen der Produkte auf. Auch in ihren Buchern erwahnt sie immer wieder beilaufig bestimmte Produkte, Hersteller und Marken. Ob diese lobenden Erwahnungen und Expertisen eine Gegenleistung durch die beworbenen Firmen erfuhren, lasst sich leider nicht mehr feststellen.
Zum 25. Jubilaum des Praktischen Kochbuchs gingen „sinnige und humorvolle Gluckwunsche, schone Werke, feine Weine und Blumen“ bei der Autorin ein, die inzwischen jeden Tag mehrere Stunden damit verbrachte, Anfragen von Lesern zu beantworten.
Alle Werke wurden vielfach uberarbeitet, erweitert und immer wieder aufgelegt, teilweise auch ubersetzt. Das Praktische Kochbuch und Die Hausfrau wurden auch speziell fur Deutsche in den USA bearbeitet und erschienen von 1879 an in Milwaukee in deutscher Sprache, jedoch mit amerikanischen Maßen und teilweise angepassten Zutaten, Puppenkochin Anna und Die Hausfrau erschienen in niederlandischer Sprache in Amsterdam.
Werke = Praktisches Kochbuch =
Ihr Hauptwerk erschien 1845 mit dem Titel: Praktisches Kochbuch. Zuverlassige und selbstgeprufte Recepte der gewohnlichen und feineren Kuche. Practische Anweisung zur Bereitung von verschiedenartigen Speisen, kalten und warmen Getranken, Gelees, Gefrornem, Backwerken, sowie zum Einmachen und Trocknen von Fruchten, mit besonderer Berucksichtigung der Anfangerinnen und angehenden Hausfrauen in einer Auflage von 1000 Exemplaren. Schon bei der sechsten Auflage wurden 10.000 Exemplare gedruckt, spatere Auflagen umfassten bis zu 40.000 Exemplare.
Henriette Davidis selbst, von ihren Verlegern um einen Werbetext gebeten, schrieb 1856 uber das Kochbuch:
Das Kochbuch enthalt eine umfangreiche Rezeptsammlung, die Henriette Davidis nicht nur zusammengestellt, sondern, wie sie im Vorwort betont, auch selbst erprobt und modifiziert hatte:
Diesem Vorwort folgt eine kurze Einleitung, in der Henriette Davidis vier grundlegende Anforderungen an die Hausfrau formuliert: Reinlichkeit, Sparsamkeit, Achtsamkeit und Uberlegung. Das Inhaltsverzeichnis umfasst die Teile A–V: Allgemeine Vorbereitungsregeln; Suppen; Fische; Gemuse; Puddings; Auflaufe; Eier-, Milch- und Mehlspeisen; Pasteten; Fleischspeisen aller Art; Gelees und Gefrornes; Kloße; Cremes; Compotes; Salate; Saucen; Backwerk; Vom Einmachen und Trocknen einiger Fruchte und Gewachse; Vom Einmachen und Trocknen einiger Gemuse; Getranke und Liqueure; Wurstmachen, Einpockeln und Rauchern des Fleisches; Essig.
Allgemeine Anmerkungen zum Kochen, zu Kochgeschirren oder bestimmten Lebensmitteln sind sehr knapp und beschranken sich auf das Notwendigste. Die einzelnen Kapitel sind teils weiter unterteilt, z. B. nach den unterschiedlichen Fleischsorten. Jedes Kapitel beginnt mit Grundregeln zur Zubereitung der jeweiligen Lebensmittel. Innerhalb der Kapitel sind die Rezepte durchnummeriert, die Reihenfolge scheint jedoch eher zufallig gewahlt. Mengenangaben, Kochzeiten oder Temperaturangaben fehlen, wie es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in deutschen Kochbuchern ublich war. Am Ende jedes Rezeptes ist jedoch angegeben, in welchem Geschirr das Gericht aufgetragen werden sollte, woraus sich auch eine ungefahre Mengenangabe ergibt.
Spateren Ausgaben ist ein ausfuhrlicher Anhang beigefugt, der Vorschlage fur die Bewirtung von Gasten und saisonal strukturierte Menuvorschlage enthielt. Diese waren ursprunglich als selbstandige Publikation erschienen (Arrangements zu kleinen und großeren Gesellschaften, zu Fruhstucks-, Mittags- und Abendessen, Kaffee’s und Thee’s und einem Kuchenzettel nach den Jahreszeiten geordnet) und spater in das Praktische Kochbuch integriert worden.
Das Buch entwickelte sich zum Standardwerk seiner Gattung und erreichte eine Bekanntheit, die uber Deutschland hinausging – dies zeigte sich 1879, als eine besondere Ausgabe fur Auslandsdeutsche in Milwaukee in den USA erschien. Die Herausgeber betonen im Vorwort, sie seien „dem als das beste allgemein anerkannte Kochbuche von Henriette Davidis gefolgt.“
Nach ihrem Tod wurde das Praktische Kochbuch zunachst von Luise Rosendorf (1821–1890) und ab der 32. Auflage 1892 von Luise Holle weitergefuhrt. Luise Holle uberarbeitete das Kochbuch umfassend. Neben technischen Neuerungen fugte sie vor allem Gerichte der „feinen Kuche“ und „Krankenspeisen“ sowie ein Kapitel „Uber die Verwertung von Resten“ hinzu. Auch das Anrichten der Speisen, Vorschlage fur Speisezettel und ein Kapitel uber die „Kunst des Wirtschaftens“ machten aus dem ursprunglich reinen Kochbuch zunehmend auch ein Haushaltungsbuch. Dem Buch ist nun auch ein alphabetisches Register vorangestellt. Das Praktische Kochbuch erscheint in uberarbeiteter Form auch noch in den 1990er Jahren, vor Ablauf der Schutzrechte 1906 gab es auch zahlreiche Nachempfindungen, sogar recht offensichtliche Plagiate (z. B. schon in den 1880er Jahren das Neue und bewahrte Illustrierte Kochbuch fur alle Stande einer gewissen H. Davithis).
= „Der Gemusegarten“ =
Der Gemusegarten erschien 1850 als Band I eines geplanten vollstandigen Haushaltungsbuches mit dem Untertitel Praktische Anweisung einen Gemuse-Garten mit Berucksichtigung der Schonheit und des reichlichsten Ertrages zu besorgen; sowie das Nothige uber Lage, Boden, Umzaunnung, Einrichtung, Dunger, Garten-Gerathschaften, Kultur der Pflanzen und fruchtbringenden Straucher, Samenziehung, Dauer der Keimkraft, die erforderliche Quantitat der Samereien und wie mit den Gemusen am Zweckmaßigsten abzuwechseln ist, der das inhaltliche Programm des Buches bereits umfassend beschreibt. Ein Anhang befasste sich zudem mit Schadlingsvernichtung und dem Konservieren von Gemuse. Ab der funften Auflage 1863 erscheint das Buch unter dem neuen Titel Der Kuchen- und Blumengarten fur Hausfrauen. Zu diesem Zeitpunkt, inzwischen waren Jungfrau, Hausfrau und die beiden Puppenbucher erschienen, scheint Henriette Davidis die Plane fur das mehrbandige Haushaltungsbuch endgultig aufgegeben zu haben. Die Neuauflage war um drei Kapitel erweitert worden, die sich insbesondere dem Gemuseanbau zum Verkauf widmeten, eine weitere Auflage enthielt 1866 auch noch ein Kapitel uber Heilkrauter und ihre Verwendung. Das Buch erschien in zahlreichen Auflagen, wurde spater von anderen Autoren uberarbeitet und durfte damit große Verbreitung gefunden haben. Bearbeiter der 14. bis 17. Auflage war der Hofgartner Julius Hartwig in Weimar.
= „Puppenkochin Anna“ =
Gewissermaßen als Ableger des erfolgreichen Praktischen Kochbuches erschien im Jahr 1856 ein Kochbuch fur Kinder: Puppenkochin Anna. Ein praktisches Kochbuch fur kleine liebe Madchen. Das Kochbuch richtete sich direkt an Madchen, denen die Puppenmutter Anna, das Idealbild eines folgsamen und vernunftigen Kindes, und ihre Mutter erlautern, wie sie selbst am Puppenherd oder mit Blumen und Grasern kleine Gerichte oder „Puppenessen“ zubereiten konnen. Das Buch wurde ein Publikumserfolg und in neun Auflagen bis 1898 immer wieder nachgedruckt. Formal ist das Puppenkochbuch offensichtlich an das Praktische Kochbuch angelehnt. Die Vorzuge der mustergultigen Puppenmutter Anna deuten darauf hin, welches Verhalten man damals von kleinen Madchen erwartete; andererseits zeigt es auch auf, womit kleine Madchen ihre Mutter damals offensichtlich plagten.
Dem Rezeptteil ist eine vergleichsweise lange Einleitung vorangestellt:
Das Buchlein im Oktavformat gliedert sich in zwei „Abtheilungen“. Die erste enthalt „Speisen, welche auf dem Puppenherd gemacht werden“ sowie „Speisen ohne Heerd zu bereiten“, die zweite Abteilung widmet sich der „Blumenkuche oder Speisen fur die Puppen“. Wie im Praktischen Kochbuch gibt es auch hier Kapitel fur Suppen, dann fur Gemuse und Kartoffeln, Reisspeisen usw. Die einzelnen Rezepte sind wie beim Vorbild innerhalb der Kapitel einfach durchnummeriert. Beim großeren Teil der Rezepte handelt es sich um Sußspeisen, die vorwiegend aus Milch, Grieß, Reis, Eiern und Apfeln herzustellen sind, also auf einer limitierten Auswahl von Zutaten beruhen. Die meisten Rezepte sind tatsachlich einfach und kommen ohne komplizierte Arbeitsschritte aus. Bei den Gemuserezepten sind auch ausfuhrliche Anweisungen zum Putzen und Vorrichten der Gemusesorten enthalten. Im Gegensatz zum Praktischen Kochbuch sind hier am Anfang jedes Gerichtes die Zutaten aufgefuhrt. Die „Blumenkuche“ basiert auf gangigen Gartenpflanzen und Grasern, wie sie damals fur jedes Kind leicht zu beschaffen gewesen sein durften. Anders als der padagogische Impetus des restlichen Buches vermuten lasst, geht es hier um kreatives, vergleichsweise „sinnloses“ Spielen – ein in dieser Form ungewohnlicher und geradezu reformerischer Ansatz.
Andere Puppenkochbucher erschienen im 19. Jahrhundert von Christine Charlotte Riedl (1854 Die kleine Kochin) und Julie Bimbach (1854 Kochbuchlein fur die Puppenkuche oder erste Anweisung zum Kochen fur Madchen von acht bis vierzehn Jahren). Der Erfolg des Buchleins von Julie Bimbach, das im Erscheinungsjahr bereits vier Auflagen erlebte, motivierte Henriette Davidis im Herbst 1855, ihren Verleger zu drangen, ein schon langer geplantes Puppenkochbuch endlich zu veroffentlichen. Als der Verleger des Praktischen Kochbuches, Velhagen & Klasing in Bielefeld, zogerte und zudem die Honorarforderungen Henriette Davidis’ nicht akzeptieren wollte, wechselte sie kurzerhand den Verlag, so dass Puppenkochin Anna bei Grote in Dortmund erschien. Spater wurde das Puppenkochbuch durch Puppenmutter Anna erganzt, ein Geschichtenbuch, das bei kleinen Madchen den Sinn fur „Hauslichkeit und Wirtschaftlichkeit“ zu wecken suchte, und Fragen der Haushaltsfuhrung thematisierte. Obwohl beide Werke heute padagogisierend und auf biedermeierliche Weise indoktrinierend klingen, handelte es sich damals und wohl auch aus Sicht Henriette Davidis’ um einen neuartigen, nicht unbedingt selbstverstandlichen Beitrag zur spielerischen Ausbildung von Madchen.
= „Der Beruf der Jungfrau“ =
1857 erschien Die Jungfrau. Worte des Rats zur Vorbereitung fur ihren Beruf (ab der 2. Auflage unter dem geanderten Titel Der Beruf der Jungfrau. Eine Mitgabe fur Tochter gebildeter Stande). Der Titel, der sich an Jungfrauen, also an unverheiratete Frauen richtet, macht bereits deutlich, dass Henriette Davidis das Hausfrauendasein als Beruf verstand, der einer Vorbereitung und Ausbildung bedurfte. Mit diesem Buch wollte sie, wie sie im Vorwort schreibt, „der Jungfrau Mittel und Wege vorfuhren, um sie auf ihren kunftigen Lebensberuf in praktischer Beziehung vorzubereiten.“ Doch nicht nur das: „auch der hoheren Lebenspflichten, der moralischen und religiosen Seite ihrer Wirksamkeit ist gedacht worden.“ Ahnlich wie religiose Erbauungsliteratur sollte das Buch jungen Frauen nicht nur zur Unterweisung, sondern auch als trostlicher Begleiter und Nachschlagewerk dienen.
Dass es nicht nur um praktische Themen gehen sollte, zeigt ein Brief Henriette Davidis’ an ihre Verleger, in dem sie schreibt: „… ubermache ich Ihnen hiermit das Manuscript zur Jungfrau. Das Werkchen, ihrem Vorschlag gemaß, mit dem Haushaltungsbuch zu verbinden, wurde in der Weise nicht tunlich sein. Es ist dies nicht nur meine Meinung, mehrere einsichtsvolle Frauen stimmen darin uberein, daß das Haushaltungsbuch moglichst material mußte gehalten werden.“
Dieses und ahnliche Bucher zeigen, wie isoliert, hilflos und uberfordert junge Frauen gerade zu Beginn einer Ehe oftmals gewesen sein mussen. Wegen der strikten Trennung der Zustandigkeiten innerhalb einer Ehe durften auch die Ehemanner in der Regel keine große Hilfe in Haushaltsfragen gewesen sein, im Gegenteil, diese Art der Literatur halt vielfache Ratschlage bereit, die Erfolglosigkeit des Ehemanns durch Sparsamkeit und Kreativitat in der Haushaltsfuhrung zu kompensieren. Be- und Entlohnung bestehen in der Zufriedenheit des Ehemannes und im Erfullen der gesellschaftlichen Erwartungshaltung an die Hausfrau. So stellt Henriette Davidis denn auch fest, dass „es nur Wenigen und am wenigsten dem weiblichen Theile beschieden [ist], sich das Leben nach Wahl und Neigung zu gestalten und den hoheren Geistesinteressen zu leben. Gerade der weibliche Beruf, […] nimmt in den meisten Fallen Hand und Verstand so sehr in Anspruch, daß nur wenig Mußestunden erlauben, aus dem Kreis des Berufslebens hinaus zu gehen.“ Aufgrund ihrer eigenen beruflichen Erfahrungen, in denen sie ganz offensichtlich durchaus Pflicht und Neigung zu vereinbaren suchte, durfte Henriette Davidis an dieser Stelle sehr genau gewusst haben, wovon sie sprach.
= „Die Hausfrau“ =
Das Haushaltungsbuch, das Davidis schon bei der Ablieferung des Manuskripts von Der Beruf der Jungfrau erwahnt hatte, erschien 1861 im Selbstverlag zusammen mit dem befreundeten Verleger Artur Seemann unter dem Titel Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbstandigen und sparsamen Fuhrung des Haushalts, eine Mitgabe fur junge Frauen zur Forderung des hauslichen Wohlstandes und Familienglucks. Das Buch war ein umfassender Haushaltsratgeber und komplettierte das Bildungsprogramm fur die Hausfrau. Aus heutiger Sicht ermoglicht es hervorragende Einblicke in die burgerliche Wohn- und Gesellschaftskultur des 19. Jahrhunderts, weil Henriette Davidis nicht nur detailliert beschreibt, wie z. B. ein Haus einzurichten ist, sondern auch ausfuhrlich begrundet, zu welchem Zweck eine bestimmte Einrichtung dient und welche Wirkung damit erzielt werden soll. Neben Einrichtungsfragen und den Tatigkeiten im Haus widmet sich die Autorin auch dem Verhaltnis zwischen Hausfrau und Dienstboten. Hier mahnt sie die Verantwortung der Hausfrau als Arbeitgeberin an, das Personal angemessen unterzubringen und zu versorgen. Den großten Teil des Werkes nehmen aber Anleitungen zur Verarbeitung von Lebensmitteln ein.
Nach Davidis’ Tod fuhrten ihre Nichten Theodore Trainer und Emma Heine das Buch fort. Die Nichten gaben ab 1882 auch eine gekurzte Version unter dem Titel Kleines Kochbuch fur den burgerlichen und landlichen Haushalt heraus, die insgesamt sechs Auflagen erlebte.
= Ausgaben =
Alle bibliographischen Angaben sind nach Methler, Methler: Biographie, Bibliographie, Briefe, S. 23–91 zitiert.
Erstausgaben Zuverlassige und selbstgeprufte Recepte der gewohnlichen und feineren Kuche. (…). Rackhorst, Osnabruck 1845. (Ab der 3. Auflage dann unter dem bekannteren Titel Praktisches Kochbuch fur die gewohnliche und feinere Kuche. (…) 4. Auflage (1849) als Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv; 62 Auflagen des ursprunglichen Verlages bis 1942, darunter auch reich ausgestattete Ausgaben in dekorativ gestalteten Kassetten. Nach Ablauf der Urheberrechte zahllose Bearbeitungen und Nachdrucke.)
Arrangements zu kleinen und großeren Gesellschaften, zu Fruhstucks-, Mittags- und Abendessen, Kaffee’s und Thee’s und einem Kuchenzettel nach den Jahreszeiten geordnet. Velhagen & Klasing, Bielefeld 1847. (Ab dessen 3. Auflage in das Praktische Kochbuch integriert)
Praktische Anweisung zur Bereitung des Roßfleisches. Julius Badeker, Iserlohn 1848.
Gedichte. Julius Badeker, Iserlohn 1848. (2. Auflage 1848)
Vollstandiges Haushaltungsbuch. Der Gemusegarten (…). Julius Badeker, Elberfeld, 1850. (ab der 5. Auflage (1863) unter dem Titel Der Kuchen-Garten fur Hausfrauen. Praktische Anleitung zur moglichst vorteilhaften Kultur der bekannten Gewachse fur Kuche und Keller nach den Monaten geordnet. Verbunden mit einer Anleitung zur Kultur des Blumen-Gartens. Auf eigene und langjahrige Erfahrungen praktischer Gartenfreunde gegrundet, bis 1919 23 Auflagen.) urn:nbn:de:hbz:6:1-59421
Puppenkochin Anna. Grote, Dortmund 1856. (9 Auflagen bis 1898.) (Digitalisat der Ausg. Seemann, Leipzig 1881)
Die Jungfrau. Worte des Rats zur Vorbereitung fur ihren Beruf. Eine Mitgabe fur Tochter bei ihrem Eintritt in’s Leben. 1857. (Ab der 2. Auflage Der Beruf der Jungfrau. Eine Mitgabe fur Tochter gebildeter Stande. 17 Auflagen bis 1922.)
Puppenmutter Anna oder wie Anna sich beschaftigt und ihren Puppenhaushalt fuhrt. Nebst Geschichten fur kleine Knaben und Madchen. Joedicke, Dortmund 1858. (4 Auflagen bis 1890)
Natur- und Lebensbilder. Kleine Beitrage zur weiblichen Gemuthsbildung. A. Bagel, Wesel 1860.
Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbstandigen und sparsamen Fuhrung des Haushalts. (…). Seemann/Davidis, Essen/Dortmund 1861. (18 Auflagen bis 1907) 5. Auflage, 1870, 8., verb. u. verm. Aufl. 1876 (Digitalisat)
Kraftkuche von Liebig’s Fleischextract fur hohere und unbemittelte Verhaltnisse erprobt und verfaßt von Henriette Davidis. Friedrich Vieweg, Braunschweig 1870. (bis 1880 6 Auflagen)
Die deutsch-amerikanische Hausfrau. Laird & Lee, Chicago 1898. (Digitalisat)
Henriette Davidis’ Praktisches Kochbuch fur die gewohnliche und feinere Kuche. Unter bes.Berucksichtigung der Anfangerinnen und angehenden Hausfrauen. 1901, Bielefeld u. Leipzig Velhagen & Klasing Verlag
Reklame-Kochbuch der Liebig-Werke: Liebig Company’s Fleisch-Extract in der burgerlichen Kuche. Eine Sammlung erprobter einfacher Recepte von der Herausgeberin des Kochbuches von Henriette Davidis mit einem Anhang von Recepten fur Krankenkost unter Verwendung des Fleisch-Peptons der Compagnie Liebig. Ihrer Kundschaft gewidmet von der Liebig’s Fleisch-Extract-Compagnie. Selbstverlag, O. O., o. J. Digitalisathttp://vorlage_digitalisat.test/1%3D%7B%7B%7B1%7D%7D%7D~GB%3DiBMn0vBlZcIC~IA%3D~MDZ%3D%0A~SZ%3D~doppelseitig%3D~LT%3D~PUR%3D
Bearbeitungen Die Verleger Velhagen und Klasing ließen das Praktische Kochbuch nach Henriette Davidis’ Tod weiter fortlaufend aktualisieren und uberarbeiten. Die 25. bis 31. Auflage (1882–1891) erarbeitete Luise Rosendorf (1821–1890), die 1874 unter dem Namen Henriette Sander selbst ein Kochbuch veroffentlicht hatte. Die 32. bis 62. Auflage (1892–1942) stammt von Luise Holle (1864–1936). Sie ist die bekannteste der spateren Bearbeiter und wurde ab der 38. Auflage auch als Mitautorin im Buchtitel gefuhrt. Sie erganzte und erneuerte das Kochbuch erheblich und gab spater auch eigene Koch- und Haushaltungsbucher heraus. Von 1933 bis 1951 erschien unter dem Titel Das neue Kochbuch fur die deutsche Kuche ebenfalls bei Velhagen & Klasing ein kleineres Kochbuch, das Ida Schulze (1878–1970) auf der Basis des Praktischen Kochbuchs erarbeitet hatte. Dieses „kleine“ Kochbuch wurde auch parallel zu der Version von Luise Holle ein Verkaufserfolg.
Nachdem 1906 die Schutzfrist fur das ursprungliche Werk abgelaufen war, erschienen auch in anderen Verlagen zahlreiche Auszuge, Nachdrucke, Uberarbeitungen und Neufassungen. Zu den bekanntesten zahlen die von Erna Horn, Elsa Bier, Gertrude Wiemann und Rudolf Zach. Auch Puppenkochin Anna und Der Gemusegarten wurden noch uber Jahrzehnte in immer neuen Fassungen wieder aufgelegt. Außerdem erschienen englische, danische und niederlandische Ausgaben. Speziell fur Deutsche in den USA erschien sogar eine auf amerikanische Maße und Verhaltnisse zugeschnittene deutschsprachige Ausgabe.
Faksimileausgaben und Nachdrucke der Erstausgaben Praktisches Kochbuch fur die gewohnliche und feinere Kuche. Reprint der Erstausgabe: Walter Methler (Hrsg.): Veroffentlichungen des Henriette Davidis Museums. Wetter (Ruhr) 1994, ISBN 3-9810130-8-5.
Puppenkochin Anna. Ein praktisches Kochbuch fur kleine liebe Madchen. 2. vermehrte Auflage. W. Joedicke, Dortmund 1858. Nachdruck Eckehard Methler (Hrsg.), Ev. Kirchengemeinde Volmarstein-Oberwengern, Wetter (Ruhr) 1999 (Veroffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums; 7).
Rezeption Seit seinem Erscheinen wurde das Praktische Kochbuch bis 1951 kontinuierlich fur den Gebrauch uberarbeitet und immer wieder neu aufgelegt. Ab den 1960er Jahren erfolgte eine Ruckbesinnung auf das Original; die von nun an erscheinenden Ausgaben waren zwar auch Bearbeitungen fur den Einsatz in der modernen Kuche (z. B. von Erna Horn oder Roland Goock), basierten aber ausdrucklich auf der Erstausgabe. Auch sie wurden bis in die 1990er Jahre immer wieder aufgelegt und uberarbeitet. 1977 erschien der erste unveranderte Nachdruck einer alten, von Luise Holle bearbeiteten Ausgabe von 1898, 1994 ein weiterer unveranderter Nachdruck der Ausgabe von 1845. In den 1990er Jahren erschienen die ersten Publikationen, die sich mit der Person und Rolle der Henriette Davidis befassen, zumeist in einer Schriftenreihe des Henriette-Davidis-Museums in Wengern. Dort erschienen auch 2002 Puppenkochin Anna als Nachdruck und eine moderne Bearbeitung des Puppenkochbuchs fur Jugendliche. 2002 erschien in den USA ein Nachdruck der amerikanischen Ausgabe des Praktischen Kochbuchs von 1904. Gemessen an der Zahl der Exemplare, die von dem Praktischen Kochbuch in uber 160 Jahren bislang verkauft wurden, findet Henriette Davidis in der Erforschung von Alltagskultur und Frauenbiographien des 19. Jahrhunderts allerdings noch kaum Beachtung.
Erinnerungsstatten in und um Wengern sowie das Henriette-Davidis-Museum sorgen jedoch dafur, dass Henriette Davidis zumindest im lokalen Bewusstsein ihrer Heimatregion fest verankert ist. Im Jahr 2006 gab das Henriette-Davidis-Museum eine Reihe von Ubersetzungen (in englischer, norwegischer, polnischer und serbokroatischer Sprache) des Kinderkochbuchs Puppenkochin Anna heraus.
Literatur Franz Brummer: Davidis, Henriette. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 47, Duncker & Humblot, Leipzig 1903, S. 626 f.
Gisela Framke, Gisela Marenk, Willi Otremba, Magdalene Krumbeck, MKK Dortmund (Hrsg.): Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und burgerliches Frauenverstandnis im 19. Jahrhundert [Ausstellungskatalog]. Graphium Press, Oberhausen 1988, ISBN 3-9800259-9-3.
Karl Heinz Gotze: Man nehme 20 Eier und bleibe Jungfrau. In: Charlotte von Saurna: Ruhrgebiet. Merian [Nr. 46,10], Hoffmann und Campe, Hamburg 1993, ISBN 3-455-29310-7 / ISSN 0026-0029, S. 134–135.
Ulrike van Juchems: „Man nehme …“. Henriette Davidis. Pfarrerstochter aus Wengern schreibt Klassiker der Kochkunst. In: Westfalenspiegel, Nr. 52. Ardey, Munster 2003, ISSN 0508-5942, S. 25.
Anke Killing: Henriette Davidis und ihre Zeit. In: Westfalen im Bild, Reihe: Personlichkeiten aus Westfalen, Heft 13, Landschaftsverband Westfalen-Lippe / Landesbildstelle Westfalen, Munster 1998.
Roswitha Kirsch-Stracke: Das vergessene Gartenbuch der westfalischen Schriftstellerin Henriette Davidis (1801–1876). In: Die Gartenkunst 12 (2/2000), S. 187–197.
Eckehard Methler, Walter Methler: Henriette Davidis. Biographie, Bibliographie, Briefe. In: Veroffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums Band 10, Evangelische Kirchengemeinde Volmarstein, Wetter (Ruhr) 2001, ISBN 3-933945-10-0 (Umfassendste veroffentlichte biographische Quelle, umfassende Bibliographie).
Eckehard Methler, Walter Methler: Von Henriette Davidis bis Erna Horn. [Bibliographie und Sammlungskatalog hauswirtschaftlicher Literatur; mit Anmerkungen zur Frauenfrage]. In: Veroffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums. Band 9. Evangelische Kirchengemeinde Volmarstein-Oberwengern, Wetter (Ruhr) 2001, ISBN 3-933945-09-7 / ISBN 3-9810130-4-2 (HDM-Verlag), Erschopfende Bibliographie incl. der Zeitschriftenbeitrage und samtlicher Bearbeitungen.
Georg Ruppelt: Henriette Davidis und ihr beruhmtes Kochbuch. Sonderdruck aus: Aus dem Antiquariat. Munchen 1987.
Claudia Suppmann: Ein Kochbuch-Klassiker im Wandel der Zeiten (1845–1998). Magisterarbeit Munchen, 2000 (unveroffentlicht).
Willy Timm: Henriette Davidis. In: Westfalische Lebensbilder Band XII. Munster 1978, S. 88f. Ausfuhrliche biographische Angaben.
Henriette Davidis Lesebuch. (PDF; 881 kB) Zusammengestellt und Nachwort von Dieter Treek, Nyland-Stiftung (Hrsg.), Nylands Kleine Westfalische Bibliothek Bd. 26, Bielefeld, Aisthesis Verlag 2011
Weblinks Literatur von und uber Henriette Davidis im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und uber Henriette Davidis in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Werke von Henriette Davidis im Projekt Gutenberg-DE
Henriette Davidis im Lexikon Westfalischer Autorinnen und Autoren
Henriette-Davidis-Museum
Online-Biografie zu Henriette Davidis
Ariane Hoffmann: Henriette Davidis, dt. Kochbuchautorin (Todestag, 03.04.1876) In: ZeitZeichen auf WDR 5 vom 3. April 2021, ARD Audiothek, abgerufen am 11. Juli 2021.
Einzelnachweise und Anmerkungen
|
Johanna Friederika Henriette Katharina Davidis (* 1. Marz 1801 in Wengern; † 3. April 1876 in Dortmund) war eine deutsche Autorin von Kochbuchern. Obwohl zu ihrer Zeit bereits viele ahnliche Kochbucher erschienen waren und unter anderem das Allgemeine deutsche Kochbuch fur burgerliche Haushaltungen von Sophie Wilhelmine Scheibler mehrfach neu aufgelegt wurde, entwickelte sich Davidis’ Praktisches Kochbuch zu einem der bedeutendsten Kochbucher des spaten 19. und fruhen 20. Jahrhunderts, das zur Grundausstattung vieler deutscher Haushalte gehorte. Die vielen heute noch antiquarisch erhaltlichen Exemplare zeigen, dass das Buch rege benutzt und mit Anmerkungen versehen wurde. Viele Familien vererbten das Praktische Kochbuch von Generation zu Generation weiter.
Das Kochbuch war jedoch nur ein Teil eines umfassenden Erziehungs- und Bildungsprogramms, das Henriette Davidis fur Madchen und Frauen konzipierte. Von der Puppenkochin uber die junge unverheiratete Frau bis zur Hausfrau mit eigener Verantwortung fur Haushalt und Personal boten Henriette Davidis’ Bucher sich als Lehrbucher und Nachschlagewerke an. Dahinter stand wohl die Erkenntnis, dass die Tatigkeit der Hausfrau ein eigener anspruchsvoller Beruf war, auf den die jungen Frauen des neu entstehenden Burgertums oft nur unzureichend vorbereitet waren.
Davidis war, wahrend sie ihre Bucher verfasste, selbst als Hauswirtschaftslehrerin, Erzieherin und Gouvernante, spater nur noch als Autorin tatig. Obwohl ihre Bucher, insbesondere das Praktische Kochbuch, das im Jahr ihres Todes bereits in 21. Auflage erschien, schon zu ihren Lebzeiten sehr erfolgreich waren, konnte sie von den Ertragen nur ein eher bescheidenes Leben fuhren und bezog erst im Alter von 74 Jahren eine eigene Wohnung. Gelegentlich wird angegeben, „Henriette Davidis“ sei ein Pseudonym einer Helena Clemen, in Wirklichkeit handelte es sich bei Helena Clemen jedoch um eine Leserin, die Anregungen an die Autorin gesandt hatte, die auch verwendet wurden.
Heute erinnert das Henriette-Davidis-Museum in Wetter-Wengern mit Ausstellungen uber Kochbucher und einer Schriftenreihe an sie. Das Deutsche Kochbuchmuseum in Dortmund widmete ihr ebenfalls einen großen Teil seiner Ausstellung. Teile eines steinernen Herdes, der aus dem Pfarrhaus in Wengern stammt, wurden mit einer Gedenktafel in das Widerlager der 1934 fertiggestellten Eisenbahnbrucke der Elbschetalbahn bei Wengern eingemauert, wo sie noch heute zu sehen sind. Das Pfarrhaus hatte dem Bau der Brucke weichen mussen.
Zu Ehren von Henriette Davidis wurde am 7. Mai 2024 an der Kaiserstraße in Dortmund ein Denkmal eingeweiht.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Henriette_Davidis"
}
|
c-13915
|
Kosrae (ausgesprochen [koˈʃraːeː], fruher Kusaie, Ualan oder Strong(’s) Island) ist eine Insel im Zentralpazifik. Sie bildet mit acht weiteren Inseln geographisch die gleichnamige Gruppe der Kosrae-Inseln sowie politisch den ostlichsten Bundesstaat der Foderierten Staaten von Mikronesien.
Geographie Kosrae ist die zweitgroßte einzelne Insel der Foderierten Staaten von Mikronesien und gehort zum Archipel der Karolinen. Hauptort der Insel und des Bundesstaats Kosrae ist der kleine Ort Tofol an der Ostkuste. Die Landflache betragt 108 km² (ohne Nebeninseln).
Die Landschaft ist hugelig und von tropischen Regenwaldern und funf großeren Flussen gepragt. Von den zahlreichen Wasserfallen werden die Sipyen Falls (neun Meter) beim Dorf Utwe am meisten besucht. Die hochsten Erhebungen sind der Mount Finkol (634 m) und der Mount Ohma. Eine Besonderheit der Insel ist, dass sie als einzige Felseninsel Mikronesiens von einem Korallenriff umgeben ist. Innerhalb dieses Riffs liegen acht kleine Nebeninseln. Großte, wichtigste und einzige bewohnte Nebeninsel ist Lelu in der an den Hauptort Tofol angrenzenden Bucht. Kleinere Nebeninseln von Kosrae, alle kustennah, sind Kiul (Gabert), Mutunyal, Sroansak, Srukames, Yen Yen, Yenasr und die Flughafeninsel.
Da Kosrae, wo die Temperatur das ganze Jahr lang konstant zwischen 28 und 32 Grad Celsius betragt, außerhalb des Taifungurtels liegt, wird es relativ selten von Wirbelsturmen heimgesucht. Mit rund 5000 mm Niederschlag pro Jahr gehort Kosrae – wie auch Pohnpei – zu den regenreichsten Inseln der Erde.
Geschichte Kosrae wurde wahrscheinlich im 1. Jahrtausend v. Chr. von Polynesien aus besiedelt. Allerdings ist eine genaue Bestimmung der ersten Besiedelung nicht moglich, da im Gegensatz zu anderen großeren mikronesischen Inseln keine vorkolonialen Steinbauten gefunden worden sind. Auf der ostlich vorgelagerten Insel Lelu wurden Ruinen aus dem 15. Jahrhundert gefunden.
1529 wurde Kosrae von spanischen Seefahrern erstmals gesichtet, doch erst 1824 betraten Europaer die Insel nach der Ankunft des franzosischen Schiffes La Coquille, das spater in Astrolabe umbenannt wurde, unter Kapitan Louis-Isidore Duperrey. Kosrae zahlte zu diesem Zeitpunkt vermutlich rund 10.000 Einwohner, doch fast alle starben an von Walfangern, Sklavenjagern und Piraten eingeschleppten Krankheiten. Als 1852 die ersten Missionare Kosrae erreichten, lebten dort nur noch 300 Menschen. Seit dem 16. Jahrhundert war Kosrae offiziell im Besitz Spaniens, im Jahre 1885 wurde es an Deutschland verkauft und damit eine Kolonie des Deutschen Reiches. Die ersten Kokosplantagen wurden in dieser Zeit angelegt. Im Ersten Weltkrieg wurde die Insel von Japan besetzt und blieb bis 1945 in japanischem Besitz.
Kosrae wurde wahrend des Zweiten Weltkrieges von japanischen Truppen besetzt, jedoch nicht direkt im Rahmen des „Inselspringens“ von den USA angegriffen. Allerdings wurden mehrere vor der Kuste der Insel liegende japanische Schiffe versenkt, die heute als gut erhaltene Wracks einen touristischen Anziehungspunkt darstellen. An den Hangen des Mount Mutunte und des Mount Toro wurden von den Japanern Bunker und Tunnel angelegt. Wegen der Bombardierung japanischer Stellungen durch die amerikanische Luftwaffe flohen die meisten Einwohner Kosraes von der Kuste in den Urwald im Inneren der Insel. Nach Kriegsende wurde Kosrae Teil des Treuhandgebietes Pazifische Inseln der USA.
Am 10. Mai 1979 ratifizierte Kosrae die Verfassung der Foderierten Staaten von Mikronesien und wurde mit der offiziellen Unabhangigkeit am 3. November 1986 integraler Bestandteil dieser neuen Nation.
Flora und Fauna Kosrae ist Heimat des endemischen Kosrae-Flughunds (Pteropus ualanus), dessen Bestande nach IUCN-Angaben gefahrdet sind. Auf Kosrae kommen insgesamt 36 Vogelarten vor; besonders artenreich sind Schnepfenvogel mit acht Arten. Zwei endemische Vogelarten – das Kosrae-Sumpfhuhn und der Kosrae-Singstar – sind bereits ausgestorben. Zu den Reptilien zahlen die Geckoart Perochirus ateles, der Mangroven-Schlankskink (Emoia atrocostata), die Skinke Emoia cyanogaster und Ornithuroscincus noctua. An der Kuste kommt die Plattchenseeschlange vor.
Wirtschaft Einziger bedeutender Wirtschaftszweig ist der Tourismus; großte Arbeitgeber sind Einrichtungen der Regierung sowie der internationale Flughafen Kosrae, der auf einer kunstlichen Insel vor Kosraes Nordwestkuste liegt.
Große Teile der Bevolkerung leben allerdings noch immer uberwiegend von subsistenzieller Landwirtschaft. Angebaut werden vor allem Brotfrucht, Stachelannone, Taro und Bananen.
Kultur Noch alter als die Ruinen auf der kleineren Nachbarinsel Lelu sind vermutlich die Ruinen im Menke Valley im Inneren von Kosrae, zwischen denen die Reste eines Tempels zu sehen sind, in dem die Gottin Sinlaku, die Gottin der Brotfrucht, gelebt haben soll. Der Uberlieferung nach verließ die Gottin Sinlaku die Insel Kosrae und begab sich zur Insel Yap, bevor 1852 die ersten christlichen Missionare eintrafen. Moglicherweise sind die Ruinen, die sich rund 70 Meter uber dem Meeresspiegel im Tal des Menke River unweit der Quelle des Infal Menka nordlich des Dorfes Utwe befinden, die altesten der gesamten Foderierten Staaten von Mikronesien.
Im Kosrae State History Museum im Hauptort Tofol sind verschiedene Kunstwerke zu sehen.
Etwa 90 % der Einwohner von Kosrae gehoren heute der Congregational Church an, der Alltag wird stark von traditionellen christlichen Werten und Normen sowie vom Familienleben gepragt.
Infrastruktur Kosrae verfugt uber eine Kustenstraße, die von Okat, wo sich der Flughafen befindet, an der Ostkuste entlang uber Tofol und Utwe nach Walung verlauft, aber nicht den Westen der Insel erschließt. Der Flughafen Kosrae, von dem aus u. a. Verbindungen nach Guam und Honolulu bestehen, wurde auf einer kunstlich geschaffenen Insel im Nordwesten angelegt, die mit dem 150 m entfernten Kosrae uber einen Damm verbunden ist. Der Hauptort Tofol verfugt uber ein Krankenhaus, ein Postamt und zwei Banken. In einigen Orten gibt es Unterkunfte fur Touristen. Zum Tauchen, Surfen und Schwimmen bieten sich der Tafunsak Marine Park und der Lelu Marine Park an. Der Ort Walung ist fur seinen weißen Sandstrand, den langsten der Insel, bekannt.
Weblinks Kosrae Visitors Center. In: visit-fsm.org. FSM Visitors Board, archiviert vom Original am 27. Oktober 2011; abgerufen am 3. Oktober 2024 (englisch).
Visit Kosrae. In: visitkosrae.com. Abgerufen am 3. Oktober 2024 (englisch).
Einzelnachweise
|
Kosrae (ausgesprochen [koˈʃraːeː], fruher Kusaie, Ualan oder Strong(’s) Island) ist eine Insel im Zentralpazifik. Sie bildet mit acht weiteren Inseln geographisch die gleichnamige Gruppe der Kosrae-Inseln sowie politisch den ostlichsten Bundesstaat der Foderierten Staaten von Mikronesien.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Kosrae"
}
|
c-13916
|
Das 1. Jahrtausend v. Chr. beschreibt den Zeitraum von 1000 vor Christus bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung.
Epochen 800 v. Chr.: In Mitteleuropa endet die Bronzezeit, und es beginnt die altere Eisenzeit, die so genannte Hallstattzeit.
400 v. Chr.: In Mitteleuropa endet die altere Eisenzeit, und die jungere Eisenzeit beginnt, die so genannte Latenezeit, die bis ca. 30/15 v. Chr. andauert.
Ereignisse Um 1000 v. Chr.: Die Iberer treten erstmals in Erscheinung.
Um 1000 v. Chr. bis ca. 500 v. Chr.: Kolonisation der Agais, der Kusten Kleinasiens und des Schwarzen Meeres, Siziliens und Suditaliens von Griechenland aus.
Um 1000 v. Chr.: Anfange der etruskischen Hochkultur, um 800 v. Chr. Ausbreitung, um 600 v. Chr. Blutezeit.
Um 750 v. Chr.: Grundung Roms, der ewigen Stadt.
Um 600 v. Chr.: Beginn des Romischen Reichs.
Um 500 v. Chr. gewann (mit der Mantik einhergehend) der Glaube Gestalt, das Individualschicksal sei mit Hilfe des Horoskops ablesbar.
Um 500 v. Chr.: Der Buddhismus entwickelt sich.
Um 500 v. Chr.: Die Kelten dringen in Nordspanien ein.
Um 400 v. Chr.: Der griechische Philosoph Demokrit macht sich Gedanken uber den Aufbau der Materie – er schuf den Begriff Atom.
Im Jahre 214 v. Chr. lasst der chinesische Kaiser Qin Shihuangdi die ersten zusammenhangenden Teile der Chinesischen Mauer errichten.
Um 200 v. Chr.: Die Kelten erreichten ihre großte Ausbreitung.
2./1. Jahrhundert v. Chr.: Das Romische Reich besiegt seine Widersacherin Karthago, erobert die verbliebenen Diadochenstaaten und beherrscht den gesamten Mittelmeerraum.
Der Tanach wird geschrieben.
Zum Landkrieg kam, im Zuge der Entwicklung der Seefahrt, auch der Seekrieg.
In der Zhou-Dynastie (etwa 1045 bis 256 v. Chr.) wird in China die Herstellung von Gusseisen beherrscht.
Wichtige Personlichkeiten vermutlich 8. Jahrhundert v. Chr.: Homer, griechischer Dichter
6./5. Jahrhundert v. Chr.: Konfuzius, chinesischer Philosoph
6. Jahrhundert v. Chr.: Kyros II., Grunder des Persischen Reiches
6./5. Jahrhundert v. Chr.: Buddha, Philosoph aus Sud-Nepal/Nord-Indien
5. Jahrhundert v. Chr.: Herodot, griechischer Geschichtsschreiber und Geograph
5./4. Jahrhundert v. Chr.: Sokrates, griechischer Philosoph
5./4. Jahrhundert v. Chr.: Hippokrates, griechischer Arzt
4. Jahrhundert v. Chr.: Platon, griechischer Philosoph
4. Jahrhundert v. Chr.: Aristoteles, griechischer Philosoph
4. Jahrhundert v. Chr.: Alexander der Große, makedonischer Konig und Feldherr
3. Jahrhundert v. Chr.: Archimedes, griechischer Mathematiker
3. Jahrhundert v. Chr.: Qin Shihuangdi, Grunder des Kaiserreichs China und Errichter der chinesischen Mauer
3./2. Jahrhundert v. Chr.: Hannibal, karthagischer Feldherr
1. Jahrhundert v. Chr.: Vitruv, romischer Architekt und Schriftsteller
1. Jahrhundert v. Chr.: Gaius Iulius Caesar, romischer Staatsmann, Feldherr und Autor
Weblinks
|
Das 1. Jahrtausend v. Chr. beschreibt den Zeitraum von 1000 vor Christus bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/1._Jahrtausend_v._Chr."
}
|
c-13917
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Terahertz-Welle"
}
|
||
c-13918
|
Die Bahnstrecke Boxtel–Wesel, auch bekannt als Boxteler Bahn oder auf Niederlandisch als het Duits Lijntje („die deutsche Linie“) war eine knapp 100 Kilometer lange Bahnstrecke von Boxtel in der niederlandischen Provinz Noord-Brabant uber Schijndel, Veghel, Uden, Gennep, Goch, Xanten und Buderich nach Wesel (deutsche Konzession vom 14. Januar 1873).
Sie wurde von der Noord-Brabantsch-Duitsche Spoorweg-Maatschappij (NBDS, „Nord-Brabantisch-Deutsche Eisenbahngesellschaft“) gebaut und betrieben, die am 28. Mai 1869 von niederlandischen und deutschen Aktionaren in Rotterdam als private Eisenbahngesellschaft gegrundet worden war. Sie verlegte spater ihren Sitz in die nordlimburgische Gemeinde Gennep.
Streckenbau Unter großen Anstrengungen finanzieller und baulicher Art konnte die Gesellschaft am 15. Juli 1873 ihr erstes 62 Kilometer langes, eingleisiges Streckenstuck von Boxtel bis Goch eroffnen. Die restlichen 30 Kilometer der insgesamt 92,7 Kilometer langen Eisenbahnstrecke uber Xanten bis Buderich gingen am 1. Juli 1878 in Betrieb. In Goch entstand 1878 zusammen mit der Rheinischen Eisenbahn als Gemeinschaftsbahnhof ein großes Empfangsgebaude in Insellage. Auf den letzten acht Kilometern von Buderich bis Wesel, die im Eigentum der Coln-Mindener Eisenbahn standen, benutzte die NBDS zusammen mit ihr die 1.950 Meter lange Rheinbrucke bei Wesel. Sie war von 1872 bis 1874 beim Bau der Bahnstrecke Wesel – Venlo durch die Coln-Mindener Bahn errichtet worden. Ein weiteres bedeutendes Bauwerk auf der NBDS-Strecke war die 300 Meter lange, eingleisige Brucke uber die Maas im niederlandischen Gennep.
Zusammen mit den Preußischen Staatseisenbahnen, den niederlandischen „Staatsspoorwegen“ (SS) und der „Reederei Zeeland“ (Fahrdienst Vlissingen – England) entstand am 15. Mai 1881 die internationale Bahnpostlinie von Ubersee und England ab Vlissingen nach Hamburg und Berlin mit Weiterfuhrung nach Skandinavien und Russland. Trotz zeitweiliger Schwierigkeiten mit den Staatsspoorwegen entstand daraus ein lukrativer Reiseverkehr mit Kurswagen uber die Bahnstrecke der NBDS.
Um die rege Nutzung im Reiseverkehr, u. a. durch gekronte Haupter sicherzustellen, wurden Anfang des 20. Jahrhunderts die Kurswagen durch internationale Zuge uber die NBDS nach Hamburg, Berlin und Suddeutschland ersetzt. Fur diese schweren Zuge schaffte die NBDS 1908 als erste niederlandische Eisenbahngesellschaft schwere 2C-gekuppelte Lokomotiven an, die wegen ihres blauen Anstrichs „Blaue Brabanter“ genannt wurden. Die Maschinen fuhrten die Zuge mit Wagen mehrerer Bahngesellschaften in Deutschland uber Wesel hinaus bis Munster und Oberhausen. Ab 1897 liefen in diesen Zugen auch Speisewagen und ab 1904 Schlafwagen der Internationalen Schlafwagengesellschaft (CIWL), Brussel (Compagnie Internationale des Wagons–Lits et des Grands Express Europeenns). Gleichzeitig musste die NBDS wegen der steigenden Zugdichte die Teilstrecke Boxtel – Goch bis 1912 zweigleisig ausbauen.
Um ihren geringen Guterverkehr zu beleben, fuhrte die NBDS schon 1882 den sogenannten gebrochenen Verkehr ein, indem sie mit eigenen Schiffen Olsaaten von Rotterdam zu ihrem eigenen Kanalhafen in Veghel fuhr und von dort mit ihren Zugen zu den Margarinewerken in Goch brachte. In Gegenrichtung beforderte sie vorwiegend Ruhrkohlen mit der Bahn nach Veghel und nach Umladung per Schiff nach Rotterdam.
1912 erbaute die NBDS entlang der Maas auf der Staatsstraße von Nijmegen uber Gennep nach Venlo die schmalspurige 63 Kilometer lange „Maas-Buurtspoorweg“ (MBS). Sie wurde am 31. Mai 1913 eroffnet und bediente als Lokalbahn bis 1944 den lokalen Personen- und Guterverkehr.
Ende der NBDS Standige finanzielle Schwierigkeiten durch hohe Schulden und das zu geringe Eigenkapital, hohe Streckeninvestitionen und steigende Personalkosten fuhrten schon 1913 zu einer losen Kooperation der NBDS mit den Staatsspoorwegen. Der Zusammenbruch des internationalen Verkehrs im Ersten Weltkrieg und nach dem Krieg fuhrte 1919 zur Fusion mit den Staatsspoorwegen. 1921 wurde uber das Restvermogen der Gesellschaft der Konkurs eroffnet.
Ubernahme der Bahnstrecke Die Deutsche Reichsbahn und die Staatsspoorwegen (SS) ubernahmen am 1. Juli 1925 die Bahnstrecke und betrieben sie in ihren Landern als Nebenbahnen weiter.
Die Eisenbahnbrucke bei Gennep fiel am 10. Mai 1940, etwa zwei Stunden vor dem Beginn des Angriffs auf die Niederlande durch eine Kriegslist eines Stoßtrupps der Brandenburger Spezialeinheit in die Hande der Wehrmacht: zwei Niederlander in niederlandischen Uniformen taten so, als hatten sie acht deutsche Wehrmachtsoldaten festgenommen. Unsinnige Befehle eines niederlandischen Feldwebels namens Lute (Untergebene flehten ihn an, die Brucke zu sprengen) trugen maßgeblich dazu bei, dass kurz darauf ein Panzerzug der Wehrmacht kurz nach der Besetzung der Brucke auf das Westufer der Maas und bis hinter die Peel-Raam-Stellung fahren konnte. Der Panzerzug beschoss einige Kasematten sudlich der Strecke von hinten und fuhr spater Richtung Deutschland zuruck, der erste Wagen entgleiste und der zweite verkeilte sich. Am Abend des 10. Mai fanden schwere Kampfe bei Mill statt, hauptsachlich gefuhrt vom deutschen Infanterieregiment 456.
Betriebseinstellung = In Deutschland =
Im Zuge der Operation Market Garden wurde diese Brucke am 18. September 1944 durch deutsche Truppen gesprengt. Die Zerstorungen am Ende des Zweiten Weltkriegs ließen nur noch auf einigen Teilstrecken einen Bahnverkehr zu. Ein durchgehender Betrieb in Deutschland war nach der Sprengung der Weseler Rheinbrucke durch deutsche Truppen am 10. Marz 1945 und der teilweisen Zerstorung der Bahnstrecke zwischen Uedemerfeld und Xanten West nicht mehr moglich. Kanadische Pioniere entfernten die verbliebenen Schienen und nutzten dann die ehemalige Bahntrasse fur den Nachschubweg von Uedem nach Xanten. Auf den beiden westlich und ostlich von Goch betriebenen kurzen Teilstrecken nach Hassum und Uedem wurde der Personenverkehr schon 1949 bzw. 1963 stillgelegt. Mit der Einstellung des Guterverkehrs 1966 bzw. 1967 hatte in Deutschland der Bahnverkehr auf der ehemaligen Strecke der NBDS aufgehort. An der Klevischen Allee in der Nahe des Schlosses Kalbeck wurde ein Denkmal an die Boxteler Bahn errichtet.
Am 11. Dezember 2022 wurde von den Kreisen Kleve und Wesel die XBus-Linie X28 mit dem gleichen Streckenverlauf wie die Boxteler Bahn zwischen Goch und Wesel eingefuhrt. Diese wird von der NIAG und DB Rheinlandbus betrieben.
= In den Niederlanden =
Auch in den Niederlanden wurde der Bahnverkehr nach dem Krieg nur teilweise wieder aufgenommen. 1950 wurde der Personenverkehr zwischen Boxtel und Uden, das einzige Teilstuck auf dem noch Personenverkehr stattfand, eingestellt. Ab 1971 kam es hier schrittweise zur Einstellung des Guterverkehrs: 1971 wurde die Strecke zwischen Mill und Gennep stillgelegt, 1978 wurde der Verkehr zwischen Uden und Mill eingestellt und 1983 der zwischen Veghel und Uden. Das letzte im Guterverkehr betriebene Streckenstuck der ehemaligen NBDS-Strecke von Boxtel bis Veghel wurde 2004 stillgelegt.
Zukunft In den 2000er und 2010er Jahren wurde eine Reaktivierung der Strecke Boxtel – Schijndel – Veghel – Uden als „Lightrail“ (mit Zugen ’s-Hertogenbosch – Boxtel – Uden) gepruft, diese wurde jedoch nicht weiterverfolgt. Auch eine Schnellbahn zwischen Oss und Uden wird nicht realisiert werden. An die ubrigen Abschnitte der Boxteler Bahn, in den Niederlanden „Duits Lijntje“ genannt, erinnern in beiden Landern nur noch einige Gebaude und ihre Spuren in der Landschaft. Teile der ehemaligen Strecke der Boxteler Bahn wurde außerdem in Fahrradstrecken umgewandelt.
Lokomotiven und Wagen Bis Anfang des 20. Jahrhunderts bezog die NBDS ihre Streckenlokomotiven aus England von Beyer, Peacock & Co., Manchester, und von der Lokomotivfabrik Hohenzollern in Dusseldorf. Die 1B-gekuppelten Außenrahmenmaschinen entsprachen dem damaligen englisch/niederlandischen Typ. Fur den Guterverkehr hatte man C-gekuppelte Lokomotiven von Hohenzollern, Dusseldorf, bezogen.
Erst die ab 1908 angeschafften insgesamt acht blauen Schnellzugmaschinen (Blaue Brabanter), sechs von Beyer, Peacock, zwei von Hohenzollern, mit ihrem 2C-gekuppelten Laufwerk und Innenzylindern stellten einen fur die Niederlande neuen Typ dar. Sie wurden Vorbild fur einen gleichartigen Heißdampftyp der SS.
Fur den Lokalverkehr besaß die NBDS eine großere Zahl zweiachsiger Abteilwagen. Fur die von ihr im Transit beforderten internationalen Schnellzuge stellte sie nur die Packwagen.
Da im Guterverkehr vor allem Olsaaten befordert wurden, uberwog der Anteil geschlossener zweiachsiger Guterwagen. Speziell fur den Margarinetransport in Deutschland war bei der NBDS eine Anzahl eigener und privater Kuhlwagen eingestellt.
Passagieraufkommen 1877: 189.560 Reisende
1887: 312.882 Reisende
1897: 486.524 Reisende
1907: 803.916 Reisende
1913: 876.213 Reisende
Literatur Hans-Paul Hopfner: Eisenbahnen. Ihre Geschichte am Niederrhein. Mercator, Duisburg 1986, ISBN 3-87463-132-X.
Vincent Freriks, Hans Schlieper: De Noord-Brabantsch-Duitsche Spoorweg-Maatschappij, de Vlissinger Postroute. Uquilair, Rosmalen 2008, ISBN 978-90-71513-65-7 (in Niederlandisch)
Michael Lehmann: Der „Blaue Brabant“. Die Geschichte der Boxteler Bahn. Guntlisbergen, Uedem 1998, ISBN 3-9802229-4-2
Hans Schlieper, Vincent Freriks: Die Boxteler Bahn. Die Nord-Brabant-Deutsche Eisenbahn-Gesellschaft und die Internationale Vlissinger Postroute. Deutsche Gesellschaft fur Eisenbahngeschichte, DGEG, Werl 2014, ISBN 978-3-937189-79-6
Werner Verfurth: 150 Jahre Boxteler Bahn. 1869-2019. Pagina, Goch 2019, ISBN 978-3-946509-26-4.
Andreas Waldera: Unterwegs auf dem Boxteler Bahn-Radweg. BoD, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-0580-6
Weblinks Sander Leemans: Het Duits Lijntje, private Webseite uber die Bahnstrecke (niederlandisch)
Die Boxteler Bahn, auf bahn-in-hahn.de, private Webseite
Webseite uber die Boxteler Bahn (offline)
Beschreibung der Strecke 2515: Buderich ↔ Hassum
Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed: Boxtel-Best-Sint Oedenrode: Een toonbeeld van wederopbouw
Einzelnachweise
|
Die Bahnstrecke Boxtel–Wesel, auch bekannt als Boxteler Bahn oder auf Niederlandisch als het Duits Lijntje („die deutsche Linie“) war eine knapp 100 Kilometer lange Bahnstrecke von Boxtel in der niederlandischen Provinz Noord-Brabant uber Schijndel, Veghel, Uden, Gennep, Goch, Xanten und Buderich nach Wesel (deutsche Konzession vom 14. Januar 1873).
Sie wurde von der Noord-Brabantsch-Duitsche Spoorweg-Maatschappij (NBDS, „Nord-Brabantisch-Deutsche Eisenbahngesellschaft“) gebaut und betrieben, die am 28. Mai 1869 von niederlandischen und deutschen Aktionaren in Rotterdam als private Eisenbahngesellschaft gegrundet worden war. Sie verlegte spater ihren Sitz in die nordlimburgische Gemeinde Gennep.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Boxteler_Bahn"
}
|
c-13919
|
London (deutsche Aussprache [ˈlɔndɔn] oder gelegentlich [ˈlɔndən], englische Aussprache [ˈlʌndən]) ist zugleich die Hauptstadt des Vereinigten Konigreiches und Englands. Die Stadt liegt an der Themse im Sudosten Englands. Das heutige Verwaltungsgebiet mit 33 Stadtbezirken entstand im Jahr 1965 durch die Grundung von Greater London. Dort lebten 2022 rund 8,9 Millionen Menschen, davon rund 3,4 Millionen in den 13 Stadtbezirken Inner Londons. In der gesamten Metropolregion London lebten 2019 knapp 14,4 Millionen Einwohner.
Im Jahr 50 n. Chr. von den Romern als Londinium gegrundet, wurde die Stadt nach der normannischen Eroberung 1066 Hauptstadt und Konigssitz des Konigreiches England. Bereits im Mittelalter entwickelte sich die Stadt zu einem bedeutenden internationalen Handelsplatz. Unter der Herrschaft von Elisabeth I. stieg ihre Bedeutung als Hafenstadt der Nordsee. Durch den Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert wuchs auch die Bevolkerung Londons, sodass es um 1800 eine der ersten Stadte war, die mehr als eine Million Einwohner zahlte. Bis 1900 versechsfachte sich die Bevolkerung, und London war bis zum Jahr 1925 die großte Stadt der Welt. Es entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum der Technik und Industrie und wird bis heute zu den Weltstadten gerechnet.
London ist eines der bedeutendsten Kultur- und Handelszentren der Welt mit zahlreichen Universitaten, Hochschulen, Theatern und Museen. Mit einem BIP von 801,66 Mrd. € im Jahr 2017 ist London die großte stadtische Wirtschaft Europas. Die Stadt zahlt außerdem neben New York City, Singapur und Hongkong zu den großten Finanzplatzen der Welt. Historische Gebaude wie der Palace of Westminster oder Tower of London zahlen zum UNESCO-Weltkulturerbe. Mit jahrlich uber 19 Millionen Touristen aus dem Ausland war London im Jahr 2016 nach Bangkok weltweit die zweitmeistbesuchte Stadt vor Paris.
Geographie = Geographische Lage =
Die geografischen Koordinaten des Stadtzentrums in der Nahe des Trafalgar Square sind 51° 30′ nordlicher Breite und 0° 8′ westlicher Lange. Die Lage nahe dem Nullmeridian ist kein Zufall, denn dieser wurde durch das konigliche Observatorium, das Royal Greenwich Observatory in Greenwich gelegt; er ist Ausgangspunkt der Langengrade und damit der Zeitzonen.
London erstreckt sich etwa 44,3 Kilometer entlang der schiffbaren Themse und liegt durchschnittlich 15 Meter uber dem Meeresspiegel. London entstand aus einer Siedlung am Nordufer, der heutigen City of London. Die London Bridge war bis 1739 die einzige Brucke uber den Fluss.
Aus diesem Grund befindet sich der großere Teil der Stadt nordlich des Flusses. Mit dem Bau weiterer Brucken im 18. Jahrhundert und dem Bau der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert begann sich die Stadt in allen Richtungen auszudehnen. Die Landschaft ist flach bis leicht wellig, wodurch das ungehinderte Wachstum begunstigt wurde.
Die Themse war in fruheren Zeiten wesentlich breiter und seichter als heute. Sie wird heute fast ganzlich durch Damme begrenzt und die meisten der rund 15 Zuflusse fließen unterirdisch. Die Gezeiten der Nordsee machen sich in London noch deutlich bemerkbar, die Stadt ist deshalb durch Uberschwemmungen und Sturmfluten gefahrdet. Bei Woolwich – ostlich von Greenwich gelegen – wurde in den 1970er-Jahren die Thames Barrier gebaut, um diese Gefahr einzudammen.
= Geologie =
Sudostengland mit der Hauptstadt London, der klimatisch meistbegunstigte Teil Großbritanniens, unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den anderen Teilen der Insel. Die geologische Struktur wird durch die mesozoischen Sedimente bestimmt, die eine großzugig gegliederte Schichtstufenlandschaft entstehen ließen. Ihre Hohen ragen nirgends hoch auf, so dass der gesamte Raum die klimatischen Vorteile des Sudostens genießt. Historisch profitierte London von seiner Lage inmitten einer Ackerbauregion. Der kontinentnahe Sudosten galt von jeher als Schwergewicht des Inselreiches. Hier fassten die vom Festland kommenden Eroberer – Romer, Sachsen, Normannen – zuerst Fuß. Auch als mit der Entdeckung Amerikas und der Entwicklung der Uberseeschifffahrt die Außenseiten der Insel infolge ihrer gunstigeren Lage starker belebt wurden, konnte sich das alte Kulturzentrum behaupten. London blieb das Tor zur Insel.
= Stadtgliederung =
London gliedert sich in 32 Stadtbezirke (London Boroughs) und die City of London.
= Klima =
London befindet sich in der gemaßigten Klimazone. Die Sommer sind warm, aber selten heiß; die Winter sind zwar kuhl, doch sinkt die Temperatur selten unter den Gefrierpunkt. Der warmste Monat ist Juli mit 18,6 Grad Celsius im Durchschnitt, der kalteste Januar mit 5,6 Grad Celsius im Mittel. Die hochste jemals in London gemessene Temperatur war jedoch 40,3 Grad Celsius, gemessen 2022. Die große uberbaute Flache halt die Warme zuruck und schafft dadurch ein Mikroklima. Manchmal ist es in der Stadt bis zu funf Grad warmer als in der umliegenden Landschaft.
Die durchschnittliche Jahrestemperatur betragt 11 Grad Celsius und die mittlere jahrliche Niederschlagsmenge 557,5 Millimeter. In den Monaten Oktober, November und Dezember gibt es den meisten Niederschlag mit durchschnittlich 56 Millimeter und der wenigste im Februar bzw. Juli mit 36,3 bzw. 34,6 Millimeter im Durchschnitt. Schnee fallt eher selten, hochstens einige Zentimeter pro Jahr. Ereignisse wie die Schneekatastrophe von 1978 sind eine Seltenheit. Anfang Februar 2009 gab es das schlimmste Schneechaos seit 18 Jahren, als uber 15 Zentimeter Neuschnee fiel. Keine Seltenheit sind dagegen Inversionswetterlagen. Eine davon fuhrte im Dezember 1952 zu einer großen Smog-Katastrophe.
Modellrechnungen aus dem Jahr 2019 zu den Folgen des vom Menschen verursachten Klimawandels ergeben, dass London bereits bei Eintritt des als optimistisch eingeschatzten RCP4.5-Szenarios in eine andere Klimazone verlagert werden wurde; demnach ware das Klima in London bereits im Jahr 2050 dem bisherigen Klima im deutlich sudlicher gelegenen Barcelona ahnlicher als dem bisherigen in London.
Geschichte = Antike =
Die Existenz einer vorromischen Siedlung der Kelten im Bereich der City of London konnte nicht nachgewiesen werden. Wahrscheinlich im Jahr 47 n. Chr. grundeten die Romer die Stadt Londinium. Im Jahr 60 oder 61 n. Chr. zerstorten die Icener, angefuhrt von Konigin Boudicca, die Siedlung. Londinium wurde wieder aufgebaut und loste zu Beginn des 2. Jahrhunderts Camulodunum (Colchester) als Hauptstadt Britanniens ab. Ab 197 n. Chr. war Londinium Hauptstadt der Provinz Britannia superior, ab etwa 300 n. Chr. der Provinz Maxima Caesariensis. Rund um die Stadt wurden Wallanlagen errichtet.
Im Jahr 410 n. Chr. zogen die Romer ihre Legionen zuruck und die Bevolkerung war den Raubzugen germanischer Stamme zunehmend schutzlos ausgeliefert. Nach der Eroberung Englands durch die Angeln und Sachsen verfiel Londinium bis Ende des 5. Jahrhunderts zu einer unbewohnten Ansammlung von Ruinen.
= Mittelalter =
Die Angelsachsen mieden zunachst die unmittelbare Umgebung der zerstorten Stadt. Im spateren 7. Jahrhundert grundeten sie westlich davon die Siedlung Lundenwic, die zunachst zum Konigreich Mercia, spater zum Konigreich Essex gehorte. Unter der Fuhrung von Alfred dem Großen, dem Konig von Wessex, eroberten die Angelsachsen im Jahr 878 die Gegend an der Themsemundung von den Danen zuruck. In den folgenden Jahren wurde das Gebiet innerhalb der romischen Stadtmauer wieder besiedelt. Die neu entstandene Stadt hieß Lundenburgh.
Im Jahr 1066 eroberten die Normannen England und London loste Winchester als Hauptstadt ab. Der neue Herrscher Wilhelm I. bestatigte die besonderen Rechte Londons. Richard Lowenherz ernannte 1189 den ersten Lord Mayor (Burgermeister), der dann ab 1215 von den immer machtiger werdenden Kaufmannsgilden selbst gewahlt wurde. 1209 wurde die erste aus Stein errichtete Brucke, die London Bridge, fertiggestellt, die bis 1750 die einzige Brucke im heutigen Stadtzentrum war. Mehrere Male musste London Plunderungen durch aufstandische Bauernheere erdulden, so zum Beispiel im Jahr 1381 wahrend des Bauernaufstands von 1381 und 1450 wahrend der Jack-Cade-Rebellion.
Im Rosenkrieg, der 1485 mit der Kronung von Henry Tudor als Heinrich VII. zu Ende ging, hielt die Stadt zur Partei der Yorks. Die Reformation brach die Macht der Kirche, die bis dahin rund die Halfte des Bodens besaß; die Neuverteilung kirchlicher Guter ab 1535 leitete eine Ara des wirtschaftlichen Wachstums ein und London stieg zu einer fuhrenden Handelsstadt auf.
= Fruhe Neuzeit =
London musste in seiner wechselvollen Geschichte einige Ruckschlage hinnehmen: Nachdem im 16. Jahrhundert die Grundung der ersten großen Handelskompanien und der Royal Exchange den wirtschaftlichen Aufstieg vorangetrieben hatte, wurde die Stadt in den Jahren 1664 und 1665 von der „Großen Pest“ heimgesucht, die uber 70.000 Menschenleben forderte. Im September 1666 verwustete der „Große Brand von London“ weite Teile der Stadt. Etwa 13.000 Hauser und 89 Kirchen fielen, insbesondere weil damals noch viel Holz zum Bau verwendet wurde, dem Großbrand zum Opfer.
Die Stadt wurde nach dem verheerenden Brand neu aufgebaut. Plane fur eine grundlegende Neugestaltung scheiterten jedoch an den zu hohen Kosten, weshalb die neuen Hauser im Wesentlichen entlang der alten verwinkelten Straßen errichtet wurden. Verantwortlich fur den Wiederaufbau war der Architekt Christopher Wren. In der Folge zogen fast alle adeligen Bewohner endgultig aus der alten Innenstadt weg und ließen sich im aufstrebenden West End neue reprasentative Wohnhauser bauen. Ins East End abgedrangt wurden die armsten Bevolkerungsschichten, die im expandierenden Hafen ihr Auskommen finden mussten. Ende des 17. Jahrhunderts stieg London zum bedeutendsten Finanzzentrum der Welt auf.
Wahrend des 18. Jahrhunderts wuchs London uber die historischen Grenzen hinaus. Neue Brucken uber die Themse ermoglichten die Ausbreitung der Stadt nach Suden. Im Juni 1780 war London Schauplatz der Gordon Riots, als sich fanatische Protestanten gegen die Gleichberechtigung der Katholiken zur Wehr setzten.
= Moderne =
Im Laufe des 19. Jahrhunderts vervielfachte sich die Bevolkerungszahl, der Bau zahlreicher Vorort-Eisenbahnen und U-Bahnen ermoglichte eine rasche Ausbreitung des uberbauten Gebiets. London errang wahrend des viktorianischen Zeitalters große Bedeutung als Hauptstadt des Britischen Weltreichs. 1851 war London laut Volkszahlung mit 2.651.939 Einwohnern die großte Stadt Europas und das Zentrum der industrialisierten Welt. Hier fand im selben Jahr mit der „Great Exhibition“ die erste Weltausstellung statt.
Der ausufernde Ballungsraum war in zahlreiche Kirchgemeinden und Gerichtsbezirke zersplittert. Als erster Zweckverband wurde 1829 die Metropolitan Police gegrundet, die in der Folge in der ganzen Metropole die zuvor auf privater Basis betriebene Verbrechensbekampfung ubernahm. 1855 folgte mit dem Metropolitan Board of Works eine Vereinheitlichung im Bereich des Bauwesens. Das unter der Leitung von Joseph Bazalgette errichtete Londoner Abwassersystem gilt als das großte Bauprojekt des gesamten 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1889 wurde mit der County of London erstmals uberhaupt eine einheitliche Verwaltungsregion fur den gesamten Ballungsraum geschaffen.
Die erste Halfte des 20. Jahrhunderts war gepragt von der Ausdehnung des uberbauten Gebiets in einem vorher nie gekannten Ausmaß. Die neuen Vororte lagen fast ganzlich außerhalb der County of London: in ganz Middlesex, im Westen von Essex, im Norden von Surrey, im Nordwesten von Kent und im Suden von Hertfordshire.
Wahrend des Zweiten Weltkriegs, vor allem 1940/41, erlitt London insbesondere in den ostlichen Industriegebieten durch Angriffe der deutschen Luftwaffe schwere Zerstorungen. Diese Bombardements gingen mit dem Namen „The Blitz“ in die Geschichte der Stadt ein. Eine zweite Angriffswelle folgte 1944/45 im Rahmen des Unternehmens Steinbock sowie mit den V1- und V2-Raketen. Knapp 30.000 Einwohner starben, Hunderttausende wurden obdachlos.
Nach Kriegsende sank die Einwohnerzahl betrachtlich, da viele Londoner sich in neuen Satellitenstadten niederließen. 1965 wurde die Verwaltungsregion Greater London geschaffen, die auch die im 20. Jahrhundert entstandenen Vororte umfasst. Wahrenddessen bußte London seine Rolle als bedeutender Hafen ein, die Anlagen in den Docklands zerfielen.
Im Jahr 1981 begann ein umfangreiches Stadtentwicklungsprogramm, Zehntausende von Arbeitsplatzen der Dienstleistungsbranchen wurden von der City of London auf die Isle of Dogs verlagert oder neu geschaffen. In der Canary Wharf entstand ein ausgedehnter Hochhauskomplex. Die Einwohnerzahl stieg seit dem Tiefpunkt in den 1980er Jahren wieder an. In den folgenden Jahren festigte London seine Position als eine fur die globale Finanzindustrie bedeutendsten Stadte.
Bei islamistischen Terroranschlagen am 7. Juli 2005 wurden mehrere Dutzend Menschen getotet. Infolgedessen wurden die stadtischen Sicherheitsvorkehrungen ausgeweitet. 2011 stieg die Bevolkerung auf uber 8 Millionen an, sodass ein neuer Hochststand erreicht wurde. Im Jahr 2012 fanden die Olympischen Spiele in London statt.
Im Jahr 2020 war London die Stadt mit den weltweit drittmeisten Uberwachungskameras pro Kopf.
Bevolkerung = Religionen =
Die Volkszahlung 2011 ergab folgende Religionsverteilung:
48,4 Prozent Christen
12,4 Prozent Muslime
5 Prozent Hindus
1,8 Prozent Juden
1,5 Prozent Sikhs
1 Prozent Buddhisten
0,6 Prozent andere
20,7 Prozent der Londoner gehoren keiner Religion an. Keine Angaben machten 8,6 Prozent der Bevolkerung.
Die Mehrheit der Christen gehort der anglikanischen Kirche von England an. Hauptkirche und Sitz des Bischofs der Diozese London ist die St Paul’s Cathedral. Kirche des Konigshauses ist Westminster Abbey. Die katholische Hauptkirche von Wales und England und Sitz des Erzbischofs von Westminster ist die Westminster Cathedral. Eine weitere katholische Metropolitankirche ist die Kathedrale des Erzbistums Southwark, St George’s Cathedral, auf der Sudseite der Themse. Seit das englische Konigshaus den protestantischen Glauben (Anglikanische Kirche) angenommen hatte, gab es mehrere Jahrhunderte lang keine katholischen Gotteshauser in London. Erst im 19. Jahrhundert etablierten sich wieder katholische Gemeinden. Weitere christliche Religionsgemeinschaften sind die United Reformed Church, die Heilsarmee, die Quaker und die Orthodoxe Kirche. In London befindet sich das Hauptquartier der Missionsarztlichen Schwestern (engl.: Medical Mission Sisters (MMS)).
Die Stadt ist das Zentrum des Islam in Großbritannien. Etwa 38 Prozent der 2,7 Millionen britischen Muslime lebten laut Volkszahlung 2011 in London. Siedlungszentren sind uberwiegend die Stadtbezirke Tower Hamlets, Newham und Redbridge. Die Bait ul-Futuh ist die großte Moschee der Hauptstadt. Die East London Mosque wurde 1985 erbaut. Die angebliche langjahrige politische Tolerierung fundamentalistischer Stromungen und islamistischer Terrorplanungen hat der Stadt zeitweilig den Ruf eines „Londonistan“ eingetragen.
Von den 817.000 britischen Hindus lebte 2011 circa die Halfte in London. Siedlungszentren sind vor allem die Bezirke Brent und Harrow. Der Neasden Temple war bis zur Eroffnung des Shri Venkateswara (Balaji) Temple in Tividale (West Midlands) im August 2006 der großte Hindu-Tempel außerhalb Indiens.
Eine großere Anzahl von Sikhs lebt im Stadtteil Southall, gelegen im westlichen Stadtbezirk Ealing, sowie im Stadtteil Hounslow.
Etwa 56 Prozent der 267.000 britischen Juden lebten 2001 in der Hauptstadt. Siedlungszentren sind Stamford Hill im Bezirk Hackney und Golders Green im Bezirk Barnet.
= Bevolkerungsentwicklung =
Schon 140 n. Chr. lebten in London 30.000 Menschen, um 1300 waren es bereits 100.000 und 1801 uberschritt die Einwohnerzahl der Stadt die Grenze von einer Million. London war von 1825 bis 1925 die bevolkerungsreichste Stadt der Welt, bis sie von New York uberholt wurde. Bei der Volkszahlung im Jahre 2001 wurden 7.172.091 Einwohner gezahlt, 2011 dann 8.173.900.
Fur die Stadt werden aufgrund des anhaltenden Wachstums bis 2020 9.134.000 und bis 2040 10.487.000 Einwohner prognostiziert.
London ist traditionellerweise ein Anziehungspunkt fur verschiedene Nationalitaten, Kulturen und Religionen. Wahrend zu Beginn des 20. Jahrhunderts hauptsachlich Iren, Polen, Italiener und osteuropaische Juden nach London kamen, sind seit Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem Menschen aus den ehemaligen britischen Kolonien, wie beispielsweise Indien, Pakistan, Bangladesch, Nigeria oder der Karibik, eingewandert.
Bei der Volkszahlung 2011 stammten geburtig 6,6 Prozent der Bevolkerung vom indischen Subkontinent, 4,9 Prozent aus anderen Teilen Asiens. 7 Prozent stammten aus Afrika und 4,2 Prozent aus der Karibik. Insgesamt wurden 37 Prozent außerhalb des Vereinigten Konigreichs geboren. Die Anzahl der Leute in London, welche sich als „weiße Briten“ (englisch white british) bezeichneten, sank von 58 % im Jahr 2001 auf 45 % im Jahr 2011. Die Anzahl der allgemein weißen Bevolkerung 2011 in London lag bei 60 %. Ungefahr 20 % hatten asiatische Wurzeln und 13 % waren schwarz. Einen gemischten ethnischen Hintergrund hatten 5 %, die restlichen 2 % einen anderen.
Die Agglomeration von London erstreckt sich uber das eigentliche Stadtgebiet von Greater London hinaus und zahlt 8.278.251 Einwohner (2001), 2010 wurde die Bevolkerung der Greater London Urban Area auf 8.979.158 geschatzt. Dies sind mehr als in Schottland und Wales zusammen. London ist damit eine der großten Agglomerationen Europas.
Die folgende Ubersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1750 handelt es sich um Schatzungen, von 1801 bis 2001 um Volkszahlungsergebnisse und 2006 sowie 2019 um eine Berechnung.
= Entwicklung der Wohnsituation =
Die Wohn- und Gewerbegebiete aus dem 19. Jahrhundert weisen eine relativ hohe Wohndichte und einen uberproportionalen Anteil von Einwanderern sowie Menschen mit niedrigem Einkommen auf. Gering verdichtete Wohnformen, vor allem von Eigentumern bewohnte Einzel- und Doppelhauser, sind hier das dominierende Siedlungsbild.
Der fruhere Gegensatz in den Wohn- und Lebensbedingungen der Bevolkerung britischer Nationalitaten mit hohem Einkommen im Westend und den Einwanderern mit niederem Einkommen im East End wird von entgegengesetzten Entwicklungstendenzen uberlagert.
Die Immobilienpreise in Großbritannien haben sich von 2000 bis 2011 in etwa verdoppelt, London hat sich aber nach oben abgekoppelt. Der Durchschnittspreis der Londoner Hauser liegt beim Doppelten des britischen Durchschnitts. In zentral gelegenen, aber ruhigen Wohnstraßen besonders im Westen, in Kensington und Chelsea lagen die Preise 2011 im Durchschnitt bei fast 6 Millionen Euro und damit beim Dreißigfachen des britischen Durchschnitts. Im Premiumbereich werden 55 Prozent der Hauser von Auslandern erworben. Bis 2016 wurde eine weitere Steigerung um 20 Prozent prognostiziert.
Eine neue Entwicklung verbirgt sich hinter dem Begriff „poor doors“ (etwa: „Turen fur Arme“): Da bei Luxus-Neubauten immer auch zugleich Sozialwohnungen entstehen mussen, planen Architekten fur die sozial schwacheren Mieter einen eigenen Eingang und ein getrenntes Treppenhaus.
Zum Jahresende 2015 uberstieg erstmals in der modernen Geschichte der Stadt die Zahl der vermieteten Wohnungen die des selbstgenutzten Eigentums. Die Entwicklung beschleunigt sich weiter, fur 2025 werden uber 60 % Mieter erwartet. Grunde dafur werden in dem stetig wachsenden Immobilienmarkt sowie in der enorm steigenden Einwohnerzahl der letzten Jahre und Jahrzehnte gesehen.
Politik = Stadtregierung =
Im Jahre 1965 wurde die Verwaltungsregion Greater London, ein Zusammenschluss der alten County of London mit Middlesex sowie Teilen der Grafschaften Essex, Hertfordshire, Kent und Surrey, gegrundet. Greater London ist unterteilt in 32 London Boroughs und die City of London. Die Boroughs sind fur die lokale Selbstverwaltung und den Betrieb der meisten offentlichen Einrichtungen auf ihrem Gebiet zustandig. Die City of London wird historisch bedingt von der City of London Corporation verwaltet.
Die Greater London Authority (GLA) koordiniert die Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Boroughs, ist fur die strategische Planung zustandig und betreibt offentliche Einrichtungen, die in der ganzen Stadt tatig sind; dazu gehoren die London Fire Brigade, die Polizei und der offentliche Verkehr. Die GLA besteht aus dem Mayor of London (Oberburgermeister) und der London Assembly (Stadtparlament mit 25 Sitzen), die beide ihren Sitz im Crystal Bulding haben. Der aktuelle Mayor of London ist Sadiq Khan (Labour Party). Sein Vorganger war Boris Johnson, dessen Vorganger Ken Livingstone. Letzter trat im Jahre 2000 gegen den offiziellen Labour-Kandidaten an, wurde nach einem Nominierungsdebakel aus der Partei ausgeschlossen, 2004 unter Kritik wieder aufgenommen und haushoch fur eine zweite Amtszeit bestatigt, ehe er letztlich bei der Wahl 2008 Johnson unterlag. Der Lord Mayor of London, der Burgermeister der City of London, ubt lediglich zeremonielle Funktionen aus. Am 5. Mai 2016 wurde Sadiq Khan (Labour) zum neuen Mayor of London gewahlt. Damit ist erstmals ein Muslim oberster Reprasentant der britischen Hauptstadt.
Fruhere Verwaltungsbehorden waren die Metropolitan Board of Works (MBW) von 1855 bis 1889, der London County Council (LCC) von 1889 bis 1965 und der Greater London Council (GLC) von 1965 bis 1986. Der GLC wurde von Premierministerin Margaret Thatcher nach politischen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und dem GLC-Vorsitzenden Ken Livingstone aufgelost. 14 Jahre lang besaß London keine ubergeordnete Verwaltung; die meisten Aufgaben wurden an die Boroughs ubertragen, einzelne direkt an die Zentralregierung. Diese Maßnahme fuhrte zu großen Koordinationsproblemen. Auch nach der Einsetzung der GLA im Jahr 2000 besitzen die Boroughs eine großere Autonomie als noch zu Zeiten der GLC.
Die Polizeibehorde der 32 London Boroughs ist der Metropolitan Police Service, besser bekannt unter dem Namen Metropolitan Police oder kurz als „the Met“. Die City of London besitzt eine eigene Polizeibehorde, die City of London Police.
= Stadtepartnerschaften =
London unterhalt mit folgenden Stadten Partnerschaften:
Indien Mumbai, Indien
Algerien Algier, Algerien
Bulgarien Sofia, Bulgarien
Deutschland Berlin, Deutschland (seit 2000)
Russland Moskau, Russland (seit 2002)
Vereinigte Staaten New York City, Vereinigte Staaten (seit 2001)
Frankreich Paris, Frankreich (seit 2001)
Japan Prafektur Tokio, Japan (seit 2006)
China Volksrepublik Peking, Volksrepublik China (seit 2006)
Pakistan Karatschi, Pakistan (seit 2005)
Kroatien Zagreb, Kroatien (seit 2009)
= Stadtefreundschaft =
London hat im Dezember 2009 eine Freundschaft mit folgender Stadt geschlossen:
Vereinigte Staaten Los Angeles, Vereinigte Staaten
Kultur und Sehenswurdigkeiten = Theater =
London bietet eine breite Palette an kulturellen Veranstaltungen. Im Londoner Westend sind mehr als ein Dutzend Theater zu Hause. Gespielt wird alles von der Klassik bis zur Moderne. Dort wurden unter anderem Andrew Lloyd Webbers Musicals Cats und Das Phantom der Oper uraufgefuhrt.
Das Royal National Theatre der National Theatre Company in South Bank und das Barbican Centre der Royal Shakespeare Company gehoren zu den vielen Zentren des professionellen Theaterschauspiels. Das Royal Court Theatre, eine der traditionsreichsten Buhnen in London, wurde im Februar 2000 nach vier Jahren Umbauzeit wiedereroffnet.
Das Royal Opera House in Covent Garden ist das bedeutendste britische Opernhaus. Es ist die Heimat der Royal Opera und des Royal Ballet. Das erste Theatergebaude an dieser Stelle, das damalige Theatre Royal (siehe Patent Theatre) wurde von Edward Shepherd entworfen. Es wurde am 7. Dezember 1732 mit einer Auffuhrung von William Congreves The way of the world eroffnet. Obwohl schon ab 1735 auch Opern, zum Beispiel von Handel, aufgefuhrt wurden, blieb das Haus doch hauptsachlich ein Schauspielhaus.
Das Theatre Royal Drury Lane ist ein Theater im Londoner West End. Seit Mitte der 1980er-Jahre war es die Heimat großer Musicalproduktionen wie 42nd Street, Miss Saigon und My Fair Lady. Das London Palladium ist das wohl beruhmteste Londoner Theater. In den 1950er-Jahren wurde die in Großbritannien populare Varieteauffuhrung Sunday Night at the London Palladium live im Fernsehen ausgestrahlt.
Das Theatre Royal Haymarket (Haymarket Theatre) ist ein Theater am Londoner Haymarket. Es wurde 1720 von John Potter als Little Theatre gegrundet – in Anspielung auf das großere King’s Theatre (heute Her Majesty’s Theatre), das sich ebenfalls am Haymarket befand. Das Her Majesty’s Theatre wird hauptsachlich fur Musicalauffuhrungen genutzt. Seit dem 9. Oktober 1986 wird taglich Das Phantom der Oper aufgefuhrt.
Das St. Martin’s Theatre im West End ist seit 1974 Spielort fur das Stuck Die Mausefalle von Agatha Christie. Zuvor wurde das Stuck uber einundzwanzig Jahre im Ambassador Theatre gespielt, bevor es nahtlos an seine jetzige Spielstatte umzog. Durch die ununterbrochene Laufzeit seit 1952 ist Die Mausefalle das am langsten ununterbrochen aufgefuhrte Theaterstuck der Welt.
Das Globe Theatre am Sudufer der Themse ist eine Rekonstruktion des Freiluftschauspielhauses, das 1599 entworfen wurde. Fur dieses Theater schrieb William Shakespeare viele seiner großten Stucke. Die Spielzeit lauft von Mai bis September mit Produktionen von Shakespeare, seinen Zeitgenossen und von modernen Autoren. Ein weiteres bekanntes Theater ist das London Coliseum, in dem die English National Opera Company untergebracht ist.
Das London Dungeon ist kein Theater im herkommlichen Sinne. Das Gruselkabinett befindet sich seit Marz 2013 in der Westminster Bridge Road und prasentiert seinen Besuchern bekannte Ereignisse der Stadtgeschichte aus den vergangenen 2000 Jahren. Schauspieler fuhren durch die unterirdischen Gewolbe und lassen unter anderem die Große Pest von London, den Großen Brand von London, Jack the Ripper und Sweeney Todd wieder zum Leben erwachen.
= Musik =
London beheimatet funf professionelle Symphonieorchester. Diese sind das London Symphony Orchestra, das London Philharmonic Orchestra, das Royal Philharmonic Orchestra, das Philharmonia Orchestra und das BBC Symphony Orchestra. Der Hohepunkt eines jeden Jahres ist die von der BBC weltweit ubertragene „Last Night of the Proms“ aus der Royal Albert Hall.
Konzerthauser sind die Barbican Hall, die Royal Festival Hall und die Saint John’s Church in Westminster. Einer der beliebtesten Konzertsale ist die Wigmore Hall hinter der Oxford Street. Im Juni 2002 sind nach umfangreichen Renovierungsarbeiten Teile des 1988 im heutigen Finanzviertel entdeckten romischen Amphitheaters der Offentlichkeit zuganglich gemacht worden.
Am Trafalgar Square steht die Kirche St Martin-in-the-Fields. Sie wurde in den Jahren 1721 bis 1726 nach den Planen des Architekten James Gibbs gebaut. In der Kirche finden haufig Konzerte statt; zu den dort auftretenden Orchestern zahlen unter anderem die Academy of St Martin in the Fields und das Ensemble New Trinity Baroque aus den USA. In der Krypta wurde ein Cafe eingerichtet, in dem manchmal Jazz-Gruppen auftreten. Die Pfarrei beherbergt auch einen der beruhmtesten Kirchenchore der Welt.
In der City of Westminster befinden sich die Abbey Road Studios. Das Gebaude in der gleichnamigen Straße wurde 1929 von EMI gekauft, die Studios am 12. November 1931 eroffnet. In der Eroffnungszeremonie dirigierte Sir Edward Elgar das London Symphony Orchestra in Studio 1 und die historische Aufzeichnung von Land of Hope and Glory entstand. Die Beatles widmeten dem Musikaufnahmestudio das Album „Abbey Road“ (1969).
Pink Floyd, die in den 1970er-Jahren ihre Alben in den Studios einspielten, galt bald als die „Hausband“ des Studios. Unter anderem entstand hier „The Dark Side of the Moon“. Seit den 1980er-Jahren wird das Studio 1 auch als Aufnahmestudio fur orchestrale Filmmusiken benutzt. Der erste Film, der hier seine musikalische Untermalung erhielt, war Jager des verlorenen Schatzes mit der Musik von John Williams. Auch die Musik fur Der Herr der Ringe und die Harry-Potter-Filme wurden hier eingespielt.
The O₂ ist ein Unterhaltungskomplex, welcher fruher unter dem Namen Millennium Dome bekannt war. Zahlreiche bekannte internationale Kunstler hatten in der O2 Arena, der eigentlichen Konzerthalle, Auftritte, so etwa Britney Spears, Justin Timberlake und die Spice Girls.
= Museen =
Zu den großten und bekanntesten Museen weltweit zahlt das Britische Museum in Bloomsbury. In ihm befinden sich uber sechs Millionen Ausstellungsstucke. Beruhmt ist auch der Reading Room, ein kreisrunder Lesesaal, in dem schon Karl Marx und Mahatma Gandhi studierten. Rechtzeitig zum Millennium wurde der Queen Elizabeth II Great Court (Architekt: Norman Foster) fertiggestellt. Es ist der großte uberdachte Innenhof Europas.
Das Victoria and Albert Museum im Stadtteil South Kensington verfugt uber eine Sammlung von Kunstschatzen aus aller Welt, darunter Skulpturen, Kleidung und Kostume, kostbare Porzellan- und Glasgefaße, Mobelstucke und Musikinstrumente. Unweit davon befinden sich das Science Museum (Wissenschaftsmuseum) und das Natural History Museum (Naturhistorisches Museum).
Im Science Museum werden in den auf funf Ebenen angeordneten Galerien Ausstellungen aus den Bereichen Astronomie, Meteorologie, Biochemie, Elektronik, Navigation, Luftfahrt und Fotografie gezeigt. Zu den Klassikern unter den Ausstellungsstucken zahlen Teleskope von Galileo Galilei und ein Mikroskop von George Adams, die erste Dampflokomotive Puffing Billy, das erste Telefon von Alexander Graham Bell, ein Rolls-Royce aus dem Jahre 1909, ein Flugapparat von Otto Lilienthal sowie die Kommandokapsel des Raumschiffs Apollo 10.
Das Natural History Museum beinhaltet etwa 40 Millionen verschiedene Objekte aus der Flora und Fauna, darunter zahlreiche Dinosaurierskelette, Fossilien (unter ihnen ein Archaeopteryx), ein 30 Meter langes Skelett eines Blauwals oder das Modell des um 1690 ausgestorbenen Dodo-Vogels.
Die National Gallery am Trafalgar Square besitzt eine reichhaltige Gemaldesammlung, die von den fruhen Anfangen in Italien bis hin zu Werken von Cezanne und Seurat reicht. Nebenan befindet sich die National Portrait Gallery, in der uber 9.000 Portrats ausgestellt sind. Im Jahr 1897 wurde die Tate Gallery auf der Uferstraße zwischen Chelsea und Westminster eroffnet. Sie umfasst die großte Sammlung britischer Gemalde vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Gegenuber der St Paul’s Cathedral wurde im Juni 2000 die Tate Modern, ein Ableger der Tate Gallery, eroffnet, die von den beiden Basler Architekten Herzog & de Meuron errichtet wurde. Moderne Kunst zeigt die Saatchi Gallery nahe dem Sloane Square. Sie wurde 1985 von Charles Saatchi eroffnet.
Das Imperial War Museum (Reichskriegsmuseum) ist eines der bedeutendsten Kriegsmuseen weltweit. Es zeigt in erster Linie Exponate aus den beiden Weltkriegen, wie Kanonen und Fahrzeuge. Eine von vier Etagen widmet sich ausfuhrlich dem Dritten Reich. Kleinere Abteilungen gelten einigen anderen Kriegen des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise dem Vietnamkrieg und dem Falklandkrieg. Zusatzlich gibt es Wechselausstellungen.
Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett ist eine der großten Attraktionen der Hauptstadt. Ausgestellt werden lebensnah nachempfundene Wachsfiguren von historischen Gestalten und Personen der aktuellen Zeitgeschichte, wie Sportler, Filmstars, Modeschopfer und Models. Einen Platz in der Ausstellung von Madame Tussauds zu erhalten, zahlt heute zu den großten Ehren, die einem Menschen zuteilwerden kann. Die Grunderin des 1835 eroffneten Museums war Marie Tussaud (1761–1850).
Direkt in der City liegt das Museum of London, dessen Ausstellungen die Entwicklung Londons von seinen Anfangen bis zum heutigen Tag zeigt. Weitere bekannte Museen und Ausstellungen sind die Cabinet War Rooms, das London Transport Museum, Somerset House und das Sherlock Holmes Museum in der 221B Baker Street.
Seit 2001 ist der Eintritt in samtliche staatlichen Museen und Galerien kostenlos. Davon ausgenommen ist Madame Tussauds, da es sich um eine private Ausstellung handelt. Auch in den Cabinet War Rooms wird Eintritt verlangt. Den CWR ist das Churchill-Museum angeschlossen, fur dessen Besuch kein separater Eintritt verlangt wird.
= Bauwerke =
Straßen und Platze Der Trafalgar Square ist ein großer Platz im Zentrum der britischen Hauptstadt, als deren eigentliches Zentrum er vielen gilt. Er ist der großte Platz Londons und seit dem Mittelalter ein zentraler Treffpunkt. 2003 wurde er nach einem großeren Umbau wiedereroffnet. In der Mitte des Platzes steht ein Denkmal, das die Londoner als Dank fur Admiral Nelsons Sieg der Briten uber die Franzosen in der Schlacht von Trafalgar setzten. Die 1842 erbaute Nelson Column (deutsch: Nelsonsaule) mit dem Admiral auf der Spitze ist mit 55 Metern so hoch wie Nelsons Flaggschiff Victory vom Kiel bis zur Mastspitze.
Etwa zwei Drittel der Strecke von Trafalgar Square bis Parliament Square heißt Whitehall, das restliche Drittel heißt Parliament Street. Das Kenotaph, das wichtigste Kriegsdenkmal in Großbritannien, befindet sich in der Mitte der Straße und ist der Ort der jahrlichen Gedenkfeiern am Remembrance Day. Der zentrale Teil der Straße wird von militarischen Gebauden beherrscht, darunter das britische Verteidigungsministerium (englisch: Ministry of Defence) und die fruheren Hauptquartiere der British Army (heute Horse Guards) und der Royal Navy (Admiralty).
Die Downing Street ist die beruhmte Straße im Stadtzentrum, auf der sich seit mehr als zweihundert Jahren die offiziellen Amts- und Wohnsitze von zwei der wichtigsten britischen Regierungsmitglieder befinden – des Premierministers des Vereinigten Konigreichs und des Schatzkanzlers. Die beruhmteste Hausnummer in der Downing Street ist die Nr. 10. Hier befindet sich der offizielle Amts- und Wohnsitz des ersten Lords des Schatzamtes und somit des Premierministers, da beide Amter von ein und derselben Person bekleidet werden. Die Downing Street ist eine Seitenstraße der Whitehall im Zentrum von London, nur wenige Schritte vom Parlamentsgebaude entfernt und lauft in Richtung des Buckingham Palace.
Die Straße Piccadilly befindet sich in der Innenstadt und gehort zu den bekanntesten Straßen der Stadt. Sie erstreckt sich vom Piccadilly Circus im Nordosten bis zum Hyde Park Corner im Sudwesten. Sehenswert ist das vor allem auf Lebensmittel spezialisierte Geschaft Fortnum & Mason aus dem Jahre 1707, das Hotel Ritz mit seiner neoklassizistischen Architektur von 1906 und die Royal Academy of Arts aus dem Jahre 1868 im Burlington House. Der Piccadilly Circus ist vor allem durch seinen Eros-Brunnen und die riesige Leuchtreklamewand an einem gewundenen Eckhaus bekannt. Der Platz wurde 1819 erbaut, um die Regent Street mit der Einkaufsstraße Piccadilly zu verbinden. Aufgrund seiner zentralen Lage im Herzen des West Ends, seiner Nahe zu großen Einkaufs- und Vergnugungsmoglichkeiten sowie zu den großen Verkehrsadern, die sich hier kreuzen, ist er ein sehr stark besuchter Treffpunkt.
Weltliche Bauwerke Tower of London
Am nordlichen Ufer der Themse befindet sich der Tower von London, ein im Mittelalter errichteter Komplex aus mehreren befestigten Gebauden entlang des Flusses, der als Festung, Waffenkammer (stronghouse), koniglicher Palast und Gefangnis, insbesondere fur Gefangene der Oberklasse, diente. Außerdem waren dort die Munze, das Staatsarchiv, ein Waffenarsenal und ein Observatorium untergebracht.
Bis zu Jakob I. wohnten alle englischen Konige und Koniginnen zeitweise dort. Es war ublich, dass der Monarch vor dem Tag seiner Kronung im Tower ubernachtete und dann in feierlichem Zug durch die Stadt nach Westminster ritt. Heute werden im Tower die britischen Kronjuwelen aufbewahrt, ferner eine reichhaltige Waffensammlung.
1078 ordnete Wilhelm der Eroberer an, den White Tower hier zu bauen. Er sollte die Normannen vor den Menschen der City of London, aber auch London uberhaupt schutzen. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Festung standig erweitert.
Sie wird von einem breiten Wassergraben umgeben. Ein Außenwall schutzt die inneren Gebaude. In der Mitte des Gelandes steht der machtige „Weiße Turm“. Von weitem wirkt er quadratisch, aber drei der Ecken bilden keine rechten Winkel und alle vier Seiten sind verschieden lang.
Die UNESCO hat das Bauwerk 1988 zum Weltkulturerbe der Menschheit erklart.
Tower Bridge
Die Tower Bridge ist eine Straßenbrucke uber die Themse. Sie verbindet die City of London auf der Nordseite mit dem Stadtteil Southwark im gleichnamigen Stadtbezirk (London Borough of Southwark) auf der Sudseite. Es handelt sich hierbei um eine im neugotischen Stil errichtete Klappbrucke und um die am ostlichsten gelegene Themsebrucke; daruber fuhrt die Hauptstraße A100. Am Nordufer befinden sich der Tower of London (nach dem die Brucke benannt ist) und die St Katharine Docks, am Sudufer die City Hall. Die Brucke ist im Besitz von Bridge House Estates, einer Wohlfahrtsorganisation der City of London Corporation, die auch fur den Unterhalt zustandig ist. Gelegentlich wird die Tower Bridge falschlicherweise London Bridge genannt, diese jedoch ist die nachste Brucke stromaufwarts.
Die Tower Bridge ist 244 Meter lang, die Hohe der beiden Bruckenturme betragt 65 Meter. Die Fahrbahn zwischen den 61 Meter voneinander entfernten Turmen liegt neun Meter uber dem Fluss, die Fußgangerbrucke 43 Meter. Die beiden Baskulen konnen bis zu einem Winkel von 83 Grad hochgeklappt werden, um großeren Schiffen die Durchfahrt zu ermoglichen. Fertiggestellt wurde die Tower Bridge im Jahre 1894.
Palace of Westminster
Bekanntester Turm in London ist der 98 Meter hohe Elizabeth Tower, in dem sich Big Ben befindet, die mit 13 Tonnen schwerste der funf Glocken, welche den bekannten Westminsterschlag spielen. Der Uhrturm ist Teil des Palace of Westminster, einem monumentalen, im neugotischen Stil errichteten Gebaude, in dem das aus dem House of Commons und dem House of Lords bestehende britische Parlament tagt. Der Palast befindet sich in der City of Westminster am Parliament Square, in unmittelbarer Nahe zu Whitehall. Er wurde von der UNESCO 1987 zum Weltkulturerbe erklart.
Der alteste erhaltene Teil des Palastes ist die Westminster Hall aus dem Jahr 1097. Ursprunglich diente er als Residenz der englischen Konige, doch seit 1529 hat kein Monarch mehr hier gelebt. Vom ursprunglichen Gebaude ist nur wenig erhalten geblieben, da es im Jahr 1834 bei einem verheerenden Großbrand fast vollstandig zerstort wurde. Der fur den Wiederaufbau verantwortliche Architekt war Charles Barry.
Die wichtigsten Raume des Palastes sind die Ratssale des House of Commons und des House of Lords. Daneben gibt es rund 1.100 weitere Raume, darunter Sitzungszimmer, Bibliotheken, Lobbys, Speisesale, Bars und Sporthallen. Der Begriff Westminster ist im britischen Sprachgebrauch oft gleichbedeutend fur den Parlamentsbetrieb, ist also ein Metonym fur Parlament.
Buckingham Palace
Der Buckingham Palace im Stadtbezirk City of Westminster ist die offizielle Residenz des britischen Monarchen in London. Neben seiner Funktion als Wohnung von Konig Charles III. dient er auch als Austragungsort fur offizielle Anlasse des Staates. So werden in ihm auslandische Staatsoberhaupter bei ihrem Besuch in Großbritannien empfangen. Daneben ist er ein wichtiger Anziehungspunkt fur Touristen. Die ursprungliche georgianische Inneneinrichtung beinhaltete auf Vorschlag von Sir Charles Long die großzugige Verwendung von Marmormalerei („Scagliola“) in leuchtenden Farben sowie blaue und rosafarbene Lapislazuli.
Unter Konig Eduard VII. fand eine großangelegte Neuausstattung im Stil der Belle Epoque statt. Dabei wurde ein Farbschema aus einer Kombination von Cremetonen und Gold verwendet. Viele der kleineren Empfangsraume sind im chinesischen Regency-Architekturstil gehalten. Sie wurden mit Mobelstucken und Dekorationen ausgestattet, die nach dem Tod Konig Georgs IV. aus dem Royal Pavilion in Brighton sowie aus Carlton House herbeigeschafft wurden.
St James’s Palace
Der St James’s Palace befindet sich in der City of Westminster. Das Gebaude war bis 1837 die offizielle Londoner Residenz des jeweiligen britischen Monarchen. Er ist heute noch der offizielle Verwaltungssitz des koniglichen Hofes. Hier werden die Botschafter Großbritanniens akkreditiert. Auch die Proklamation eines neuen Monarchen findet hier statt. Das Gebaude wurde in der Zeit von 1532 bis 1540 durch Heinrich VIII. errichtet.
Heute wird der Palast vom Prince of Wales und anderen Verwandten des Konigs bewohnt. Der fruhere Sitz der britischen Koniginmutter, Clarence House, liegt innerhalb der Palastmauern. Das Anwesen wird nur durch den St. James’s Park vom Buckingham Palace getrennt. Ein interessantes Schauspiel ist die Wachablosung am Palast. In den Sommermonaten April bis Juli findet diese taglich, ansonsten alle zwei Tage statt.
Hampton Court Palace
Hampton Court Palace ist ein Schloss im Stadtbezirk Richmond upon Thames, unmittelbar neben dem Bushy Park. Gebaude und Parkanlagen wurden unter den verschiedenen Bewohnern verandert und erweitert, sodass heute Architekturelemente des Tudorstils und des englischen Barock erhalten sind. Das Schloss war Wohnsitz zahlreicher britischer Konige und Koniginnen.
Seit der Regierungszeit Georg III. bewohnen britische Monarchen andere Londoner Schlosser und Konigin Viktoria offnete 1838 den Palast fur die Offentlichkeit. Teilbereiche des Palastes wurden an verdiente Veteranen vermietet. 1986 brach in solch einer Wohnung ein Feuer aus, das den Palast teilweise zerstorte. Die Wiederaufbaumaßnahmen dauerten bis 1995 an.
Kensington Palace
Der Kensington Palace liegt im Stadtbezirk Kensington and Chelsea. Das von Sir Christopher Wren umgestaltete Schloss war fruher ein privater Landbesitz und wurde im Jahre 1689 von Mary II. und Wilhelm III. ausgebaut, um im Winter nicht die Feuchtigkeit der Whitehall ertragen zu mussen. In den nachsten 70 Jahren wurde der Palast immer wichtiger fur das gesellschaftliche und politische Leben des Landes.
Zu Lebenszeiten von George I. und George II. wurde das Anwesen verschwenderisch mit Prunkgemachern ausgestattet und erhielt eine herausragende Mobel- und Gemaldesammlung. Besonders bekannt sind vor allem die aufwendigen Deckenverzierungen von William Kent. Nachdem George II. im Jahre 1760 plotzlich starb, verlor das Gebaude immer mehr an Bedeutung. Bis heute lebte nie wieder ein regierender Monarch hier. Allerdings werden Teile des Palastes von Mitgliedern der Konigsfamilie bewohnt.
Wolkenkratzer
Seit der Jahrtausendwende erlebt London im Bereich der Wolkenkratzer einen Bauboom, der sich unter anderem in dem 310 Meter hohen The Shard, dem 278 Meter hohen 22 Bishopsgate und rund dreißig weiteren Wolkenkratzern mit einer Hohe von mehr als 150 Metern zeigt. The Shard war von Juli bis Oktober 2012 das hochste Gebaude Europas.
Ostlich des Stadtzentrums befinden sich beidseits der Themse die Docklands, zu denen auch Canary Wharf mit dem One Canada Square gehort. Mit einer Hohe von 236 Metern und 50 Stockwerken ist es nach The Shard das zweithochste bewohnbare Gebaude in Großbritannien. (Der Fernsehturm Emley Moor, das hochste freistehende Bauwerk Großbritanniens bei Huddersfield, ist 330 Meter hoch.) Das Gebaude wird flankiert von zwei weiteren Wolkenkratzern, die zehn Jahre spater entstanden sind und beide 200 Meter hoch sind: HSBC Tower (8 Canada Square) und Citigroup Centre (25 Canada Square). Weitere Wolkenkratzer befinden sich im Zentrum Londons, darunter der Tower 42 und 30 St Mary Axe.
London Eye
Am Sudufer der Themse, nahe der Westminster Bridge, steht das Riesenrad London Eye. Die Anlage, die mit einer Hohe von 135,36 Metern bis Anfang 2006 das hochste Riesenrad der Welt war, sollte bereits zum Jahreswechsel 2000 fertiggestellt werden. Aufgrund von Sicherheitsmangeln ist die Konstruktion aber erst einige Wochen spater in Betrieb genommen worden.
Das London Eye besitzt 32 fast vollstandig aus Glas geformte Kapseln, in denen jeweils bis zu 25 Personen Platz finden. Das Rad dreht sich mit einer Geschwindigkeit von 0,26 m/s und braucht fur eine Umdrehung 30 Minuten. Sind die Sichtverhaltnisse optimal, kann man vom Riesenrad aus bis zu 40 Kilometer weit sehen, unter anderem bis zum etwas außerhalb der Stadt gelegenen Schloss Windsor. Drehachse und Stutzen des Riesenrads wurden von der tschechischen Maschinenbaufirma Skoda geliefert, die Nabe (Pendelrollenlager) von FAG Kugelfischer aus Schweinfurt.
Battersea Power Station
Die Battersea Power Station ist ein ehemaliges Kohlekraftwerk im Stadtteil Wandsworth, das von 1933 bis 1983 in Betrieb war. Das markante Gebaude mit vier Schornsteinen befindet sich am Sudufer der Themse in der Nahe der Grosvenor Bridge.
Die Battersea Power Station ist auf Musikalben zahlreicher britischer Pop- und Rockbands abgebildet. Am bekanntesten ist die Abbildung auf dem Cover des 1977 erschienenen Albums Animals von Pink Floyd, das das Elektrizitatswerk mit einem großen Plastikschwein zwischen den Kaminen schwebend zeigt. Weitere Beispiele sind das Album Quadrophenia von The Who (1973), Adventures Beyond The Ultraworld von The Orb, Live Frogs: Set 2 von Les Claypool’s Frog Brigade (eine Coverversion von Animals) und Power Ballads von London Electricity.
Thames Barrier
Die Thames Barrier auf der Themse im Stadtteil Woolwich ist das großte bewegliche Flutschutzwehr der Welt. Die Planungen fur das Bauwerk begannen nach einer schweren Sturmflut im Jahre 1953, bei der 307 Menschen ums Leben kamen. 1974 wurde mit dem Bau begonnen. Die Einweihung erfolgte am 8. Mai 1984 durch Konigin Elisabeth II.
Das Sperrwerk besteht aus zehn schwenkbaren Toren. Um den Schiffsverkehr nicht zu behindern, sind sie im offenen Zustand auf den Boden der Themse abgesenkt. Schiffe mit bis zu 16 Metern Tiefgang konnen dann problemlos das Sperrwerk passieren. Die vier mittleren Tore, durch die der Schiffsverkehr lauft, sind je 60 Meter breit, 10,5 Meter hoch und wiegen je 1500 Tonnen. Das gesamte Bauwerk hat eine Lange von 523 Metern. Droht eine Sturmflut, konnen die Tore innerhalb von 15 Minuten geschlossen werden.
Millennium Bridge
Die Millennium Bridge bietet seit dem 10. Juni 2000 eine direkte Verbindung zwischen der St Paul’s Cathedral und der Tate Gallery of Modern Art.
Sakrale Bauwerke St Paul’s Cathedral
In der City of London, etwa 300 Meter nordlich der Themse, steht die von Christopher Wren entworfene St Paul’s Cathedral, die Hauptkirche der Anglikanischen Kirche in London.
Die Schnitzarbeiten des Chorgestuhls stammen von Grinling Gibbons, die schmiedeeisernen Chorschranken von Jean Tijou. Erst 1890 wurden die Glasmosaiken an der Decke uber dem Chor von William Richmond fertiggestellt. Der Hochaltar, nach Planen Wrens gebaut, ist das Werk von Dykes Bower und Godfrey Allan, die ihn 1958 vollendeten.
Die Kathedrale hat eine kreuzformige Grundflache, die in Ost-West-Richtung ausgerichtet ist. In der Mitte dieses Kreuzes befindet sich eine Kuppel, auf der sich eine 750 Tonnen schwere Laterne befindet, die in 111 Meter Hohe endet. Um diese gewaltige Last abzuleiten, befindet sich zwischen der außeren und der inneren Kuppel ein konischer Steinaufbau, der auf den massigen Vierungspfeilern ruht.
An der Kuppelbasis in etwa 30 Meter Hohe befindet sich in der Kirche ein ringformiger Umgang mit einem Durchmesser von 34 Meter, die sogenannte Whispering Gallery, die Flustergalerie. Der Schall wird hier durch die gebogenen Wande immer wieder zuruck in das Innere des Rings reflektiert, sodass ein geflustertes Wort auf die andere Seite der Kuppel getragen werden kann. Sie ist 365 Fuß hoch, einen Fuß fur jeden Tag im Jahr.
Steigt man bis zur Spitze hinauf, so gelangt man auf die Golden Gallery, mit der Moglichkeit einer Aussicht uber London. Unter der Kirche befindet sich eine weitlaufige Krypta, in der zahlreiche bedeutende Personlichkeiten der britischen Geschichte beigesetzt sind.
St Margaret’s Church
Die St Margaret’s Church ist eine anglikanische Kirche. Sie befindet sich im Stadtteil City of Westminster am Parliament Square, unmittelbar neben der Westminster Abbey und gegenuber dem Palace of Westminster. Es ist die Pfarreikirche des britischen Parlaments.
Sehenswert ist das ostliche Fenster mit flamischer Glasmalerei aus dem Jahr 1509, angefertigt in Erinnerung an die Verlobung von Arthur Tudor, dem alteren Bruder von Heinrich VIII., mit Katharina von Aragon. Andere Glasfenster erinnern an William Caxton, den ersten englischen Buchdrucker, Sir Walter Raleigh, der hier 1618 begraben wurde, und an den Poeten John Milton, ein Mitglied der Kirchgemeinde.
Zu den Personen, die in der Kirche ihre letzte Ruhestatte fanden, gehort der bohmische Kupferstecher Wenzel Hollar. Zahlreiche Beruhmtheiten wurden in St Margaret’s getraut, darunter Samuel Pepys und seine Frau sowie Winston Churchill und Clementine Hozier. Die Kirche wurde 1987 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklart.
Westminster Abbey
Westminster Abbey ist eine Kirche im Stadtteil City of Westminster. Traditionell werden hier die Konige von England gekront und beigesetzt. Die Stiftskirche des Kollegiatstifts St. Peter, Westminster gehort zur Kirche von England, ist aber aufgrund ihrer Funktion keiner Diozese zugehorig, sondern Eigenkirche (royal peculia) der britischen Monarchie.
Der Haupteingang befindet sich an der Westseite. Das Portal wird von Darstellungen der vier christlichen Tugenden Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friede sowie von Martyrern des 20. Jahrhunderts gerahmt. Im Mittelschiff liegt das Grab des Unbekannten Soldaten. In Erde von den belgischen Schlachtfeldern ruht dort ein unbekannter Soldat des Ersten Weltkriegs „inmitten der Konige, weil er seinem Gott und Vaterland gut diente“, wie eine Inschrift auf schwarzem Marmor verkundet. Der Gefallenen beider Weltkriege wird auch in der St.-Georgs-Kapelle gedacht.
Im linken (nordlichen) Querschiff sind zahlreiche beruhmte britische Staatsmanner bestattet, unter anderem William Pitt, Palmerston, Benjamin Disraeli und William Gladstone. Vom nordlichen Teil des Querschiffs betritt man die hinter dem Hochaltar gelegene „Kapelle Eduards des Bekenners“. In der Mitte befindet sich der Sarg des 1066 gestorbenen Konigs. Dahinter steht der Kronungsstuhl, in dem sich bis 1996 der Stein von Scone befand.
Auf diesem Stein wurden jahrhundertelang die schottischen Konige gekront, bis ihn Eduard I. im Jahr 1297 den Schotten abnahm. Zu Weihnachten 1950 wurde der Stein gestohlen und erst nach langem Suchen wiedergefunden. 1996 wurde er offiziell an Schottland zuruckgegeben und befindet sich seitdem im Schloss von Edinburgh. Der Stein gilt als ein Symbol fur die Einheit der Konigreiche England und Schottland.
In dieser Kapelle befinden sich außerdem die Sarge von Heinrich III., Eduard I., Eduard III., Richard II. und Heinrich V. Die UNESCO erklarte die Kirche 1987 zum Weltkulturerbe.
Westminster Cathedral
Die Westminster Cathedral ist die katholische Hauptkirche von Wales und England. Sie befindet sich in der City of Westminster. Erzbischof Nicholas Wiseman (1802–1865) begann mit den Spendensammlungen fur die neue Kathedrale. Er war der erste romisch-katholische Kardinal und Erzbischof in England nach der Reformation. Doch erst im Jahr 1895 konnte mit dem Bau begonnen werden. Eroffnet wurde die Kathedrale im Jahr 1903.
Man entschied sich beim Bau fur den byzantinischen Stil. Von außen besticht das Gebaude durch die aufwendig gestaltete Backsteinfassade, die hohe Kuppel und nicht zuletzt durch den fur diese Breiten vollig untypischen freistehenden Glockenturm. Im Inneren uberrascht sie durch die Raumwirkung und vor allem durch die Mosaiken an Decken und Wanden, die standig vervollstandigt werden. In der Holy Souls Chapel im Seitenschiff wurden mehr als 100 verschiedene Marmorsorten verarbeitet.
Neasden Temple
Der Neasden Temple (Shri Swaminarayan Mandir) im Stadtbezirk Brent ist nach dem Tempel in Tividale (West Midlands) der großte Hindu-Tempel außerhalb Indiens. Errichtet wurde er in den 1990er-Jahren von einer hinduistischen Sekte, der Swaminarayan-Mission aus Ahmedabad (Indien). Die Kuppeln und Turmchen bestehen aus Carrara-Marmor und bulgarischem Kalkstein; innen sind die Altare mit Blumenschmuck hinduistischer Gotter (Murtis) ausgestattet. Jeder der 26.300 bearbeiteten Steine besitzt ein anderes Motiv.
Innerhalb von drei Jahren wurde das Bauwerk zusammengefugt und am 20. August 1995 eroffnet. In der Konstruktion ist auf Eisentrager verzichtet worden, da Stahl nach hinduistischem Verstandnis Magnetwellen abstrahle, die die Meditationsruhe storen. Der Tempel beherbergt die standige Ausstellung „Understanding Hinduism“ (Begreifen des Hinduismus) und ein Kulturzentrum.
Aziziye-Moschee
Die Aziziye-Moschee im Stadtteil Stoke Newington wird hauptsachlich von der turkischen Gemeinde in Anspruch genommen.
= Parks =
London besitzt eine große Anzahl von luxuriosen Grunanlagen. Die Royal Parks waren einst den englischen beziehungsweise britischen Monarchen vorbehalten und wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in offentlich zugangliche Parkanlagen umgewandelt. Uber 200 Parkanlagen breiten sich auf rund 220 Quadratkilometern aus.
Greenwich Park ist einer dieser koniglichen Parks in London. Er liegt im Stadtbezirk Greenwich im Sudosten von London. Im Jahr 1997 wurden der Greenwich Park und die dazugehorigen Gebaude von der UNESCO zum Weltkulturerbe der Menschheit erklart. Am Nordrand des 73 Hektar großen Gelandes befinden sich das National Maritime Museum und das Queen’s House, ein ehemaliger koniglicher Palast. Auf einem Hugel in der Mitte des Parks befindet sich das Royal Greenwich Observatory. Der kleine Platz vor dem Observatorium wird durch eine Statue von General James Wolfe geschmuckt.
Der Hyde Park mit der Marble Arch und dem Speakers’ Corner, der an die Kensington Gardens angrenzt, ist lange Zeit als die „Lunge Londons“ bezeichnet worden. Von eleganten Wohngebauden umgeben, die fur den Prinzregenten entworfen wurden, ist der Regent’s Park im Norden des West Ends. Dieser Park beinhaltet auch den zoologischen Garten (London Zoo). Mitten im Stadtzentrum befinden sich der Green Park und der St. James’s Park.
Die Royal Botanic Gardens (Kew Gardens) sind eine ausgedehnte Parkanlage mit bedeutenden Gewachshausern. Sie sind zwischen Richmond upon Thames und Kew im Sudwesten Londons gelegen und zahlen zu den altesten botanischen Garten der Welt. Es sind dort Pflanzen und Gewachse zu sehen, die nirgendwo sonst in Europa oder gar auf der nordlichen Halbkugel anzutreffen sind. Neben den weltbekannten viktorianischen Gewachshausern finden sich in Kew Gardens auch großflachige Parkanlagen mit sehr alten Rhododendrongewachsen. Am 3. Juli 2003 wurden die Royal Botanic Gardens von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
Richmond Park ist mit einer Flache von zehn Quadratkilometern der großte der koniglichen Parks. Er liegt in den Stadtbezirken Richmond upon Thames und Kingston upon Thames im Sudwesten von London. Ursprunglich war Richmond Park das Hirschjagdgebiet von Konig Edward I., heute ist er der großte ummauerte Park Europas in einem stadtischen Gebiet. Hauptattraktionen sind eine Herde mit 650 Wapitis und Damhirschen, die freien Auslauf haben, sowie die Isabella Plantation, ein Gebiet mit zahlreichen seltenen Pflanzenarten.
Im Januar 2001 ist der Thames Barrier Park fertiggestellt worden; die Anlage entstand bei den Stauwerken der Themse (Thames Barrier) auf alten Dockanlagen. In den außeren Stadtbezirken von London befinden sich noch einige weitere ausgedehnte Grunflachen, wie Bushy Park und Hampstead Heath.
= Sport =
Londoner Fußballvereine gewannen 21-mal die Landesmeisterschaft und insgesamt 41-mal den FA Cup, den landesweiten Pokalwettbewerb; beide Male ist der FC Arsenal mit 13 Landesmeistertiteln bzw. 14 Pokalsiegen erfolgreichster Londoner Klub, gefolgt vom FC Chelsea mit 6 Meistertiteln und 8 Pokalsiegen. Beide Vereine gewannen zudem mehrfach im Europapokal. In London gibt es derzeit (Stand 2024/25) mindestens 17 professionelle Fußballclubs; die meisten sind nach dem Stadtteil benannt, in dem sie ihre Heimspiele austragen. In der Premier League sind in der Saison 2024/25 neben Arsenal und Chelsea der FC Brentford, Crystal Palace, Fulham, Tottenham Hotspur und West Ham United vertreten. In der Football League Championship, der zweithochsten Spielklasse, spielen Millwall und die Queens Park Rangers. Dazu gibt es noch die Football-League-Klubs Charlton Athletic, AFC Wimbledon, Leyton Orient und FC Bromley sowie in der funftklassigen National League den FC Barnet, Sutton United, Dagenham & Redbridge und den FC Wealdstone.
In London gibt es sechs professionelle Rugby-Union-Vereine, davon spielen funf in der hochsten Liga, der English Premiership: Wasps, Saracens, Harlequins, London Irish und die 2014 aufgestiegenen London Welsh. In London befindet sich mit dem Twickenham Stadium das großte reine Rugbystadion weltweit. Hier bestreitet die englische Rugby-Union-Nationalmannschaft traditionell ihre Heimspiele, so beim jahrlichen Six Nations. Das Stadion war auch Austragungsort des Finales bei der Weltmeisterschaft zwischen Australien und Neuseeland, das die „All Blacks“ mit 34:17 gewannen. Nahe Twickenham befindet sich The Stoop, Austragungsort des Finales der Frauen-Weltmeisterschaft 2010 zwischen England und Neuseeland, das die „Black Ferns“ mit 13:10 gewannen. Die London Scottish spielen in der 2. Liga, der RFU Championship. Der Rugby-League-Verein London Broncos spielt in der Super League.
In Wembley, einem Teil des Stadtbezirks Brent, befand sich das legendare Wembley-Stadion. Dort fanden die Endspiele der Fußball-Weltmeisterschaft 1966, der Fußball-Europameisterschaft 1996 und der Fußball-Europameisterschaft 2021 statt. Es wurde mit der offiziellen Eroffnung im Jahr 2007 durch einen Neubau ersetzt. Das Stadion ist jahrlich Austragungsort des Finales im FA Cup, dem großten rundenbasierten Pokalwettbewerb im englischen Fußball. Die Rugby League veranstaltet seit 1929 ihr Challenge Cup Finale im Stadion. Außer fur besondere Ereignisse war Wembley auch fur regelmaßige Veranstaltungen Austragungsort, wie zum Beispiel Windhundrennen oder Motorradrennen. Auch die Wrestling-Liga WWF (heute WWE) veranstaltete 1992 den Summerslam-Event im Wembley-Stadion.
Eine Attraktion ist das Boat Race zwischen den beiden renommiertesten englischen Universitaten, Oxford und Cambridge. Das beruhmte Ruderrennen ihrer beiden Achter findet jahrlich im Marz oder April auf der Themse statt.
Sehr beliebt in London ist Cricket. Der Middlesex County Cricket Club spielt in Lord’s, dem beruhmtesten Cricketstadion der Welt, welches dem Marylebone Cricket Club gehort. Der Surrey County Cricket Club im Stadion The Oval. Lord’s war bereits Austragungsort von funf Endspielen bei Cricket World Cups (1975, 1979, 1983, 1999 und 2019), mehr als jedes andere Cricketstadion. Am 14. Juli 2019 gewann England erstmals den Cricket World Cup nach Anzahl der Boundaries, nachdem das eigentliche Spiel und das notige Super Over gegen Neuseeland unentschieden endeten.
In Wimbledon findet jeweils im Juni das wichtigste der Grand-Slam-Tennisturniere statt. Im April wird jeweils der London-Marathon durchgefuhrt, einer der beliebtesten Marathonlaufe der Welt uberhaupt.
Der Start der Tour de France 2007 fand im Juli in London statt.
Mit der Vergabe der Olympischen Spiele 2012 an die britische Hauptstadt war London die erste Stadt, welche zum dritten Mal – nach 1908 und 1948 – die Spiele ausrichtete. Ebenso war London zweimal Gastgeber der Commonwealth Games: 1911 (inoffiziell als Inter-Empire Championships) und 1934 (British Empire Games).
= Regelmaßige Veranstaltungen =
Am 1. Januar findet die Neujahrsparade vom Parliament Square bis zum Berkeley Square statt. Das chinesische Neujahrsfest in Chinatown im Stadtteil Soho findet am zweiten Neumond nach der Wintersonnenwende, also zwischen dem 21. Januar und 21. Februar statt. Da der chinesische Kalender im Gegensatz zum gregorianischen Kalender astronomisch definiert ist, fallt das chinesische Neujahr jedes Jahr auf einen anderen Tag.
Mit einer Kranzniederlegung vor dem Banqueting House und einer Prozession ab St James’s Palace wird Ende Januar an die Hinrichtung Konig Karls I. am 30. Januar 1649 erinnert (Commemoration of King Charles I.).
Die Wachablosung (Changing of the Guard) der Queen’s Guard am Buckingham Palace gehort zu den altesten und bekanntesten Zeremonien und findet an fast allen Tagen des Jahres statt. Die Ablosung wird durch Militarkapellen begleitet, die traditionelle Marsche, Stucke beliebter Theatershows des West Ends und bekannte Popsongs spielen.
Bei der angeblich 700 Jahre alten Schlusselzeremonie (Ceremony of the Keys) werden die Haupttore des Tower of London jeden Abend vom Hauptwarter des Towers (Chief Yeoman Warder), eskortiert von Gardisten, verschlossen.
Salutschusse werden am 6. Februar (Tag der Thronbesteigung), am 21. April (Geburtstag der Konigin), am 2. Juni (Tag der Kronung) und am 10. Juni (Geburtstag des Duke of Edinburgh) abgefeuert. Fallen die Termine auf einen Sonntag, werden die Salutschusse am folgenden Tag abgefeuert. Um 12 Uhr werden 41 Schusse von der King’s Troop der Royal Horse Artillery im Hyde Park abgegeben und um 13 Uhr feuert die Ehrenartilleriekompanie (Honourable Artillery Company) 62 Schusse beim Tower of London ab. Salutschusse werden auch bei der Fahnenparade und der Parlamentseroffnung abgegeben.
Die Shakespeare’s Birthday Celebrations finden anlasslich von Shakespeares Geburtstag am 23. April jedes Jahr an dem Sonnabend, der diesem Tag am nachsten liegt, im Shakespeare’s Globe Theatre statt. Ein klassisches Musikfestival ist das Hampton Court Palace Music Festival Anfang bis Mitte Juni im Hampton Court Palace. Das City of London Festival wird mit Musik, Theater und Tanz von Ende Juni bis Mitte Juli an verschiedenen Orten veranstaltet. Promenadenkonzerte (The BBC Proms) gibt es von Juli bis September in der Royal Albert Hall.
Der Notting Hill Carnival, Europas großter Straßenkarneval mit karibischem Flair, findet Ende August in Notting Hill statt. Im September gibt es beim Thames Festival Kunst, Sport und zahlreiche Veranstaltungen auf dem Fluss zwischen der Waterloo- und der Blackfriars-Brucke. Jahrlich am ersten Sonntag im Oktober findet in der Kirche St Martin-in-the-Fields der Erntedankgottesdienst (Pearly Harvest Festival Service) der Londoner Markthandler (Cockney Pearly Kings and Queens) statt.
Die Trafalgar Day Parade anlasslich Admiral Horatio Nelsons Sieg in der Seeschlacht von Trafalgar kann man sich am 21. Oktober auf dem Trafalgar Square ansehen. Die Bonfire Night ist ein Feuerwerk zum Gedenken an die Aufdeckung der Schießpulververschworung (Gunpowder Plot) gegen das englische Parlament und die Verhaftung ihres Anfuhrers Guy Fawkes am 5. November 1605. Sie findet Sonnabendnacht um den 5. November in fast allen Teilen Londons statt.
= Einkaufen =
In der britischen Hauptstadt gibt es mehr als 30.000 Geschafte. Eine Besonderheit der Stadt ist, dass sich in einigen Vierteln bestimmte Branchen konzentrieren. So befinden sich in der King′s Road zahlreiche Modegeschafte, in der Old und New Bond Street viele Designerladen und Galerien. Saville Row und Jermyn Street sind fur seine Maßschneidereien bekannt, Oxford und Regent Street fur seine Bekleidungsgeschafte und großen Kaufhauser wie beispielsweise Hamleys oder Selfridges. HMV ist der einzig verbliebene CD-/Vinyl-Megastore uber drei Etagen an der Oxford Street.
In der Tottenham Court Road konzentrieren sich uberwiegend Elektronik- und Computergeschafte.
Die Charing Cross Road ist bekannt fur ihre Buchladen. Waterstones, einer der großten Buchladen der Welt, befindet sich am Piccadilly Circus. Zahlreiche Kleidungs- und Schuhgeschafte sind in der Neal Street zu finden. Covent Garden beheimatet viele Spezialgeschafte, Cafes und Stande, an denen Kunsthandwerk verkauft wird.
Große Einkaufspassagen sind der Leadenhall Market, die Burlington Arcade und die Piccadilly Arcade. Harrods ist eines der bekanntesten Kaufhauser der Stadt. Das Gebaude befindet sich an der Brompton Road im Stadtbezirk Knightsbridge im Sudwesten der Innenstadt. Beruhmt ist die im Erdgeschoss liegende Lebensmittelabteilung, mit ihren sogenannten „Food Halls“ und deren unterschiedlichen Ausstattungen im Jugendstil. Sehenswert ist die Beleuchtung der Fassade, die aus rund 100.000 Gluhlampen besteht. Am 30. Oktober 2008 eroffnete Europas großtes innerstadtisches Einkaufszentrum Westfield im Stadtteil Shepherd′s Bush. Seit 2011 ist Westfield Stratford direkt am Olympiapark Europas großtes Einkaufszentrum.
Beim Besuch der Markte Londons kann man die ortliche Kultur kennenlernen. Erwahnenswert sind der Wochenendmarkt in der Chalk Farm Road bei Camden Lock und der Antiquitaten- und Flohmarkt in der Portobello Road. Die Sonntagsmarkte in der Petticoat Lane und Brick Lane im East End bieten fast alles vom Obst und Gemuse bis zu Antiquitaten und Schmuck. Ein Blumenmarkt ist in der Columbia Road zu finden, Markte fur Antiquitaten und Kunsthandwerk befinden sich in Spitalfields und in der Camden Passage in Islington. Der Brixton Market an der Electric Avenue bietet eine große Auswahl an karibischem Essen.
Wirtschaft Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum London ein Bruttoinlandsprodukt von 836 Milliarden US-Dollar (KKB). In der Rangliste der leistungsstarksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 5. Platz hinter Tokio, New York City, Los Angeles und Seoul.
In London haben die produzierenden Industriezweige seit vielen Jahren an Bedeutung verloren. Gegenwartig sind lediglich noch zehn Prozent der Arbeitnehmer in diesem Sektor beschaftigt. Die Druck- und Verlagsindustrie schreibt noch die besten Umsatzzahlen. Sie stellt ein Viertel der genannten Arbeitsplatze und hat einen Anteil von einem Drittel an der gesamten Produktion in London.
Die High-Tech-Industrie, die auf elektronische und pharmazeutische Erzeugnisse spezialisiert ist, arbeitet erfolgreich mit hohen Umsatzen. Viele der Industriebetriebe, die sich uberwiegend in den außeren Stadtbezirken befinden, tendieren dazu, sich vollig aus London zuruckzuziehen. Im Sektor der Leichtindustrie sind Bekleidungswerke und Brauereien vertreten.
Uber den Hafen von London werden heute nur noch zehn Prozent des Binnen- und Außenhandels Großbritanniens abgewickelt. Seit 1971 ist die wirtschaftliche Wachstumsrate der Stadt mit 1,4 Prozent geringer als die des gesamten Landes in einer Hohe von 1,9 Prozent. Trotzdem weist London eine positive Handelsbilanz auf, was uberwiegend auf den Dienstleistungssektor – insbesondere die Bereiche Finanzdienstleistungen und Tourismus – zuruckzufuhren ist. Jahrlich besuchen etwa 16 Millionen Touristen die Stadt.
Die Hauptstadt besaß 2004 einen Anteil von 19 Prozent am nationalen Bruttoinlandsprodukt (BIP). Der Anteil der Metropolregion am britischen BIP lag 1999 bei 30 Prozent. Mehr als die Halfte der 100 großten Konzerne des Landes und uber 100 der 500 großten Unternehmen in Europa haben ihren Hauptsitz in London. Die Stadt ist zudem weiterhin der großte der drei globalen Finanzplatze.
Die Internationale Borse des Vereinigten Konigreichs und der Republik Irland befindet sich in der City of London. Die Aufhebung der Regulierungen, bekannt unter dem Begriff Big Bang, ermoglichte 1986 den Einstieg in die moderne Welt des elektronischen Finanzwesens. Die Warenborse London Metal Exchange ist die bedeutendste der Welt, die Wertpapierborse London Stock Exchange belegt weltweit den dritten Platz hinter der New York Stock Exchange und der Tokioter Borse. Die ICE Futures (fruher „International Petroleum Exchange“, IPE) ist Handelsplattform fur die in Europa fuhrende Olsorte Brent. Sie ist die großte Terminborse fur Optionen und Futures auf Erdol, Erdgas und Elektrizitat in Europa.
Der London Bullion Market ist der wichtigste außerborsliche Handelsplatz fur Gold und Silber. Hier wird seit 1919 der Weltmarktpreis fur Gold und seit 1897 der Weltmarktpreis fur Silber festgestellt. Die Preisbildung fur die Edelmetalle Platin und Palladium findet am London Platinum and Palladium Market (LPPM) statt. Der LPPM stellt wie der London Bullion Market die Ausnahme unter den Rohstoffmarkten dar: er ist keine Borse, sondern ein OTC-Markt.
Einige der wichtigsten Banken des Landes, wie beispielsweise die Bank of England, Barclays, die Barings Bank und HSBC, haben ihren Sitz in der Hauptstadt. Mehrere Hundert internationale Banken besitzen Filialen in London. Ein anderer Dienstleistungsbereich sind die Versicherungen, denen die Stadt seit uber 300 Jahren ihren Wohlstand verdankt. Lloyd’s of London ist die bekannteste Institution, nicht als Versicherungsgesellschaft im eigentlichen Sinn, sondern als eine Borse fur Versicherungsvertrage. Es ist eine Gemeinschaft von Versicherern, die fast jede Art von Versicherungen auf dem internationalen Markt ubernimmt.
Eine Besonderheit der Londoner Stromversorgung stellte der Einsatz der HGU Kingsnorth, der bis heute einzigen innerstadtischen Anlage zur Hochspannungs-Gleichstrom-Ubertragung dar. Diese 1975 in Betrieb genommene Anlage muss sich offenbar nicht sehr bewahrt haben und wurde inzwischen stillgelegt. Fur die Wasserversorgung der Stadt ist das privatisierte Unternehmen Thames Water zustandig. London verfugt uber ein rund 150 Jahre altes Wasserleitungsnetz, in welches von jeher nur sparlich investiert wurde. Rund 30 Prozent des Leitungswassers versickern taglich im Londoner Untergrund.
Medien = Rundfunk und Fernsehen =
London ist Hauptsitz bedeutender Rundfunk- und Fernsehanstalten wie (BBC, ITV, Channel 4, Five und Sky). Im Bush House zwischen Aldwych und Strand waren bis zum Jahr 2012 der BBC World Service und die Abteilung Neue Medien des BBCi beheimatet.
Die BBC wurde am 18. Oktober 1922 in London als unabhangiger Radiosender gegrundet. Die erste Ausstrahlung eines Programms fand am 14. November 1922 aus einem Londoner Studio statt. Die BBC betreibt mehrere Rundfunk- und Fernsehsender.
= Printmedien =
Alle wichtigen Tages- und Wochenzeitungen des Landes haben ihren Sitz in London. Die Fleet Street war seit dem 18. Jahrhundert traditionell die Heimat der britischen Presse.
Die Boulevardzeitungen The Sun, Daily Express, Daily Mail (konservativ) und Daily Mirror (Labour nahestehend) und ihre sonntaglich erscheinenden Schwesterzeitungen sind uberwiegend die großten Zeitungen der Stadt und erreichen teilweise Auflagen in Millionenhohe.
Der Daily Telegraph ist eine im Jahr 1855 gegrundete konservative Tageszeitung. Die Auflage betragt 905.000 Exemplare (Stand 2005). Die Zeitung fallt haufig durch eine außerst EU-kritische Berichterstattung auf. Schwesterzeitung ist das Wochenblatt The Sunday Telegraph. Ein weiterer Titel der Gruppe ist das Magazin The Spectator.
The Times ist eine konservative Tageszeitung mit einer Auflage von 693.000 Exemplaren. Außerhalb Großbritanniens wird sie manchmal als The London Times oder The Times of London bezeichnet, um sie von vielen anderen Zeitungen mit dem Namen Times zu unterscheiden. The Times wurde im Jahr 1785 als The Daily Universal Register gegrundet.
The Guardian ist eine 1821 gegrundete Tageszeitung mit einer Auflage von 380.000 Exemplaren. Sie wird zusammen mit dem Daily Telegraph und The Times zu den seriosen und angesehenen Zeitungen in Großbritannien gezahlt – den „Quality Papers“ –, in Abgrenzung zu den Boulevardblattern, den „Tabloids“. Ihre politische Gesamtausrichtung lasst sich als linksliberal beschreiben. Mit dem Observer erscheint im gleichen Verlagshaus auch eine bedeutende Sonntagszeitung, die die Ausrichtung ihrer Schwesterzeitung teilt.
The Independent ist eine der vier großen seriosen Tageszeitungen Großbritanniens. Die Sonntagsausgabe erscheint unter dem Namen The Independent on Sunday. Er ist ebenso wie The Guardian eher dem linken Meinungsspektrum zuzuordnen. The Independent wurde 1986 gegrundet und hat eine Auflage von 260.000 Exemplaren.
Die Financial Times ist eine der wichtigsten Wirtschaftszeitungen der Welt, von der bis zum 7. Dezember 2012 auch eine deutsche Ausgabe erschien.
= Nachrichtenagenturen =
Mit Reuters hat eine der weltweit großten Nachrichtenagenturen ihren Sitz in der Hauptstadt. Das Unternehmen wurde von Paul Julius Reuter zunachst 1850 in Aachen gegrundet, dort ubermittelte er per Brieftauben Aktiendaten zwischen Aachen und Brussel. Als zwischen den beiden Stadten eine Telegrafenverbindung eingerichtet wurde, stellte Reuters den „Flug-Dienst“ ein. Nach seiner Emigration nach London grundete er erneut ein Unternehmen um uber das Seekabel zwischen Dover und Calais Borsenkurse nach Paris zu ubermitteln. Heute erwirtschaftet das Unternehmen 90 Prozent seines Umsatzes mit Borsen- und Wirtschaftsinformationen.
Verkehrswesen London ist Dreh- und Angelpunkt des Straßen-, Schienen- und Luftverkehrs im Vereinigten Konigreich. Das Verkehrswesen fallt in die direkte Zustandigkeit des Mayor of London, des Oberburgermeisters, der die betrieblichen Belange an die Verkehrsgesellschaft Transport for London (TfL) delegiert. TfL ist fur den großten Teil des offentlichen Personennahverkehrs zustandig. Dazu gehoren U-Bahn, Busse, Straßenbahnen und Stadtbahnen, nicht jedoch der Eisenbahnvorortsverkehr und der Flugverkehr. Daruber hinaus reglementiert TfL das Taxiwesen und ist fur den Unterhalt der wichtigsten Hauptstraßen verantwortlich.
= Schienenverkehr =
Siehe auch: Eisenbahnknoten London
Herzstuck des offentlichen Personennahverkehrs ist die London Underground, die alteste U-Bahn der Welt, deren erstes Teilstuck im Jahr 1863 eroffnet wurde. Die U-Bahn wird jahrlich von mehr als einer Milliarde Fahrgasten genutzt. Sie erschließt die Innenstadt und die meisten Vororte nordlich der Themse. Der Suden der Stadt wird hingegen hauptsachlich von einem engmaschigen Netz von Vorortbahnen erschlossen.
Die fahrerlose Stadtbahn Docklands Light Railway erschließt das ehemalige Hafengelande der Docklands im Osten der Stadt und hat maßgeblich zur Regenerierung dieses Stadtteils beigetragen. Nachdem die erste Londoner Straßenbahn im Jahr 1952 eingestellt wurde, verkehrt seit 2000 im sudlichen Stadtteil Croydon die neue Straßenbahn Tramlink.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen durchqueren Vororts- und Intercity-Schnellzuge nicht das Stadtgebiet, sondern verkehren zu und ab 14 Hauptbahnhofen, die rund um die Innenstadt verteilt sind. Die Eurostar-Zuge verbinden London durch den Eurotunnel mit Paris und Brussel.
= Straßenverkehr =
Siehe auch: Liste der Buslinien in London
Wahrend im Stadtzentrum die meisten Fahrten mit offentlichen Verkehrsmitteln erfolgen, wird der Verkehr in den außeren Stadtteilen vom Auto dominiert. Die innere Ringstraße um das Stadtzentrum, die A406 (North Circular Road) und die A205 (South Circular) in den Vororten sowie die Autobahn M25 um das gesamte Ballungsgebiet herum verbinden zahlreiche radiale und viel befahrene Ausfallstraßen miteinander. Autobahnen fuhren nur in Ausnahmefallen bis in die inneren Stadtteile.
Im Jahr 2003 wurde eine Innenstadtmaut mit dem Namen London Congestion Charge eingefuhrt, um das Verkehrsaufkommen in der von engen und oft verstopften Straßen gepragten Innenstadt zu reduzieren. Die zu zahlende tagliche Gebuhr betrug bis zum 4. Juli 2005 5 Pfund, bis zum 3. Januar 2011 8 Pfund und wurde dann auf 10 Pfund pro Tag angehoben. Sogenannte Low-Traffic Neighbourhoods dienen seit 2020 in innenstadtischen Wohn- und Ausgehvierteln zur Reduzierung des Durchgangsverkehrs und der Erweiterung von Aufenthaltsflachen.
Das Netz der Londoner Busse erschließt samtliche Stadtteile mit einem dichten Liniennetz. Taglich werden auf uber 700 Linien rund sechs Millionen Fahrgaste befordert, etwa doppelt so viel wie mit der London Underground. Die roten Doppeldeckerbusse sind ebenso ein international bekanntes Symbol der Stadt wie die schwarzen Taxis.
= Luftverkehr =
London stellt mit Heathrow den meist frequentierten Flughafen Europas. Zusammen mit den weiteren funf internationalen Flughafen Gatwick, Luton, Stansted, City Airport und London Southend Airport bildet die Metropole ein wichtiges Zentrum des internationalen Luftverkehrs. Im Jahr 2006 wurden insgesamt 137 Millionen Passagiere auf Londoner Flughafen abgefertigt. Heathrow und City Airport befinden sich innerhalb von Greater London, die ubrigen außerhalb. Gatwick, Heathrow und Stansted werden durch Airport-Express-Zuge sowie Reisebusse verschiedener Anbieter mit der Innenstadt verbunden. Außerdem besitzt Heathrow als einziger der Londoner Flughafen einen U-Bahn-Anschluss. Der City Airport ist auch uber die Docklands Light Railway angebunden.
Daneben existieren in und um London mehrere Flugplatze fur privaten und kommerziellen Luftverkehr. Dies sind Northolt Aerodrome, Biggin Hill Airport und Farnborough Airfield.
Bildung = Universitaten =
Die Universitaten und Hochschulen in London konnen auf eine lange Geschichte zuruckblicken. London ist auch die Stadt mit den meisten Studenten. Die Universitaten Londons konnen in zwei Gruppen eingeteilt werden.
Die foderal organisierte University of London ist mit uber 100.000 Studenten eine der großten Universitaten Europas. Sie besteht aus uber 50 Colleges und Instituten, die uber einen hohen Grad an Autonomie verfugen. Die großten und prestigetrachtigsten Colleges sind University College London, King’s College, Queen Mary, die London School of Economics and Political Science und die London Business School. Kleinere Schulen und Institute sind auf bestimmte Wissensgebiete spezialisiert, wie die School of Oriental and African Studies, das Institute of Education und das Birkbeck College.
Daneben existieren weitere Universitaten, die nicht der University of London angeschlossen sind, wie das Imperial College und die City University im historischen Stadtzentrum. Einige Universitaten waren fruher Technische Hochschulen, bis sie im Jahr 1992 durch eine Gesetzesanderung den Status einer Universitat erhielten (so etwa die University of East London), wahrend andere lange vor der Grundung der University of London entstanden waren. Zu diesen zahlen die Middlesex University im Norden Londons, die Brunel University im Westen und die London South Bank University.
= Kunstschulen =
London ist das britische Zentrum der kunstlerischen Ausbildung. Die vier Konservatorien sind das Royal College of Music, die Royal Academy of Music, das Trinity College of Music und die Guildhall School of Music and Drama. Auf die Schauspielerei spezialisiert sind die Royal Academy of Dramatic Art (RADA) und die Central School of Speech and Drama.
Mit Kunst befassen sich das Central Saint Martins College of Art and Design, das Chelsea College of Art and Design und die Camberwell School of Art (alle Teil der University of the Arts London), daneben auch das Goldsmiths College und die Slade School of Fine Art (beide Bestandteil der University of London) sowie das Royal College of Art und die Wimbledon School of Art. Die ehemalige Hornsey School of Art ist heute ein Teil der Middlesex University.
= Medizin und Forschung =
Es gibt zahlreiche medizinische Fakultaten in London. Einige bestehen schon seit Jahrhunderten, darunter Queen Mary’s School of Medicine and Dentistry, Guy’s Hospital und St Thomas’ Hospital. Das Imperial College ist ein fuhrendes Zentrum der wissenschaftlichen Forschung und ist hinsichtlich seiner Reputation mit dem Massachusetts Institute of Technology zu vergleichen. Ebenfalls von Bedeutung ist die Royal Institution.
Personlichkeiten der Stadt London Siehe auch Literatur John Stow, Philip Temple: Survey of London. 47 Bde. London 1894–2008, ISBN 0-404-51670-X, ISBN 0-300-13937-3
Peter Ackroyd: London. Die Biographie. Deutsch von Holger Fließbach. Knaus, Munchen 2002, ISBN 3-8135-0290-2 (Originaltitel: London. The Biography. Random House, London 2000, ISBN 0-09-942258-1)
Owne Hatherley: Red Metropolis. Socialism and the Government of London. Repeater Books, London 2020, ISBN 978-1-91346-22-08.
Stephen Inwood: A History Of London. Papermac, London 2000, ISBN 0-333-67154-6
Norbert Kohl (Hrsg.): London. Eine europaische Metropole in Texten und Bildern. 2. Aufl. Insel, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-458-32022-9
Ingrid Nowel: London. Biographie einer Weltstadt. Architektur und Kunst, Geschichte und Literatur. DuMont-Reiseverlag, Ostfildern 2005, ISBN 3-7701-4382-5
Andreas Zimmer: Und wohin jetzt? London. 2. Auflage, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2012, ISBN 978-3-8482-0445-8
Ben Weinreb, Christopher Hibbert (Hrsg.): The London Encyclopaedia. Macmillian, London 1995, ISBN 0-333-57688-8.
Nick Yapp, Rupert Tenison: London – Geheimnisse & Glanz einer Weltstadt. Konemann Verlag, Koln 1999, ISBN 978-3-8290-0483-1
Weblinks Offizielle Website der Stadt London (englisch)
London. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Band 10, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig/Wien 1885–1892, S. 895.
Einzelnachweise
|
London (deutsche Aussprache [ˈlɔndɔn] oder gelegentlich [ˈlɔndən], englische Aussprache [ˈlʌndən]) ist zugleich die Hauptstadt des Vereinigten Konigreiches und Englands. Die Stadt liegt an der Themse im Sudosten Englands. Das heutige Verwaltungsgebiet mit 33 Stadtbezirken entstand im Jahr 1965 durch die Grundung von Greater London. Dort lebten 2022 rund 8,9 Millionen Menschen, davon rund 3,4 Millionen in den 13 Stadtbezirken Inner Londons. In der gesamten Metropolregion London lebten 2019 knapp 14,4 Millionen Einwohner.
Im Jahr 50 n. Chr. von den Romern als Londinium gegrundet, wurde die Stadt nach der normannischen Eroberung 1066 Hauptstadt und Konigssitz des Konigreiches England. Bereits im Mittelalter entwickelte sich die Stadt zu einem bedeutenden internationalen Handelsplatz. Unter der Herrschaft von Elisabeth I. stieg ihre Bedeutung als Hafenstadt der Nordsee. Durch den Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert wuchs auch die Bevolkerung Londons, sodass es um 1800 eine der ersten Stadte war, die mehr als eine Million Einwohner zahlte. Bis 1900 versechsfachte sich die Bevolkerung, und London war bis zum Jahr 1925 die großte Stadt der Welt. Es entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum der Technik und Industrie und wird bis heute zu den Weltstadten gerechnet.
London ist eines der bedeutendsten Kultur- und Handelszentren der Welt mit zahlreichen Universitaten, Hochschulen, Theatern und Museen. Mit einem BIP von 801,66 Mrd. € im Jahr 2017 ist London die großte stadtische Wirtschaft Europas. Die Stadt zahlt außerdem neben New York City, Singapur und Hongkong zu den großten Finanzplatzen der Welt. Historische Gebaude wie der Palace of Westminster oder Tower of London zahlen zum UNESCO-Weltkulturerbe. Mit jahrlich uber 19 Millionen Touristen aus dem Ausland war London im Jahr 2016 nach Bangkok weltweit die zweitmeistbesuchte Stadt vor Paris.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/London"
}
|
c-13920
|
Sankt Petersburg (russisch Санкт-Петербург Sankt-Peterburg; kurz auch St. Petersburg) ist mit 5,38 Millionen Einwohnern (Stand 2021) nach Moskau die zweitgroßte Stadt Russlands, die viertgroßte Europas und die nordlichste Millionenstadt der Erde. Sie war von 1712 bis 1918 Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches und bis 2021 Verwaltungszentrum der sie umgebenden Oblast Leningrad. Als Stadt mit Subjektstatus ist Sankt Petersburg ein Foderationssubjekt der Russischen Foderation.
Sankt Petersburg liegt im Nordwesten des Landes an der Mundung der Newa in die Newabucht am Ostende des Finnischen Meerbusens der Ostsee. Die Stadt wurde 1703 von Zar Peter dem Großen auf Sumpfgelande nahe dem Meer gegrundet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. 1712 wurde sie die Hauptstadt Russlands. 1918 verlegten die Bolschewiki ihre Regierung nach Moskau.
Die Stadt trug zunachst uber 200 Jahre lang den heutigen Namen, von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd (Петроград) sowie von 1924 bis 1991 Leningrad (Ленинград), womit Lenin, der Grunder der Sowjetunion, geehrt wurde. Der ortliche Spitzname ist Piter nach der ursprunglich dem Niederlandischen nachempfundenen Namensform Санкт-Питербурх Sankt-Piterburch (die vier Namen ).
Die Stadt ist ein europaweit wichtiges Kulturzentrum und beherbergt den wichtigsten russischen Ostseehafen. Die historische Innenstadt mit 2300 Palasten, Prunkbauten und Schlossern ist seit 1991 als Weltkulturerbe der UNESCO unter dem Sammelbegriff Historic Centre of Saint Petersburg and Related Groups of Monuments eingetragen.
Mit dem 462 Meter hohen Lachta-Zentrum befindet sich das hochste Gebaude Europas in der Stadt.
Seit dem 13. Mai 2003 ist die Hymne an die Große Stadt aus dem Ballett Der Eherne Reiter von Reinhold Gliere mit dem Text von Oleg Tschuprow offizielle Hymne der Stadt.
Name Peter der Große benannte die Stadt nach seinem Schutzheiligen, dem Apostel Simon Petrus.
Die Festung hieß kurzzeitig Sankt-Pieterburch, dann, wie die etwas spater entstehende Stadt, Sankt Petersburg, in der Literatur auch Paterburg oder Petropol von Petropolis genannt.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurde am 18. August 1914 der deutsche Name zu Petrograd – wortlich „Peterstadt“ – russifiziert. Nach Lenins Tod 1924 wurde die Stadt am 26. Januar 1924 in Leningrad umbenannt. Dies geschah auf Antrag der damaligen Petrograder Parteifuhrung und nach deren Angaben auf Wunsch der Arbeiter, die Lenins Tod betrauerten.
Der erneute Namenswechsel der Stadt wurde vom Zentralkomitee der KPdSU damit begrundet, dass in ihr die von Lenin gefuhrte Oktoberrevolution begonnen hatte. Auf der Ebene der Symbolpolitik gab es aber tiefere Grunde: Sankt Petersburg hatte fur das zaristische Russland gestanden und war die Vorzeigestadt des Zarenreichs gewesen. Schon damals war Sankt Petersburg die zweitgroßte Stadt des Landes; das bedeutete großes Prestige fur den neuen Namensgeber. Die Umbenennung in Leningrad symbolisierte den Wechsel des sozialen wie politischen Systems an einer hervorgehobenen Stelle und wurde als solcher wahrgenommen.
Im Volksmund wurde auch noch nach der Umbenennung (und wird noch) oft die Abkurzung Piter (russisch Питер) weiter als Spitzname fur die Stadt verwendet.
Die Dichterin Anna Achmatowa schrieb 1963 in ihrem Poem ohne Held, offenbar an ihren guten Freund und von ihr als „Zwilling“ bezeichneten Ossip Mandelstam gerichtet, der Opfer der stalinistischen Sauberungen wurde: „In Petersburg werden wir uns wiedersehen …“. Literatur-Nobelpreistrager Joseph Brodsky schrieb 1987 in Erinnerungen an Leningrad
Nach dem Zerfall der Sowjetunion fuhrte eine Volksabstimmung 1991 zu einer knappen Mehrheit zugunsten der Ruckbenennung in Sankt Petersburg. Der Erlass vom 6. September 1991 vollzog diesen Wahlerwillen. Gleichzeitig wurden viele Straßen, Brucken, Metro-Stationen und Parks wieder ruckbenannt. Im Zusammenhang mit historischen Ereignissen wird nach wie vor der zum Ereignis „passende“ Name genutzt, zum Beispiel „Heldenstadt Leningrad“ beim Gedenken an den Deutsch-Sowjetischen Krieg von 1941 bis 1945, der in Russland „Großer Vaterlandischer Krieg“ (Великая Отечественная война/Welikaja Otetschestwennaja woina) genannt wird.
Das umliegende Verwaltungsgebiet (foderative Einheit) Oblast Leningrad (russ. Leningradskaja Oblast) behielt nach einem Beschluss des dortigen Gebietssowjets den alten Namen.
Geographie = Lagebeschreibung und Wirkung der Ostseenahe =
Die ursprunglich in einem Sumpfgebiet gebaute Stadt liegt an der Mundung der Newa in den Finnischen Meerbusen. Das Stadtgebiet umfasst etwa 1.431 km² einschließlich der administrativ seit 1999 zu Sankt Petersburg gehorenden Vororte wie Peterhof und Puschkin, davon etwa 10 Prozent Wasser. Die Stadt besteht aus 42 Inseln. Ursprunglich waren es mehr gewesen, zahlreiche Kanale zwischen ihnen wurden jedoch mittlerweile zugeschuttet. Die Stadt selbst musste zwei bis vier Meter uber dem Meeresspiegel gebaut werden, da die Newa-Mundung sich ungefahr auf Meereshohe befindet. Daher stießen die ersten Bauarbeiter bereits in wenigen Zentimetern Tiefe auf Grundwasser. Die Ufer wurden schon fruh mit Granitblocken befestigt, was Sankt Petersburg nicht nur vor dem Wasser schutzt, sondern viel zum spezifischen Stadtbild beitragt. Alexander Puschkin beschrieb es als: „Die Stadt kleidet sich in Granit“.
Durch ihre Lage wenige Meter uber dem Meeresspiegel ist die Stadt stets durch Hochwasser bedroht. Das auf einer nahen Insel gelegene Kronstadt ist ein Referenzpunkt fur das Hohennull. Die Bezugsflache dieses Kronstadter Pegels liegt etwa 15 Zentimeter hoher als der in Deutschland gultige Amsterdamer Pegel und ist in großen Teilen Osteuropas und war in den Neuen Bundeslandern bis 1993 Referenzpunkt fur Hohenangaben. Die Stadt wurde oft ein Opfer von Uberschwemmungen. Die offizielle Statistik zahlt seit der Stadtgrundung 295 Uberschwemmungen (Stand: 2003), davon allein 44 seit 1980. Die schlimmsten Fluten waren 1824 (je nach Statistik 200 bis 500 Tote) und 1924.
= Klima =
Sankt Petersburg liegt auf demselben Breitengrad wie die Stadte Oslo und Stockholm, der Sudteil Alaskas und die Sudspitze Gronlands. Es hat ein typisches Meeresklima, das Wetter ist wechselhaft und kann innerhalb kurzer Zeit umschlagen. Die Sommer sind vergleichsweise mild mit Durchschnittstemperaturen von 19 bis 22 °C, im Winter sinken die Durchschnittstemperaturen allerdings auf −4 bis −8 °C. Die Maxima betragen +37 °C im Sommer (2010) und −42 °C im Winter (1941 und andere, allerdings unsichere Angaben). Aufgrund der Lage wird es zur Zeit der Sommersonnenwende nachts nicht vollstandig dunkel (sog. „Weiße Nachte“).
= Wirkung der Newa =
Die Newa ist mit 74 Kilometer Lange zwar ein sehr kurzer, aber einer der wasserreichsten Flusse Europas. Sie wird bis zu 600 Meter breit und hat eine starke Stromung. Rund 28 Kilometer seiner Strecke legt der Fluss innerhalb des Stadtgebiets von Sankt Petersburg zuruck.
Bis in das 19. Jahrhundert hinein genugte die Biologie der relativ flachen Bucht der Newa allein, um das Abwasser aus Sankt Petersburg zu reinigen. Noch immer machen die Abwasser der 5 Millionen Einwohner zahlenden Industriestadt erst 2 Prozent der Gesamtwassermenge der Newa aus. Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch brachen erste wassergebundene Epidemien wie Cholera und Typhus aus. Allein wahrend der Typhus-Epidemie von 1908 starben etwa 9000 Menschen. Durch eine Anderung der Einleitungsbedingungen konnte dem Problem ab 1910 vorerst abgeholfen werden. In den 1950er und 1960er Jahren sorgte der starke Anstieg der Bevolkerungszahlen erneut fur eine Eskalation des Abwasserproblems. Hinzu kam die starkere Verschmutzung der Newa an ihrem Flusslauf – sie entwassert den Ladogasee, an dessen Ufer zahlreiche Fabriken liegen und der selbst uber seine Zubringer das Schmutzwasser zahlreicher russischer Stadte aufnimmt. Eine Klaranlage wurde gebaut, allerdings erreichen 25 bis 30 Prozent der stadtischen Abwasser ungeklart den Fluss und die Bucht. In der Bucht leben vor allem Sußwasser- aber auch einige Brackwasserbewohner. Das biologische System ist hoch veranderlich und leidet unter menschlichen Eingriffen. Neben Moskau gilt Petersburg als eine der am starksten verschmutzten Stadte Russlands.
Seit 1978 ließ die sowjetische Regierung den Petersburger Damm quer durch die Newabucht bauen, um die Stadt vor Uberschwemmungen zu schutzen. Im Gegensatz zu den meisten Uberflutungen durch Flusse ruhren die Uberschwemmungen an der Newa namlich nicht daher, dass der Fluss von seinem Oberlauf mehr Wasser mitbringt, sondern daher, dass Westwind in den Finnischen Meerbusen druckt und den Abfluss des Wassers verhindert oder in extremen Fallen die Fließrichtung umkehrt.
Die Konstruktion wurde Ende der 1980er Jahre aus Grunden des Umweltschutzes vorlaufig abgebrochen: Der Damm storte die Zirkulation des Kustenwassers, große Teile des Wassers standen still, die Wasserqualitat sank erheblich. Befurchtungen gehen dahin, dass die gesamte Bucht sich in einen Sumpf verwandeln konnte. Der Damm wurde jedoch seit 1990 mit niederlandischer Hilfe und Unterstutzung der Europaischen Investitionsbank weiter gebaut und 2010 vollendet. Da die Umweltschutzargumente gegen den Damm aber weiterhin vorhanden sind, bleibt das Thema in der Stadt sehr umstritten.
Verwaltungsgliederung Sankt Petersburg gliedert sich in 18 „Rajon“ genannte Stadtbezirke, die ihrerseits in insgesamt 111 Verwaltungseinheiten der nachsten Ebene unterteilt sind (81 munizipale Bezirke, 9 Stadte, 21 Siedlungen).
Anmerkungen:
Geschichte = Vorgeschichte, Grundung und Aufbau der Stadt =
Die Stadtgrundung von Sankt Petersburg ist Gegenstand eines um Peter den Großen gewobenen politischen Mythos. Danach soll der Zar bereits bei deren erstem Anblick eine unbewohnte und ode Sumpflandschaft an der Newa-Mundung zum Standort seiner zukunftigen Hauptstadt, eines „Fensters nach Europa“ fur Russland, ausgewahlt haben. Die wortmachtigste und am haufigsten zitierte Ausformulierung dieses Mythos von der eine „Hauptstadt aus dem Nichts“ erschaffenden Willenskraft Peters des Großen findet sich in dem Gedicht Der eherne Reiter (1834) von Alexander Puschkin.
Tatsachlich war der Bereich der unteren Newa schon lange zuvor Teil einer Kulturlandschaft, des Ingermanlandes. Dort lebten seit dem 10. Jahrhundert Vertreter verschiedener finno-ugrischer Volker großtenteils von der Landwirtschaft. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts stritten Schweden und Nowgorod um das Gebiet. Eine als Landskrona uberlieferte schwedische Siedlung an diesem Ort wurde angeblich im Jahr 1301 zerstort. Danach einigte man sich darauf, die Region als Pufferzone zwischen den Einflussspharen zu betrachten, in der keine Festungen errichtet werden durften.
In den folgenden Jahrhunderten wurde das Gebiet zumindest als Landungsstelle fur die Newa befahrende Schiffe genutzt, moglicherweise aber als Handelsplatz. Letzteres gilt sicher fur die Zeit einer erneuten schwedischen Dominanz in der Region nach der Errichtung der Festung Nyenschanz im Jahr 1611 und der sie bald umgebenden Siedlung Nyen. Beide lagen auf dem Stadtgebiet des heutigen Sankt Petersburg am nordlichen (oder rechten) Ufer der Newa. Es gibt Hinweise auf großere stadtebauliche Ambitionen der Schweden fur Nyen im 17. Jahrhundert. Allerdings erlebten diese Vorhaben einen herben Ruckschlag, als Siedlung und Festung 1656 wahrend des Zweiten Nordischen Krieges von russischen Truppen zerstort wurden.
Dem Wiederaufbau folgte am 1. Mai 1703, wahrend des Großen Nordischen Krieges, die endgultige Eroberung von Nyenschanz durch die newaabwarts vorruckenden Russen unter Scheremetew. Nyen war zu diesem Zeitpunkt bereits von den Schweden selbst praventiv geraumt und teilweise zerstort worden. Das Ende von Nyen und Nyenschanz markierte gleichzeitig den Beginn der Stadtgeschichte von Sankt Petersburg. Offiziell verbindet man ihn mit dem Datum 16. Maijul. / 27. Mai 1703greg.. An diesem Tag wurde auf einer Nyenschanz gegenuber gelegenen Insel im Newa-Delta der Grundstein fur die nach dem Namenspatron des Zaren benannte Peter-und-Paul-Festung gelegt. In Urkunden und Karten aus der Grundungszeit finden sich neben der deutschen Bezeichnung Sankt Petersburg die niederlandisch klingenden Sankt Piter Bourgh oder St. Petersburch.
Es gibt keine Quellen, die glaubhaft belegen wurden, dass Peter der Große das Bollwerk von Beginn an als Keimzelle einer großeren Siedlung oder gar seiner zukunftigen Hauptstadt angesehen hatte. In erster Linie sollte die Peter-und-Paul-Festung zunachst wohl die Funktion von Nyenschanz ubernehmen, also die Newa-Mundung strategisch absichern, nur jetzt fur die Russen. Die außeren Bedingungen fur eine Stadtgrundung waren denkbar ungeeignet, soweit stimmt die Uberlieferung. Das Delta wurde haufig von Uberschwemmungen heimgesucht, ein Großteil der Gegend war nicht einmal fur die Landwirtschaft geeignet. Nur einige Fischer hielten sich hier in den Sommermonaten auf. Spater sollte es aufgrund der ungunstigen Lage immer wieder zu Uberschwemmungen kommen, bei denen zahlreiche Bewohner ihr Leben ließen.
Dass Peter der Große trotz der widrigen Gegebenheiten diesen Ort schließlich fur seine neue Hauptstadt auswahlte, ist auf die Tatsache zuruckzufuhren, dass hier vorzuglich ein Seehafen angelegt werden konnte und zudem der Anschluss an das binnenrussische Flusssystem gegeben war. Im Stadtwappen wird dies ausgedruckt, indem neben dem Zepter sowohl ein See- als auch ein Binnenanker dargestellt werden. Des Weiteren war die Nahe zu Westeuropa ausschlaggebend, ging es Peter dem Großen doch darum, Russland zu modernisieren.
Erst ab dem Jahr 1706 ist, durch die Zwangsrekrutierung zahlreicher Leibeigener fur die Bauarbeiten an der Newa-Mundung, ein wirklicher Plan fur die Errichtung einer neuen Stadt erkennbar. Sobald dieses Ziel vor Augen stand, wurde es mit großem Nachdruck und mit Rucksichtslosigkeit von Zar Peter in wenigen Jahren umgesetzt. Wahrend die Stadt in ihren Grundmauern erstand, verbot er die Errichtung von Steingebauden in ganz Russland außerhalb Sankt Petersburgs – jeder verfugbare Steinmetz sollte an der Erbauung der neuen russischen Hauptstadt arbeiten. Die Flucht von Arbeitern aus der Stadt und vom oft todlichen Bauprojekt wurde mit harten Strafen geahndet.
1706 wurden 30.000 Leibeigene im Zarentum Russlands zwangsrekrutiert, 1707 waren es 40.000. Ungefahr die Halfte von ihnen schaffte es, auf dem Weg nach Nordwesten zu fliehen. Schon wahrend der Errichtung der Stadt kamen vermutlich Zehntausende von Zwangsarbeitern und Leibeigenen ums Leben. Sie starben an Sumpffieber, Skorbut, an der Ruhr oder einfach an Hunger und Entkraftung. Große Teile der Stadt sind auf Pfahlen im Boden errichtet, aufgrund der großen Zahl von Toten beim Bau sprechen viele Leute davon, dass sie eigentlich auf Skeletten ruht. Zudem befand Russland sich noch bis 1721 im Krieg gegen Schweden, mehrere Gefechte fanden in der Nahe der gerade gegrundeten Zarenresidenz statt (vgl. Angriffe auf Sankt Petersburg). Erst nachdem die Schweden 1709 in der Schlacht bei Poltawa geschlagen worden waren, konnte die Stadt weitgehend als gesichert angesehen werden.
Da der russische Adel nicht bereit war, in die Stadt zu ziehen, beorderte Peter ihn nach Sankt Petersburg. Die Familien mussten auf eigene Kosten mit ihrem gesamten Haushalt in die Stadt ziehen, in Hauser, deren Stil und Große genau festgeschrieben waren. 1714 standen in Sankt Petersburg etwa 50.000 bewohnte Hauser, die Stadt war die erste in Russland, die eine offizielle Polizei sowie eine effektiv funktionierende Feuerwehr hatte. Die Innenstadt wurde abends und nachts kunstlich beleuchtet, die Bewohner dazu angehalten, Baume zu pflanzen.
= Sankt Petersburg wird Hauptstadt =
Das Bauprogramm des Zaren konnte nur mit drastischen Maßnahmen durchgefuhrt werden. Baumaterialien waren an der Newamundung ein seltenes Gut. So wurde 1710 ein Erlass herausgegeben, nach dem jeder Einwohner der Stadt jahrlich 100 Steine abliefern oder aber eine hohe Geldstrafe zahlen musste. Jedes Frachtschiff, das die Stadt anlief, musste einen bestimmten Prozentsatz der Ladung Steine anliefern. Ein Erlass von 1714 besagte, dass Steinbauten nur noch in Sankt Petersburg gebaut werden durften (dieser Erlass wurde erst 1741 wieder aufgehoben). Die drakonischen Erlasse des Zaren zeigten Erfolg: Schon 1712 erklarte Peter der Große Sankt Petersburg anstelle von Moskau zur Hauptstadt des Russischen Zarentums (ab 1721: des Russischen Kaiserreichs). Bis auf ein kleines Zwischenspiel in den Jahren 1728–1732, als der Hof wieder in Moskau residierte, blieb Petersburg bis 1918 Hauptstadt Russlands.
= Blutezeit =
Peter ließ Handwerker und Ingenieure aus ganz Europa, insbesondere aus Deutschland und den Niederlanden, kommen, welche die neue Hauptstadt von Anfang an zu einem Zentrum europaischer Technik und Wissenschaft machen sollten. Zu dieser Zeit wurde die deutschsprachige St. Petersburgische Zeitung gegrundet, die erste Zeitung der Stadt. Das Wachstum der Stadt hielt weiter an. So zahlte St. Petersburg 1725 bereits 70.000 Einwohner.
Nach dem Tod Peters des Großen 1725 legte sich der Enthusiasmus der russischen Herrscher fur das Fenster nach Europa. Im Jahr 1727 wurde Moskau fur kurze Zeit wieder Hauptstadt. Erst Kaiserin Anna kehrte nach Sankt Petersburg zuruck und machte es erneut zur Hauptstadt, ihre stadtplanerische Entscheidungen pragen die Stadt bis ins 21. Jahrhundert. Sie verlegte zum einen das Stadtzentrum von der sogenannten Petrograder Seite auf die Admiralitatsseite der Newa, zum anderen legte sie die wichtigsten Hauptstraßen, den Newski-Prospekt, die Gorochowaja Uliza und den Wosnessenski-Prospekt an. Trotzdem residierte sie weiterhin lieber und ofter in Moskau.
Kaiserin Elisabeth (1741–1762) und vor allem Katharina II. „die Große“ (1762–1796) offneten das Reich wieder verstarkt nach Westen, indem sie Kunstler und Architekten nach Sankt Petersburg holten. Durch das Einladungsmanifest Katharinas wurden unter anderem Religionsfreiheit und die Selbstverwaltung auf lokaler Ebene mit Deutsch als Sprache zugesichert, ferner eine finanzielle Starthilfe.
In der Zeit Elisabeths entstanden die meisten der Prunkbauten, die noch immer das Stadtbild bestimmen. Sie ließ unter anderem den Winterpalast und das Smolny-Kloster bauen. Den Katharinenpalast ließ sie zu Ehren ihrer Mutter umgestalten, der Stil Francesco Rastrellis begann die Stadt zu pragen.
Die nach Peter wahrscheinlich wichtigste Gestalt in der Geschichte der Stadt ist Katharina die Große, die 1762 den Thron bestieg. Sie sah sich – zumindest bis die Franzosische Revolution ausbrach – dem Geist der Aufklarung verpflichtet und setzte auf Bildung und Kunst. Katharina II. grundete in ihrer Zeit 25 akademische Einrichtungen sowie mit dem Smolny-Institut die erste staatliche russische Schule fur Madchen. Das Reiterstandbild Peters des Großen, ein Wahrzeichen der Stadt, stammt ebenfalls aus dieser Zeit.
Ende des 18. und in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts erlebte die Stadt eine Blutezeit, vorerst vor allem auf kulturellem, spater auf wissenschaftlich-technischem Gebiet. Die erste russische Ballettschule entstand 1738 in der Stadt. 1757 eroffnete die Akademie der Kunste, in der seitdem Maler, Bildhauer und Architekten ausgebildet werden. Theater und Museen, hohere Schulen und Bibliotheken entstanden: 1783 wurde das Mariinski-Theater eroffnet, in dem spater die großen Nationalopern Michail Glinkas aufgefuhrt werden sollten. 1810 wurde eine militarische Ingenieursschule gegrundet, das erste hohere Bildungsinstitut fur Ingenieure in Russland (nach mehreren Umbenennungen, so 1855 in Nikolajewski-Militarakademie fur Ingenieurswesen und zuletzt 1997, besteht sie nunmehr als Militarische ingenieurtechnische Universitat). 1819 wurde aus dem Padagogischen Institut die Petersburger Universitat. Bis auf wenige Ausnahmen waren vor allem deutsche Handwerker daran beteiligt, dass Sankt Petersburg Zentrum des russischen Klavierbaus wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gab es in Sankt Petersburg 60 Manufakturen und Fabriken fur Klavierbau, darunter Tischner, Diederichs, Muhlbach, Becker, Lichtenthal, Tresselt, Ihse oder Wirth.
Die Stadt hatte seit ihrer Grundung einen kosmopolitischen Charakter und zog zahlreiche Nationalitaten an. Im Jahr 1869 waren von den 667.200 Einwohnern 555.000 Russen (83,2 Prozent, ohne Ukrainer und Weißrussen). Die großte Minderheitengruppe bildeten die 45.600 Deutschen, die 6,8 Prozent der Stadtbevolkerung ausmachen. Die Absolutzahl der Deutschen blieb bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges (1910) etwa konstant. Ihr relativer Anteil an der Stadtbevolkerung nahm jedoch aufgrund des Bevolkerungswachstums auf 3,4 Prozent ab. Etwa 1–2 Prozent der Bevolkerung in diesem Zeitraum waren Juden.
Die Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland durch Kaiser Alexander II. sorgte ab 1861 dafur, dass zahlreiche Menschen in die Stadt einwanderten. Die Bevolkerungszahl schnellte innerhalb weniger Jahre empor.
Schriftsteller und Intellektuelle schlossen sich in literarischen Kreisen zusammen und gaben Worterbucher und Zeitschriften heraus. Der Brockhaus-Efron entstand 1890 als erste russische Enzyklopadie in Sankt Petersburg. Zu den wichtigsten Zeitschriften zahlen etwa der Polarstern von Rylejew und Bestuschew oder Puschkins Sowremennik (Der Zeitgenosse).
= Aufstande, Attentate, Revolutionen =
In der Soldaten- und Regierungsstadt Sankt Petersburg fanden bis 1918 alle wichtigen Revolten und Revolutionen der russischen Geschichte statt, der Dekabristenaufstand 1825 ebenso wie die Ereignisse, die langfristig zur Grundung der Sowjetunion fuhrten. In Sankt Petersburg nahmen Ende des 19. Jahrhunderts Unruhen und kleinere Aufstande zu. Die Stadt war Schauplatz zahlreicher Attentate gegen Mitglieder des Zarenhofs und der russischen Verwaltung; unter anderem wurde hier 1881 Alexander II. ermordet.
Revolutionare Parteien und Vereinigungen grundeten sich, die von der Polizei blutig verfolgt wurden. In Sankt Petersburg begann mit dem Petersburger Blutsonntag die Revolution von 1905 bis 1907. Als Folge wurde die zweite Duma der russischen Geschichte in der Stadt eroffnet, sie blieb politisch allerdings einflusslos. Die Februarrevolution 1917 fand vor allem in Sankt Petersburg statt. Das Startsignal fur die Oktoberrevolution 1917 gab ein Schuss des Kreuzers Aurora im Petrograder Hafen. Der nahe gelegene Hafen von Kronstadt bildete das Zentrum eines anarchistisch und ratekommunistisch inspirierten Matrosenaufstands gegen die Diktatur der Bolschewiki, der von Leo Trotzki blutig niedergeschlagen wurde. Lenin erklarte Moskau (wieder) zur sowjetischen und russischen Hauptstadt. Die Bevolkerungszahl der Stadt sank innerhalb weniger Jahre erheblich primar durch Burgerkrieg und die dadurch verursachte Hungersnot und sekundar durch den Statusverlust und den Umzug der gesamten Regierung und Verwaltung nach Moskau.
= Leningrad =
Nach dem Tode Lenins wurde die ehemalige Stadt der Zaren in Leningrad umbenannt. Dies beschloss der zweite Ratekongress der UdSSR am 26. Januar 1924 auf einen entsprechenden Wunsch des Petrograder Rates der Deputierten hin. Das Machtzentrum der Sowjetunion verschob sich dennoch immer mehr nach Moskau. Hatten die Funktionare der KPdSU in Leningrad anfangs noch gesamtstaatlichen Einfluss, anderte sich das mit dem Ausbau der personlichen Macht Stalins. 1934 wurde unter bis heute ungeklarten Umstanden der populare Leningrader Parteichef Sergei Kirow in seinem Buro ermordet, der ehemalige Vorsitzende des Petrograder Sowjets Grigori Sinowjew starb 1936 in Folge eines Schauprozesses und 1940 wurde Leo Trotzki, ebenfalls ehemaliger Vorsitzender des Petrograder Sowjets, im mexikanischen Exil umgebracht.
In der Stadtplanung zeigte sich die Auseinandersetzung zwischen Moskau und Leningrad. Der Generalplan von 1935 sah vor, das Stadtzentrum nach Suden zu verlegen, an den neu geschaffenen Moskauer Platz am Moskauer Prospekt. Zentrum Leningrads sollte das an dessen Ostseite gelegene Haus der Sowjets werden, ahnlich dem fur Moskau geplanten Palast der Sowjets. Der Moskauer Platz und seine Umgebung sind in der Form des typischen Zentrums der Sozialistischen Stadt angelegt, wie man es dutzendfach in der Sowjetunion finden konnte. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und materielle Schwierigkeiten bedeuteten schließlich das Aus fur die Verlegung des Zentrums. Der Platz ist der großte der Stadt. Beobachter werten den Leningrader Generalplan allgemein als Angriff auf das alte Petersburg. Durch die Verlegung des Zentrums sollte das alte Sankt Petersburg abgewertet werden. Form und Benennung („Moskauer Platz“, „Moskauer Prospekt“) der neuen Mitte sollten der Stadt ihre Besonderheit nehmen und sie zu einer unter vielen Sowjetstadten machen.
Leningrader Blockade
Wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 871 Tage lang von deutschen Truppen unter Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb (Oberbefehl bis 16. Januar 1942) belagert. In der Zeit der Belagerung vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, in der die Wehrmacht auf Befehl Hitlers keine Eroberung Leningrads versuchte, sondern stattdessen die Stadt systematisch von jeglicher Versorgung abschnitt, starben uber eine Million Zivilisten. Eine geheime Weisung des Oberkommandos der Wehrmacht vom 23. September 1941 lautete: „Der Fuhrer ist entschlossen, die Stadt Petersburg vom Erdboden verschwinden zu lassen. Es besteht nach der Niederwerfung Sowjetrusslands keinerlei Interesse am Fortbestand dieser Großsiedlung.“ Ab Fruhjahr 1942 wurde das historische Ingermanland, zu dem ein Großteil des Gebietes von Leningrad gehorte, dann als „deutsches Siedlungsgebiet“ in die Annexionsplane des Generalplans Ost mit einbezogen. Das implizierte den Genozid an den etwa drei Millionen Einwohnern Leningrads, die in dieser „Neuordnung des Ostraums“ keinen Platz mehr gehabt hatten.
In der Zeit der deutschen Belagerung Leningrads konnten Nahrungsmittel zur Versorgung der Millionenstadt nur unter großen Gefahren per Flugzeug oder im Winter uber den vereisten Ladogasee per Eisenbahn und Lkw („Straße des Lebens“) nach Leningrad gebracht werden. Die Route uber den See lag im Schussfeld der Wehrmacht, im Schnitt kam von drei gestarteten Lastkraftwagen einer in Leningrad an. Besonders dramatisch war die Situation im Jahr 1941. Durch Luftangriffe wurde ein Großteil der Nahrungsmittelvorrate vernichtet, zudem brach der Winter ungewohnlich fruh ein. Der Abwurf gefalschter Lebensmittelbezugsscheine aus Flugzeugen der Wehrmacht tat ein Ubriges. Die Rationen sanken im Oktober auf 400 Gramm Brot fur Arbeiter, 200 Gramm fur Kinder und Frauen. Am 20. November 1941 wurden sie auf 250 Gramm respektive 125 Gramm reduziert. Zudem herrschten Temperaturen von bis zu −40 Grad Celsius in einer Stadt, in der Heizmaterial außerst knapp war. Allein im Dezember 1941 starben rund 53.000 Menschen. Viele von ihnen fielen einfach vor Entkraftung auf der Straße um.
Wahrend der Belagerung wurden etwa 150.000 Artilleriegeschosse auf die Stadt abgeschossen, etwa 100.000 Fliegerbomben fielen. Bei Versuchen der Roten Armee, die Belagerung zu sprengen, kamen dazu etwa 500.000 sowjetische Soldaten ums Leben. Versuche 1941 und 1942 scheiterten, erst mit der Einnahme von Schlusselburg am 18. Januar 1943 gelang es, wieder eine Versorgungslinie in die Stadt zu etablieren. Die Offensive, welche die Stadt befreien sollte, begann am 14. Januar 1944 und konnte 13 Tage spater, am 27., zum Abschluss gebracht werden.
Bis in die 1980er Jahre wurde die Leningrader Blockade von einigen Historikern nicht in Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gesehen, sondern davon abgekoppelt, beispielsweise von Joachim Hoffmann, als volkerrechtlich „zu den gebrauchlichen und unbestrittenen Methoden der Kriegfuhrung“ gehorend gewertet. In der gegenwartigen historischen Forschung wird der Charakter der Blockade als „Genozid“ herausgearbeitet, der kein schicksalhaftes Ereignis im Rahmen einer angeblich volkerrechtskonformen Kriegfuhrung darstellte, sondern auf Basis einer „rassistisch motivierten Hungerpolitik“, verbunden mit selbstgeschaffenen Sachzwangen integraler Bestandteil des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion war. Die Historiker Jorg Ganzenmuller, Johannes Hurter und Adam Tooze zeigen in jungeren Studien, dass der Hungertod der Bewohner sowjetischer Stadte, mit Leningrad an herausragender Stelle, von der deutschen Kriegfuhrung gezielt einkalkuliert war, schon weil die fur ihre Versorgung notwendigen Nahrungsmittel fur die Wehrmacht und die Zivilbevolkerung in Deutschland und den besetzten westeuropaischen Landern eingeplant waren.
= Nach dem Zweiten Weltkrieg =
Die Behandlung Leningrads nach dem Großen Vaterlandischen Krieg, wie der Kampf gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg in Russland genannt wird, war widerspruchlich. Einerseits war die Stadt zu dem sowjetischen Symbol von Widerstandswillen und Leiden im Krieg geworden – andererseits tobten Machtkampfe zwischen Leningrader und Moskauer Funktionaren noch bis in die 1950er Jahre hinein. Der Wiederaufbau Leningrads wurde zu einer Prestigeangelegenheit der Sowjetunion. Innerhalb kurzester Zeit wurde eine Million Arbeiter in die Stadt gezogen, die sie wiederaufbauten – die Restaurierung der Kulturdenkmaler besaß dabei eine besondere Wertigkeit. 1945 erhielt die Stadt die Auszeichnung als Heldenstadt. In der Stadt bestanden die beiden Kriegsgefangenenlager 254 und 339 fur deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs. Schwer Erkrankte wurden im Kriegsgefangenenhospital 1261 versorgt.
Ebenfalls in den Nachkriegsjahren wurden zahlreiche neue Stadtteile gebaut – 1953 war das Jahr, in dem mehr neuer Wohnraum in der Stadt geschaffen wurde als je vorher oder nachher. Das 250-jahrige Stadtjubilaum wurde verschoben: 1953 war der Machtkampf noch im Gange und jede positive Erwahnung unerwunscht – zudem war im Marz Stalin gestorben; eine Feierlichkeit, egal aus welchem Anlass, erschien nicht angebracht. Die Feier wurde 1957 unter Stalins Nachfolger Chruschtschow nachgeholt – ohne die Erwahnung, dass es eigentlich der 254. Geburtstag war.
In den Folgejahren hielt die Stadt ihren Ruf als große Industriestadt und eines der wissenschaftlichen Zentren der Sowjetunion. Das politisch-kulturelle Zentrum Russlands und der Sowjetunion lag zu dieser Zeit aber klar in Moskau. Die Bevolkerung war durch die Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegszeit ebenfalls zu einem Großteil ausgetauscht worden – die Verbundenheit mit Petersburg in der Stadt wurde zunehmend schwacher.
1988 wurde bei einem Brand in der Bibliothek der Russischen Akademie der Wissenschaften ungefahr eine Million Bibliotheksbande ein Opfer der Flammen. 1989 wurde die Innenstadt unter Denkmalschutz gestellt. 1990 wurde die Innenstadt von Sankt Petersburg und die dazugehorigen Monumente zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt. 1991 zerfiel die Sowjetunion.
= Russische Foderation, Sankt Petersburg =
Nach einer Volksabstimmung, in der sich am 12. Juni 1991 54 Prozent der Bevolkerung fur die Ruckkehr zum historischen Namen ausgesprochen hatten, stimmte der Stadtrat am 25. Juni 1991 der Umbenennung mit großer Mehrheit zu und die Stadt erhielt am 6. September 1991 durch ein Dekret des Prasidiums des Obersten Sowjets der UdSSR wieder den Namen Sankt Petersburg. Die umgebende Verwaltungseinheit blieb aber weiterhin als Leningrader Gebiet (Oblast Leningrad) bestehen.
Wahrend der Verfassungskrise unter Prasident Boris Jelzin im Oktober 1993 sammelte der damalige Petersburger Oberburgermeister Anatoli Sobtschak die Anhanger Jelzins um sich, es kam zu einer großen Demonstration vor dem Winterpalast gegen den Kongress der Volksdeputierten.
1999 wurde die Flache der Stadt Sankt Petersburg durch die Satellitenstadte Kolpino, Puschkin, Lomonossow, Kronstadt, Peterhof sowie angrenzende Vororte erweitert. Diese ehemaligen Stadte sind jetzt Stadtbezirke von St. Petersburg und gehoren daher nicht mehr administrativ und territorial zur Oblast Leningrad.
Am 27. Mai 2003 beging die Stadt ihr 300-jahriges Jubilaum. Zur Vorbereitung wurden Teile der Altstadt und verschiedene Palaste saniert. Der russische Staat gab dafur ein bis zwei Milliarden Euro aus. An den Kosten der Nachbildung des im Zweiten Weltkrieg verschollenen Bernsteinzimmers beteiligte sich die deutsche Ruhrgas, eng verbunden mit dem staatlichen russischen Energiekonzern Gazprom, durch eine Spende von 3,5 Millionen Dollar. Am 31. Mai des Jahres weihten Russlands Prasident Wladimir Putin und Deutschlands Bundeskanzler Gerhard Schroder das rekonstruierte Bernsteinzimmer ein.
Im Juli 2006 trafen sich hier internationale Politiker auf einem G8-Gipfel und im September 2013 auf einem G20-Gipfel.
Durch einen Terroranschlag am 3. April 2017 wurden 14 Menschen in einem Zug in der Metro Sankt Petersburg getotet.
Seit 1. Oktober 2019 ist ein visumfreier Besuch von bis zu 8 Tagen per E-Visum, das kostenfrei erteilt wird, fur EU-Burger moglich.
Ab 2020 wurden die Gemeindeabgeordneten des Bezirks Smolninskoje an der Abhaltung ihrer Sitzungen im Bezirksgebaude gehindert; sie beschlossen daraufhin, jeweils auf dem Balkon zu tagen. Die beschlussfahigen Anwesenden der Sitzung vom 7. September 2022 besprachen neben dem Verkehrsproblem und dem Unterhalt von Fußgangerubergangen auch einen Antrag an die Russische Duma zur Anklage Wladimir Putins wegen Hochverrats aufgrund des gegen die Interessen Russlands begonnenen Uberfalls auf die Ukraine. Der Antrag wurde mit sieben Stimmen bei drei Enthaltungen angenommen. Rein rechtlich muss der Beschluss protokolliert werden und mussen die Briefe an die Dumamitglieder versendet werden, welche den Hinweis auf laut Artikel 176, Kapitel 22, Abschnitt IV der Geschaftsordnung der Staatsduma enthalten, wonach die Duma-Abgeordneten das Recht haben, einen Antrag auf gerichtliche Klarung zu stellen. Der Appell wurde speziell formuliert, um die Armee nicht zu „diskreditieren“. Sofort wurden Ermittlungen exakt deswegen aufgenommen.
Politik Sankt Petersburg ist Verwaltungssitz der Oblast Leningrad und des Foderationskreises Nordwestrussland. Innerhalb Russlands ist die Stadt jedoch – genauso wie Moskau – ein eigenstandiges Verwaltungssubjekt. Die Spitze der Exekutive bildet der fur vier Jahre direkt gewahlte Gouverneur der Stadt. Die Legislative, die gesetzgebende Versammlung, besteht aus 50 hauptamtlichen Mitgliedern, die ebenfalls fur vier Jahre gewahlt werden. Der Vorsitzende der Kammer ist protokollarisch mit dem Gouverneur gleichgestellt.
1996 war es Wladimir Jakowlew, der Anatoli Sobtschak abloste. Er prasentierte sich mehrfach als ideologisch ungebundener Pragmatiker. Sobtschak war hingegen ein strikter Reformer der nach-kommunistischen Ara, der aufgrund seines radikal marktwirtschaftlichen Kurses viele Animositaten in der Stadt erzeugte. Er verweigerte mehrmals die Entlassung Wladimir Putins aufgrund von Korruptionsvorwurfen, als dieser noch in der Stadtregierung arbeitete. Putin organisierte den erfolglosen 1996er-Wahlkampf von Sobtschak.
Jakowlew trat im Oktober 2003 nicht mehr zur Neuwahl an. Seine Nachfolgerin wurde nach diesen Wahlen Walentina Matwijenko. Sie war die Favoritin Putins und der russischen Regierung. Matwijenko trat im August 2011 zuruck und wurde im September als Vertreterin der Exekutive St. Petersburgs Vorsitzende des russischen Foderationsrats und somit zur Tragerin des dritthochsten Staatsamtes in Russland.
Gouverneur von 2011 bis 2018 war Georgi Poltawtschenko. Der Sohn eines aus Aserbaidschan nach Leningrad versetzen Marineoffiziers erhielt 1979–1980 eine Ausbildung an der KGB-Hochschule in Minsk. Danach ubernahm er verschiedene Aufgaben beim KGB und dessen Nachfolgedienst FSB. Von 1992 bis 1993 war er Leiter der Steuerfahndung und 1993 bis 1999 Chef der Steuerpolizei in Sankt Petersburg.
Prasident Wladimir Putin ernannte ihn 1999 zum Vertreter des russischen Prasidenten in der Oblast Leningrad, spater zum Generalgouverneur fur Zentralrussland. In dieser Funktion war er Mitglied im russischen Sicherheitsrat. Am 30. August 2011 wurde er zum amtierenden Gouverneur von Sankt Petersburg ernannt und dem Stadtparlament zur Wahl vorgeschlagen. Von 52 Abgeordneten der gesetzgebenden Versammlung stimmten 37 fur ihn. Am 31. August 2011 wurde er in sein Amt eingefuhrt. Seit dem 3. Oktober 2018 bis zur Gouverneurswahl im September 2019 war Alexander Beglow als kommissarischer Gouverneur eingesetzt, am 8. September 2019 wurde er mit fast zwei Dritteln der Stimmen ins Amt gewahlt.
International und in Deutschland bekannt wurde die Stadt politisch unter anderem durch den Petersburger Dialog – die regelmaßigen deutsch-russischen Gesprache in der Stadt – und das Petersburger Komitee der Soldatenmutter, das regelmaßig gegen den Krieg in Tschetschenien und die Gewalt in der Armee protestiert. Im Juli 2006 fand in Sankt Petersburg außerdem der jahrliche G8-Gipfel statt, da Russland 2006 turnusgemaß den Vorsitz in der Gruppe der Acht ubernommen hatte. 2013 fand am 5. und 6. September das Treffen der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenlander in Sankt Petersburg statt.
Wappen Bevolkerung = Uberblick =
Laut dem Ergebnis der letzten Volkszahlung vom 14. Oktober 2010 hatte Sankt Petersburg 4.879.566 Einwohner. Das sind etwa drei Prozent der gesamten Einwohnerzahl Russlands. Im September 2012 wurde der funfmillionste Einwohner registriert. Der durchschnittliche Bruttomonatslohn betrug 2009 nach offiziellen Angaben 23.000 Rubel.
Sankt Petersburg war seit seiner Grundung eine Stadt großer sozialer Gegensatze. Seit der Perestroika und dem Untergang der Sowjetunion brechen diese wieder verscharft auf.
In Sankt Petersburg galt eine Zuzugsperre – Wohnrecht in der Stadt erhielt nur, wer Wohnung und Arbeit nachweisen konnte oder mit einem Einwohner verheiratet war. Die Internationale Arbeitsorganisation schatzte, dass in der Stadt im Jahr 2000 etwa 16.000 Straßenkinder lebten. Zu Beginn der COVID im Fruhjahr 2020 gab es laut offizieller Statistik 8.000 Obdachlose.
Die ehemals multikulturell gepragte Stadt ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts uberwiegend, laut offizieller Statistik zu 89,1 %, von ethnischen Russen bewohnt. Dazu kommen 2,1 % Juden, 1,9 % Ukrainer, 1,9 % Belarussen sowie kleinere Gruppen von Tataren, Kaukasiern, Usbeken, Wepsen und Finnen.
Trotz der zu Sowjetzeiten staatlich verordneten Religionsfeindschaft sind 2004 nach Schatzungen nur noch 10 Prozent der Bevolkerung Atheisten. Der Großteil ist russisch-orthodox, wobei es in der Stadt aber heftige Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern gibt. Die Kirchengebaude gehoren uberwiegend dem russischen Staat. Peter der Große untersagte den Bau von Zwiebelturmen. Dies ist der Grund, dass sich in der ganzen Stadt nur ein einziger solcher Turm aus der Vorkriegszeit findet – er befindet sich an der Stelle, wo Zar Alexander II. ermordet und die Auferstehungskirche fur ihn errichtet wurde. Die zahlreichen Kirchenneubauten in den Randgebieten werden hingegen meist im traditionellen russischen Stil errichtet. 1914 wurde von der tatarischen Gemeinde am Nordufer der Newa die weithin sichtbare Petersburger Moschee errichtet. In der Nahe des Mariinski-Theaters befindet sich die im orientalischen Stil erbaute und 2003 komplett renovierte Große Choral-Synagoge. Sie ist das drittgroßte judische Gotteshaus in Europa.
→ Liste von Kirchen in Sankt Petersburg: Ubersicht aller Kirchengebaude
= Bevolkerungsentwicklung =
Die folgende Ubersicht zeigt die Einwohnerzahlen nach dem jeweiligen Gebietsstand. Bis 1944 handelt es sich meist um Schatzungen, von 1959 bis 2010 um Volkszahlungsergebnisse. In der Tabelle wird die Anzahl der Einwohner in der Stadt selbst ohne die Einwohner im Vorortgurtel aufgefuhrt, außerdem fur die Volkszahlungen 1959 bis 1989 fur die Stadt mit Vororten (mit den im Umland liegenden Stadten und Siedlungen stadtischen Typs, die dem Leningrader Stadtsowjet unterstellt waren).
Alle diese Stadte und Siedlungen im Umland wurden 1998 eingemeindet, so dass die Angabe der Einwohner mit Vororten ab 2002 entfallt. Die Einwohnerzahl von 2002 ist daher mit der Zahl von 1989 mit Vororten zu vergleichen. Abzuglich der Einwohnerzahl der 1998 eingemeindeten Ortschaften hatte Sankt Petersburg im Jahr 2002 in den Grenzen von 1989 4.137.563 Einwohner. Die Einwohnerzahl der eigentlichen Stadt war also zwischen 1989 und 2002 um 322.861 zuruckgegangen, die der ehemaligen Vororte um 39.426. In den Folgejahren stieg die Einwohnerzahl wieder stark an. Nach Berechnungen wurde die 5-Millionen-Grenze am 22. September 2012 uberschritten. Das Wachstum ist allerdings ausschließlich auf Zuwanderung zuruckzufuhren, da die Sterberate in den vorhergehenden Jahren weiterhin die Geburtenrate ubertraf.
Architektur = Architekturgeschichtliche Ubersicht =
Die ab 1703 erbaute Stadt ist vergleichsweise jung. Ihre Baukunst wurde starker von westeuropaischen Vorbildern beeinflusst als etwa Moskau. Markanter als bei jeder anderen Metropole ist das Stadtbild Petersburgs gepragt vom Klassizismus in all seinen Spielarten, auch wenn Historismus und Jugendstil die Gebrauchsarchitektur an den Straßenzugen der Innenstadt mitbestimmen.
Die barocken Bauten der Zeit Peters des Großen († 1725) sind von zunachst hollandischen, dann auch franzosischen Vorbildern bestimmt. Eine fast klassizistische Strenge und Zuruckhaltung im Dekorativen sind Merkmale des ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Die Gliederung der Palastfassaden verwendet eher flache Pilaster als plastische Saulen. Trezzini ist der maßgebende Architekt dieser Ara. In seine Zeit fallt die Anlage der drei breiten, vom Turm der Admiralitat ausgehenden Hauptachsen („Prospekte“).
Unter Elisabeth (1741–1761) verlagerte sich die Bautatigkeit auf das Sudufer der Newa. Ein 1730 vorgelegter Generalbebauungsplan legte detaillierte Bestimmungen fur Traufhohen und Fluchtlinien fest. In Elisabeths Regierungszeit werden die Gestaltungsmittel abwechslungsreicher. Die Fassaden bekommen kraftige Farben und schmuckhafte Dekorationselemente. Dichte Saulenreihen erzeugen Licht- und Schattenwirkungen und die Grundrisse werden komplexer. Die „altrussischen“ Stilelemente beschranken sich auf die Verwendung des Funf-Kuppel-Motivs. Baumeister dieser Zeit waren vor allem Bartolomeo Francesco Rastrelli, daneben auch Sawwa Tschewakinski.
Den Stil der Regierungszeit Katharinas der Großen (1762–1796) konnte man als „spatbarocken Klassizismus“ charakterisieren. Auf Bauplastik wird eher verzichtet und die Farbigkeit reduziert sich auf gelb-graue Tone. Ein Lieblingsmotiv reprasentativer Bauten ist fortan der Portikus. Iwan Starow und Giacomo Quarenghi waren die fuhrenden Architekten.
Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzt in St. Petersburg der „Alexandrinische Klassizismus“ ein. Dem westeuropaischen Empire entsprechend verbindet er mit dem treu nachgeahmten Vorbild der „dorischen“ Antike strenge Geradlinigkeit und monumentale Wirkung.
Im ersten Drittel des Jahrhunderts entstanden bedeutende Platzanlagen, wie die vor der Kasaner Kathedrale, auf der Wassiljewski-Insel (Strelka), dem Marsfeld (1817–1829), und der Schlossplatz sowie das gesamte Viertel um das Alexandrinski-Theater bekamen ihre heutige Gestalt. Bedeutendster Architekt dieser Zeit war der Italiener Carlo Rossi. Eine mit russischen Elementen angereicherte Variante dieses Stils wurde vor allem von Wassili Stassow gepflegt.
Der Historismus in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts, mit seinen Bahnhofs-, Theater-, Warenhaus-, Bank-, Zirkus- und Wohnhausfassaden folgt weitgehend westeuropaischen, aus Renaissance und Barock abgeleiteten Stilmustern. Eine so weitgehende Rezeption „altrussischer“ Architekturmotive wie bei der Auferstehungskirche bleibt seltene Ausnahme im Stadtbild.
Die Bauten des „Jugendstils“ zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, in Russland auch als Petersburger Moderne bezeichnet, sind noch eher von einer Anhaufung klassizistischer oder eklektizistischer Versatzstucke gepragt, als von der floralen Eleganz des Art Nouveau in Wien oder den romanischen Landern. Den Ubergang zu der formal strengen, ornamentlosen Architektur der Moderne markiert die Deutsche Botschaft von Peter Behrens.
Nach der Oktoberrevolution wurden einige konstruktivistische Projekte verwirklicht.
In der totalitaren Ara ab 1932 war eine gemaßigte Form des Stalinschen Monumentalstils („Sozialistischer Klassizismus“) zu beobachten. Zentrum der Bautatigkeit war das neugeplante Stadtviertel um das Haus der Sowjets am Moskauer Platz.
Die Belagerung Leningrads durch die deutsche Wehrmacht, deren erklartes Ziel es war, die Stadt „vom Erdboden verschwinden zu lassen“, brachte schwerste Zerstorungen uber die Stadt. Bei der enormen Kraftanstrengung des Wiederaufbaus nach 1945 wurde großer Wert auf die Wiederherstellung des alten Stadtbildes und die Restaurierung der denkmalwerten Architektursubstanz gelegt. Markante Beispiele fur Neubauten sind die Stationen der Metro sowie der Moskowski-Prospekt. In den 1960er und 1970er Jahren erweiterte sich die Stadt durch riesige, planvoll angelegte Neubausiedlungen.
= Bauzustand und Denkmalschutz =
Sankt Petersburg war lange Zeit der Sitz der russischen Zaren. In der Stadt entfalteten sie die ganze Pracht ihres immensen Reichtums, von der zahlreiche Zeugnisse zu sehen sind. Im Hinblick auf die 300-Jahr-Feier im Jahr 2003 wurden zahlreiche der Sehenswurdigkeiten aufwendig restauriert. Die Stadt besitzt neben den 250 Museen ungefahr 4000 geschutzte Kultur-, Geschichts- oder Baudenkmaler. 15 % der Gebaude in Sankt Petersburg – insgesamt rund 2400 Gebaude – wurden von der UNESCO als Denkmaler der Architekturgeschichte eingestuft. Damit wird Petersburg in dieser Hinsicht nur noch von Venedig ubertroffen. Die Stadt hat allerdings Probleme, die Kosten zur Erhaltung dieser Baudenkmaler aufzubringen. Neben deren großen Anzahl gibt es auch andere Probleme: Teilweise sind die Hauser nach der Sowjetzeit in einem desastrosen Bauzustand und mussten dementsprechend aufwendig restauriert werden. Zum anderen sorgen die Industrie und der starke innerstadtische Verkehr fur eine starke Luftverschmutzung, die insbesondere den Fassaden zusetzt. Obwohl seit 2004 Anstrengungen unternommen werden, zumindest einige Baudenkmaler zu privatisieren, gehoren immer noch etwa 80 % aller Petersburger Immobilien dem russischen Staat.
= Stadtrundgang =
Markantestes Gebaude der Skyline und hochstes Gebaude der Stadt ist der Fernsehturm Sankt Petersburg. Er befindet sich außerhalb der Innenstadt, die vor allem auf der Admiralitatsseite der Newa liegt. Mit dem 462 Meter hohen Lachta-Zentrum entstand der derzeit hochste Wolkenkratzer Europas; er wurde Mitte 2018 fertiggestellt.
Historisches Stadtzentrum, UNESCO-Weltkulturerbe
Der mit hunderten historischer Palaste und Gebaude ausgestattete Newski-Prospekt, die Haupteinkaufsstraße der Stadt, erstreckt sich uber vier Kilometer von der Admiralitat beziehungsweise der Eremitage nebst Dworzowaja Ploschtschad – dem Parade- und Schlossplatz – bis zum Alexander-Newski-Kloster, der sogenannten Lawra. Letzteres ist nach dem russischen Volkshelden Alexander Newski, der Prospekt allerdings nach der Newa benannt. Zu den am Newski-Prospekt gelegenen Sehenswurdigkeiten zahlen die Kasaner Kathedrale und das Kaufhaus Gostiny Dwor. Der Prospekt stoßt auf den Ploschtschad Wosstanija, den „Platz des Aufstandes“. Der Newski-Prospekt fuhrt uber folgende Kanale:
Der Fluss Moika in Hohe der Kasaner Kathedrale. Auf der linken Seite, also gegenuber der Kathedrale, sieht man am Ufer der Moika in geringer Entfernung die Christi-Auferstehungskirche, die der Basilius-Kathedrale am Roten Platz in Moskau außerlich sehr ahnelt. Am Ufer der Moika befindet sich ebenfalls das Haus, in dem der russische Nationaldichter Puschkin lebte und nach einer schweren Verwundung in einem Duell mit dem Franzosen Georges-Charles de Heeckeren d’Anthes verstarb. Die Moika wird unter anderem von der Grunen Brucke (in Hohe des Newski-Prospekts) und der Pozelujew-Brucke uberspannt.
Der Gribojedow-Kanal. Links (ostlich) davon erstreckt sich das Marsfeld, der Sommergarten mit dem Sommerpalast und der Wladimir-Palast.
Der Fluss Fontanka, den die Anitschkow-Brucke uberspannt. Hier befindet sich der gleichnamige Palast, in dem der bekannte Schachtrainer Zak unter anderem mit dem spateren Weltmeister Spasski arbeitete.
Unweit des Newski-Prospekts stehen weitere Sehenswurdigkeiten:
das Russische Museum, das sich neben der Auferstehungskirche befindet, die Isaakskathedrale, die sich unmittelbar an die Admiralitat und die Eremitage anschließt, die Peter-und-Paul-Festung – eine befestigte Insel, Haseninsel genannt, auf der dem Prospekt gegenuberliegenden Seite der Newa, mit zugehoriger Kathedrale, in der Zaren und Großfursten beerdigt wurden. In einer Kapelle der Kathedrale wurde der letzte Zar Nikolaus II. mit seiner Familie und seiner Dienerschaft beigesetzt. In der Festung wurden schließlich zahlreiche Prominente der russischen Geschichte (im fruhen 19. Jahrhundert zum Beispiel die Dekabristen, spater die Anarchisten Michail Bakunin und Peter Kropotkin) festgehalten. Der Kreuzer Aurora kann auf derselben Newa-Seite nordwestlich der Festung besichtigt werden.
Der eherne Reiter, das Smolny-Kloster, die Rossistraße, der Sommergarten und die Christi-Auferstehungskirche befinden sich alle auf der sudlichen Newa-Seite. Als besonders reizvoll gilt ein Spaziergang durch die Stadt wahrend der Weißen Nachte im Fruhsommer, dem nachtlichen Hochststand der Sonne.
Eine Besonderheit der Stadt sind die vielen Klappbrucken, die noch in den Nachtstunden fur den Schiffsverkehr geoffnet werden. Dadurch kann evtl. ein kurz zuvor begangener Weg nicht mehr zuruck gelaufen werden. Die Stadt heißt auch wegen ihrer vielen Wasserlaufe, Inseln und Brucken Venedig des Nordens.
In der sudlichen beziehungsweise sudwestlichen Umgebung Sankt Petersburgs sind das Schloss Peterhof, dieses UNESCO-Weltkulturerbe, Pawlowsk und die Stadt Puschkin beliebte Ausflugsziele. Im Letzteren ist im Katharinenpalast das nachgebaute Bernsteinzimmer zu besichtigen. Der Peterhof ist eine direkt am Meer gelegene weite Schlossanlage mit Palast, Schlosskirche, Orangerie, kleinen Lustschlossern wie „Monplaisir“, „Marly“ und einer besonders schonen Fontanen-Kaskade in Hanglage mit markanten vergoldeten wasserspeienden Bronzeskulpturen.
Der Peterhof, der nach 35 Minuten Fahrt mit der Elektritschka vom Baltischen Bahnhof ausgehend mit Zielbahnhof Oranienbaum Haltepunkt ist, das Schloss Pawlowsk sowie der Katharinenpalast wurden im Verlauf des Zweiten Weltkrieges von den deutschen Besatzern zu großen Teilen verwustet und nach dem Krieg in muhevoller Kleinarbeit wieder aufgebaut und restauriert. Vom Witebsker Bahnhof aus lassen sich Pawlowsk und Puschkin leicht mit dem 'Elektritschka'-Vorortzug erreichen. An dieser Bahnstrecke befindet sich der Halt „21 km“, der an der sudlichen Belagerungslinie der Stadt im Zweiten Weltkrieg gebaut wurde. Neben den Gleisen erinnern gegen Suden gerichtete damalige Kanonen an die deutsche Belagerung.
Kunst und Kultur Sankt Petersburg ist eine Stadt, in der Kunstsammlungen, Theater, Literatur, Ballett und Musik Weltgeltung besitzen.
= Museen, Galerien und Ausstellungskomplexe (Auswahl) =
Die Stadt weist nach eigenen Angaben 221 Museen auf. Daruber hinaus gibt es 45 Galerien und Ausstellungshallen sowie 80 Kulturhauser (Stand November 2013). Sie lassen sich in Historische Museen, Kunstmuseen und Museen fur Spezialgebiete.
Kunstkammer Die 1734 gegrundete Kunstkammer war die erste offizielle Sammlung von damals zeitgenossischen Kunstwerken.
Eremitage Die Eremitage ist mit drei bis vier Millionen Besuchern im Jahr der bestbesuchte und wohl international wichtigste Ausstellungskomplex. Sie gehort zu den bedeutendsten Kunstmuseen der Welt. Sie beherbergt eine immens große Sammlung der europaischen bildenden Kunst bis 1917 sowie die weltweit großte Juwelensammlung. Das Museum nimmt funf Bauten in Anspruch mit einer Gesamtausstellungsflache von 57.475 m² und einer Lagerflache von 45.000 m². Der Winterpalast, in dem sich ein Großteil der Sammlung befindet, ist dabei eine eigene Sehenswurdigkeit.
In ihrem Archiv beherbergt die Eremitage mehr als 2,7 Millionen Ausstellungsstucke. In den 350 Ausstellungsraumen sind davon 65.000 organisiert in sechs Sammlungen ausgestellt. Es sind Sammlungen uber Prahistorische Kunst, Kunst und Kultur der Antike, Kunst und Kultur der Volker des Ostens, Westeuropaische Kunst und Russische Kunst zu sehen, sowie Juwelenschatze und numismatische Exponate. Da der großte Teil der russischen Kunst mittlerweile in das Russische Museum ausgelagert wurde, ist die westeuropaische Kunst und Kultur der bedeutsamste Teil der Sammlung.
Die Exponate umfassen unter anderem Werke von Leonardo da Vinci (eines bzw. – unter Kunsthistorikern umstritten – auch zwei der weltweit bekannten zwolf Originale), Raffael, Tizian, Paolo Veronese, El Greco, Goya, Lucas Cranach dem Alteren, mehr als 40 Bilder von Rubens, 25 Werke von Rembrandt und diverse seiner Schuler, Vincent van Gogh, 37 Bilder von Henri Matisse, Pierre-Auguste Renoir, Paul Gauguin, 31 Bilder von Pablo Picasso sowie Bilder von Edouard Manet und Wassily Kandinsky.
Das Museum entstand als Privatsammlung der Zaren, seit 1852 war es offentlich zuganglich. Nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Privatsammlungen enteigneter russischer Adliger in die Eremitage uberfuhrt. Die Belagerung der Stadt uberstanden die Bestande weitgehend unbeschadet im Keller des Museums, die wertvollsten Stucke waren ausgelagert worden. 1948 wurden die Kunstbestande aufgestockt durch einen großen Teil der Sammlung des Museums fur neue westliche Kultur in Moskau. Von den vielen Touristenzielen der Stadt ist die Eremitage wahrscheinlich das bedeutendste. Es besteht eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Solomon R. Guggenheim Museum.
Zentrales Marinemuseum Das 1709 gegrundete Museum ist eines der altesten Museen Russlands und zahlt mit seinen 700.000 gesammelten Objekten zu den großten Schifffahrtsmuseen der Welt. In den 2014 neu bezogenen Ausstellungshallen wird in neunzehn Ausstellungshallen die Geschichte der russischen Seekriegsflotte nachgezeichnet. In funf weiteren Salen finden Wechselausstellungen statt. Zum Museum zahlen sechs Außenstellen, beispielsweise der Kreuzer Aurora, der Ausstellungsort Straße des Lebens, die Festung Kronstadt mit der Nikolaus-Marine-Kathedrale, dem Artillerie-Gelande und der Gedenkausstellung fur Alexander Stepanowitsch Popow oder das Museumsschiff Kreuzer Michail Kutusow.
Erarta-Museum Das Erarta-Museum fur zeitgenossische Kunst ist das großte private Museum fur zeitgenossische Kunst in Russland. Im Bestand des Museums befinden sich uber 2800 Werke zeitgenossischer Kunst, die von mehr als 300 Kunstlern aus uber 20 Regionen Russlands geschaffen wurden.
Siehe auch Arktis- und Antarktismuseum
Suworow-Museum
Russisches Eisenbahnmuseum
Im Wassileostrowski Tram Depot (1906–1908, beachtl. Backstein-Gebaude; gleichnamige Metrostation), dem altesten Depot der elektr. Tram, befindet sich das Museum zum Straßenbahn- (Tramwaj-) und dem Trolley-Bus-System
Manege Sankt Petersburg, ehem. Reithalle, heute Veranstaltungsstatte
= Theater und Musik =
Als altestes Ensemble gilt die 1497 gegrundete Staatliche Akademische Kapelle. In der Stadt befinden sich 80 Theaterstatten und 100 Konzerthauser. Das Mariinski-Theater ist eines der bekanntesten Opernhauser der Welt. Es nahm seine Arbeit im Jahr 1783 auf und ist die Heimat des Mariinski-Balletts. Daneben ist das 1833 erbaute Michailowski-Theater, im 19. Jahrhundert auch Theatre Michel, im 20. Jahrhundert lange Kleines Opernhaus, das bedeutendste Opernhaus der Stadt.
Das Alexandrinski-Theater wurde auf Erlass der Zarin Elisabeth I. 1756 gegrundet. Eine aus Schulern des Kadettenkorps zusammengestellte Truppe bildete das erste standige Theater Russlands. Erst 1832 erhielt das Ensemble sein heutiges prachtiges Gebaude, das unter Leitung des Architekten Carlo Rossi entstand.
Von 1901 bis 1906 bestand das bekannte Neue Theater in der Uferstraße (набережной р. Мойки) 61.
Im Rahmen der klassischen Musik sind neben der Oper (siehe oben) vor allem die Sankt Petersburger Philharmoniker zu nennen. Im gleichnamigen Gebaude in der Stadt befindet sich das Stammhaus dieses Orchesters.
In der Stadt lebten und arbeiteten die Komponisten Michail Glinka, Modest Mussorgski, Nikolai Rimski-Korsakow, Pjotr Tschaikowski, Igor Strawinski und Dmitri Schostakowitsch. Michail Glinka (1804–1857), in Nowo-Spaskoje geboren, studierte am Adelsinstitut von Sankt Petersburg, sein Grabmal befindet sich auf dem Tichwiner Friedhof. Die Oper „Boris Godunow“ von Modest Mussorgski (1839–1981) wurde im Mariinski-Theater uraufgefuhrt. Alexander Borodin (1833–1887) wurde in Sankt Petersburg geboren und ist in der Stadt gestorben.
Schostakowitsch (1906–1975), geboren in Sankt Petersburg, studierte von 1919 bis 1925 am Petrograder Konservatorium. Wahrend der Belagerung komponierte er 1941 seine Leningrader Symphonie. Die ersten drei Satze entstanden wahrend der Leningrader Blockade durch die Deutschen. Die Sinfonie ist Ausdruck des Durchhaltewillens der Leningrader Bevolkerung und aller sowjetischen Menschen. Sie wurde vollendet und in Kuibyschew uraufgefuhrt. Die Orchesterpartituren hatten Helfer danach durch die deutsche Blockade hindurch in die Stadt (Leningrad) geschafft, und unter Lebensgefahr fur Auffuhrende und Zuhorer fand das Konzert im Großen Saal der Philharmonie am 8. August 1942 unter Karl Eliasberg statt, welches im gesamten sowjetischen Rundfunk ubertragen wurde. Im Jahr 1975 erhielt dieser Saal den Namen Schostakowitsch-Saal.
Mit der nachlassenden Staatskontrolle in der Perestroikazeit entwickelte sich im Leningrad der 1980er Jahre eine sehr lebendige Rockmusikszene. Ein Teil der Bands entstand unter dem Dach des Leningrader Rockclubs, andere waren aus verschiedenen Landesteilen hierhergezogen. Im Gegensatz zur Hauptstadt Moskau, wo die Burgerfreiheiten strenger uberwacht wurden, konnte sich die Kunst in Leningrad vergleichsweise frei entfalten. Die damals entstandenen Bands und Interpreten haben ihren Einfluss nicht verloren. Zu diesem Teil der russischen Musikszene, der in Russland als „Piterski Rock“ („Petersburger Rock“) bekannt ist, zahlen Bands wie „Aquarium“ mit Boris Grebenschtschikow, „Kino“ mit Wiktor Zoi, „Alissa“ mit Konstantin Kintschew, „AuktYon“ mit Leonid Fjodorow, „Pop-Mechanika“ mit Sergei Kurjochin, „Zoopark“ mit Michail „Mike“ Naumenko oder „DDT“ mit Juri Schewtschuk (aus Ufa).
Diese Musik lehnt sich an westliche Stilrichtungen an, behalt aber die fur „das russische Ohr“ typische Tonalitat bei. In den Liedertexten finden sich oft Parallelen zu den Autoren des Silbernen Zeitalters, einer kulturellen Blutezeit in Petersburg und Moskau am Anfang des 20. Jahrhunderts.
= Ballett =
Die Stadt ist einer der wichtigsten Orte fur die Entwicklung des Balletts. Sergei Djagilew, Marius Petipa, Vaslav Nijinsky, Matilda Kschessinskaja und Anna Pawlowa waren maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt. Hier befindet sich die wahrscheinlich beruhmteste Ballettschule der Welt – die Waganowa-Ballettakademie, gegrundet im Jahr 1738.
= Petersburg im Film =
Das Ende der kulturellen Blutezeit Sankt Petersburgs fiel zeitlich mit dem Aufkommen der Filmindustrie zusammen. Bei bemerkenswerten Filmen bis 1990 handelt es sich zu einem Großteil um Verfilmungen klassischer russischer Literatur. Es gibt dutzende Verfilmungen von Anna Karenina (die ersten sind eine russische und eine franzosische, beide von 1911, die erste westliche, die vor Ort gedreht wurde, ist von 1997) oder einige Versionen von Dostojewskis Der Idiot (die erste ist eine russische, von 1910).
Einige Filme beziehen sich auf die Stadtgeschichte. Neben einer großen Anzahl sowjetischer Propagandafilme gibt es bisher aber erst wenige Werke: In seiner Art eigenstandig ist der Film Noi Vivi (Italien, 1942), eine Verfilmung des in der Stadt spielenden Buches von Ayn Rand Wir leben, der vor dem Hintergrund der sowjetischen Oktoberrevolution eine Kritik des faschistischen Italien versucht. Die Geschichte um die Tochter des letzten Zaren Anastasia wurde mehrfach verfilmt. Besonders bekannt sind die Versionen von 1956 mit Ingrid Bergman und das Zeichentrick-Musical (USA, 1997) von Don Bluth, ehemaliger Chefzeichner von Walt Disney. Besonders das Zeichentrick-Musical bezieht sich zwar sowohl auf die Stadtgeschichte als deren optische Opulenz, verfremdet beides aber so stark, dass es kaum wiederzuerkennen ist. Der italienische Spezialist fur Filme uber die russische Geschichte Giuseppe Tornatore drehte einen Film uber die Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg. Fur die meiste internationale Resonanz sorgte bisher von allen Petersburger Filmen Russian Ark, der, in der Eremitage gedreht, 300 Jahre russische Geschichte in einem einzigen Schnitt Revue passieren lasst. Der Film Der Untergang wurde in der Stadt gedreht, da die historische Innenstadt in Teilen große Ahnlichkeiten mit dem Berlin des Jahres 1945 aufweist.
In Petersburg (damals noch Leningrad) spielt der Kultfilm Intergirl von Pjotr Todorowski, der letzte große Kinoerfolg der Sowjetunion vor deren Untergang.
Der James-Bond-Film GoldenEye (1995) zeigt die Stadt in einem schon fast postapokalyptisch zu nennenden Zustand. Ein anderer britischer Action-Film, Midnight in St. Petersburg (1996) hingegen hat opulente Aufnahmen der Petersburger Sehenswurdigkeiten. Der Film Onegin (1999) mit Ralph Fiennes und Liv Tyler in den Hauptrollen, nimmt den Stoff des Puschkin-Gedichtes als Ausgangspunkt. In Das Rußland-Haus, einem Spionage-Thriller mit Sean Connery, Michelle Pfeiffer und Klaus Maria Brandauer, wird ein romantisches Bild der Stadt gezeigt.
Masjanja (russisch Масяня) ist eine beliebte russische nicht-kommerzielle Internet-Trickfilm-Serie, deren Handlung in Sankt Petersburg spielt.
= Literatur =
Zahlreiche bekannte russische Kunstler haben in Sankt Petersburg gelebt und gearbeitet, darunter Literaten wie Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski, Nikolai Gogol, Anna Achmatowa, Alexander Blok und Joseph Brodsky.
Bibliotheken Die Stadt besitzt rund 2000 Bibliotheken, von kleinen Volksbibliotheken in den einzelnen Stadtteilen bis zu mehreren bedeutenden Buchersammlungen.
Die Russische Nationalbibliothek ist die zweitgroßte Bibliothek Russlands und eine der drei Nationalbibliotheken des Landes.
Sie wurde 1795 durch Katharina II. gegrundet und hat einen Bestand von uber 30 Millionen Medien, davon uber 450.000 Handschriften (Ostromir-Evangeliar, Codex Petropolitanus Purpureus, Codex Leningradensis u. a.). In ihrem Bestand befinden sich Bucher in 85 Sprachen.
Die 1714 gegrundete Bibliothek der Akademie der Wissenschaften weist uber 20 Millionen Bande auf.
Die Puschkin-Bibliothek besitzt mit 5000 Werken einen wertvollen Bestand von Werken aus der privaten Bibliothek des Dichters.
Die Prasidentenbibliothek Boris Jelzin wurde 2009 gegrundet und ist vor allem als Onlinebibliothek von historischen und diplomatischen Dokumenten ausgerichtet.
Der Petersburger Text Petersburg, als Zarenstadt uber Jahrhunderte kulturelles Zentrum Russlands, zog eine große Zahl von Schriftstellern an, welche die Stadt literarisch verewigten. Nachdem in den ersten Jahrzehnten nach dem Bau der Stadt den Zaren preisende Auftragslyrik das Bild bestimmt hatte, begann 1833 mit Puschkins Gedicht Der eherne Reiter eine andere Art der Literatur dominant zu werden. Das Gedicht thematisiert den russischen Beamten Jewgeni, der am Reiterstandbild Peters des Großen, dem Wahrzeichen der Stadt, zur Zarenbeschimpfung ansetzt. Doch er erregt den Zorn der Statue.
Diese spateren Texte haben eine verbluffende Ahnlichkeit bei Motiven, Sprache, Atmosphare, aber auch beim Sinn. Der Moskauer Kultursemiotiker Wladimir Toporow pragte dafur 1984 im Aufsatz Petersburg und der Petersburger Text der russischen Literatur (Peterburg i peterburgskij tekst russkoj literatury) den Begriff des „Petersburger Texts“.
Die Allgegenwart der Macht des Zaren wie des russischen Staatsapparates, die Beamten- und Soldatenstadt sind ebenso ein stetig wiederkehrendes Thema wie der Wahnsinn, Hochwasser und Uberschwemmung, Zerstorung, Untergang, Fieberwahn und (Alb-)Traumstadt.
Viele Literaten attestieren der Stadt eine gewisse Unwirklichkeit, eine Aura dessen, dass sie nicht ganz real ist. Das beginnt schon mit dem Mythos, die Stadt sei in der Luft gebaut worden und erst danach auf die Erde gesunken, weil man auf diesem Gelande eigentlich gar nicht bauen konne. Literatur-Nobelpreistrager Joseph Brodsky attestiert: „Es gibt keinen Ort in Russland, wo die Imagination sich mit solcher Leichtigkeit von der Realitat ablost.“ Nikolai Gogol sagte bereits 1835 uber den Newski-Prospekt: „Hier ist alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint.“
Allein der Plan, eine Großstadt am Ende der Welt inmitten von Sumpfen zu bauen, gibt Sankt Petersburg diesen Grundungsmythos mit, der die literarische Stimmung bis zur Oktoberrevolution bestimmt. Selbst Giacomo Casanova ließ sich von der Stimmung der Stadt beeinflussen. 1764 schrieb er: „Alles erschien mir, als hatte man es schon als Ruine gebaut. Man pflasterte die Straßen und wusste, dass man sie sechs Monate spater erneut wurde pflastern mussen.“
Besonders bekannte Nachfolger Puschkins waren in dieser Tradition Nikolai Gogol mit dessen Petersburger Erzahlungen sowie der wahrscheinlich beruhmteste Schriftsteller der Stadt, Fjodor Dostojewski, dessen Romane und Erzahlungen Weiße Nachte, Arme Leute, Der Doppelganger, Der Idiot und Schuld und Suhne in der Stadt spielen. Das Haus seiner Romanfigur Raskolnikow findet sich in der Stadt, uber die er schreibt: „Es wehte ihn daraus immer eine ratselhafte Kalte an, dieses prachtige Panorama war fur ihn mit einem stummen, dumpfen Geist erfullt.“
Mit dem symbolistischen Roman Petersburg (1913) schrieb Andrei Bely eines der Meisterwerke der russischen Literatur. Er steht am Beginn der Reihe der Großstadtromane der Moderne und wurde so oft mit James Joyce’ Ulysses und Alfred Doblins Berlin Alexanderplatz verglichen.
Mit der Oktoberrevolution und der Verlagerung der Hauptstadt entstanden weiterhin literarische Werke hoher Bedeutung, die allerdings nicht mehr den typischen Petersburger Text widerspiegelten. Alexander Bloks Erzahlung Die Zwolf von 1918 schilderte den Marsch von zwolf Rotarmisten durch die Stadt. Schließlich erscheint Jesus an der Spitze der Gruppe. Daniil Charms, einer der letzten Vertreter der fruhen russischen Avantgarde, verfasste neben Die Komodie der Stadt Petersburg zahlreiche kurze Stucke. Eines davon, An der Kaimauer, greift wiederum die klassischen Motive des Petersburger Textes auf:
Der geburtige Petersburger Vladimir Nabokov kehrt in seinen Buchern immer wieder an den Ort seiner Kindheit zuruck. Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa, Ossip Mandelstam, Welimir Chlebnikow, Sergei Jessenin und Joseph Brodsky verewigten die Stadt durch ihre Lyrik. Ebenso wie als Stadt der Literatur erschien die Stadt immer als eine der verfolgten Literatur. Bereits Dostojewski und Puschkin wurden vom Zar verfolgt, nach der Oktoberrevolution wurden zahlreiche Literaten ermordet, bekamen Berufsverbot oder sie wanderten aus, sofern es ihnen moglich war. Ossip Mandelstam bemerkte: „Kein anderes Land nimmt Poesie so wichtig wie Russland, nirgendwo sonst werden ihretwegen so viele Menschen umgebracht.“
Gedenkstatten Auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof wird der Opfer der 900-tagigen Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht gedacht. Die Blockade wurde am 27. Januar 1944 durch Sowjettruppen beendet.
Sport = Fußball =
Der bekannteste Sportverein der Stadt ist der 1925 gegrundete Fußballklub Zenit St. Petersburg. Die Saison 2007 konnte Zenit erstmals als russischer Meister abschließen. Von 1950 bis 1992 diente das mittlerweile abgerissene Kirow-Stadion, das insgesamt 72.000 Zuschauern Platz bot, als Heimspielstatte fur Zenit Sankt Petersburg. Im Jahre 1993 zog die Mannschaft in das 1925 erbaute und 21.570 Zuschauer fassende Petrowski-Stadion um, das bis April 2017 vom Verein fur die Heimpartien genutzt wurde. Der Verein gehort seit einigen Jahren dem gleichzeitigen Hauptsponsor Gazprom, der seit der Ubernahme viele Millionen in die Verstarkung des Kaders sowie den laufenden Bau der neuen Gazprom-Arena gesteckt hat. Im Spieljahr 2007/2008 gewann der Fußballklub nach 4:1 im Viertelfinale gegen Bayer Leverkusen und 4:0 gegen Bayern Munchen im Halbfinale den UEFA-Pokal in Manchester durch ein 2:0 gegen die Glasgow Rangers sowie in Monaco den UEFA Super Cup mit einem 2:1 gegen Manchester United. Zur Saison 2010 feierten sie den russischen Pokalsieg durch ein 1:0 gegen FK Sibir Nowosibirsk im Rostower Stadion Olimp-2. 2011 und 2012 wurde Zenit erneut russischer Meister. Sankt Petersburg war einer der Austragungsorte der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Hierzu wurde in der Stadt die Gazprom-Arena errichtet, die ebenfalls fur den FIFA-Konfoderationen-Pokal 2017 genutzt wurde.
= Andere Ballsportarten =
Der Damen-Volleyballverein Leningradka Sankt Petersburg spielt in der hochsten Spielklasse Russlands, der Superleague. Daruber hinaus ist in der Stadt der Basketballverein BK Spartak Sankt Petersburg beheimatet. Die Handballmannschaft der Herren des GK Newa St. Petersburg nimmt am Spielbetrieb der Super League sowie der EHF Champions League teil. Im Dezember 2005 wurde in Sankt Petersburg die Handball-Weltmeisterschaft der Frauen 2005 ausgetragen, wobei die Heimmannschaft zum Weltmeister wurde.
= Eishockey =
Der Eishockeyverein SKA Sankt Petersburg spielt in der Kontinentalen Hockey-Liga, wahrend der HK WMF Sankt Petersburg am Spielbetrieb der Wysschaja Hockey-Liga teilnimmt. Die großten Eishockeystadien sind das SKK Peterburgski, der Eispalast Sankt Petersburg und der Jubileiny-Sportkomplex. Im Eispalast wurde das KHL All-Star Game 2011 ausgerichtet. In Sankt Petersburg wurde in den Jahren 2000 und 2016 um die Eishockey-Weltmeisterschaft gespielt.
= Schach =
Zu den Bewohnern von Sankt Petersburg zahlten einige herausragende Schachspieler: Michail Botwinnik (langjahriger und mehrmaliger Weltmeister zwischen 1948 und 1963), Boris Spasski (Weltmeister von 1969 bis 1972, uber Schachgrenzen hinaus bekannt durch das sogenannte Match des Jahrhunderts gegen Bobby Fischer (Vereinigte Staaten) 1972 in Reykjavik, das wegen des Ost-West-Konfliktes im Kalten Krieg weltweites Interesse erregte), sowie Viktor Kortschnoi, langjahriger Vize-Weltmeister und Emigrant aus der Sowjetunion. Kortschnoi erlangte internationale Bekanntheit durch die Duelle mit Anatoli Karpow um die Weltmeisterschaft 1978 in Baguio und 1981 in Meran, welchen große politische Brisanz innewohnte. Karpow lebte lange Jahre in Leningrad.
Zu herausragenden Verfassern von Schachaufgaben, die in Sankt Petersburg wohnten, zahlen Botwinniks fruher Sparringspartner Sergei Kaminer, die Bruder Kubbel und Alexei Troizki.
= Tennis =
Das Herren-Tennisturnier St. Petersburg Open wird seit 1995 in der russischen Metropole – im Sportkomplex SKK Peterburgski – ausgerichtet. Damen spielen um den St. Petersburg Ladies Trophy, ein Damen-Tennisturnier der WTA Tour.
= Turnen =
Die 22. Turn-Europameisterschaften der Frauen fanden vom 30. April bis 3. Mai 1998 in Sankt Petersburg statt.
= Automobilsport =
1913 und 1914 wurden in Sankt Petersburg die Automobilrennen um den Großen Preis von Russland veranstaltet, die heute nach einer Pause bis 2014 im Rahmen der Formel-1-Weltmeisterschaft ausgefahren werden, jetzt jedoch in Sotschi.
Bildung Sankt Petersburg war historisch das Zentrum der russischen Wissenschaft und ist neben Moskau immer noch der wichtigste Bildungs- und Wissenschaftsstandort. In der Stadt sind uber 120 Universitaten, Hochschulen und Fachhochschulen ansassig. Davon sind 43 staatlich-zivil, 22 militarisch und etwa 50 werden privat betrieben, sind aber staatlich lizenziert. Zu den bekannteren Universitaten gehoren die Staatliche Universitat Sankt Petersburg, die Staatliche Universitat fur Wirtschaft und Finanzen, die Staatliche Polytechnische Universitat, die Europaische Universitat Sankt Petersburg, die Waganowa-Ballettakademie, die Russische Kunstakademie und das Sankt Petersburger Konservatorium. Zu den militarischen Institutionen gehoren beispielsweise die Militarische ingenieurtechnische Universitat, die Militarakademie der Fernmeldetruppe, S. M. Budjonny, die Militarmedizinische Akademie S. M. Kirow und die Militarakademie fur ruckwartige Dienste und Transportwesen.
In der Stadt sind etwa 600.000 Einwohner in Bildung und Wissenschaft beschaftigt, darunter sind ungefahr 340.000 Studierende.
In Petersburg lebten und wirkten mehrere Nobelpreistrager, darunter als letzter Schores Alfjorow, der Nobelpreistrager fur Physik des Jahres 2000, ehemaliger Direktor des Joffe-Instituts.
Mit dem Steklow-Institut fur Mathematik verfugt St. Petersburg uber ein mathematisches Forschungsinstitut von Weltrang. Fuhrende Mathematiker, unter anderem der Fields-Medaillen-Preistrager Grigori Perelman, wirkten an diesem Institut.
Religion Die russisch-orthodoxe Kirche hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder deutlichen Zuwachs erhalten, aber auch andere Religionsgemeinschaften haben Zulauf. So ist Sankt Petersburg Sitz des Zentralen Kirchenamtes und der Kanzlei des Erzbischofs der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Russland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien (ELKRAS) in der St. Petri-Kirche sowie der Evangelisch-Lutherischen Kirche des Ingermanlandes in Russland. Die finnisch-lutherische und schwedisch-lutherische Kirche befinden sich in der Nahe, ebenso eine romisch-katholische und eine armenisch-apostolische Kirche.
Mit dem Gunsetschoinei-Dazan gibt es einen buddhistischen Tempel in der Stadt. Die Sankt Petersburger Moschee wurde in den Jahren 1910 bis 1913 errichtet.
In einer Umfrage aus dem Jahr 2013 bezeichneten sich 70 % der Einwohner als orthodox (1995 waren es noch 58 %). Weitere 20 % gaben an, nicht glaubig zu sein. Insgesamt waren 55 Prozent der Meinung, die Russisch-Orthodoxe Kirche habe einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben in Sankt Petersburg.
Wirtschaft und Verkehr Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 erwirtschafte der Großraum Sankt Petersburg ein Bruttoinlandsprodukt von 119,6 Milliarden US-Dollar (KKB) was ein bedeutender Teil der gesamten Wirtschaftsleistung des Landes ist. In der Rangliste der wirtschaftsstarksten Metropolregionen weltweit belegte er damit den 114. Platz und den zweiten Platz in Russland. Das BIP pro Kopf lag bei 23.361 US-Dollar.
= Wirtschaft =
Sankt Petersburg ist ein Zentrum russischer Forschung und Entwicklung. Dementsprechend beherbergt es ein großes Potenzial an Betrieben aus diesem Bereich. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der russischen Rubelkrise von 1998 konnte die Stadt große Teile ihres Potenzials retten.
In Sankt Petersburg finden sich Betriebe fast aller Zweige der verarbeitenden Industrie, ein besonderer Schwerpunkt liegt aber auf dem Schiff- und Maschinenbau. Unter anderem werden alle russischen atomgetriebenen Eisbrecher in der Stadt gefertigt. Weitere Schwerpunkte des industriellen Sektors in der Stadt sind Radioelektronik (vor allem in der Luft- und Raumfahrt), neue Baustoffe (eine der vorrangigen Wachstumsbranchen), Energiemaschinenbau (Branchenbetriebe gelten als weltweit wettbewerbsfahig), Bau medizinischer Gerate, Vorbeugungsmedizin und Gesundheitswesen sowie Umwelttechnologie. Außerdem besitzt die Stadt Mobelindustrie, Nahrungsmittelindustrie (unter anderem Baltika-Brauerei) und erdolverarbeitende Industrie. In jungster Zeit beginnt die Informationstechnik eine großere Rolle einzunehmen.
Zahlreiche russische Großkonzerne, vor allem solche mit hohem Staatsanteil, verlagern gegenwartig ihre Hauptquartiere aus Moskau an die Newa. Die Steuern der Gazprom-Oltochter Gazprom Neft, der Außenhandelsbank VTB, der Reederei Sovtorgflot, die Pipeline-Firma Transnefteprodukt oder der Fluggesellschaft Transaero sollen in Zukunft das Stadtbudget auffullen.
Der Erfolg dieser Wirtschaftsansiedlung ist aber nur bedingt auf die guten Petersburger Investitionsbedingungen zuruckzufuhren, sondern administrativ gesteuert. Auslandische Unternehmen entscheiden sich dagegen aus nuchternen Kalkulationen fur ihre Standorte. Russlands Automarkt boomte zu Beginn der 2010er Jahre, die Zulassungszahlen von Import-Pkw erreichten die des fruheren Quasi-Monopolisten Lada. Zudem sind wegen des 2012 erfolgten WTO-Beitritts Sonderkonditionen bei Importzollen entfallen, die das russische Wirtschaftsministerium fur die Errichtung von Kfz-Produktionsstatten im Land ausgeschrieben hat. Aus diesem Grund wurde von einer Entwicklung Petersburgs hin zum „russischen Detroit“ gesprochen – die Stadt siedelte bislang die Halfte aller auslandischen Automobilwerk-Projekte an. Besonders begunstigt wird diese Entwicklung durch einen relativ guten logistischen Anschluss (vor allem uber den großten russischen Hafen), qualifizierte Arbeitskrafte, erschlossene Gewerbeflachen, lokale Steuervergunstigungen und die Nahe zum Hauptabsatzmarkt.
Neben der boomenden Autoindustrie haben in der Stadt an auslandischen Unternehmen unter anderem Wrigley, Gillette, Rothmans, Unilever, Japan Tobacco und Coca-Cola nennenswerte Investitionen getatigt. Fast eine Milliarde Euro (Stand 2005) Umsatz machte die Baltika-Brauerei. Mehrheitsaktionar ist die Baltic Beverages Holding (BBH), diese wiederum gehort je zur Halfte der danischen Carlsberg-Brauerei und der schottischen Brauerei Scottish & Newcastle. Baltika ist inzwischen die großte Brauerei in Russland und Osteuropa und nach Heineken die zweitgroßte in Europa. Das Joint-Venture wurde 1990 in Sankt Petersburg gegrundet und hat sich schnell zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor fur die Stadt entwickelt.
Wichtigster Außenhandelspartner der Stadt ist Deutschland.
An Rohstoffen finden sich Kies, Sandstein, Ton und Torf. Hingegen spielt die Landwirtschaft keine Rolle in der lokalen Wirtschaft.
80 Kilometer von Sankt Petersburg entfernt stehen in Sosnowy Bor zwei Kernkraftwerke, das in Betrieb befindliche Kernkraftwerk Leningrad und das in Bau befindliche Kernkraftwerk Leningrad II. Die Halfte des Strombedarfs der Region werden von hier eingespeist.
In der Sowjetunion war Sankt Petersburg der Hauptflottenstutzpunkt der Baltischen Flotte zunachst der zaristischen, dann der sowjetischen und der russischen Marine. Noch immer befindet sich der Großteil der ehemaligen Kriegsschiffe und U-Boote im Petersburger Militarhafen. Das erste Dieselmotorschiff der Welt, die Vandal, lief von Rybinsk kommend ab 1903 planmaßig Sankt Petersburg an. Vor der Perestroika bildete der rustungsindustrielle Komplex 80 Prozent der Leningrader Wirtschaft. Hier befinden sich die Werften Admiralitatswerft (Адмиралтейские верфи), die Atom-U-Boote des Projekts 671 sowie das Boot des Projekts 677 fertigte, die Newski-Werft (Средне-Невский судостроительный завод), wo die Minenraumschiffe des Projekts 12700 gebaut wurden, das Baltische Werk (Балтийский завод), das von 1975 bis 2007 unter anderem neun Atomeisbrecher baute, und die Nordwerft (Северная верфь), welche die Zerstorer der Sowremenny-Klasse und der Udaloy-Klasse, die Fregatten der Kriwak-Klasse sowie die Kreuzer des Kresta-II-Klasse und der Kara-Klasse produzierte.
Weitere Unternehmen, welche die Sowjetzeit uberdauert haben und weltweit bekannt sind, haben ihre Zentralen nach wie vor in Sankt Petersburg. Beispielsweise gibt es dort den renommierten Verlag Prospekt Nauki, bekannt fur seine wissenschaftlichen Werke, wie das sowjetische Optik-Kombinat Lomo PLC dessen anfangs unbedeutende Kamera Lomo LC-A (Lomo-Compakt-Automatic), mit ihrer eher zweifelhaften Bildqualitat Ausgangspunkt fur eine charakteristische kunstlerische Photogestaltung, die sogenannten Lomographie, wurde. Ebenfalls in Sankt Petersburg befindet sich das sowjetische Traditionsunternehmen fur Uhren, die Uhrenfabrik Petrodworez, mit ihren beruhmten Raketa-Uhren.
= Verkehr =
Tourismus wird ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor in der Stadt. Laut der UNESCO gehort die Stadt zu den zehn fur Touristen attraktivsten Reisezielen weltweit.
Sankt Petersburg ist ein großer Verkehrsknotenpunkt. Hierbei stellt die Stadt eine wichtige Verknupfung zwischen Seeschifffahrt, Binnenschifffahrt und Eisenbahn her.
Schifffahrt Die Hafen von Sankt Petersburg und der Umgebung sind die bedeutendste Hafengruppe Russlands (Guterumschlag 2012: 57,8 Mio. t) und wichtig fur den ganzen osteuropaischen und nordasiatischen Raum. Besonders schnell steigt der Containerverkehr. Linienverbindungen gab es bis 2022 unter anderem nach Stockholm, Helsinki, Kiel, Lubeck und anderen Hafenstadten an der Ostsee sowie zu allen wichtigen Containerhafen in der Nordsee. Nachbarhafen von Sankt Petersburg befinden sich an der Ostsee in Ust-Luga, Primorsk (Ol) und in Wyssozk. Das weitere Wachstum des Hafens an den gegenwartigen Standorten im Stadtgebiet wird durch fehlende Flachen und die schwierige Anbindung an den Hinterlandverkehr uber das permanent verstopfte stadtische Straßen- und Schienennetz behindert.
Entwicklungsprojekte gibt es im Bereich Lomonossow und Bronka, ein neuer Seehafen fur den Container- und RoRo-Umschlag am Sudufer der Newa-Bucht, 120 Kilometer westlich von St. Petersburg. Nach der ersten Ausbaustufe des Ende 2015 in Betrieb gegangenen Containerterminals von Bronka stehen 107 Hektar Flache mit Anbindung an das russische Eisenbahnnetz und zum St. Petersburger Autobahnring zur Verfugung. Hier sind funf Liegeplatze mit bis zu 14,4 m Wassertiefe bei einer Kailange von zusammen 1.220 m mit einer jahrlichen Umschlagkapazitat von 1,45 Mio. TEU vorgesehen. Im benachbarten RoRo-Terminal mit 57 Hektar Große mit drei Liegeplatzen an 710 m Kailange konnen bis zu 260.000 Einheiten im Jahr umgeschlagen werden. Ein weiteres Wachstum soll auch im noch etwas weiter westlich liegenden Seehafen von Ust-Luga erfolgen, hier jedoch besonders fur die Umschlagguter Ol und trockene Massenguter.
Uber die Newa und verschiedene Kanale bestehen schiffbare Verbindungen zum Ladogasee, zur Wolga und zum Weißen Meer. Dabei fahren die Schiffe nachts durch das Stadtgebiet, wofur Klappbrucken hochgeklappt werden.
Seit einigen Jahren hat sich die Passagierschifffahrt in Form von Flusskreuzfahrten als guter Wirtschaftsfaktor herausgestellt, wozu der Flusshafen im Suden der Stadt an der Newa gut ausgebaut wurde.
Flugverkehr Etwa zwolf Kilometer sudlich der Innenstadt liegt der Flughafen Pulkowo. Am 4. Dezember 2013 wurde das neue, moderne Terminal 1 eroffnet. Es grenzt direkt an Pulkowo-I und wickelt den nationalen sowie internationalen Verkehr ab. Seit dem 28. Marz 2014 werden alle Fluge nur noch uber das neue Terminal abgewickelt. Es ist geplant, das alte Terminal Pulkowo-I zu renovieren und an das neue Gebaude durch Bau eines Durchgangs anzuschließen. Von hier aus fliegt die Fluggesellschaft Rossija, in der die ehemalige Pulkovo Airlines aufgegangen ist.
Eisenbahn Die erste russische Eisenbahn (Zarskoje-Selo-Bahn) fuhrte ab 1837 von Sankt Petersburg nach Zarskoje Selo und verband die Hauptstadt mit dem „Zarendorf“. Mit der Eroffnung der Nikolaibahn von Sankt Petersburg nach Moskau 1851 wurden die beiden großten Stadte des Russischen Reiches verbunden. Der Bau einer Eisenbahnstrecke von der russischen Hauptstadt nach Warschau folgte zwischen 1851 und 1862. Uber eine Zweigstrecke von Wilna uber Kowno wurde diese an die 1860 fertiggestellte Preußische Ostbahn angeschlossen, uber die ab diesem Zeitpunkt via Konigsberg Direktverbindung nach Berlin bestand. Bis zum Ersten Weltkrieg fuhr der Nord-Express zwischen Sankt Petersburg und Paris uber diese Strecke.
Es bestehen direkte Eisenbahnverbindungen nach Murmansk („Murmanbahn“), Helsinki (vom Finnischen Bahnhof aus, seit dem russischen Uberfall auf die Ukraine 2022 eingestellt), Kirow, Moskau (vom Moskauer Bahnhof an der Bahnstrecke Sankt Petersburg–Moskau), Kaliningrad und Minsk (vom Witebsker Bahnhof). Auch Sotschi, Rostow am Don, Wolgograd und Irkutsk / Baikalsee sind umsteigefrei zu erreichen. Ab Dezember 2012 gab es bis zur COVID-19-Pandemie einmal in der Woche eine umsteigefreie Direktverbindung nach Berlin.
Die Stadt ist Verwaltungssitz der Oktober Regionaldirektion der Russischen Staatsbahn. Die Direktion betreibt nicht nur alle Eisenbahnlinien samt zugehoriger Infrastruktur im Großraum Sankt Petersburg, sondern auch ein uber 10000 Kilometer langes Schienennetz im Nordwesten des europaischen Teils Russlands.
Am 1. November 2017 wurde direkt neben dem Baltischen Bahnhof das neu gestaltete Russische Eisenbahnmuseum eroffnet. Es ist eines der großten Eisenbahnmuseen weltweit.
Straßenverkehr Sankt Petersburg ist durch dreizehn Fernstraßen erschlossen. Am 7. September 2006 wurde der erste Bauabschnitt der neu gebauten Ringautobahn „KAD“ um Sankt Petersburg fur den Verkehr freigegeben. Die 66 Kilometer lange Route umgeht die Hafenstadt im Osten. Doch nach wie vor gibt es Engpasse. Begonnen wurde das mit Kosten von bislang etwa zwei Milliarden Euro großte aktuelle Straßenbauprojekt Russlands im Fruhjahr 2001.
Fur den sich bisher durch die Stadt qualenden Transitverkehr auf der Route von Finnland nach Moskau bedeutet die Autobahn mit ihrer momentanen Kapazitat von 50.000 Fahrzeugen pro Tag eine enorme Erleichterung: Die Fahrtzeit zum Passieren der Funf-Millionen-Stadt durfte auf etwa ein Drittel schrumpfen. Zum Wahrzeichen der neuen Autobahn wurde eine Ende 2004 eroffnete 2,8 Kilometer lange Hangebrucke, die hoch genug ist, um als einzige Newa-Brucke in Sankt Petersburg zum Passieren des Schiffsverkehrs nachts nicht hochgeklappt werden zu mussen.
Das Hochklappen aller anderen Newa-Brucken, insbesondere in den Weißen Nachten, ist zwar touristisch hoch attraktiv, legt jedoch den Straßenverkehr jede Nacht fur drei bis funf Stunden praktisch lahm.
Bislang wies der Ring jedoch noch eine vier Kilometer lange Lucke im Stadtteil Rschewka auf, deren Schließung sich als besonders kompliziert erwies: Hier musste sowohl der Newa-Nebenfluss Ochta als auch ein großes Eisenbahngelande samt einem Bahnhof uberbruckt werden. Außerdem stießen die Bautrupps auf eine bei der Planung ubersehene unterirdische Olleitung, die erst verlegt werden musste.
Engpasse gibt es auf der Strecke aber nach wie vor: Der geplante achtspurige Ausbaustand wurde bislang nur auf 25 Kilometern verwirklicht, ansonsten ist die Autobahn vierspurig. Gespart wurde an der Anbindung des Autobahnringes an das restliche Verkehrsnetz. Mit nur elf Anschlussstellen wurden zwei weniger als ursprunglich geplant realisiert.
Am 12. August 2011 wurde der Kfz-Tunnel unter dem Hochwasserschutzdamm fur den Verkehr geoffnet, damit gilt die 142 Kilometer lange, seit 1979 in Bau befindliche Trasse als vollendet.
Neben der abgekurzt „KAD“ genannten Ringautobahn wurde in Sankt Petersburg noch die sehr aufwendig realisierte Nord-Sud-Stadtautobahn „SSD“ am 4. Dezember 2016 eroffnet. Sie verbindet unter anderem den Petersburger Hafen mit dem Autobahnring. Anders als die KAD ist diese Route mautpflichtig.
Offentlicher Nahverkehr Die Metro Sankt Petersburg ist aufgrund ihrer Lage im Sumpf und der Notwendigkeit, den Vortrieb der Tunnel in den darunter liegenden Tonsteinschichten vorzunehmen, bis zu 102 Meter tief gebaut und insgesamt die tiefstliegende U-Bahn der Welt. Die 1955 eroffnete Metro besteht aus funf Linien. Am 28. Dezember 2012 wurden zwei neue Metrostationen nach jahrzehntelangem, wegen finanzieller Schwierigkeiten mehrfach unterbrochenem Bau im dichtbesiedelten Suden der Stadt eroffnet.
Bereits vor der Petersburger Metro gibt es zahlreiche Bus- und Trolleybuslinien. Entstanden aus Pferdebahnen gibt es seit 1907 mit der durch amerikanische Firmen entwickelten elektrischen Straßenbahn Sankt Petersburg das zeitweise großte Straßenbahnnetz der Welt. Ein großer Anteil des bodengebundenen Reisendenstroms wird jedoch von den Linientaxis („Marschrutkas“) bewaltigt. Sankt Petersburg besitzt zusatzlich ein weit in die Oblast Leningrad und bis nach Oblast Pskow, Oblast Nowgorod und die Republik Karelien reichendes Regionalbahnnetz („Elektritschka“).
Fahrradverkehr Erstmals wurde im Sommer 2014 versuchsweise eine Fahrradvermietung an 30 Stationen eingerichtet. Die Stadt ist wegen ihrer flachen Topografie und sehr breiten Straßen gut geeignet zum Fahrradfahren.
Partnerstadte Sankt Petersburg und Hamburg fuhren seit 1957 die erste deutsch-sowjetische bzw. erste deutsch-russische Stadtepartnerschaft. Diese wurde spater zu zwei Dreieckspartnerschaften mit Dresden (seit 1961) und Prag (1991–2014) erganzt.
Sankt Petersburg listet Stadtepartnerschaften mit folgenden Stadten auf:
Als Reaktion auf die Annexion der Krim 2014 oder den Russischen Uberfall auf die Ukraine seit 2022 beendeten mehrere Stadte ihre Partnerschaft oder setzten diese aus.
Die Stadt als Namenspate St. Petersburg bzw. Leningrad wurde vielfach durch Namenspatenschaften gewurdigt, und zahlreiche Werke kunstlerischen Schaffens haben die Stadt zum Inhalt. Insofern kann die folgende Zusammenstellung nur als beispielhafte Auflistung gelten, ohne Anspruch auf annahernde Vollstandigkeit zu erheben.
Seit 1988/90 ist die Stadt Namensgeber des auf der Halbinsel Kamtschatka neu entdeckten Minerals Leningradit. Zuvor trug bereits der Leningradkollen in Antarktika den Namen.
Die in St. Petersburg aufbewahrte alteste vollstandig erhaltene Handschrift der hebraischen Bibel wurde ursprunglich Codex Petersburgensis und spater Codex Leningradensis genannt, wobei die letztere Bezeichnung bis heute die offizielle ist, aber beide Namen im aktuellen kodikologischen bzw. theologischen Sprachgebrauch gebrauchlich sind.
Eine Reihe von Schiffen wurde im Laufe der Zeit nach der Stadt benannt, u. a. eine Zerstorerklasse in den 1930er Jahren, ein Hubschraubertrager (1967) sowie ein Fischtrawler, ein in der DDR gebautes Fahrschiff, ein Frachtschiff und ein Containerschiff.
Verschiedene Komponisten schrieben musikalische Huldigungen an die Stadt, unter anderem Johann Strauß (Sohn) mit dem „Abschied von St. Petersburg“ (op. 210, 1857) und Richard Eilenberg mit der „Petersburger Schlittenfahrt“ (op. 86, 1886). Eine popmusikalische Wurdigung erhalt sie 1989 in dem Song "Leningrad" von Billy Joel.
Unter den literarischen Hommagen ist z. B. der Roman „Abschied von St. Petersburg“ von Danielle Steel zu nennen, der 1995 auch verfilmt wurde.
Personlichkeiten Sankt Petersburg war Geburts- und Wohnort zahlreicher russischer und auslandischer Adliger, Politiker, Kunstler und Wissenschaftler. Zu den bekanntesten von ihnen gehoren Fjodor Dostojewski, Alexander Puschkin, Daniil Charms, Vladimir Nabokov, alle russischen Zaren seit 1718, Leonhard Euler, Pafnuti Lwowitsch Tschebyschow, Armand Marseille, Lew Alexandrowitsch Mei, Iwan Pawlow, Dmitri Iwanowitsch Mendelejew oder Dmitri Medwedew, Wladimir Putin.
Der in Stockholm geburtige Alfred Nobel verbrachte 17 Jahre seiner Kindheit und Jugend in Sankt Petersburg.
Siehe auch Literatur Hildburg Bethke (Hrsg.), Werner Jaspert (Hrsg.): Moskau, Leningrad heute: Berichte und Impressionen von einer Reise (= Kleine antworten-Reihe.). Stimme-Verlag, Frankfurt am Main 1965.
Gerhard Hallmann: Leningrad (= Kunstgeschichtliche Stadtebucher.). 3. Auflage. Seemann, Leipzig 1978, DNB 780435729.
Solomon Volkov: St. Petersburg. A Cultural History. Free Press, New York 1995, ISBN 0-684-83296-8.
Swetlana Smelowa, Nikolaus Pawlow: Literarisches St. Petersburg: 50 Dichter, Schriftsteller und Gelehrte ; Wohnorte, Wirken und Werke, Verlag Jena 1800, Berlin 2003, Deutsche Bearbeitung: Christian Hufen und Martin Stiebert, ISBN 978-3-931911-26-3.
Jorg Ganzenmuller: Das belagerte Leningrad 1941–1944. Eine Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern. Schoningh, Paderborn 2005, ISBN 3-506-72889-X.
Karl Schlogel, Frithjof Benjamin Schenk, Markus Ackeret (Hrsg.): Sankt Petersburg. Schauplatze einer Stadtgeschichte. Campus, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-593-38321-7.
Jan Kusber: Kleine Geschichte St. Petersburgs. Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2227-6.
Paullina Simons: Die Liebenden von Leningrad. Weltbild, Augsburg 2008, ISBN 978-3-8289-9196-5.
Joseph Brodsky, Erinnerungen an Petersburg, ubersetzt aus dem Englischen von Sylvia List und Marianne Frisch. Hanser Verlag, 152 Seiten, 2003, ISBN 978-3-446-20290-0.
Karl Schlogel: Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921. Fischer, Frankfurt am Main 2009, ISBN 978-3-596-16720-3.
Marianna Butenschon: St. Petersburg. Stimmen zur Stadtgeschichte. Anthologie. Osburg Verlag, Hamburg 2021, ISBN 978-3-95510-240-1.
Weblinks Petersburg.Aktuell.RU – Deutschsprachiges Stadtjournal aus Sankt Petersburg
Petersburger Herold – Deutschsprachige Onlinezeitung aus Sankt Petersburg
Reisefuhrer Sankt Petersburg in Wort und Bild
Großformatiger kolorierter Stadtplan von W. P. Clarke (1834) (englisch)
Sankt Petersburg in der Online-Enzyklopadie Sankt Petersburg (englisch, russisch)
Einzelnachweise
|
Sankt Petersburg (russisch Санкт-Петербург Sankt-Peterburg; kurz auch St. Petersburg) ist mit 5,38 Millionen Einwohnern (Stand 2021) nach Moskau die zweitgroßte Stadt Russlands, die viertgroßte Europas und die nordlichste Millionenstadt der Erde. Sie war von 1712 bis 1918 Hauptstadt des Russischen Kaiserreiches und bis 2021 Verwaltungszentrum der sie umgebenden Oblast Leningrad. Als Stadt mit Subjektstatus ist Sankt Petersburg ein Foderationssubjekt der Russischen Foderation.
Sankt Petersburg liegt im Nordwesten des Landes an der Mundung der Newa in die Newabucht am Ostende des Finnischen Meerbusens der Ostsee. Die Stadt wurde 1703 von Zar Peter dem Großen auf Sumpfgelande nahe dem Meer gegrundet, um den Anspruch Russlands auf Zugang zur Ostsee durchzusetzen. 1712 wurde sie die Hauptstadt Russlands. 1918 verlegten die Bolschewiki ihre Regierung nach Moskau.
Die Stadt trug zunachst uber 200 Jahre lang den heutigen Namen, von 1914 bis 1924 hieß sie Petrograd (Петроград) sowie von 1924 bis 1991 Leningrad (Ленинград), womit Lenin, der Grunder der Sowjetunion, geehrt wurde. Der ortliche Spitzname ist Piter nach der ursprunglich dem Niederlandischen nachempfundenen Namensform Санкт-Питербурх Sankt-Piterburch (die vier Namen ).
Die Stadt ist ein europaweit wichtiges Kulturzentrum und beherbergt den wichtigsten russischen Ostseehafen. Die historische Innenstadt mit 2300 Palasten, Prunkbauten und Schlossern ist seit 1991 als Weltkulturerbe der UNESCO unter dem Sammelbegriff Historic Centre of Saint Petersburg and Related Groups of Monuments eingetragen.
Mit dem 462 Meter hohen Lachta-Zentrum befindet sich das hochste Gebaude Europas in der Stadt.
Seit dem 13. Mai 2003 ist die Hymne an die Große Stadt aus dem Ballett Der Eherne Reiter von Reinhold Gliere mit dem Text von Oleg Tschuprow offizielle Hymne der Stadt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Sankt_Petersburg"
}
|
c-13921
|
Ludwig van Beethoven [fʌn ˈbeːtˌhoːfn] (getauft am 17. Dezember 1770 in Bonn, Haupt- und Residenzstadt von Kurkoln; † 26. Marz 1827 in Wien, Kaisertum Osterreich) war ein deutscher Komponist und Pianist. Er fuhrte die Wiener Klassik zu ihrer hochsten Entwicklung und bereitete der Musik der Romantik den Weg. Er wird zu den uberragenden Komponisten der Musikgeschichte gezahlt.
Zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn machte sich Beethoven zunachst als Klaviervirtuose einen Namen. Zu seinen Starken gehorte das freie Improvisieren und Fantasieren auf dem Instrument. Nach dem Umzug von Bonn nach Wien fuhrte ihn sein Talent bald in die hochsten gesellschaftlichen Kreise der habsburgischen Metropole. Ein Gehorleiden, das sich im Laufe der Zeit zur fast volligen Taubheit verschlimmerte, setzte seiner Karriere als Pianist ein vorzeitiges Ende. Die Krankheit loste eine Krise aus, uber die Beethoven 1802 in seinem Heiligenstadter Testament Zeugnis ablegte. Beethoven pflegte vielerlei Kontakte zu Frauen aus seinem Umfeld. Beruhmt ist sein 1812 geschriebener Brief an die unsterbliche Geliebte, deren Identitat bis heute nicht zweifelsfrei geklart ist.
Mit der Verschlechterung seines Gehors konzentrierte sich Beethoven mehr und mehr aufs Komponieren. Wahrend andere Komponisten ihre Werke oft schnell zu Papier brachten, rang Beethoven um jede Note. Immer wieder wurde nachgearbeitet und verbessert. In den meisten musikalischen Gattungen und Besetzungen, zu denen Beethoven Kompositionen beitrug, gehoren seine Werke zu den wichtigsten ihrer Art, namentlich die 9 Sinfonien, die 32 Klaviersonaten, Klaviervariationen, die 5 Klavierkonzerte, ein Violinkonzert, die 16 Streichquartette und die Große Fuge, weitere Kammermusik wie die Klaviertrios, Violin- und Violoncellosonaten. Wichtige Vokal- bzw. Buhnenwerke sind der Liederzyklus An die ferne Geliebte, die einzige Oper Fidelio und die Missa solemnis. Beethoven ist seinem Anspruch, ein bleibendes musikalisches Werk fur die Nachwelt zu hinterlassen, gerecht geworden. Seine Popularitat ist ungebrochen, und heute gehort er zu den meistgespielten Komponisten der Welt.
Herkunft des Familiennamens In niederlandischen Familiennamen – in den Spanischen beziehungsweise Osterreichischen Niederlanden ebenso wie in der Republik der Vereinigten Niederlande – bezeichnet der Zusatz „van“ den Herkunftsort des Namenstragers und ist kein Adelspradikat. Dessen ungeachtet hielt Beethoven sich durchaus fur adlig. Das zeigte sich, als eine Rechtssache gegen seine Schwagerin in Osterreich wie selbstverstandlich vor einem fur den Adel zustandigen Gericht verhandelt werden sollte. Nachdem er seine im Lauf des Verfahrens angezweifelte adlige Herkunft nicht nachweisen konnte, sah sich das Gericht nicht mehr fur zustandig und die Sache ging vor ein burgerliches Gericht. Das entschied dann zwar die Rechtssache zu seinen Gunsten, doch war Beethoven nachhaltig gekrankt, da man ihm seinen vorgeblich adligen Stand abgesprochen hatte. Der Name „Beethoven“ bezieht sich vermutlich auf die kleine Ortschaft Bettenhoven (Bettincourt) in der Region Hesbaye, die jetzt zur Gemeinde Waremme in der Provinz Luttich zahlt. Die Landschaft Betuwe wird alternativ ebenfalls mit dem heute beruhmten Namen verbunden.
Im spaten 15. Jahrhundert lebte ein gewisser Jan van Bettehove (1485–1571) in Kampenhout bei Mechelen, Ludwigs vermeintlicher (siehe unten) Vorfahr in siebenter Generation. 1595 wurde Josyne van Beethoven, ebenfalls aus Kampenhout stammend und vermeintliche Vorfahrin Ludwigs, als Hexe auf dem Scheiterhaufen auf dem Grand-Place in Brussel verbrannt.
Leben = Bonn (1770–1792) =
Herkunft und Familie Ludwig van Beethovens „juristische“ vaterliche Vorfahren (d. h. lt. Eintragungen in den Kirchenbuchern) stammten aus Mechelen (heute in Belgien), dem Sitz des Erzbischofs der Osterreichischen Niederlande; allerdings belegt eine neuere Genomanalyse, dass das Erbgut von heute lebenden Verwandten auf eine außereheliche Beziehung in Beethovens vaterlicher Linie hindeutet. Mit seinem angeblichen Großvater Ludwig van Beethoven (1712–1773) brachte die Familie erstmals einen Musiker hervor. Er wurde 1733 als Basssanger an den kurkolnischen Hof nach Bonn berufen. 1761 ernannte ihn Kurfurst und Erzbischof Maximilian Friedrich zum Hofkapellmeister. Ludwigs angeblicher Sohn Johann (* ca. 1740; † 18. Dezember 1792) wurde Tenorsanger an der Hofkapelle und erwarb sich daruber hinaus Ansehen als Musiklehrer. Am 12. November 1767 heiratete er die fruh verwitwete Maria Magdalena Leym geb. Keverich (* 19. Dezember 1746), Tochter eines kurtrierischen Oberhofkochs, deren Vorfahren von der Mosel stammten. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen drei das Sauglingsalter uberlebten: Ludwig, Kaspar Karl (getauft 8. April 1774) und Nikolaus Johann (getauft 2. Oktober 1776). Die Geburt eines Bruders gleichen Namens Anfang April 1769 trug spater zu Ludwig van Beethovens Verunsicherung uber sein tatsachliches Alter bei.
Als zweites Kind wurde Ludwig van Beethoven am 17. Dezember 1770 in der damaligen St.-Remigius-Kirche am Remigiusplatz getauft; das Gotteshaus brannte 1800 ab und ist nicht mit der heutigen St.-Remigius-Kirche an anderer Stelle zu verwechseln. Geboren wurde er wahrscheinlich am 16. Dezember in der Wohnung der Familie im Haus Nr. 515 (heute Haus Nr. 20) in der Bonngasse.
Obwohl Beethoven erst drei Jahre alt war, als sein Großvater am 24. Dezember 1773 starb, verklarte er ihn zur Identifikationsfigur der Familie.
DNA-Sequenzierung im Jahr 2023: Beethoven war gar kein Beethoven Eine DNA-Sequenzierung von Beethovens Haarstrahnen durch ein internationales Forscherteam unter anderem der Cambridge University und des Max-Planck-Instituts fur evolutionare Anthropologie (MPI EVA) in Leipzig, deren Ergebnis am 22. Marz 2023 international vorgestellt wurde, stellt fest, dass Beethoven biologisch gesehen kein Beethoven ist. Johannes Krause vom MPI EVA erklarte gegenuber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wir haben die Y-Chromosomen von funf heute lebenden Familienmitgliedern der van Beethovens analysiert. Ihr Y-Chromosom belegt ihre gemeinsame Verwandtschaft.“ Zudem lasst sich ihre Linie uber Taufbucher in den Archiven uber die vaterliche Linie bis ins 16. Jahrhundert zuruckverfolgen, wo sie sich mit der Linie, die zu Ludwig van Beethoven fuhrt, kreuzen. Es sind also „echte Beethovens“. Nur das Genom des Komponisten selbst passt nicht in diese Linie. Es unterscheidet sich zu stark. „Wir sehen: Ludwig van Beethoven ist mit ihnen nicht in direkter Linie verwandt.“ Irgendwann in den sieben Generationen vor Beethovens Geburt musse es einen Seitensprung gegeben haben. „Ob Beethoven selbst ein Kuckuckskind war, oder sein Vater, Großvater oder Ur-Urgroßvater das Kind einer außerehelichen Beziehung, konnen wir allerdings nicht sagen.“ Tatsachlich weist das Erbgut Ludwig van Beethovens eher eine Ahnlichkeit mit dem von Einwohnern des heutigen Nordrhein-Westfalen auf. Bekannt ist allerdings, dass der Taufschein von Beethovens Vater Johann nicht auffindbar ist und Beethoven seinen – nominellen – Vater verachtete. In fruhen Konversationslexika von Brockhaus (bis in die funfte Auflage) und Fayolle wurde Beethoven zu Lebzeiten als außerehelicher Sohn von Konig Friedrich Wilhelm II. von Preußen – dem er seine beiden Sonaten fur Klavier und Violoncello op. 5 widmete – verzeichnet, was der Komponist erst kurz vor seinem Tod eher unwillig in einem Brief dementierte.
Ausbildung und Erziehung Johann van Beethoven erkannte fruh die außerordentliche Begabung seines Sohnes und sorgte fur eine solide Musikausbildung, an der auch Kollegen der Hofkapelle mitwirkten: der Hoforganist Gilles van den Eeden, der Sanger Tobias Pfeiffer, die Violinisten Franz Georg Rovantini, Franz Ries und andere. Uber Johann van Beethovens Unterricht sind gewalttatige Ubergriffe auf seinen Sohn uberliefert, ob sie regelmaßig oder vereinzelt stattfanden, ist unklar. Mit sieben Jahren trat Beethoven zum ersten Mal offentlich als Pianist auf.
1782 trat der Komponist und Kapellmeister Christian Gottlob Neefe die Nachfolge van den Eedens als Hoforganist an. Neefe erteilte Beethoven zeitweise Klavier- und Kompositionsunterricht und vermittelte die Veroffentlichung erster Klavierkompositionen: Variationen uber einen Marsch von Dressler WoO 63 und die drei sogenannten Kurfurstensonaten WoO 47. Ob ihm die herausragende Rolle als Lehrer Beethovens zukommt, die ihm in der Literatur zugeschrieben wurde, ist zweifelhaft. 1782 wurde Beethoven Stellvertreter Neefes an der Orgel, zwei Jahre spater erhielt er eine feste Anstellung als Organist. Daruber hinaus wirkte er als Cembalist und Bratschist in der Hofkapelle. Ein Freund und Komponist, der ebenfalls dort musizierte, war Anton Reicha. Im Zusammenhang mit einer Neuorganisation der Hofmusik durch Maximilian Franz, den Nachfolger des verstorbenen Kurfursten Max Friedrich, kam es 1784 zum Bruch zwischen Beethoven und Neefe.
Beethovens Schulbildung ging uber Grundlegendes wie Lesen, Schreiben und Rechnen kaum hinaus. Zusatzlich erhielt er zeitweise Privatunterricht in Latein, Franzosisch und Italienisch. Geistige Anregung erhielt er daruber hinaus von Freunden aus Bonner Burgerkreisen, besonders von dem Medizinstudenten und spateren Arzt Franz Gerhard Wegeler sowie von der Familie der Witwe Helene von Breuning, zu der Beethoven eine geradezu familiare Beziehung pflegte. Die Freundschaft zu Wegeler und zu Stephan von Breuning dauerte trotz gelegentlicher Krisen lebenslang.
Am Hof des Kurfursten Maximilian Franz herrschte ein liberales Klima. Aufklarerisches Gedankengut wurde u. a. in den Kreisen des Illuminatenordens, einer der radikalen Aufklarung verpflichteten Geheimgesellschaft, gepflegt. Zahlreiche Hofmusiker waren Mitglied der Bonner Loge, der Neefe vorstand. Nach dem Verbot der Illuminaten 1785 sammelten sich ihre Bonner Mitglieder in der 1787 gegrundeten Lese- und Erholungsgesellschaft. Durch den an der Bonner Universitat lehrenden Eulogius Schneider kam Beethoven auch fruh mit den Ideen der Franzosischen Revolution in Beruhrung. Der Einfluss der Philosophie Immanuel Kants auf Ludwig van Beethoven ist Gegenstand gelehrter Erorterungen.
Studienreise nach Wien 1784 schrieb Neefe uber Beethoven, er werde „gewiß ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen“. Bei Maximilian Franz, Kurfurst seit 1784 und erklarter Liebhaber der Musik Mozarts, traf diese Einschatzung auf fruchtbaren Boden. Ende Dezember 1786 brach Beethoven zu einer von Max Franz geforderten Reise nach Wien auf, um Kompositionsschuler Mozarts zu werden. Als er nach etwa dreimonatigem Aufenthalt die Ruckreise antrat, unterbrach er diese mehrfach, um in Regensburg, Munchen und Augsburg Station zu machen. Im Mai 1787 kehrte er nach Bonn zuruck. Es ist nicht bekannt, ob es uberhaupt zu einer Begegnung mit Mozart kam; fur einen Unterricht durch das Vorbild fehlt jeder Beleg, und der Kurfurst zeigte sich von den Ergebnissen der Reise entsprechend enttauscht. Der Grund fur das Scheitern des Plans ist unklar.
Letzte Bonner Jahre und Abschied von Bonn Zuruck in Bonn traf Beethoven auf eine dramatisch veranderte familiare Situation. Der Gesundheitszustand der an der „Schwindsucht“ erkrankten Mutter hatte sich in kritischer Weise verschlechtert. Sie starb am 17. Juli 1787. Der Vater verlor zunehmend die Kontrolle uber seinen ohnehin hohen Alkoholkonsum, sodass er schließlich nicht mehr in der Lage war, fur seine drei Sohne zu sorgen. 1789 wurde er vom Dienst suspendiert, und Ludwig als altester Sohn erhielt die Verfugungsgewalt uber die Halfte der Pension des Vaters, wodurch ihm faktisch die Rolle des Familienoberhauptes zufiel.
Mitte September 1791 kam Beethoven als Organist und Bratschist der Bonner Hofkapelle zu einem Generalkapitel des Deutschen Ordens nach Mergentheim und Aschaffenburg. Die kurkolnische Hofkapelle reiste auf zwei Schiffen den Rhein und den Main bis Miltenberg. Beethoven, von seinen Freunden seines braunlichen Teints und der schwarzen Augen wegen Spagnol genannt, agierte hierbei als Kuchenjunge. Von Miltenberg ging es mit der Kutsche weiter nach Mergentheim, wo sich Beethoven bis Ende Oktober 1791 aufhielt.
Durch seinen Eintritt in den Deutschen Orden kam der aus Wien stammende Graf Ferdinand Ernst von Waldstein nach Bonn. Er wurde Beethovens erster adeliger Forderer, regte ihn zu Kompositionen an, so zur Musik zu einem Ritterballett WoO 1 und zu den Variationen uber ein Thema von Graf Waldstein WoO 67, und nutzte seinen Einfluss auf den Kurfursten, um ihn zur Fortsetzung der Forderung Beethovens zu bewegen.
Als im Juli 1792 Joseph Haydn auf dem Ruckweg einer Englandreise in Bonn Station machte, wurde ein zweiter Studienaufenthalt Beethovens in Wien vereinbart. Mozart war Ende 1791 uberraschend gestorben und Beethoven sollte nun – nach einem Stammbucheintrag Waldsteins – „Mozart’s Geist aus Haydens Handen“ erhalten. Anfang November 1792 brach Beethoven nach Wien auf.
= Erste Wiener Dekade (1792–1802) =
Neuorientierung Eine Folge von Ereignissen bewirkte, dass aus Beethovens Studienreise nach Wien ein dauerhafter und endgultiger Aufenthalt wurde. Kurz nach Beethovens Ankunft, am 18. Dezember 1792, starb sein Vater. 1794 besetzten franzosische Truppen das Rheinland, und der kurfurstliche Hof musste fliehen. Damit war Beethoven nicht nur der Boden fur die Ruckkehr nach Bonn entzogen, auch die Gehaltszahlungen des Kurfursten blieben nun aus. Im Fruhjahr 1794 siedelte sein Bruder Kaspar Karl nach Wien uber, im Dezember 1795 folgte auch Bruder Johann.
In Wien fand Beethoven bald die Unterstutzung adeliger Musikliebhaber, die ihm halfen, in der neuen Heimat Fuß zu fassen, darunter Furst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz und Gottfried Freiherr van Swieten. Eine besondere Rolle spielte Furst Karl Lichnowsky; in seinem Haus knupfte Beethoven Kontakte zu Wiener Musikerkreisen und lernte den Geiger Ignaz Schuppanzigh kennen, der als Interpret wesentlich zur Verbreitung seiner Werke beitragen sollte. Lichnowsky stellte Beethoven zeitweise eine Wohnung in seinem Haus zur Verfugung.
Konzertreise nach Prag, Dresden und Berlin Lichnowsky war es auch, der Beethovens einzige Konzertreise finanzierte, die der Route der Reise folgte, die der Furst 1789 mit Mozart unternommen hatte. Zunachst fuhrte diese ihn im Februar 1796 nach Prag. Am 23. April traf er in Dresden ein und erreichte am 20. Mai Berlin, wo er im Hotel „Stadt Paris“ in der Bruderstraße 39 unweit des Schlosses logierte. Hier spielte er vor Konig Friedrich Wilhelm II. und besuchte die Singakademie. Anfang Juli reiste er uber Dresden zuruck nach Wien.
Ab 1800 zahlte Lichnowsky an Beethoven ein jahrliches Gehalt in Hohe von 600 Gulden und schuf damit fur die folgenden Jahre die Grundlage fur eine unabhangige kunstlerische Existenz. Ab 1802 genoss er auch die Rechte eines Staatsburgers.
Unterricht bei Haydn und anderen Wie vereinbart nahm Beethoven bei Haydn Kompositionsunterricht, der von Beethovens Ankunft in Wien (November 1792) bis kurz vor Haydns Abreise nach England (19. Januar 1794) dauerte. Das Verhaltnis zwischen dem renommierten Lehrer und dem eigenwilligen, selbstbewussten Schuler blieb nicht frei von Meinungsverschiedenheiten und Konflikten; so als Haydn Bedenken gegen Beethovens Klaviertrio op. 1 Nr. 3 außerte, da er es fur zu schwer verstandlich hielt. Auch wenn Beethoven einmal uber seinen Lehrer gesagt haben soll, „nie etwas von ihm gelernt“ zu haben, so pragten Haydns Werke doch Beethovens Entwicklung als Komponist nachhaltig, vor allem auf den Gebieten der Sinfonie und der Kammermusik.
Allerdings scheint Beethoven mit Haydn als Lehrer unzufrieden gewesen zu sein. Heimlich nahm er Unterricht bei Johann Baptist Schenk. Ab 1794 studierte er Kontrapunkt bei Johann Georg Albrechtsberger, und von Antonio Salieri ließ er sich in der Gesangskomposition unterweisen.
Pianist und Komponist Beethovens Erfolge als Komponist hangen anfangs eng mit seiner Karriere als Klaviervirtuose zusammen. In den ersten zehn Jahren in Wien entstanden allein 20 seiner 32 Klaviersonaten, darunter die Grande Sonate pathetique op. 13 in c-Moll und die beiden Sonaten op. 27, deren zweite unter der (nicht von Beethoven stammenden) Bezeichnung Mondscheinsonate bekannt wurde; der Titelzusatz quasi una fantasia deutet an, dass die Improvisation am Klavier eine wichtige Inspirationsquelle fur den Komponisten war.
Am 29. Marz 1795 trat Beethoven mit seinem Klavierkonzert B-Dur op. 19 erstmals als Pianist an die Wiener Offentlichkeit. Besonderes Aufsehen erregte er auch durch seine herausragende Fahigkeit zum freien Fantasieren.
Die ersten Kompositionen, die Beethoven drucken ließ, waren die drei 1794/1795 entstandenen Klaviertrios, die er mit der Opusnummer 1 versah. In den folgenden Jahren setzte sich Beethoven mit zwei weiteren zentralen Gattungen der Klassik auseinander: dem Streichquartett und der Sinfonie. Zwischen 1798 und 1800 komponierte er, nach intensivem Studium der Quartette Haydns und Mozarts, eine erste Serie von sechs Quartetten, die er als op. 18 dem Fursten Lobkowitz widmete. Kurz darauf, 1800 und 1802, prasentierte sich Beethoven als Sinfoniker. Die Widmung der 1. Sinfonie op. 21 in C-Dur ging an van Swieten, die der 2. Sinfonie op. 36 in D-Dur an den Fursten Lichnowsky.
Gehorleiden Beethovens wachsender Erfolg als Pianist und Komponist wurde von einer schwerwiegenden Beeintrachtigung uberschattet: Etwa um 1798 zeigten sich erste Symptome jenes Gehorleidens, das schließlich zur fast volligen Taubheit fuhren sollte. Nach Beethovens eigenem Bericht aus dem Jahr 1801 verschlimmerte sich das Leiden innerhalb weniger Jahre; es scheint jedoch in den Folgejahren einige Zeit stagniert zu haben.
Die Ursache der Erkrankung ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Zu den moglichen Ursachen zahlen eine Atrophie der Gehornerven oder eine Otosklerose.
Beethovens Gehorleiden stellte nicht nur eine ernste Bedrohung seiner Laufbahn als Musiker dar; es beeintrachtigte auch seinen gesellschaftlichen Umgang. Die Krankheit sturzte Beethoven in eine schwere personliche Krise, die ihn zeitweilig selbst an Suizid denken ließ. Beethoven offenbarte seinen Seelenzustand im sogenannten Heiligenstadter Testament, einem Schriftstuck, das er im Oktober 1802 am Ende einer Kur in Heiligenstadt verfasste, nachdem auch diese ohne den erhofften Erfolg geblieben war.
= Mittlere Wiener Jahre (etwa 1802 – etwa 1812) =
Profilierung als Komponist Die mittleren Wiener Jahre, vom Beethoven-Biographen Maynard Solomon als die „heroische Periode“ bezeichnet, sind, der Beeintrachtigung durch das Gehorleiden zum Trotz, die produktivste Phase in Beethovens Schaffensbiographie. Beethoven hatte zu dieser Zeit einen eigenen unverwechselbaren Stil entwickelt.
Sechs der neun Sinfonien komponierte Beethoven allein zwischen Herbst 1802 und 1812, darunter so bekannte Werke wie die 3. Sinfonie Eroica, die 5. Sinfonie und die 6. Sinfonie Pastorale. Daruber hinaus entstanden das 4. und 5. Klavierkonzert sowie die Endfassung des 3. Klavierkonzerts, das Violinkonzert op. 61 und die funf „mittleren“ Streichquartette op. 59 Nr. 1–3, op. 74 und op. 95.
Auch die erste Fassung seiner einzigen Oper Fidelio komponierte Beethoven in dieser Zeit. Am 20. November 1805 wurde sie unter dem ursprunglichen Titel Leonore zum ersten Mal aufgefuhrt, in der Folge aber noch zweimal uberarbeitet.
Seinen bis dahin großten Erfolg erzielte Beethoven 1813/1814 mit den Auffuhrungen eines eigens aus Anlass des Wiener Kongresses komponierten Werkes, Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91, das den entscheidenden Sieg der Englander uber die napoleonischen Truppen schildert und damit beim Publikum den Geist der Zeit traf.
Franzosische Einflusse Die Franzosische Revolution und Napoleon Bonaparte hatten auf Beethoven einen starken Eindruck gemacht und wirkten sich nachweislich auf sein Schaffen aus. So hatte Beethoven die 3. Sinfonie Eroica ursprunglich mit dem Zusatz „intitulata Bonaparte“ oder „geschrieben auf Bonaparte“ versehen wollen. Eine Anekdote berichtet, Beethoven habe den Titelzusatz wutend entfernt, nachdem Napoleon im Dezember 1804 sich selbst zum Kaiser gekront hatte. Wahrscheinlich hangt die Anderung des ursprunglichen Titels eher mit einer geplanten, aber letztlich nicht durchgefuhrten Reise nach Paris zusammen.
Auf eine franzosische Revolutionsoper, Leonore ou L’amour conjugal (Leonore oder Die eheliche Liebe) von Jean Nicolas Bouilly, geht der Stoff zuruck, den Beethoven in seiner Oper Fidelio verarbeitete, und in seiner 5. Sinfonie in c-Moll op. 67 griff er Elemente der sogenannten Revolutionsmusik auf, eines Stils, den franzosische Komponisten wie Andre-Ernest-Modeste Gretry, Etienne-Nicolas Mehul und Luigi Cherubini Ende des 18. Jahrhunderts gepragt hatten.
Mazene und Lebensunterhalt Reichsgraf Franz von Oppersdorff, der mit dem Fursten Lichnowsky befreundet war, war sehr daran interessiert, Beethoven in seinem Schloss in Oberglogau bei Neustadt (polnisch Prudnik) zu empfangen. 1806 konnte Oppersdorff den Gast mit einem feierlichen Konzert willkommen heißen. Das Schlossorchester unter Leitung des dortigen Dirigenten Hoszek spielte zur allgemeinen Uberraschung die 2. Sinfonie Beethovens, den diese Geste sehr erfreute. Als Dank versprach der Komponist, seine 5. Sinfonie c-Moll, an der er gerade arbeitete, Oppersdorff zu widmen. Der Graf zahlte Beethoven 500 Forint an, weil er hoffte, dass diese Widmung die Familie Oppersdorff beruhmt machen wurde. Letztlich dedizierte Beethoven Oppersdorff jedoch seine 4. Sinfonie.
Im Verhaltnis zwischen Beethoven und seinem bis dahin wichtigsten Mazen, dem Fursten Lichnowsky, kam es im Lauf der Jahre zu einer zunehmenden Entfremdung. Die Spannungen eskalierten im Herbst 1806 bei einem Aufenthalt Beethovens auf Schloss Gratz (tschechisch Hradec) bei Troppau (tschechisch Opava), dem Sitz des Fursten, in einer ernsten Auseinandersetzung. Etwa zur gleichen Zeit, 1806 oder 1807, stellte Lichnowsky, der in jenen Jahren außerordentlich hohe finanzielle Verpflichtungen zu erfullen hatte, die jahrlichen Gehaltszahlungen an den Komponisten ein.
Zwar bezog Beethoven neben dem furstlichen Gehalt erhebliche Einkunfte aus Verlagsvertragen und Konzerteinnahmen, doch garantierten diese keine dauerhafte finanzielle Absicherung. Daher bewarb sich Beethoven im Dezember 1807 – vergeblich – bei der k.k. Hoftheaterdirektion um eine Anstellung und erwog daruber hinaus, Wien zu verlassen. Eine entsprechende Gelegenheit bot sich, als ihn Friedrich Ludwig III. Graf Truchsess zu Waldburg im November 1808 als Kapellmeister an den Hof Jerome Bonapartes nach Kassel berief.
Durch eine Initiative Ignaz von Gleichensteins und der Grafin Marie Erdody, die zu Beethovens engstem Freundeskreis gehorten, gelang es, Beethoven in Wien zu halten. Am 1. Marz 1809 sicherten Erzherzog Rudolph, Franz Joseph Furst Lobkowitz und Ferdinand Furst Kinsky dem Komponisten per Dekret ein festes jahrliches Gehalt zu unter der einzigen Bedingung, dass Beethoven in Wien wohnen bliebe (der sogenannte Rentenvertrag).
Die Hoffnung Beethovens auf finanzielle Unabhangigkeit erhielt jedoch nach kurzer Zeit gleich mehrere Ruckschlage: die Geldentwertung durch das sogenannte Finanzpatent im Fruhjahr 1811, der Tod des Fursten Kinsky im November 1812 und der drohende Bankrott des Fursten Lobkowitz 1813. Dadurch war Beethoven gezwungen, die Fortsetzung der Zahlungen gerichtlich einzuklagen.
Begegnung mit Bettina Brentano und Goethe Beethovens Wertschatzung Johann Wolfgang von Goethes begann sich seit den 1790er Jahren vor allem in seinen Liedkompositionen niederzuschlagen. 1809/1810 kumulierte die kompositorische Beschaftigung mit dem Dichter in den Liederzyklen op. 75 und op. 83 sowie der Musik zu Goethes Trauerspiel Egmont op. 84.
Wahrend ihres Wienaufenthalts im Fruhjahr-Sommer 1810 lernte Beethoven Ende Mai Bettina Brentano kennen, die Schwester des Dichters Clemens Brentano. Sie gewann sein Vertrauen und nutzte ihre Freundschaft zu Goethe, ein Treffen der beiden Kunstlerpersonlichkeiten anzuregen. Durch die literarisch stark uberformten Darstellungen ihrer Beziehung zu Beethoven hat Bettina Brentano spater das romantische Beethoven-Bild maßgeblich mitgepragt.
Zur lange angebahnten Zusammenkunft zwischen Beethoven und Goethe kam es im Juli 1812 (19., 20., 21. und 23.), als sich beide im bohmischen Kurbad Teplitz aufhielten, wo zufallig gerade der osterreichische Hofstaat in Anwesenheit von Kaiserin Maria Ludovika promenierte. Im Gegensatz zu Beethoven, der offenbar grußlos seiner Wege ging, verbeugte sich Goethe galant vor der Kaiserin, was unter anderem vom Historienmaler Carl Rochling sowie im Auftrag des Industriellen Georg Schicht bildlich festgehalten wurde. Das Ereignis wurde von beiden Beteiligten unterschiedlich bewertet. Am 19. Juli schrieb Goethe an seine Frau: „Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Kunstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß.“ Und am 12. September 1812 schrieb Goethe aus Karlsbad an seinen Freund Carl Friedrich Zelter, den Leiter der Berliner Sing-Akademie: „Beethoven habe ich in Teplitz kennengelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebandigte Personlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder fur sich noch fur andre genußreicher macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehor verlaßt, was vielleicht dem musikalischen Teil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er, der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.“ Dagegen schrieb Beethoven am 9. August von Franzensbad an seinen Verleger Hartel lakonisch: „Gothe behagt die Hofluft sehr, mehr als einem Dichter ziemt. Es ist nicht vielmehr uber die Lacherlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, uber diesem Schimmer alles andere vergessen konnen.“
= Beziehungen zu Frauen und die „Unsterbliche Geliebte“ =
Zwar war Beethoven nach einer Aussage von Franz Gerhard Wegeler „sehr haufig verliebt“, doch bezog sich dies nur auf eine kurze Periode in den 1790er Jahren, als Wegeler in Wien war. Frauen spielten jedoch in vieler Hinsicht eine große Rolle in Beethovens Leben: als Freundinnen und Vertraute, als Interpretinnen oder als Widmungsempfangerinnen.
Johanna von Honrath Beethovens erste große Liebe galt Johanna von Honrath. Sein Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler schreibt uber die Bonner Jugendzeit des Komponisten: „Seine und Stephan von Breuning’s erste Liebe war Fraulein Jeanette d’Honrath aus Koln, Neumarkt Nro. 19. (jetziges Wohnhaus des Baumeisters Herrn Biercher), die oft einige Wochen in der von Breuning’schen Familie in Bonn zubrachte. Sie war eine schone, lebhafte Blondine, von gefalliger Bildung und freundlicher Gesinnung, welche viele Freude an der Musik und eine angenehme Stimme hatte.“
Maria Anna Wilhelmine von und zu Westerholt-Gysenberg Maria Anna Wilhelmine von und zu Westerholt-Gysenberg war wohl ebenfalls eine Jugendliebe Beethovens. Er selbst spricht sie in seinem Brief als „ma tres chere amie“ (deutsch „meine sehr liebe Freundin“) an, was eher fur eine innige Freundschaft als fur Liebe spricht. Sein Jugendfreund Franz Gerhard Wegeler schreibt dagegen einige Jahre spater uber Beethovens erste Liebe von einem Fraulein v. W. – wobei er unbekannt lasst, welche Person er damit meinte:
Grafin Marie von Erdody Zu Beethovens langsten und treuesten Freundinnen gehorte die Grafin Marie von Erdody (1779–1837). Mehrere seiner Werke sind ihr gewidmet. Sie besaß außer ihrer Stadtwohnung das Erdody-Landgut in Jedlesee, in dem Beethoven 1815 gewohnt haben soll. In der alteren Literatur wird verschiedentlich vermutet, dass es eine kurzzeitige Liebesbeziehung zwischen Beethoven und der Grafin gab, was jedoch reine Spekulation ist.
Grafin Josephine Brunsvik Besonders freundschaftlich wurde Beethoven von der ungarischen Familie Brunsvik aufgenommen. Die Schwestern Therese, Josephine, Charlotte und ihr Bruder Franz begegneten dem Komponisten erstmals 1799. Als die Familie nach 18 Tagen wieder in ihre ungarische Heimat zuruckkehrte, schrieb Beethoven in Josephines und Thereses Album einen Auszug von Goethes Gedicht Ich denke dein.
Auf Drangen der Mutter, die ihre schone Tochter mit einem wohlhabenden Adligen vermahlen wollte, heiratete Josephine Brunsvik noch im Sommer 1799 den Grafen Joseph von Deym, zog zu ihm nach Wien und gebar in ihrer kurzen Ehe vier Kinder. In dieser Zeit war Beethoven regelmaßiger „standhafter Besucher der jungen Grafin“ und erteilte ihr „viele Stunden hintereinander“ „kostenlos“ Klavierunterricht. Nachdem Graf Deym Anfang 1804 unerwartet gestorben war, entwickelte sich zwischen Beethoven und Josephine eine Liebesbeziehung. Zwischen 1804 und 1809 schrieb Beethoven ihr mindestens vierzehn teils leidenschaftliche Liebesbriefe, in denen er sie unter anderem als „Engel“, „mein Alles“ und als seine „einzig Geliebte“ bezeichnete und ihr „ewige Treue“ schwor. Trotz heißer Liebesworte blieben aber beide Partner nicht nur vor der Verwandtschaft, sondern auch in den Briefen bei der formlichen Anrede „Sie“, wahrend Beethoven Josephines Bruder Franz ja duzte. Der Briefwechsel, soweit erhalten, dokumentiert denn auch die seelischen Konflikte des Paares, die aus dem Widerspruch zwischen ihren personlichen Gefuhlen und den Zwangen der Realitat resultierten: Josephine hatte vier Kinder zu versorgen, und im Falle einer Heirat mit dem nichtadligen Beethoven hatte sie die Vormundschaft fur sie verloren. Im Herbst 1807 zog sich Josephine schließlich auf Druck ihrer Familie von Beethoven zuruck. Bereits 1805 hatte Therese voller Besorgnis an Charlotte geschrieben: „Aber sage mir, Pepi und Beethoven, was soll daraus werden? Sie soll auf ihrer Hut sein! … Ihr Herz muß die Kraft haben nein zu sagen, eine traurige Pflicht, wenn nicht die traurigste aller.“
1810 ging Josephine eine zweite Ehe mit dem estlandischen Baron Christoph von Stackelberg ein, die sich fur sie außerst unglucklich entwickelte. Ende Juni/Anfang Juli 1812 verließ Stackelberg sie. In ihrem Tagebucheintrag vom 8. Juni 1812 heißt es: „Ich habe heute einen schweren Tag. – Die Hand des Schicksals ruht duster auf mir – Ich sah nebst meinem tiefen Kummer auch noch die Entartung meiner Kinder und – fast – aller Muth wich von mir –!!!“ Kurz darauf notierte sie in ihrem Tagebuch, dass sie beabsichtigte, nach Prag zu reisen: „St. will daß ich mir selbst sitzen soll [er hat mich sitzen gelassen]. er ist gefuhllos fur bittende in der Noth. […] Ich will Liebert in Prague [!] sprechen. ich will die Kinder nie von mir lassen. […] Ich habe Stackb zu liebe [mich] physisch zugrunde gerichtet indem ich […] noch so viele Kummer und Krankheit durch ihn zugezogen habe.“ In Prag traf Beethoven am 3. Juli eine Frau, die er drei Tage spater in einem (nie abgeschickten) Brief an sie, ohne ihren Namen zu erwahnen, seine „Unsterbliche Geliebte“ nannte. Der Brief ist nicht nur seiner intimen Sprache wegen bemerkenswert, sondern auch deshalb, weil es sich hierbei um den einzigen erhaltenen Brief Beethovens an eine Frau handelt, in dem er die Adressatin durchweg duzt.
1817 notierte Therese, die weiterhin mit Beethoven in Verbindung blieb, in ihrem Tagebuch uber ihre kranke Schwester: „Ob Josephine nicht Strafe leidet wegen Luigi’s Weh? Seine Gattin – was hatte sie nicht aus dem Heros gemacht!“ Eine Tagebuchnotiz Thereses von 1848 lautet: „Ich Gluckliche hatte Beethovens intimen, geistigen Umgang so viele Jahre! Josephinens Haus- und Herzensfreund! Sie waren fureinander geboren und lebten beide noch, hatten sie sich vereint.“
Zahlreiche Beethoven-Forscher, vor allem im deutschsprachigen Raum, darunter La Mara, Siegmund Kaznelson, Harry Goldschmidt, Brigitte und Jean Massin, Marie-Elisabeth Tellenbach, Carl Dahlhaus und Rita Steblin, halten Josephine fur Beethovens „Unsterbliche Geliebte“. Neun Monate nach dem wahrscheinlichen Treffen der beiden in Prag brachte Josephine ihre Tochter Minona (* 8. April 1813 in Wien; † 21. Februar 1897 ebenda) – Minona ist ein Palindrom zu Anonym – zur Welt. Sie soll in jungen Jahren eine verbluffende („striking“) Ahnlichkeit mit Beethoven gehabt haben. Daher erachten etliche Forscher es fur wahrscheinlich, dass Beethoven der leibliche Vater Minonas ist.
Grafin Giulietta Guicciardi Uber die Schwestern Brunsvik lernte Beethoven um 1801/1802 auch deren Cousine Grafin Giulietta Guicciardi (1782–1856) kennen und verliebte sich kurzzeitig in sie. Er war sich jedoch daruber im klaren, dass eine Heirat wegen des Standesunterschiedes nicht in Frage kam. Außerdem war sie bereits mit dem Grafen Wenzel von Gallenberg verlobt, den sie 1803 heiratete. Beethoven widmete ihr 1802 die als Mondscheinsonate bekannte Sonata quasi una Fantasia, op. 27 Nr. 2.
Therese von Zandt Eine weitere mutmaßliche Geliebte Beethovens war Therese von Zandt, die zur Zeit ihrer siebenmonatigen Liaison mit dem Komponisten Stiftsdame im freiweltlichen Damenstift Asbeck war. Von Zandt veroffentlichte ab 1798 unter dem Kurzel Z. als erste Frau Beitrage in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung. Moglicherweise war sie es, die Beethoven den Stoff zu seiner einzigen Oper Fidelio empfahl, als sie im Auftrag der Zeitung vom 5. Dezember 1803 bis zum 5. Juli 1804 nach Wien reiste. Jean-Nicolas Bouillys Libretto zur Oper Leonore ou L’amour conjugaldes Fidelio, auf dem der Fidelio-Stoff basiert, wurde damals von Friedrich Rochlitz, Begrunder und Redakteur der Allgemeinen musikalischen Zeitung, erstmals aus dem Franzosischen ins Deutsche ubersetzt. Ein Portrat aus Beethovens Besitz, von dem man 200 Jahre lang annahm, es zeige Giulietta Guicciardi, ist nach Forschungen von Klaus Martin Kopitz vermutlich Therese von Zandt zuzuschreiben.
Marie Bigot Mit der franzosischen Pianistin Marie Bigot verkehrte Beethoven insbesondere im Jahre 1807. Die Freundschaft kam wahrscheinlich zustande, da Marie Bigots Gatte Paul Bigot bei Beethovens Gonner, dem Grafen Andrej Rasumowsky, als Bibliothekar tatig war. Von der Beziehung zeugen mehrere Briefe Beethovens. Er schenkte Marie Bigot auch das Autograph seiner beruhmten Appassionata, das sich heute in der Bibliotheque nationale de France in Paris befindet. Anfang Marz 1807 lud Beethoven sie zu einer Spazierfahrt ein, als ihr Mann abwesend war. Dessen offensichtlich eifersuchtige Reaktion veranlasste Beethoven, kurz darauf einen Entschuldigungsbrief an das Ehepaar zu schreiben, in dem er betonte: „[…] ohnedem ist es einer meiner ersten Grundsatze nie in einem andern als Freundschaftlichen Verhaltniß mit der Gattin eines andern zu stehen.“
Elisabeth Rockel Etwa im Fruhjahr 1808 begegnete Beethoven erstmals der damals 15-jahrigen Sangerin Elisabeth Rockel (getauft als Maria Eva), der Schwester des Tenors Joseph August Rockel, der in den Fidelio-Auffuhrungen von 1806 die Partie des Florestan ubernommen hatte. Sie zog zu ihrem Bruder in dessen Dienstwohnung im Theater an der Wien, wo sie als „Elis. [!] Rokel“ verzeichnet wurde und sich mit der gleichfalls dort lebenden Sangerin Anna Milder-Hauptmann befreundete, von der sie in einem Brief tatsachlich mit „Elise“ [!] angeredet wurde. Nach einer zweifelhaften Aussage von Anton Schindler gegenuber Gerhard von Breuning wollte Beethoven sie sogar heiraten. Sie selbst berichtete lediglich, dass Beethoven ihr sehr zugetan war. In ihrem offiziellen Nekrolog heißt es: „Zu ihren Verehrern gehorte auch Beethoven.“ 2010 stellte Klaus Martin Kopitz die These auf, dass sie es auch war, fur die Beethoven am 27. April 1810 – „zur Erinnerung“ an ihn – sein beruhmtes Albumblatt Fur Elise komponierte. Der Hintergrund war, dass sie und ihr Bruder Wien kurz darauf verließen, um ein Engagement am Theater in Bamberg anzutreten. 2015 und 2020 veroffentlichte Kopitz weitere, bislang unbekannte Quellen uber ihre Beziehung zu Beethoven. Das Autograph des Albumblattes war spater im Besitz von Therese Malfatti, aus deren Nachlass es nach Munchen zu der Lehrerin Babette Bredl gelangte, der Mutter von Malfattis Hausfreund und Erbe Rudolph Schachner. Bredl lieh das Autograph Ludwig Nohl, der es abschrieb und publizierte. Obwohl er ausdrucklich erklarte, es sei „nicht fur Therese geschrieben“, vertrat die Beethoven-Forschung viele Jahre die Ansicht, sie sei dennoch die Widmungsempfangerin gewesen.
Elisabeth Rockel heiratete 1813 Johann Nepomuk Hummel und zog mit ihm nach Weimar. Im Marz 1827 kam sie noch einmal nach Wien, um Beethoven vor seinem Tod ein letztes Mal zu sehen. Auf Wunsch des Sterbenden besuchte sie diesen mehrfach und erhielt zum Andenken eine Locke des Komponisten und dessen letzte Schreibfeder. Die Reliquien sind seit 2012 im Besitz des Beethoven Center der San Jose State University. Kurz nach dem Tod des Komponisten gestand sie Schindler, „welch’ tiefe Wurzeln ihre einstige Liebe zu Beeth. geschlagen u noch immer in ihr lebe.“
Der Musikwissenschaftler Michael Lorenz bezweifelte 2011, dass Elisabeth sich „Elise“ nannte, da dies nur durch wenige Quellen zu belegen ist. Wie er aber gleichfalls bemerkt, „wurde im Wien des Vormarz zwischen den Namen Elisabeth und Elise nicht mehr unterschieden, sie waren austauschbar und quasi identisch“.
Therese von Malfatti Eine weitere Frau in Beethovens Leben war Therese Malfatti. Beethoven lernte sie 1809 durch seinen Freund Ignaz von Gleichenstein kennen, der 1811 Thereses Schwester Anna heiratete. Im Fruhjahr 1810, angesichts Josephine Brunsviks Wiederverheiratung, plante Beethoven offenbar, Therese Malfatti einen Heiratsantrag zu machen, und ließ sich dafur von seinem Freund Franz Gerhard Wegeler in Bonn eine Abschrift seines Taufscheins besorgen. Als dann Therese von Malfatti seinen Antrag aber abwies – ihre Familie war aus Standesrucksichten ebenfalls dagegen –, uberwand Beethoven diese Ablehnung vergleichsweise leicht. Therese blieb danach freundschaftlich mit ihm verbunden.
Antonie Brentano Ende Mai 1810 lernte Beethoven durch Bettina Brentano deren Schwagerin Antonie Brentano kennen, die von 1809 bis 1812 im Haus ihres verstorbenen Vaters Johann Melchior Edler von Birkenstock in der Vorstadt Landstraße lebte – Erdberggasse Nr. 98 –, wo sie dessen umfangreichen Nachlass ordnete und verkaufte. Sie schrieb am 11. Marz 1811 an Bettina, Beethoven sei ihr „einer der liebsten Menschen“ geworden und besuche sie „beinahe taglich“. Zwischen Antonie und Beethoven entwickelte sich eine enge Beziehung, die sie in ihrem Tagebuch als „Wahlverwandtschaft“ bezeichnete. Das haufige Zusammensein beider wurde dadurch begunstigt, dass Antonies Gatte Franz Brentano nicht mit nach in Wien gekommen war, sondern weiter seiner Geschaftstatigkeit in Frankfurt am Main nachging. Antonie Brentano besaß auch das Autograph von Beethovens Lied An die Geliebte WoO 140, auf dem von ihrer Hand vermerkt ist: „den 2n Marz 1812 mir vom Author erbethen“. Dieses Lied hatte Beethoven kurz zuvor der bayerischen Sangerin Regina Lang ins Stammbuch geschrieben.
1972 stellte Maynard Solomon die vielbeachtete Hypothese auf, Beethovens Brief an die Unsterbliche Geliebte, den er 6./7. Juli 1812 in Teplitz an eine Frau in „K“ schrieb, sei an Antonie Brentano gerichtet, die sich zu dieser Zeit – mit ihrem Mann – in Karlsbad aufhielt. Der Anlass war offenbar, dass Beethoven sie kurz zuvor uberraschend in Prag getroffen hatte, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Solomon konnte tatsachlich beweisen, dass sich beide genau zur selben Zeit in Prag aufhielten, wenngleich es fur ein heimliches Treffen keinen Beleg gibt und daneben einige Fragen offen bleiben. Mittlerweile haben sich zahlreiche Beethoven-Forscher Solomons Identifizierung der Adressatin angeschlossen, darunter Yayoi Aoki, Sieghard Brandenburg, Barry Cooper, William Kinderman, Klaus Martin Kopitz, Lewis Lockwood und Susan Lund.
Die „unsterbliche Geliebte“ Beethovens Brief an die Unsterbliche Geliebte, den er am 6./7. Juli 1812 in Teplitz wahrend einer Reise in die bohmischen Kurbader verfasste, ist neben dem Heiligenstadter Testament das bedeutendste Selbstzeugnis des Komponisten. Er richtet sich an eine namentlich nicht genannte Frau, mit der es kurz zuvor, am 3. Juli in Prag, zu einer fur die Zukunft der Beziehung entscheidenden Begegnung gekommen war. Aus dem Brief geht unter anderem die gegenseitig eingestandene Liebe hervor und die Hoffnung auf eine dauerhafte Verbindung der Liebenden, der aber offenbar große Hindernisse entgegenstehen. Die Identitat der „Unsterblichen Geliebten“ ist unter Beethoven-Forschern umstritten.
= Krise und letzte Jahre (etwa 1812–1827) =
Lebenskrise Vom Jahr 1812 an begann sich Beethovens Lebenssituation deutlich zum Schlechteren zu verandern. Zu den schicksalhaften Ereignissen um die „Unsterbliche Geliebte“ kamen materielle Sorgen im Zusammenhang mit dem Rentenvertrag und eine Verschlimmerung des Gehorleidens bis hin zur volligen Taubheit. Von etwa 1813 an verwendete Beethoven Horrohre, um mit seiner Umgebung zu kommunizieren, ab 1818 ist der Gebrauch sogenannter Konversationshefte nachzuweisen, worin die Gesprachspartner ihre Außerungen notierten. Aufgrund seiner fortgeschrittenen Schwerhorigkeit war es ihm nicht mehr moglich, als Pianist aufzutreten.
Am 15. November 1815 starb Beethovens Bruder Kaspar Karl und hinterließ einen neun Jahre alten Sohn. Beethoven verstrickte sich in einen uber Jahre andauernden, zermurbenden Rechtsstreit mit seiner Schwagerin Johanna um die Vormundschaft uber seinen Neffen Karl, in dessen Verlauf ihm diese wechselweise zu- und wieder abgesprochen wurde. In seiner Funktion als Ersatzvater scheiterte Beethoven mit dem Versuch, den Schutzling seinen moralisch uberzogenen Erziehungszielen zu unterwerfen.
Neue Kompositionsplane und letzte Werke Gleichzeitig mit Beethovens personlicher Krise vollzog sich ein Wandel seines kompositorischen Stils. 1813 bis 1814 war er zunachst mit der Komposition von Wellingtons Sieg sowie einer grundlichen Revision seiner Oper Leonore zu Fidelio beschaftigt. In den Folgejahren wandte sich Beethoven noch einmal intensiv der Klaviersonate zu. Es entstanden die Sonaten op. 90 (1814), op. 101 (1815–1817) und op. 106 (Hammerklavier-Sonate, 1817–1818). Gleichzeitig schuf Beethoven die beiden Cellosonaten op. 102 (1815), den Liederkreis An die ferne Geliebte op. 98 (1816) sowie die Vertonung von Goethes Meeres Stille und gluckliche Fahrt fur Chor und Orchester op. 112.
Hatte sich Beethoven einige Jahre fast ausschließlich Werken fur kleinere Besetzungen gewidmet, so bot sich 1819 ein Anlass, wieder ein großeres Werk in Angriff zu nehmen. Sein langjahriger Mazen und Klavierschuler, Erzherzog Rudolph, sollte am 20. Marz 1820 als Erzbischof von Olmutz (tschechisch Olomouc) inthronisiert werden. Beethoven wurde mit der Komposition einer großen feierlichen Messe beauftragt. Der Kompositionsprozess der Missa solemnis op. 123 begann sich aber zu verselbstandigen, sodass Beethoven das Werk erst Ende 1822 / Anfang 1823 vollendete.
Gleichzeitig mit der Messe arbeitete Beethoven an den Diabelli-Variationen op. 120, einem Variationenzyklus fur Klavier, der auf einen Aufruf des Musikverlegers und Komponisten Diabelli zuruckging. Dieser hatte seinen Walzer an zahlreiche Komponisten, darunter Erzherzog Rudolf, Carl Czerny, Ignaz Moscheles und Franz Xaver Mozart geschickt mit der Bitte, je eine Variation zu einer geplanten Sammelausgabe beizusteuern; Beethoven lieferte schließlich als Einziger insgesamt 33 Variationen. Wahrend der Arbeit an der Missa solemnis und den Diabelli-Variationen setzte Beethoven mit op. 109, 110 und 111 die Serie seiner letzten Klaviersonaten fort.
Nach mehr als zehnjahriger Pause wandte sich Beethoven auch wieder der Gattung Sinfonie zu. Die Urauffuhrung der 9. Sinfonie op. 125 am 7. Mai 1824 wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. Die Auffuhrung leitete der Kapellmeister Michael Umlauf; Beethoven stand mit ihm zur Unterstutzung am Dirigentenpult.
Schließlich entstand zwischen Fruhjahr 1824 und Herbst 1826 beginnend mit dem Streichquartett op. 127 eine letzte Gruppe von funf Streichquartetten. Angestoßen hatte die Quartettproduktion ein Kompositionsauftrag des russischen Musikliebhabers Nikolai Borisowitsch Furst Galitzin. Dieser stand unter dem Einfluss des Pianisten und Komponisten Karl Traugott Zeuner, der Beethoven bewunderte. Zeuner kannte Beethoven personlich und spielte Galitzin regelmaßig Klavierwerke Beethovens vor. Zusatzliche Motivation erhielt Beethoven durch die Ruckkehr des Geigers Ignaz Schuppanzigh nach Wien, der seit 1816 auf Reisen gewesen war und dessen Ensemble fast alle seine fruheren Streichquartette uraufgefuhrt hatte. Das Streichquartett in F-Dur op. 135 war das letzte Werk, das Beethoven vollendete.
Freunde und Bekannte Durch die Taubheit war Beethoven in den letzten Jahren zunehmend auf die Unterstutzung durch Freunde und Bekannte angewiesen. Zwar hatte Beethoven Hauspersonal (Kochin und Haushalterin), doch fuhrten heftige Auseinandersetzungen mit den Angestellten mehrfach zu Kundigungen von der einen oder anderen Seite.
Schon fruher hatte Beethoven Personen aus dem Freundeskreis zur Erledigung von Besorgungen und anderen Diensten genutzt, so etwa 1817/1818 die Klavierbauerin Nannette Streicher geb. Stein. Die freundschaftliche Verbindung Beethovens zur Klavierbauerfamilie Stein geht schon auf seinen fruhen Aufenthalt in Augsburg 1787 zuruck. Nanette Streicher kummerte sich um die Haushaltsfuhrung und vermittelte oft auch zwischen dem Komponisten und seinem Hauspersonal.
1822 tauchte erstmals Anton Schindler in Beethovens Bekanntenkreis auf. Schindler suchte Beethovens Nahe und diente sich ihm als Faktotum an. Seine Mischung aus Servilitat und Eigenmachtigkeit war immer wieder Ausloser fur dessen Unmut und Verachtung. Nach Beethovens Tod brachte Schindler Dokumente aus dessen Nachlass, so einen Teil der Konversationshefte, in seinen Besitz. Schindler verfasste eine der fruhesten Beethoven-Biografien, doch ist die Glaubwurdigkeit vieler seiner Angaben zweifelhaft, da er zur Untermauerung seiner Behauptungen auch vor Falschungen nicht zuruckschreckte.
Im Sommer 1825, nach dem Bruch mit Schindler, ubernahm Karl Holz, der zweite Geiger aus dem Schuppanzigh-Quartett, die Funktion des personlichen Sekretars und Beraters. Gerade in den letzten Monaten seines Lebens gewann die Freundschaft mit Beethovens Jugendfreund Stephan von Breuning, der 1801 nach Wien gekommen war, wieder an Bedeutung. Breuning wurde im September 1826 Mitvormund des Neffen Karl und kummerte sich um Beethoven in den Monaten seiner Todeskrankheit.
Familie Ludwig van Beethovens Bruder Johann hatte es als Apotheker in Wien zu einigem Wohlstand gebracht. Der nie besonders enge Kontakt der Bruder intensivierte sich, als Beethoven sich von Johann 1822 eine großere Summe lieh. In den folgenden Jahren zog der Komponist den erfolgreichen Geschaftsmann immer wieder als Berater in Geldangelegenheiten heran.
Die Entscheidung des Appellationsgerichts am 8. April 1820, die Beethoven endgultig zum Vormund seines Neffen Karl bestimmte unter der Bedingung, dass ein Mitvormund ihn unterstutzte, konnte die fortgesetzten Spannungen zwischen Onkel und Neffe nicht beenden. Am 6. August 1826 unternahm Karl einen Suizidversuch, der zum Rucktritt Beethovens von der Vormundschaft fuhrte.
Krankheiten und Tod Schon seit etwa seinem 30. Lebensjahr litt Beethoven haufig an Krankheiten. Es sind Schilderungen unterschiedlicher Symptome wie Durchfall, Leibschmerzen, Koliken, Fieberzustande oder Entzundungen uberliefert. Als Ursachen kommen zum einen akute Erkrankungen in Betracht, zum anderen werden eine oder mehrere chronische Erkrankungen als Hauptursache genannt. Neben ubermaßigen Alkoholkonsum wurden unter anderem eine Bleivergiftung oder eine Brucellose vermutet.
Ob nur eine einzige oder mehrere verschiedene Ursachen fur Beethovens gesundheitliche Probleme verantwortlich waren, ließ sich bis in die heutige Zeit nicht zweifelsfrei feststellen. Beethovens Biografen haben festgehalten, dass der Kunstler regelmaßig billigen Weißwein trank, der von den Winzern damals mit Bleizucker statt mit teurem Rohrzucker gesußt wurde. Dazu passte lange Zeit das Ergebnis der Analyse von Haaren, die Beethoven zugeschrieben wurden. Die untersuchte Haarlocke und auch Knochen von Beethoven enthalten Blei in einer außergewohnlich hohen Konzentration: „Wir haben mehr als 20.000 Patienten untersucht und bei allen den Bleigehalt im Blut und in den Haaren gemessen. Darunter waren nur acht Menschen die vergleichbare Bleiwerte hatten. Alle acht sind schwer krank und ihre Symptome ahneln denen von Beethoven. Das Blei muss nicht die einzige Ursache fur Beethovens Krankheit und fruhen Tod sein, aber mit Sicherheit hat das giftige Metall seine Beschwerden verstarkt.“
Mit zunehmendem Alter mehrten sich Haufigkeit und Intensitat der Krankheitszustande.
Das 2023 in einer Studie veroffentlichte Ergebnis einer DNA-Sequenzierung zeigt, dass Beethoven eine erbliche genetische Veranlagung fur eine Leberzirrhose hatte und mit Hepatitis B infiziert war, was in Verbindung mit seinem Alkoholkonsum wohl zu seiner schweren Lebererkrankung und damit zum Tod fuhrte. Dieselbe Studie wirft Zweifel an der Bleivergiftungsthese auf, da durch den Gen-Test nachgewiesen werden konnte, dass die bleihaltige Haarlocke, auf die sich diese These hauptsachlich stutzte, von einer Frau stammt. Fur Beethovens Horverlust konnte jedoch keine genetische Veranlagung gefunden werden.
Im Sommer 1821 kundigte sich durch eine schwere Gelbsucht und wahrscheinlich Alkoholmissbrauch eine Leberzirrhose an. Beethoven suchte Linderung der Beschwerden in Bader- und Landaufenthalten. Sein letzter fuhrte ihn am 29. September 1826 – zusammen mit seinem Neffen – auf das Landgut seines Bruders Johann nach Gneixendorf. Auf der Ruckreise nach Wien, die Anfang Dezember bei nasskaltem Wetter im offenen Wagen stattfand, zog sich Beethoven eine Lungenentzundung zu. Kurz nach der Genesung zeigten sich mit Wasseransammlungen in Beinen und Unterleib sowie einer Gelbsucht schwere Symptome der Leberzirrhose, so dass Beethoven das Krankenbett nicht mehr verlassen konnte. Nach mehreren Punktionen und erfolglosen Behandlungsversuchen verschiedener Arzte starb Beethoven am 26. Marz 1827 im Alter von 56 Jahren. Sein letzter Arzt war Andreas Ignaz Wawruch.
Die Beisetzung auf dem Wahringer Ortsfriedhof fand am 29. Marz unter großer Anteilnahme der Wiener Bevolkerung statt. Ungefahr 20.000 Personen sollen am Trauerzug teilgenommen haben. Die von Franz Grillparzer verfasste Grabrede sprach der Schauspieler Heinrich Anschutz. Franz Schubert, der Beethoven ein Jahr spater ins Grab folgen sollte, erwies ihm neben Grillparzer als einer der 36 Fackeltrager die letzte Ehre.
Beethovens Leichnam wurde zweimal exhumiert: 1863, um die Gebeine zu vermessen und den Schadel zu fotografieren; 1888, um sein Skelett – erneut unter großer offentlicher Anteilnahme – am 22. Juni 1888 in den Ehrenhain auf dem Wiener Zentralfriedhof umzubetten. Teile des Schadels gelangten in die USA und kamen 2023 als Schenkung an die Medizinische Universitat Wien.
In der 2013 veroffentlichten Studie „Blei und die Taubheit von Ludwig van Beethoven“ der American Laryngological, Rhinological and Otological Society, die sich auf eine Literaturrecherche stutzt, steht:
„Beweise fur eine Otosklerose gibt es nicht, da bei der genauen groben Untersuchung von Beethovens Mittelohren bei der Autopsie keine otosklerotischen Herde gefunden wurden. Seine langsam fortschreitende Schwerhorigkeit uber einen Zeitraum von Jahren unterscheidet sich von den berichteten Fallen von Autoimmun-Horverlust, die schnell uber einen Zeitraum von Monaten fortschreiten. Er hatte auch keinen blutigen Durchfall, der bei autoimmunen entzundlichen Darmerkrankungen immer auftritt. Das Fehlen von Quecksilber in Beethovens Haar- und Knochenproben lasst den Schluss zu, dass seine Taubheit nicht auf Syphilis zuruckzufuhren war, da Syphilis zu dieser Zeit mit Quecksilber behandelt wurde. Hohe Bleikonzentrationen tief in den Knochen deuten eher auf eine wiederholte Exposition uber einen langen Zeitraum hin als auf eine begrenzte Exposition vor dem Todeszeitpunkt. Die bei der Autopsie festgestellten geschrumpften Cochlea-Nerven stehen im Einklang mit einer axonalen Degeneration aufgrund von Schwermetallen wie Blei. Chronische Bleiexposition in geringer Konzentration fuhrt zu einem langsam fortschreitenden Horverlust mit sensorischen und autonomen Befunden und nicht zu dem klassischen Handgelenksabfall aufgrund einer motorischen Neuropathie bei einer subakuten Vergiftung. Beethovens Arzte vermuteten, dass er alkoholabhangig war. Er mochte besonders gerne Wein, der zufallig mit Blei versetzt war.“
Der Komponist = Bedeutung =
Im 19. Jahrhundert bedeuteten Beethovens Werke (bzw. eine bestimmte Auswahl von Hauptwerken) der Musikwelt vielfach den Gipfel der Tonkunst. Heute gilt Beethoven als der Vollender der Wiener Klassik und Wegbereiter der Romantik. Insbesondere in den fur die Epoche der Wiener Klassik grundlegenden Formen der Sinfonie, der Klaviersonate und des Streichquartetts hat er Werke geschaffen, deren musikgeschichtlicher Einfluss kaum zu ubertreffen ist. So legte Beethoven beispielsweise wichtige Grundsteine fur die weitgehende sinfonische Durchdringung der Solokonzerte in der weiteren Musikgeschichte.
In der Sonatensatzform verlegte er den Schwerpunkt auf die Durchfuhrung und erreichte durch konsequente motivische Arbeit ein besonderes Ausmaß an strukturellem Zusammenhalt. Haydns und Mozarts Konzepte von individualisierten Instrumentalstimmen in einer prozesshaften Form entwickelte Beethoven weiter im Sinne einer dem Ideengehalt angemessenen Dynamisierung der Form, die nun großere Dimensionen in Anspruch nimmt. Gegenuber dem hofisch-aristokratische Menuett bevorzugte Beethoven ein auch ernstes Scherzo in großenteils schnellen und sehr schnellen Tempi, das Tanzrhythmen vermeidet; das Finale, vor Beethoven meist heiter und lebhaft verlaufender Ausgang, konnte bei ihm zum Zielpunkt der Entwicklung des ganzen Werks werden und unter Umstanden auch den ersten Satz an Ausdehnung und Gewicht ubertreffen.
Wesentliche Neuerung war zudem die Einheit eines zusammenfassenden Gedankens. Was er in einzelnen Werken (z. B. in den Klaviersonaten Pathetique und Les Adieux, in der Eroica und in der Pastoral-Sinfonie) schon durch den Titel deutlich machte, lasst sich auf die Mehrzahl seiner Instrumentalwerke anwenden: dass die in den einzelnen Teilen dargestellten Seelenzustande in einer inneren Beziehung zueinander stehen.
Seine Skizzenbucher zeigen, mit wie viel unermudlicher Arbeit und wiederholten Versuchen er seinen Werken die Gestalt zu geben suchte, in der sie ihn schließlich befriedigten. Man staunt, wie O. Jahn schrieb:
= Bonner Zeit =
Die fruhen, noch in der Bonner Zeit entstandenen Werke Beethovens umfassen zehn heute bekannte Kompositionen aus dem Zeitraum 1782–1785. Sie wurden, im Bemuhen, ihn zu einem Wunderkind zu stilisieren, fast alle veroffentlicht. Außerdem sind etwa dreißig Werke aus den Jahren 1787–1792 bekannt, von denen damals jedoch nur eines veroffentlicht wurde. Viele davon arbeitete Beethoven in spatere Werke ein. Die Stucke des ersten Zeitraums waren noch stark vom Stil Neefes und Sterkels gepragt und orientierten sich am Vorbild Mozarts. Die spateren Bonner Jahre brachten eigenstandigere Lieder, Kantaten, Arien und Variationen, die in manchen Fallen bereits den analytisch arbeitenden Komponisten spaterer Zeit erahnen ließen. Die Werke im Sonatenstil sind dagegen wenig eindrucksvoll und blieben in großen Teilen Fragment; diese fur den spateren Beethoven so wichtige Form hat er sich erst in der Wiener Zeit angeeignet.
Seine fruhen Werke erschienen im Original bei Heinrich Philipp Bossler im Musikverlag. Der junge Beethoven hat sich erste musikalische Impressionen aus der von Boßler herausgegebenen Blumenlese fur Klavierliebhaber eingeholt. Seine ersten Kompositionen erschienen 1783 ebenfalls in der Blumenlese. Spater ubernahm der Impresario und Musikverleger Boßler die Gestaltung des Originals von Beethovens Kurfursten-Sonaten. Dieser Druck blieb bis 1828 der einzig vorliegende der Sonaten.
= Erste Epoche des individuellen Schaffens =
Sie begann mit der Herausgabe der ersten drei Klaviertrios op. 1 (1795) und endete etwa mit den Jahren 1800–1802. Die 1. Sinfonie gehort dazu. Im Alter von 29 Jahren nahm Beethoven sie in Angriff und vollendete sie am Anfang des darauffolgenden Jahres. Sie wurde mit großem Erfolg am 2. April 1800 uraufgefuhrt. Bahnbrechend in dieser Zeit waren die Klavierkompositionen, sowohl in der Form des Konzerts als auch der Sonate und Variation, nicht nur in der Technik, sondern auch im Zuschnitt der Satze und des Ganzen.
= Zweite Schaffensperiode =
Sie begann etwa in den Jahren 1800–1802 und dauerte bis 1814. Hierher gehoren vor allem Sinfonien und Klaviersonaten.
Eroica und Fidelio Mit der 3. Sinfonie fand Beethoven zur Form einer eher monumentalen und heroischen Sinfonie. Ursprunglich trug sie den Titel Sinfonia grande, intitolata Bonaparte (benannt nach Napoleon). Nachdem er erfuhr, dass Napoleon sich am 18. Mai 1804 zum franzosischen Kaiser gemacht hatte, radierte er jedoch – so eine Anekdote – in großer Wut den Namen aus dem Titelblatt. Seine neue Uberschrift hieß nun Heroische Sinfonie, komponiert um das Andenken eines großen Mannes zu feiern. Heute wird sie meistens mit ihrem italienischen Titel Eroica genannt. Uraufgefuhrt wurde sie im August 1804 im Wiener Palais des Fursten Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz, dem sie nun auch gewidmet war.
1805 wurde Beethovens einzige Oper uraufgefuhrt. Sie hatte, wie auch viele andere Werke, etliche Uberarbeitungen erlebt und hieß ursprunglich Leonore. In der dritten Fassung als Fidelio (mit der E-Dur-Ouverture) kam sie 1814 auf die Buhne. Beethoven hat mit ihr keine neuen Wege dramatischer Gestaltung beschritten. Ihre besondere Stellung hat sie nach wie vor durch den reichen und tiefen, menschlich interessanten und beruhrenden Stoff und die Qualitat ihrer Musik.
Sinfonien Nr. 5 c-Moll, Nr. 6 F-Dur und Nr. 7 A-Dur Beethovens 5. Sinfonie wird auch Schicksalssinfonie genannt. Sie entstand in einer schweren Lebensphase des Komponisten. Uber die markanten vier Anfangstone soll Beethoven gesagt haben: „So pocht das Schicksal an die Pforte“. Allerdings wurde dies von Musikhistorikern als spatere legendarische Zuschreibung verworfen. Am 22. Dezember 1808 wurde sie zusammen mit der 6. Sinfonie (Pastorale), dem vierten Klavierkonzert und Teilen der C-Dur-Messe uraufgefuhrt.
Die Pastorale ist nicht im eigentlichen Sinne Programmmusik, wie sie falschlich oft bezeichnet wird, sondern nach Beethovens eigener Aussage „mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“. Damit befindet sich die Sinfonie immer noch auf dem Boden der Klassik. Franz Liszt, der die ersten sinfonischen Dichtungen schrieb, bezog sich bei der Entwicklung dieses neuen Genres vielmehr auf die Ouverturen Beethovens, wie etwa Coriolan oder Konig Stephan. Allerdings stellte die naturbezogene Thematik der Pastorale ein Grundelement der folgenden Epoche der Romantik dar, der Epoche sinfonischer Dichtungen schlechthin. Ebenso legte die Kunst der Romantik den Akzent auf das Innerste des Menschen, also sein Empfinden und seine Gesinnung. Unter dem Gesichtspunkt, den wahrscheinlich auch Beethoven fur seine Pastorale eingenommen hatte, konnte diese sehr wohl als Romantikvorlauferin betrachtet werden. Dafur spricht die Formerweiterung auf funf Satze ebenso wie der Einbezug von Instrumenten (z. B. Piccoloflote), die im klassischen Sinfonieorchester nicht heimisch sind. Dies sind klar auf die Romantik hinweisende Neuerungen, die in der triumphalen 9. Sinfonie noch wesentlich deutlicher werden. Außerdem sind auch einige der in der Pastorale verwendeten „programmmusikalischen“ Topoi („Sturm“ etc.) in der Romantik gerne aufgegriffen worden.
In der 1812 beendeten 7. Sinfonie A-Dur op. 92 nimmt Beethoven musikalisch bereits die spateren antinapoleonischen Befreiungskriege vorweg. Sie entfachte bei der Urauffuhrung im Dezember 1813 eine riesige Euphorie unter den Zuhorern. Diese Sinfonie zeichnet sich durch einen gewissen Patriotismus aus und deutet nicht so deutlich auf die kommende Epoche der Romantik hin wie die Vorganger-Sinfonien. Dennoch sind harmonische und polyphone Neuerungen in dem Werk deutlich zu spuren. Zentraler Satz des Werkes ist unublicherweise der zweite, das Allegretto. Es ist von einem feierlich schreitenden Rhythmus gepragt, „wie ein endloser Trauerzug von Millionen“. Er ist nach den Worten Beethovens denjenigen gewidmet, „die uns so viel geopfert haben“.
= Letzte Schaffensperiode =
In den Jahren 1814 bis 1818 erlahmte Beethovens Produktion vorubergehend. In diesem Zeitraum entstanden nur einzelne großere Kompositionen, z. B. die Klaviersonate A-Dur op. 101 (1815) und der Liederkreis. Krankheit und bitteres hausliches Leid hemmten seine Phantasie. Nach Uberwindung dieser Zeit der Entmutigung war er in mancher Beziehung verandert. Sein Empfinden war bei volliger Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt noch mehr verinnerlicht, infolgedessen der Ausdruck haufig noch ergreifender und unmittelbarer als fruher, dagegen die Einheit von Inhalt und Form mitunter nicht so vollendet wie sonst, sondern von einem subjektiven Moment beeinflusst.
Die Hauptwerke dieser dritten Epoche sind die Missa solemnis (1818–1823), die Beethoven selbst fur sein vollendetstes Werk hielt, und die neunte Sinfonie in d-Moll (1823–1824). Außerdem gehoren zu dieser Zeit: die Ouverture Zur Weihe des Hauses, Op. 124 (1822), die Klaviersonaten Op. 106 in B-Dur (1818), Op. 109 in E-Dur, Op. 110 in As-Dur (1821) und Op. 111 in c-Moll (1822), die Diabelli-Variationen, mehrere kleinere Stucke fur Klavier und Gesang und schließlich die letzten großen Streichquartette Op. 127 in Es-Dur (1824), Op. 130 in B-Dur und Op. 132 in a-Moll (1825), Op. 131 in cis-Moll und Op. 135 in F-Dur (1826). Die spaten Streichquartette gehen auf Beethovens Beschaftigung mit den Kompositionstechniken Johann Sebastian Bachs zuruck, speziell seine Fugentechniken. Trotzdem weisen diese Stucke nicht in die Vergangenheit, sondern weit in die Zukunft. Speziell sein Op. 133 (Große Fuge) war fur seine Zeit außerordentlich modern und wurde im gesamten 19. Jahrhundert kaum verstanden. Viele Entwurfe, darunter der zu einer zehnten Sinfonie in Es-Dur und zu einem Streichquintett in C-Dur, befanden sich im Nachlass des Komponisten.
9. Sinfonie 1824 vollendete Beethoven die 9. Sinfonie. Der letzte Satz mit dem Chorfinale zu Schillers Gedicht An die Freude ist besonders bekannt. Das Thema dieses Satzes ist die Grundlage der Europahymne. Die Sinfonie druckt das Ringen eines Menschenherzens aus, das sich aus Muhen und Leiden nach dem Tag reiner Freude sehnt, der ihm doch in voller Klarheit und Reinheit nicht beschieden ist. Die ersten drei Satze mit ihrer grandiosen Architektur, Instrumentierung und Themenverarbeitung wurden richtungsweisend fur die Sinfoniker der Romantik bis hin zu Gustav Mahler. Die Urauffuhrung der 9. Sinfonie erfolgte zusammen mit Teilen der Missa solemnis am 7. Mai 1824. Beethoven wollte, obwohl er die Auffuhrung nicht mehr selbst leiten konnte, den Dirigenten durch Angabe der Tempi unterstutzen. Das Orchester war allerdings angewiesen worden, dies nicht zu beachten.
Sinfonie Nr. 10 Beethoven hat noch kurz vor seinem Tod an seiner 10. Sinfonie gearbeitet, diese aber nicht vollendet. Vom ersten Satz existieren viele Skizzen und Notizen. Barry Cooper hat diese Skizzen zu einem ersten Satz ausgearbeitet. Auch zu einem dritten Satz, einem mit Presto betitelten kraftvollen Scherzo, existieren Skizzen aus dem Jahr 1825. Am 9. Oktober 2021 wurde eine mit Hilfe von kunstlicher Intelligenz „fertiggestellte“ Version dieser 10. Sinfonie durch das Beethoven Orchester Bonn unter Leitung von Dirk Kaftan uraufgefuhrt.
= Beethovens Hammerklaviere =
Beethoven besaß im Laufe seines Lebens einige Klaviere, die in einer Umbruchszeit des Klavierbaus erbaut wurden. Die wahrend Beethovens Jugendzeit in Bonn entstandenen Werke wurden auf dem Cembalo, dem Clavichord und der Orgel gespielt. Seine Werke aus der Wiener Zeit waren fur Hammerflugel des spaten 18. und fruhen 19. Jahrhunderts komponiert, die sich erheblich von heutigen Konzertflugeln unterscheiden: kleinere, mit Leder uberzogene Hammerkopfe; dunnere Saiten; gerade Besaitung; Holz- statt Metallrahmen, dadurch leiser; langsamere „Wiener Mechanik“; deutlich kurzere Nachhallzeit bei Aufhebung der Dampfung. Beethovens erste Instrumente besaßen keine Pedale; die Dampfungsaufhebung erfolgte bis 1803 mittels eines Kniehebels.
In seinen fruhen Werken rechnete Beethoven mit einem Tastaturumfang von funf Oktaven (F1 bis f3). Bei transponierten Parallelstellen erwies sich dies gelegentlich als Einschrankung. Von 1804 an erweiterte er den Ambitus gelegentlich um eine Oktave aufwarts bis f4. Fur die letzten Sonaten wird ein Klaviaturumfang von sechseinhalb Oktaven (C1 bis f4) vorausgesetzt.
1788 schenkte Graf Waldstein Beethoven einen Hammerflugel von Johann Andreas Stein.
Von ca. 1794 bis 1803 verwendete Beethoven auch von Anton Walter einen Flugel. In seinen Erinnerungen erwahnt Carl Czerny, dass er einen solchen 1801 in seinem Haus gehabt habe. Gegenuber den ebenfalls hochangesehenen Instrumenten von Johann Andreas Stein besitzen die Hammerklaviere von Walter einen fulligeren Klang, der durch die Verwendung großerer Hammerkopfe, eines starkeren Saitenbezugs und entsprechender Stegmensuren erreicht wurde.
1796 spielte Beethoven bei einem Konzert in Preßburg einen Flugel von Frere et Sœur Stein, den Nannette Streicher und ihr Bruder Andre Stein in Wien erbaut hatten. In einem Brief an Andreas Streicher, den Ehemann von Nannette Streicher, schrieb Beethoven: „Ich habe Ihr Fortepiano vorgestern erhalten. Es ist wirklich wunderbar, jeder andere hatte es fur sich behalten wollen… “
1796 machte Beethoven in einem Brief an den Klavierbauer Andreas Streicher deutlich, dass ihm die Klaviere klanglich vielfach noch zu harfenahnlich waren, Streicher aber mit seiner Bauweise einer von wenigen sei, die „einsehen und fuhlen, dass man auf dem Klavier auch singen konne, sobald man nur fuhlen kann.“
1802 begehrt Beethoven ein Klavier von Anton Walter mit einem „Una-Chorda-Zug“, den er aber wohl nicht erhalten hat.
1803 erhielt Beethoven einen Hammerflugel von Sebastien Erard aus Paris mit der Seriennummer 133, fur den er 1500 Francs bezahlte. Erards Instrument besitzt einen dreichorigen Saitenbezug und ein Una-Corda-Pedal, mit dessen Hilfe das einsaitige, zweisaitige oder dreisaitige Anschlagen der Hammer moglich ist, weshalb Beethoven seine spateren Klavierwerke mit ausfuhrlichen Pedalanweisungen versah. Im Gegensatz zu den Wiener Instrumenten mit Prellmechanik verfugt dieses uber eine sogenannte englische Mechanik, also eine Stoßmechanik, die ganz andere Anforderungen an Beethoven stellte. Nach William Newman war Beethoven von Anfang an mit diesem Instrument unglucklich, da er die englische Mechanik als unertraglich schwer empfand. Das Instrument ist seit 1845 im Besitz des Oberosterreichischen Landesmuseums in Linz.
1804 spielte Beethoven wahrend eines langeren Aufenthaltes in Oberdobling einen Flugel von Andre Stein.
1810 bestellte Beethoven einen Hammerflugel bei Andreas und Nannette Streicher.
1817 orderte Beethoven ein weiteres Instrument bei Nannette Streicher, kaufte es aber nicht.
1818 erhielt Beethoven einen englischen Flugel von Thomas Broadwood mit sechs Oktaven als Geschenk, Beethoven ließ ihn mehrfach umbauen und war scheinbar dennoch nie zufrieden mit ihm. Er behielt ihn entweder bis 1825 oder bis zu seinem Tod im Jahr 1827 in seinem Schwarzsparnierhaus, wie eine Radierung von Gustav Leybold nahelegt. Spater war das Instrument im Besitz von Franz Liszt und steht heute im Liszt-Museum in Budapest.
1826 bekam Beethoven einen vierchorigen Hammerflugel von Conrad Graf mit 6 ½ Oktaven als Leihinstrument. Das Instrument konnte ein-, zwei-, drei- oder viersaitig gespielt werden, wodurch eine quasi stufenlose Lautstarkeregulierung moglich wurde. Beethoven hat das Instrument in doppeltem Sinne jedoch niemals gehort: Conrad Graf blieb Eigentumer und Beethoven war taub. Daher scheidet es als Referenzinstrument fur seine Werke aus. Nach dem Tod des Komponisten wurde der Flugel an die Familie Wimmer verkauft. 1889 wurde das Instrument vom Beethoven-Haus in Bonn erworben.
Schuler Carl Czerny
Ferdinand Ries
Rudolf von Osterreich-Toskana
Werke (Auswahl) (WoO = Werk ohne Opuszahl)
= Orchesterwerke =
Sinfonien:
1. Sinfonie C-Dur op. 21 (1799/1800), UA 2. April 1800
2. Sinfonie D-Dur op. 36 (1802), UA 5. April 1803
3. Sinfonie Es-Dur op. 55 „Eroica“ (1803/1804), UA 7. April 1805
4. Sinfonie B-Dur op. 60 (1806), UA 15. November 1807
5. Sinfonie c-Moll op. 67 [„Schicksalssinfonie“] (1800–1808), UA 22. Dezember 1808
6. Sinfonie F-Dur op. 68 „Pastorale“ (1807/1808), UA 22. Dezember 1808
7. Sinfonie A-Dur op. 92 (1811/1812), UA 8. Dezember 1813
8. Sinfonie F-Dur op. 93 (1811/1812), UA 27. Februar 1814
9. Sinfonie d-Moll op. 125 mit Schlusschor uber Friedrich Schillers Gedicht An die Freude (1815–1824), UA 7. Mai 1824
Wellingtons Sieg op. 91, 1813
Klavierkonzerte:
Konzert fur Klavier und Orchester WoO 4 Es-Dur, 1784 (Jugendwerk)
Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15, 1795–1801
Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19, 1788–1801
Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37, 1800–1803
Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58, 1804–1807
Klavierkonzert Nr. 5 Es-Dur op. 73, 1809
Weitere konzertante Werke:
Romanze fur Violine und Orchester G-Dur op. 40, veroff. 1803
Romanze fur Violine und Orchester F-Dur op. 50, veroff. 1805
Violinkonzert D-Dur op. 61, 1806
Auch als Bearbeitung zum Klavierkonzert vorhanden (op. 61a)
Tripelkonzert fur Klavier, Violine und Violoncello C-Dur op. 56, 1804–1805
Konzert fur Oboe und Orchester F-Dur Hess 12
Chorfantasie: c-Moll op. 80 fur Klavier, Chor und Orchester, 1808–1809
Ouverturen:
Coriolan-Ouverture c-Moll op. 62, 1807
Ouverture Zur Namensfeier op. 115, 1815
Leonoren-Ouverture Nr. 1, op. 138; komponiert 1807 fur eine geplante Auffuhrung in Prag
= Oper und andere Buhnenwerke =
Oper:
Leonore (1. Version, komp. 1804/1805, UA: 1805; Libretto von J.v. Sonnleithner, 3 Akte, 19 Gesangs- und Musiknummern, eroffnet mit Leonoren-Ouverture Nr. 2)
Leonore (2. Version, komp. 1805/1806, UA: 1806; Libretto revidiert von St.v. Breunig, 2 Akte, 18 Gesangs- und Musiknummern, eroffnet mit Leonoren-Ouverture Nr. 3)
Fidelio (3. Version der Leonore, komp. 1814, UA: 1814; Libretto revidiert von Fr. Treitschke, 2 Akte, 17 Gesangs- und Musiknummern, eroffnet mit der Fidelio-Ouverture.)
Ballette:
Musik zu einem Ritterballett WoO 1, 1790–1791
Die Geschopfe des Prometheus op. 43, 1800–1801
Buhnenmusiken:
Musik zu Goethes Trauerspiel Egmont op. 84, 1810
Die Ruinen von Athen op. 113, 1811
Konig Stephan op. 117, 1811
Die Weihe des Hauses op. 124, 1822
Leonore Prohaska WoO 96, 1815 (siehe auch Eleonore Prochaska)
= Vokalwerke =
Oratorium Christus am Olberge op. 85 (1803)
Messen Messe in C-Dur op. 86 (1807)
Missa solemnis D-Dur op. 123 (1819–1823)Zur Inthronisation seines Schulers und Forderers Erzherzog Rudolf, Kardinalerzbischof von Olmutz.
Kantaten Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. (WoO 87), 1790
Kantate auf die Erhebung Leopolds II. zur Kaiserwurde (WoO 88), 1790
Meeresstille und gluckliche Fahrt fur 4 Singstimmen mit Orchester op. 112 (1815)Nach Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe.
Der glorreiche Augenblick, Kantate fur 4 Solostimmen, Chor und Orchester, op. 136 (Sept.–Nov. 1814)
Lieder Schilderung eines Madchens WoO 107
An einen Saugling WoO 108
Der freie Mann WoO 117
Acht Lieder op. 52Urians Reise um die Welt, Feuerfarb’, Das Liedchen von der Ruhe, Maigesang, Mollys Abschied, Die Liebe, Marmotte, Das Blumchen Wunderhold
Ich liebe dich so wie du mich WoO 123
La partenza WoO 124
Adelaide op. 46
Abschiedsgesang an Wiens Burger WoO 121
Kriegslied der Osterreicher WoO 122
Opferlied WoO 126
Neue Liebe, neues Leben WoO 127 (1. Fassung)
La tiranna WoO 125
VI Lieder von Gellert op. 48Bitten, Die Liebe des Nachsten, Vom Tode, Die Ehre Gottes aus der Natur (Die Himmel ruhmen), Gottes Macht und Vorsehung, Bußlied
Lebensgluck op. 88
Der Wachtelschlag WoO 129
An die Hoffnung op. 32 (1. Vertonung)
Elegie auf den Tod eines Pudels WoO 110
Als die Geliebte sich trennen wollte (Empfindungen bei Lydiens Untreue) WoO 132
In questa tomba oscura WoO 133
Sehnsucht WoO 134 (4 Vertonungen)
Andenken WoO 136
Der Jungling in der Fremde WoO 138
Lied aus der Ferne (gleicher Klavierpart wie Der Jungling in der Fremde WoO 138)
Gesang aus der Ferne WoO 137
Der Liebende WoO 139
Sechs Gesange op. 75Kennst du das Land, Neue Liebe, neues Leben (2. Fassung), Aus Goethes Faust (Flohlied des Mephisto), Gretels Warnung, An den fernen Geliebten, Der Zufriedene
Vier Arietten und ein Duett op. 82Dimmi, ben mio, che m’ami, T’intendo si, mio cor, L’amante impaziente (Arietta buffa), L’amante impaziente (Arietta assai seriosa), Odi l’aura che dolce sospira
Drei Gesange von Goethe op. 83Wonne der Wehmut, Sehnsucht, Mit einem gemalten Band
An die Geliebte (1. Fassung)
An die Geliebte WoO 140 (3. Fassung)
Der Bardengeist WoO 142
Des Kriegers Abschied WoO 143
Merkenstein WoO 144 (1. Vertonung)
Merkenstein op. 100 (2. und 3. Vertonung)
Das Geheimnis WoO 145
An die Hoffnung op. 94 (2. Vertonung)
Sehnsucht WoO 146
An die ferne Geliebte. Ein Liederkreis von Aloys Jeitteles op. 98Auf dem Hugel sitz’ ich, spahend, Wo die Berge so blau, Leichte Segler in den Hohen, Diese Wolken in den Hohen, Es kehret der Maien, es bluhet die Au, Nimm sie hin denn, diese Lieder
Der Mann vom Wort op. 99
Ruf vom Berge WoO 147
So oder so WoO 148
Resignation WoO 149
Abendlied unterm gestirnten Himmel WoO 150
Ariette (Der Kuß) op. 128
O sanctissima („O du frohliche“) WoO 157, Nr. 4
Aus den Liedern verschiedener Volker WoO 158
Zahlreiche Volkslied-Bearbeitungen
= Klavierwerke =
Im Mittelpunkt seines Schaffens stehen die 32 Sonaten fur Klavier. Außerdem schrieb er Variationen uber fremde und eigene Themen, von denen die Diabelli-Variationen zu den bedeutendsten Klavierwerken zahlen.
Unter den zahlreichen Klavierstucken sind die drei Bagatellensammlungen op. 33, op. 119 und op. 126 besonders bedeutend. Popular sind vor allem das Albumblatt Fur Elise und das Rondo Die Wut uber den verlorenen Groschen (op. 129).
= Kammermusik =
Streichtrios Streichtrio Es-Dur op. 3 (1792)
Serenade D-Dur op. 8 (1797)
Drei Trios op. 9 (1796–1798)
Op. 9 Nr. 1 G-Dur
Op. 9 Nr. 2 D-Dur
Op. 9 Nr. 3 c-Moll
Streichquartette Sechs Streichquartette op. 18
Streichquartett Nr. 1 F-Dur op. 18 Nr. 1
Streichquartett Nr. 2 G-Dur op. 18 Nr. 2
Streichquartett Nr. 3 D-Dur op. 18 Nr. 3
Streichquartett Nr. 4 c-Moll op. 18 Nr. 4
Streichquartett Nr. 5 A-Dur op. 18 Nr. 5
Streichquartett Nr. 6 B-Dur op. 18 Nr. 6
Drei Streichquartette op. 59 Rasumovsky-Quartette
Streichquartett Nr. 7 F-Dur op. 59 Nr. 1
Streichquartett Nr. 8 e-Moll op. 59 Nr. 2
Streichquartett Nr. 9 C-Dur op. 59 Nr. 3
Streichquartett Nr. 10 Es-Dur op. 74 Harfenquartett
Streichquartett Nr. 11 f-Moll op. 95
Streichquartett Nr. 12 Es-Dur op. 127
Streichquartett Nr. 13 B-Dur op. 130
Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131
Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132
Große Fuge B-Dur op. 133
Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135
Klavierquartette 3 Klavierquartette WoO 36 (1785)
Nr. 1 Es-Dur
Nr. 2 D-Dur
Nr. 3 C-Dur
Klaviertrios Trio fur Klavier, Flote und Fagott WoO 37 (um 1783)
Triosatz Hess 48 Es-Dur (circa 1790–1792)
Trio WoO 38 Es-Dur (1791)
3 Trios op. 1 (1795), dem Fursten Karl von Lichnovsky gewidmet
Op. 1 Nr. 1 Es-Dur
Op. 1 Nr. 2 G-Dur
Op. 1 Nr. 3 c-Moll
Gassenhauer-Trio op. 11 B-Dur (1798) fur Klavier, Violine/Klarinette und Violoncello, der Grafin Maria Wilhelmine von Thun gewidmet
Variationenzyklus uber ein eigenes Thema op. 44 Es-Dur (1800)
2 Trios op. 70 (1808), der Grafin Marie von Erdody gewidmet
Geistertrio op. 70 Nr. 1 D-Dur
Op. 70 Nr. 2 Es-Dur
Trio op. 97 B-Dur (1811), dem Erzherzog Rudolph von Osterreich gewidmet
Trio op. 121a g-Moll/G-Dur (komp. 1803?/rev. 1816) – Variationen uber Wenzel Mullers Lied Ich bin der Schneider Kakadu
Triosatz WoO 39 B-Dur (1812), Maximiliane Brentano gewidmet
Bearbeitungen von Beethovens Hand:
Trio op. 38 fur Klavier, Klarinette/Violine und Violoncello (1802/1803), Bearbeitung des Septetts op. 20
Bearbeitung der zweiten Sinfonie op. 36 fur Klaviertriobesetzung (1805)
Violinsonaten 3 Sonaten op. 12 (1797/1798), Antonio Salieri gewidmet
Sonate Nr. 1 in D-Dur op. 12 Nr. 1
Sonate Nr. 2 in A-Dur op. 12 Nr. 2
Sonate Nr. 3 in Es-Dur op. 12 Nr. 3
Sonate Nr. 4 in a-Moll op. 23 (1800/1801), dem Grafen Moritz von Fries gewidmet
Sonate Nr. 5 in F-Dur op. 24 (1800/1801) Fruhlingssonate, dem Grafen Moritz von Fries gewidmet
3 Sonaten op. 30 (1802), dem Zaren Alexander I. von Russland gewidmet
Sonate Nr. 6 in A-Dur op. 30 Nr. 1
Sonate Nr. 7 in c-Moll op. 30 Nr. 2
Sonate Nr. 8 in G-Dur op. 30 Nr. 3
Sonate Nr. 9 in A-Dur op. 47 (1803) Kreutzersonate, Rodolphe Kreutzer gewidmet
Sonate Nr. 10 in G-Dur op. 96 (1812), dem Erzherzog Rudolph von Osterreich gewidmet
Violoncellosonaten und Variationen 2 Sonaten op. 5 (1796), dem Konig Friedrich Wilhelm II. von Preußen gewidmet
Op. 5 Nr. 1 F-Dur
Op. 5 Nr. 2 g-Moll
Sonate A-Dur op. 69 (1808), dem Baron Ignaz von Gleichenstein gewidmet
2 Sonaten op. 102 (1815), der Grafin Marie v. Erdody gewidmet
Op. 102 Nr. 1 C-Dur
Op. 102 Nr. 2 D-Dur
Variationen fur Klavier und Violoncello
Zwolf Variationen uber ein Thema aus Handels Oratorium Judas Maccabaeus G-Dur Kinsky-Halm WoO 45 (1796), der Furstin Christiane von Lichnowsky gewidmet
Zwolf Variationen uber das Thema Ein Madchen oder Weibchen aus Mozarts Oper Die Zauberflote F-Dur op. 66 (1798)
Sieben Variationen uber das Thema Bei Mannern, welche Liebe fuhlen aus Mozarts Oper Die Zauberflote Es-Dur Kinsky-Halm WoO 46 (1801), dem Grafen Johann Georg von Browne-Camus gewidmet
Weitere kammermusikalische Werke Sonate F-Dur fur Horn und Klavier op. 17 (1800)
Septett op. 20 Es-Dur fur Klarinette, Horn, Fagott, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass
Serenade fur Flote, Violine und Bratsche D-Dur op. 25
Trio fur zwei Oboen und Englischhorn op. 87
Thema und Variationen fur zwei Oboen und Englischhorn WoO 28 nach Reich mir die Hand, mein Leben aus Mozarts Don Giovanni
Weitere Kammermusik fur Streicher (und Klavier)
3 Equale fur vier Posaunen
Aufnahmen Ronald Brautigam. Ludwig van Beethoven „Complete Works for Solo Piano“. Hammerflugeln nach Anton Walter, J.A.Stein, Conrad Graf von Paul McNulty
Malcolm Bilson, Tom Beghin, David Breitman, Ursula Dutschler, Zvi Meniker, Bart van Oort, Andrew Willis. Ludwig van Beethoven „The complete Piano Sonatas on Period Instruments“.
Robert Levin, John Eliot Gardiner. Ludwig van Beethoven „Piano Concertos“. Hammerflugel nach Walter von Paul McNulty.
Andras Schiff. Ludwig van Beethoven „Beethoven’s Broadwood Piano“.
Datentrager Ludwig van Beethoven: Meisterwerke ● 40 Stunden MP3, DVD–ROM, Aretinus Gesellschaft fur Musikarchivierung mbH, Berlin 2006, ISBN 3-939107-12-3.
Fiktionale Literatur Ludwig van Beethovens Leben und Wirken wurde nicht nur zum Gegenstand der Musikgeschichte, sondern auch der Literatur. Franz Grillparzer verfasste die Grabrede wie das zweistrophige Gedicht Worte uber Beethovens Grab zu singen. 1840 erschien die Novelle Eine Pilgerfahrt zu Beethoven, darin Richard Wagner seinem Vorbild Beethoven die eigene Opernvorstellung in den Mund legt. Heribert Rau portratierte ihn in seinem 1859 veroffentlichten Werk Beethoven, ein Kunstlerleben. 1903 heroisierte Romain Rolland in seinem psychologischen Roman Vie de Beethoven (Beethovens Leben) den Komponisten als Kunstler und Kampfer. Kurt Delbruck verfasste 1922 Die Liebe des jungen Beethoven und drei Jahre spater den Roman Die letzte Liebe Beethovens. 1926 erzahlte Arthur Schurig im Geschichtenband Vom Glucke Beethovens das Leben des Komponisten nach. 1927 erschien Ottokar Janetscheks Buch Der Titan, eine Nacherzahlung Beethovens Leben. 1927/1931 folgte Felix Huchs zweiteiliger Historienroman Beethoven. In der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts gelang Alfred Karrasch mit dem Roman Appassionata. Ein Lebensroman Beethovens ein Verkaufserfolg. 1952 erschien im Voggenreiter-Verlag die Novelle Das Godesberger Fruhstuck von Heinz Magka. 1973 erschien Die Muhsal eines Tages. Ein Beethoven-Roman von Joachim Kupsch; ein Jahr darauf die Sonette an Beethoven von Gustinus Ambrosi. Neben Romanen und Gedichten thematisierten zahlreiche Buhnenstucke das Leben des Komponisten.
Filme uber Beethoven 1909: Beethoven. Regie: Victorine-Hippolyte Jasset
1918: Der Martyrer seines Herzens. Regie: Emil Justitz
1927: Beethoven. Regie: Hans Otto Lowenstein
1937: Beethovens große Liebe. Regie: Abel Gance
1949: Eroica. Regie: Walter Kolm-Veltee (mit Ewald Balser in der Hauptrolle)
1954: Ludwig van Beethoven. Regie: Max Jaap
1962: Schicksals-Sinfonie. Regie: Georg Tressler (mit Karlheinz Bohm in der Hauptrolle)
1970: Ludwig van. Regie: Mauricio Kagel
1976: Beethoven – Tage aus einem Leben. Regie: Horst Seemann (mit Donatas Banionis als Beethoven)
1985: Beethoven die ganze Wahrheit. Regie Paul Morrissey (mit Wolfgang Reichmann als Beethoven)
1990: Freunde, diese Tone. Regie: Klaus Lindemann (mit Mathias Herrmann in der Hauptrolle)
1992: Beethoven Lives Upstairs. Regie: David Devine
1994: Ludwig van B. – Meine unsterbliche Geliebte. Regie: Bernard Rose (mit Gary Oldman in der Hauptrolle)
2003: Eroica – The day that changed music forever. Regie: Simon Cellan Jones (mit Ian Hart in der Hauptrolle)
2006: Klang der Stille. Regie: Agnieszka Holland (mit Ed Harris in der Hauptrolle)
2020: Louis van Beethoven. Regie: Nikolaus Stein von Kamienski (mit Tobias Moretti, Anselm Bresgott und Colin Putz als Beethoven in unterschiedlichem Lebensalter)
Buhnenstucke uber Beethoven 2020: Beethoven bei Nacht (Komodie). Von Thomas Rau. Urauffuhrung: 28. Mai 2020, Batzdorfer Pfingstfestspiele
2020: Looking 4 Ludwig (Melodrama). Von Christoph Wagner-Trenkwitz und Ksenija Zadravec. Urauffuhrung: 19. September 2020, Theater an der Wien
2021: Beethoven – Ein Leben (Theaterstuck). Von Thomas Sutter. Urauffuhrung: 13. Juni 2021, Deutsche Oper Berlin
2023: Beethoven (Musical). Buch und Liedtexte von Michael Kunze, Musik von Sylvester Levay, Inszenierung Gil Mehmert, Urauffuhrung: 12. Januar 2023, LG Arts Center Seoul
Philatelistisches Mit dem Erstausgabetag 2. Januar 2020 gab die Deutsche Post AG zum 250. Geburtstag Beethovens ein Sonderpostwertzeichen im Nennwert von 80 Eurocent heraus. Der Entwurf stammt vom Grafiker Thomas Steinacker aus Bonn.
Bereits am 20. Januar 1970 erschien bei der DDR-Post eine Briefmarke aus der Serie Beruhmte Personlichkeiten.
Beethoven als Namensgeber Folgende Einrichtungen, Veranstaltungen und Orte wurden zu Ehren Beethovens benannt.
Beethoven-Preis
Beethoven-Halbinsel (Antarktis)
Beethovenhalle (Bonn)
Beethovenfest (Bonn)
Beethoven-Gymnasium Bonn
Beethoven-Gymnasium (Berlin)
Beethovenstraße (verschiedene Stadte)
Beethoven Orchester Bonn
Beethoven Competition Bonn for Piano
Ludwig-van-Beethoven-Musikschule (Bonn)
Beethoven (Asteroid)
Beethovenfries (Monumentalgemalde von Gustav Klimt 1901/02, Wien)
Beethovenia, eine sudamerikanische Palmengattung wurde ihm zu Ehren benannt.
Siehe auch Liste der Beethoven-Denkmaler
Biographische Quellen Franz Gerhard Wegeler, Ferdinand Ries: Biographische Notizen uber Ludwig van Beethoven. Badeker, Koblenz 1838.
Franz Gerhard Wegeler: Nachtrag zu den biographischen Notizen uber Ludwig van Beethoven. Badeker, Koblenz 1845.
Anton Schindler: Biographie von Ludwig van Beethoven. Aschendorff, Munster 1860.
Gerhard von Breuning: Aus dem Schwarzspanierhause. Erinnerungen an L. v. Beethoven aus meiner Jugendzeit. Rosner, Wien 1874
Arrey von Dommer: Beethoven, Ludwig van. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 2, Duncker & Humblot, Leipzig 1875, S. 251–268.
Ludwig van Beethoven: Briefwechsel. Gesamtausgabe. Hrsg. von Sieghard Brandenburg. 7 Bande. Henle, Munchen 1996–1998.
Karl-Heinz Kohler, Grita Herre, Dagmar Beck (Hrsg.): Ludwig van Beethovens Konversationshefte. 11 Bande. Leipzig 1972–2001.
Maynard Solomon (Hrsg.): Beethovens Tagebuch 1812–1818. Beethoven-Haus, Bonn 2005.
Klaus Martin Kopitz: Ein unbekanntes Gesuch Beethovens an Kaiser Franz I. In: Bonner Beethoven-Studien. Band 6 (2007), S. 101–113.
Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen in Tagebuchern, Briefen, Gedichten und Erinnerungen. Herausgegeben von Klaus Martin Kopitz und Rainer Cadenbach, unter Mitarbeit von Oliver Korte und Nancy Tanneberger. 2 Bande. Henle, Munchen 2009, ISBN 978-3-87328-120-2.
Josef Niesen: Bonner Personenlexikon. 3., verbess. u. erw. Aufl. Bouvier, Bonn 2011, ISBN 978-3-416-03352-7, S. 39–42.
Stefan Michael Newerkla: Die irischen Reichsgrafen von Browne-Camus in russischen und osterreichischen Diensten. Vom Vertrag von Limerick (1691) bis zum Tod ihres Hausfreunds Ludwig van Beethoven (1827). In: Lazar Fleishman, Stefan Michael Newerkla, Michael Wachtel (Hrsg.): Скрещения судеб. Literarische und kulturelle Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. A Festschrift for Fedor B. Poljakov (= Stanford Slavic Studies. Volume 49). Peter Lang, Berlin 2019, S. 43–68.
Literatur Ludwig Nohl: Beethovens Leben. 3 Bande. Wien/Leipzig 1864, 1867, 1877. (Die erste wissenschaftliche Biographie)
Ludwig Nohl: Beethovens Tod. Eine documentarische Chronik. In: Ludwig Nohl: Musikalisches Skizzenbuch. Munchen 1866, S. 209–312.
La Mara [Ida Maria Lipsius]: Beethovens Unsterbliche Geliebte. Das Geheimnis der Grafin Brunsvik und ihre Memoiren. Breitkopf & Hartel, Leipzig 1909.
Alexander Wheelock Thayer: Ludwig van Beethovens Leben. Bearbeitet von Hermann Deiters und Hugo Riemann. 5 Bande. Leipzig 1917–1922. (Directmedia Publishing, Berlin 2007, ISBN 978-3-89853-334-8) (Ein grundlegendes Standardwerk) bei zeno.org
La Mara (Ida Maria Lipsius): Beethoven und die Brunsviks. Nach Familienpapieren aus Therese Brunsviks Nachlaß. Siegel, Leipzig 1920.
Paul Bekker: Beethoven. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1922.
Ludwig Schiedermair: Der junge Beethoven. Leipzig 1925.
Theodor von Frimmel: Beethoven-Handbuch. Leipzig 1926.
August Halm: Beethoven. Berlin, Hesse 1927
Romain Rolland: Beethovens Meisterjahre. Von der Eroica bis zur Appassionata. Berlin 1930.
Romain Rolland: presentation de Jean Lacoste: Vie de Beethoven: 1903. Bartillat, Paris [2015], ISBN 978-2-84100-576-5.
Otto F. Beer: Zehnte Symphonie. Volksbuchverlag, Wien 1952.
Walter Riezler: Beethoven, Ludwig van. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 1, Duncker & Humblot, Berlin 1953, ISBN 3-428-00182-6, S. 738–743 (Digitalisat).
Jean und Brigitte Massin: Ludwig van Beethoven. Club Francais du Livre, Paris 1955. (Als deutsche Ubersetzung unter dem Titel: Beethoven. Materialbiographie, Daten zum Werk und Essay. Munchen 1970.)
Georg Kinsky, Hans Halm: Das Werk Beethovens. Thematisch-Bibliographisches Verzeichnis seiner samtlichen vollendeten Kompositionen. Henle, Munchen/Duisburg 1955.
Walter Riezler: Beethoven. Atlantis, Zurich 1962.
Jean und Brigitte Massin: Recherche de Beethoven. Fayard, Paris 1970.
Rudolf Klein: Beethoven Statten in Osterreich. Lafite, Wien 1972, ISBN 978-3-85151-014-0. (Ausgabe 1970 DNB 457218673)
Joseph Schmidt-Gorg: Ludwig van Beethoven (1770–1827). In: Bernhard Poll (Hrsg.): Rheinische Lebensbilder. Band 4, Rheinland Verlag, Koln 1973, ISBN 3-7927-0327-0, S. 119–140.
H. C. Robbins Landon: Beethoven. Universal Edition, Zurich 1974, ISBN 3-7024-0092-3.
Elmar Worgull: Ferdinand Georg Waldmuller malt Ludwig van Beethoven. Beethovenikonographie und Kunstgeschichte. In: Studien zur Musikwissenschaft (= Beihefte der Denkmaler der Tonkunst in Osterreich. 30). Schneider, Tutzing 1979, S. 107–153.
Maynard Solomon: Beethoven. Biographie. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-596-25668-2
Ernst Pichler: Beethoven. Mythos und Wirklichkeit. Amalthea, Wien 1994.
Stefan Kunze (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit. Gesammelte Konzertberichte und Rezensionen bis 1830. Laaber, Laaber 1996, ISBN 3-89007-337-9.
Sieghard Brandenburg (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Briefwechsel Gesamtsausgabe. 8 Bde. Munchen 1996.
Hans-Josef Irmen: Beethoven in seiner Zeit. Prisca, Zulpich 1998, ISBN 3-927675-13-X.
Klaus Kropfinger: Beethoven, Ludwig van. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite Ausgabe, Personenteil, Band 2 (Bagatti – Bizet). Barenreiter/Metzler, Kassel u. a. 1999, ISBN 3-7618-1112-8 (Online-Ausgabe, fur Vollzugriff Abonnement erforderlich). Auch als Einzelausgabe: Beethoven (MGG Prisma). Barenreiter, Kassel u. a. 2001, ISBN 3-7618-1621-9.
Barry Cooper: Beethoven. University Press, Oxford 2000, ISBN 0-19-816598-6.
Angelika Corbineau-Hoffmann: Testament und Totenmaske. Der literarische Mythos des Ludwig van Beethoven. Weidemann, Hildesheim 2000, ISBN 3-615-00211-3.
Russel Martin: Beethovens Locke. Eine wahre Geschichte. Ubersetzt aus dem Englischen von Inge Leipold. Piper Verlag, Munchen/Zurich 2000, ISBN 3-492-04276-7.
Hans Schneider: Die musikalische Welt des jungen Beethoven – Beethovens Verleger Heinrich Philipp Boßler. Herausgegeben von Michael Ladenburger. Beethoven-Haus, Bonn 2001, ISBN 3-88188-064-X.
Martin Geck: Ludwig van Beethoven. Rowohlt, Reinbek 2001, ISBN 3-499-50645-9.
Peter Clive: Beethoven and His World: A Biographical Dictionary, New York: Oxford University Press 2001; ISBN 0-19-816672-9 (Google Books)
Carl Dahlhaus: Beethoven und seine Zeit. 4. Aufl. Laaber, Laaber 2002, ISBN 3-921518-87-3.
Andreas Rucker: Beethovens Klaviersatz – Technik und Stilistik (= Europaische Hochschulschriften. Reihe XXXV. Band 219). 2 Bande. Dissertation. Frankfurt am Main u. a. 2002, ISBN 3-631-39262-1.
Jost Hermand: Beethoven. Werk und Wirkung. Bohlau, Koln/Wien 2003, ISBN 3-412-04903-4.
Heinz von Loesch, Claus Raab (Hrsg.): Das Beethoven-Lexikon. Laaber, Laaber 2008, ISBN 978-3-89007-476-4.
Albrecht Riethmuller, Carl Dahlhaus, Alexander L. Ringer (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Interpretationen seiner Werke. 2 Bande. Sonderausgabe. Laaber, Laaber 2008, ISBN 978-3-89007-304-0.
William Kinderman: Beethoven. Oxford University Press, Oxford u. a. 2009, ISBN 978-0-19-532836-3.
Lewis Lockwood: Beethoven. Seine Musik – sein Leben. Metzler, Stuttgart/Weimar 2009, ISBN 978-3-476-02231-8.
Rita Steblin: „A dear, enchanting girl who loves me and whom I love“. New Facts about Beethoven’s Beloved Piano Pupil Julie Guicciardi. In: Bonner Beethoven-Studien. Band 8, 2009, S. 89–152.
Klaus Martin Kopitz: Beethoven, Elisabeth Rockel und das Albumblatt „Fur Elise“. Dohr, Koln 2010, ISBN 978-3-936655-87-2.
Michael Lorenz: Die „Enttarnte Elise“. Elisabeth Rockels kurze Karriere als Beethovens „Elise“. In: Bonner Beethoven-Studien. Band 9. Beethoven-Haus, Bonn 2011, S. 169–190.
Jan Caeyers: Beethoven. Der einsame Revolutionar. Eine Biographie. Beck, Munchen 2012, ISBN 978-3-406-63128-3.
Rudolf Buchbinder: Mein Beethoven. Leben mit dem Meister. Residenz, St. Polten u. a. 2014, ISBN 978-3-7017-3347-7.
Kurt Dorfmuller, Norbert Gertsch, Julia Ronge (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis. Revidierte und wesentlich erweiterte Neuausgabe des Werkverzeichnisses von Georg Kinsky und Hans Halm. 2 Bande, Henle, Munchen 2014, ISBN 978-3-87328-153-0.
Jan Swafford: Beethoven: Anguish and Triumph; A Biography. Houghton Mifflin Harcourt, Boston 2014, ISBN 978-0-618-05474-9.
Klaus Martin Kopitz: Beethovens „Elise“ Elisabeth Rockel. Neue Aspekte zur Entstehung und Uberlieferung des Klavierstucks WoO 59. In: Die Tonkunst. Jg. 9, Nr. 1, Januar 2015, S. 48–57.
John E. Klapproth: Beethovens Einzige Geliebte: Josephine!, Charleston, USA 2015, ISBN 978-1-4700-9807-0
John E. Klapproth: The Immortal Beloved Compendium. Everything About The Only Woman Beethoven Ever Loved – And Many He Didn’t. CreateSpace, Charleston SC 2016.
Michael Ladenburger: Beethoven auf Reisen. Begleitbuch zu einer Ausstellung des Beethoven-Hauses Bonn. Bonn 2016, ISBN 978-3-88188-149-4.
Martin Geck: Beethoven. Der Schopfer und sein Universum. Siedler, Munchen 2017, ISBN 978-3-8275-0086-1.
Christine Eichel: Der empfindsame Titan. Ludwig van Beethoven im Spiegel seiner wichtigsten Werke. Blessing Verlag Munchen 2019, ISBN 978-3-89667-624-5
Lutz Felbick: Der Compositor extemporaneus Beethoven als „Enkelschuler“ J. S. Bachs. In: Michael Lehner, Nathalie Meidhof, Leonardo Miucci (Hrsg.): Das fluchtige Werk. Pianistische Improvisation der Beethoven-Zeit. Schliengen 2019, S. 34–56. (= Musikforschung der Hochschule der Kunste Bern. 12.) doi:10.26045/kp64-6176-003
Hans-Joachim Hinrichsen: Ludwig van Beethoven. Musik fur eine neue Zeit. Barenreiter-Metzler, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-7618-2072-8.
Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille. Beethovens Sinfonien. Hoffmann und Campe, Hamburg 2019, ISBN 978-3-455-00396-3
Alessandra Comini: Beethoven – Zur Geburt eines Mythos. Aus dem amerikanischen Englisch von Pia Viktoria Pausch. Hollitzer Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-99012-615-8.
Martin Geck: Beethoven horen. Wenn Geistesblitze geheiligte Formen zertrummern. Reclam, Ditzingen 2020, ISBN 978-3-15-011252-6.
Matthias Henke: Beethoven: Akkord der Welt. Biografie. Carl Hanser Verlag, Munchen 2020, ISBN 978-3-446-26578-3.
Norbert Schloßmacher (Hrsg.): Beethoven – Die Bonner Jahre, Bohlau Verlag, Koln 2020, ISBN 978-3-412-51968-1.
Werner Telesko, Susana Zapke, Stefan Schmidl: Beethoven visuell. Der Komponist im Spiegel bildlicher Vorstellungswelten. Hollitzer Verlag, Wien 2020, ISBN 978-3-99012-790-2.
Christian Thielemann mit Christine Lemke-Matwey: Meine Reise zu Beethoven. C.H.Beck, Munchen 2020, ISBN 978-3-406-75765-5.
Christian Neschwara: Beethoven als „Migrant“ im Staatsburgerschaftsrecht seiner Zeit. In: Helmut Gebhardt et al.: Festschrift Gernot Kocher zum 80. Geburtstag. Leykam Verlag, Graz 2022, ISBN 978-3-7011-0471-0, S. 302–314
Weblinks Werke von und uber Ludwig van Beethoven im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und uber Werke von und uber Ludwig van Beethoven in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Zeitungsartikel uber Ludwig van Beethoven in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Literatur uber Ludwig van Beethoven in der Bibliographie des Musikschrifttums
Eintrag zu Ludwig van Beethoven im Austria-Forum (im AEIOU-Osterreich-Lexikon)
Digitales Archiv des Beethoven-Hauses Bonn – mit umfangreichem, kommentiertem Quellenarchiv
Beethoven auf alten Postkarten mit rund 100 Bildern
Musik-Kolleg Beethoven im Austria-Forum
Vollstandiges Werkverzeichnis nach Opusnummern
Virtuelle Ausstellung „Diesen Kuß der ganzen Welt“. Die Beethoven-Sammlung der Staatsbibliothek zu Berlin.
Virtuelle Ausstellung „Beethoven Digital - Ein 'Klassiker' geht online“. Der gesamte Beethoven-Bestand der Osterreichischen Nationalbibliothek digitalisiert
Annette Doerfel: Beethovens Haarlocke luftet Geheimnisse in Spektrum.de vom 22. Marz 2023
Biographisches
Beethoven - die Biografie zum Horen mit Udo Wachtveitl, recherchiert und geschrieben von Jorg Handstein. Ein Podcast in 10 Folgen von BR-Klassik
Zwei Beethoven-Biographien bei Zeno.org.
Ludwig van Beethoven in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata Erstes Grab auf dem Wahringer Friedhof (zwei Bilder)
Ludwig van Beethoven in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Verschiedene Kenner im Quelltext und in Wikidata Zweites Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof (zwei Bilder)
Aktuelles
Beethovenfest Bonn
Beethovens Werk im Spielplan deutschsprachiger Buhnen
Fremdsprachige Websites
The Beethoven Reference Site (englisch)
The Unheard Beethoven (englisch)
Beethoven-Website (englisch, franzosisch, italienisch, spanisch)
Alles over Ludwig van Beethoven (uberwiegend in Niederlandisch) (Memento vom 29. Marz 2012 im Internet Archive)
Noten und Liedtexte
Noten und Audiodateien von Ludwig van Beethoven im International Music Score Library Project
Sammlung von Beethovens Klaviersonaten www.kreusch-sheet-music.net
MuseData: Ludwig van Beethoven Freie Noten
Ludwig van Beethoven, Listing of art song and choral settings. The LiederNet Archive, abgerufen am 27. Januar 2016 (englisch).
Lied-Portal
Digitalisierte Gesamtausgabe von Beethovens Werk (1862–1865)
Aufnahmen
Piano Society – Beethoven Freie Aufnahmen
Beethoven-Diskographie (PDF; 1,8 MB) von Klaus Steltmann, Bonn (Stand: 1. Januar 2017)
Heiligenstadter Testament gesprochen von Konstantin Marsch, auf vorleser.net
Einzelnachweise
|
Ludwig van Beethoven [fʌn ˈbeːtˌhoːfn] (getauft am 17. Dezember 1770 in Bonn, Haupt- und Residenzstadt von Kurkoln; † 26. Marz 1827 in Wien, Kaisertum Osterreich) war ein deutscher Komponist und Pianist. Er fuhrte die Wiener Klassik zu ihrer hochsten Entwicklung und bereitete der Musik der Romantik den Weg. Er wird zu den uberragenden Komponisten der Musikgeschichte gezahlt.
Zu Beginn seiner musikalischen Laufbahn machte sich Beethoven zunachst als Klaviervirtuose einen Namen. Zu seinen Starken gehorte das freie Improvisieren und Fantasieren auf dem Instrument. Nach dem Umzug von Bonn nach Wien fuhrte ihn sein Talent bald in die hochsten gesellschaftlichen Kreise der habsburgischen Metropole. Ein Gehorleiden, das sich im Laufe der Zeit zur fast volligen Taubheit verschlimmerte, setzte seiner Karriere als Pianist ein vorzeitiges Ende. Die Krankheit loste eine Krise aus, uber die Beethoven 1802 in seinem Heiligenstadter Testament Zeugnis ablegte. Beethoven pflegte vielerlei Kontakte zu Frauen aus seinem Umfeld. Beruhmt ist sein 1812 geschriebener Brief an die unsterbliche Geliebte, deren Identitat bis heute nicht zweifelsfrei geklart ist.
Mit der Verschlechterung seines Gehors konzentrierte sich Beethoven mehr und mehr aufs Komponieren. Wahrend andere Komponisten ihre Werke oft schnell zu Papier brachten, rang Beethoven um jede Note. Immer wieder wurde nachgearbeitet und verbessert. In den meisten musikalischen Gattungen und Besetzungen, zu denen Beethoven Kompositionen beitrug, gehoren seine Werke zu den wichtigsten ihrer Art, namentlich die 9 Sinfonien, die 32 Klaviersonaten, Klaviervariationen, die 5 Klavierkonzerte, ein Violinkonzert, die 16 Streichquartette und die Große Fuge, weitere Kammermusik wie die Klaviertrios, Violin- und Violoncellosonaten. Wichtige Vokal- bzw. Buhnenwerke sind der Liederzyklus An die ferne Geliebte, die einzige Oper Fidelio und die Missa solemnis. Beethoven ist seinem Anspruch, ein bleibendes musikalisches Werk fur die Nachwelt zu hinterlassen, gerecht geworden. Seine Popularitat ist ungebrochen, und heute gehort er zu den meistgespielten Komponisten der Welt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_van_Beethoven"
}
|
c-13922
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Głogówek"
}
|
||
c-13923
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Griethauser_Brücke"
}
|
||
c-13924
|
Das Wulfing-Museum ist ein Textiltechnikmuseum auf dem Gelande der ehemaligen Tuchfabrik „Johann Wulfing & Sohn“ in Radevormwald-Dahlerau im Oberbergischen Kreis in Nordrhein-Westfalen, Deutschland.
Firma Johann Wulfing & Sohn als Namensgeber Das Unternehmen wurde 1674 in Lennep gegrundet. Auf Grund der napoleonischen Kontinentalsperre zogen die damaligen Eigentumer um 1806 an die Wupper in den heutigen Ortsteil Dahlerau, wegen der hier gunstig zu errichtenden Wasserrader. Im Zuge der Industriellen Revolution wuchs der Produktionsstandort kontinuierlich an, die Wasserkraftanlagen wurden nach und nach durch Dampfmaschinen und moderne Laufwasserkraftwerke ersetzt.
Im Ensemble der ehemaligen Tuchfabrik befindet sich ein Gebaude aus dem Jahre 1838, das bis zur Insolvenz des Unternehmens das alteste in Betrieb befindliche Fabrikgebaude Deutschlands war. In unmittelbarer Nahe zur Fabrik baute das Unternehmen viele Werkswohnungen, so dass an dieser Stelle ein eigener kleiner Ort entstand, mit all den sozialen Einrichtungen, die dazu gehoren, wie Laden, Post und Bahnhof, Kindergarten und Badeanstalt.
Bis zur Einstellung des Betriebes 1996 produzierten Johann Wulfing & Sohn hochwertige Wolltuche aus Kammgarnen, gemischt mit ebenso hochwertigen synthetischen Fasern. Das Unternehmen verarbeitete seine Materialien vom Rohstoff bis hin zur fertigen Kleinserie eines Herrenanzuges als Warenmuster fur die Konfektion. Der Grund fur diesen Erfolg lag in der langen Unternehmenstradition, beispielsweise unterhielt Johann Wulfing & Sohn ein großes Archiv fur Stoffproben, aus dem immer wieder neue modische Trends fur die kommende Saison geschopft werden konnten. Zu diesem Zweck legte man eine Kollektion von etwa 1000 Mustern auf, die in der hauseigenen Musterweberei produziert wurden. Aus den Stoffproben fertigte man Herrenanzuge der unterschiedlichsten Großen. Die Kunden des Unternehmens begutachteten die produzierten Kleidungsstucke und wahlten dann etwa 200 Muster aus, die dann in Großserie hergestellt wurden. Nicht mehr benotigte Anzuge wurden ab Werk an Endkunden verkauft.
Der letzte Eigentumer des Unternehmens war der Radevormwalder Ehrenburger Fritz Hardt.
Das Unternehmen als fruhes Elektrizitatswerk Wegen der erheblichen Brandgefahr in den Produktionsstatten wurde in den Wulfingschen Betrieben schon sehr fruh die elektrische Beleuchtung eingefuhrt. Der dazu notwendige elektrische Strom wurde mit Hilfe der im Unternehmen vorhandenen Wasserturbinen und Dampfmaschinen sowie an die Transmissionen angeschlossenen Generatoren erzeugt. Der Uberschuss an Drehstrom von bis zu 140 kW bei 5.000 Volt wurde in das im Aufbau befindliche Stromnetz abgegeben, das in der Zeit bis 1911 ebenfalls dem Unternehmen gehorte. Der Generator von 1903 diente bis 1946 zur Deckung des Eigenbedarfes und wurde dann stillgelegt. Er befindet sich immer noch am Originalstandort und produziert bei Vorfuhrungen von einem Elektromotor angetrieben den elektrischen Strom fur einige Gluhlampen. Eine modernisierte Francis-Turbine von 1922 ist ebenfalls noch vorhanden, die innerhalb eines Laufwasserkraftwerkes etwa 250 kW leistet.
Museum Die auf dem Fabrikgelande noch befindliche Dampfmaschine war eine liegende Verbund-Maschine mit zwei Zylindern. Sie wurde 1891 gebaut und war bis 1961 im Einsatz. Die uber 300 PS leistende Maschine versorgte die Fabrik uber Transmissionen mit mechanischer Energie und die weitere Umgebung uber den ebenfalls noch vorhandenen Generator mit elektrischem Strom. Weil sich ihre Eigentumer nach ihrer Stilllegung nicht von ihr trennen mochten, blieb sie an ihrem Standort. Das Museum zeigt die Dampfmaschine mit ihrer vollstandigen Ausrustung, Maschinen zur Textilherstellung sowie als Besonderheit ein Labor zur Qualitatssicherung in der Textilindustrie. Das benachbarte noch in Betrieb befindliche Laufwasserkraftwerk von 1922 kann ebenfalls besichtigt werden. Von den Maschinen sind im Museum zwei 80 Jahre alte Jacquard-Webstuhle mit Lochkartensteuerung vorhanden, die wegen ihrer flexiblen Betriebsweise schon zuvor in der Musterweberei eingesetzt wurden.
Das Museum wird von ehemaligen und heute pensionierten Mitarbeitern von Johann Wulfing & Sohn betrieben, die auf diese Art und Weise die alte Tradition fortfuhren.
Wissenswertes Auf dem weiteren Betriebsgelande, dessen Historie als Textilstadt unter diesem Begriff auf Informationstafeln an den wichtigsten Gebauden erlautert wird, hat sich ein gemischter Gewerbepark angesiedelt, unter anderem auch eine kleine Spinnerei fur Spezialtextilien.
Dahlerau und das Museum im ist Bestandteil einer Route des „Bergischen Rings“.
Literatur Benjamin Obermuller: Zwischen Sonderweg und Branchentrend. Die Kammgarnspinnerei Johann Wulfing & Sohn im Nationalsozialismus (1933 bis 1939). Der Andere Verlag, Tonning u. a. 2006, ISBN 3-89959-470-3.
Benjamin Obermuller: Zwischen Sonderweg und Branchentrend. Die Kammgarnspinnerei Johann Wulfing & Sohn in den Jahren 1933 bis 1939. In: Romerike Berge. Band 56, 2006, S. 17–26.
Benjamin Obermuller: Kammgarn geriet in tiefe Krise. Die Kammgarnspinnerei Johann Wulfing & Sohn 1933 bis 1939. In: Geschichte und Heimat. Band 72, Nr. 5, 2005, Blatt 1–2.
Weblinks Webprasenz des Museums
Einzelnachweise
|
Das Wulfing-Museum ist ein Textiltechnikmuseum auf dem Gelande der ehemaligen Tuchfabrik „Johann Wulfing & Sohn“ in Radevormwald-Dahlerau im Oberbergischen Kreis in Nordrhein-Westfalen, Deutschland.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Wülfing-Museum"
}
|
c-13925
|
Eine Dampfmaschine ist (im engeren Sinne) eine Kolben-Warmekraftmaschine. In einem beheizten Dampferzeuger, der als Bestandteil der Maschine gilt, wird Wasser verdampft. Der unter Druck gesetzte Dampf wandelt die in ihm enthaltene Warmeenergie (auch Druckenergie) durch Verschieben eines in einem Zylinder beweglichen Kolbens in Bewegungsenergie um. Ublicherweise ist der Kolben Teil eines Schubkurbelgetriebes, mit dem die hin- und hergehende Bewegung des Kolbens in Rotation eines Schwungrades, das die Arbeitsmaschine antreibt, umgewandelt wird. Zur Bewegungsumkehr des Kolbens wird der Druck jeweils auf dessen andere zylindrische Seite umgelenkt.
Eine andere mit Dampf betriebene Warmekraftmaschine ist die Dampfturbine, die schon ohne einen die Bewegungsart andernden Folgemechanismus (Getriebe) die Warmeenergie des Dampfs in Rotationsenergie umwandelt.
Dampfmaschinen sind Warmekraftmaschinen mit „außerer Verbrennung“, was sie von Verbrennungsmotoren unterscheidet.
Die Anwendungen der ersten funktionsfahigen Dampfmaschine von Thomas Newcomen fanden sich ab Anfang des 18. Jahrhunderts im Steinkohlebergbau zur Wasserhaltung, wo sie zunachst altere mechanische Kraftquellen wie z. B. Wasserrader erganzten und spater auch ersetzten. Nach allmahlichen Verbesserungen des Wirkungsgrades lohnte es sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, sie ebenfalls in der wachsenden Textilindustrie zum Antrieb von Textilmaschinen einzusetzen und sie verbreiteten sich schließlich auch in weiteren Industriebranchen, wo sie ebenfalls Wasser- und Windmuhlen erganzten. Eine entscheidende Verbesserung gelang James Watt, der 1769 darauf ein Patent erhielt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangten sie eine wichtige Rolle im Verkehrswesen, insbesondere zum Antrieb von Dampfschiffen und Dampflokomotiven. Ebenfalls nicht unbedeutend war zudem der Einsatz als Lokomobile. Nach anfanglichen Erfolgen verlor ihre Anwendung in Dampfautomobilen und -lastwagen an Bedeutung und existiert heute praktisch nicht mehr. Ahnliches gilt fur den Bereich der Dampftraktoren und Lokomobile, wo der Dampfantrieb vor 1900 dominierte. Auch das erste Luftschiff wurde 1852 von einer Dampfmaschine angetrieben.
Abgelost wurden die Dampfmaschinen in der Wende zum 20. Jahrhundert allgemein durch den Elektromotor und als Fahrzeugantrieb durch den Verbrennungsmotor. In Kraftwerken werden bis heute Dampfturbinen genutzt, um elektrische Energie zu erzeugen.
Der folgende Artikel behandelt nur Kolbenkraftmaschinen (Dampfmaschinen „im engeren Sinne“).
Wirkungsweise einer Kolbendampfmaschine Die Kolbendampfmaschine setzt thermodynamische Energie (Dampfdruck) aus Dampferzeugern in mechanische Rotationsenergie um. Dabei bewegt sich ein Kolben in dem zugehorigen Zylinder hin und her, er fuhrt eine oszillierende Bewegung aus. Benotigt wird fur die mechanische Nutzenergie jedoch zumeist eine Rotationsbewegung.
Die Hinbewegung des Kolbens wird mit Druck des Dampfes als Arbeitstakt ausgefuhrt. Die Ruckbewegung wird bei einseitig beaufschlagtem Kolben (einfachwirkende Dampfmaschine) aus gespeicherter Rotations-Schwungenergie ausgefuhrt. Bei zweiseitig beaufschlagtem Kolben (doppeltwirkende Dampfmaschine) hingegen wird die Ruckbewegung des Kolbens ebenfalls als Arbeitstakt verrichtet, per Dampfdruck-Ansteuerung nunmehr auf die Unterseite des Kolbens.
Die Steuerung der Dampfzufuhr in den Zylinder erfolgt uber einen Schieber oder uber Ventile. Der Kolben wird mit dem Druck erst nach unten bzw. in Richtung der Kurbelwelle verschoben. Die Linearbewegung des Kolbens wird mittels Kreuzkopf und Pleuel als Koppelglied am Kurbelzapfen der Kurbelwelle in eine Rotationsbewegung umgesetzt. Das Pleuel schiebt anschließend (bei einfachwirkenden Maschinen) mit der im Schwungrad und in der Kurbelwelle gespeicherten Rotationsenergie den Kolben wieder aus der unteren Lage linear zuruck in seine obere Ausgangsposition.
Das Arbeitsverfahren einer Dampfmaschine ist somit in zwei Takte gegliedert und ist daher ein Zweitaktverfahren.
= Atmospharische Dampfmaschine =
In einer atmospharischen Dampfmaschine wurde die Kraft durch ein Vakuum erzeugt. Dazu wurde der Zylinderraum unter dem Kolben mit Wasserdampf gefullt. Im nachsten Arbeitstakt wurde Wasser in den Zylinder eingedust, so dass der Wasserdampf abkuhlte und dabei kondensierte. Es entstand ein Unterdruck, so dass der Kolben durch den außeren Atmospharendruck in den Zylinder gedruckt wurde. Die ausfahrende Bewegung des Kolbens erfolgte bei geoffnetem Dampfventil durch das Gewicht des Pumpengestanges, das an einem Hebelarm, dem sogenannten Balancier, angebracht war. Eine Drehbewegung war, schon wegen der zunachst handischen Steuerung der Ventile, nicht vorgesehen. Zu dieser Zeit standen noch keine druckfesten Kesselanlagen zur Verfugung, mit denen eine Dampfspannung oberhalb des atmospharischen Druckes hatte erreicht werden konnen.
Der bekannteste Vertreter dieser Bauart war die atmospharische Dampfmaschine von Thomas Newcomen ab 1712. Die Dampfmaschine wurde vorwiegend fur die Wasserhaltung in Kohlenzechen eingesetzt. Der energetische Wirkungsgrad dieser Maschine lag bis zur Weiterentwicklung durch James Watt unter 1 %. Watt verlegte die Kondensation des Dampfs aus dem Arbeitszylinder in einen nachgeschalteten wassergekuhlten Behalter, den Kondensator. Dadurch entfiel die dauernde Abkuhlung und erneute Erwarmung des Arbeitszylinders in jedem Arbeitstakt, eine Ursache erheblicher Exergieverluste.
Die Abbildung rechts stellt dar, wie der Unterdruck bzw. der atmospharische Druck bei der atmospharischen Dampfmaschine die Arbeit verrichtet, wenn der heiße Dampf kondensiert und sich dabei stark zusammenzieht. Aus dem Zylinder tritt uberwiegend flussiges Wasser. Diese Arbeitsweise ist nicht sehr wirtschaftlich, da viel Energie dafur verwendet wird, Zylinder und Kolben bei jedem Takt zu erhitzen und wieder abzukuhlen. Um den Dampf schnell genug kondensieren zu lassen, wurde nahe dem oberen Totpunkt kaltes Wasser in den Zylinder eingespritzt (hier nicht dargestellt). Bei der Expansionsdampfmaschine offnet das Fullventil zu Beginn des Arbeitstakts nur kurz. Im Gegensatz zur Volldruckmaschine verliert der unter hohem Druck eingestromte Dampf einen Teil seines Drucks wahrend des Arbeitstakts. Auch dies fuhrt zwar zu einer Abkuhlung des Zylinders, es wird jedoch deutlich weniger Dampf verbraucht, als bei der Volldruckmaschine. Um die Abkuhlung zu begrenzen, wird der Dampf nicht komplett bis zum Atmospharendruck entspannt. Verbunddampfmaschinen nutzen auch den bei Austritt des Dampfs verbleibenden Druck, indem der Dampf in einen weiteren Zylinder mit großerem Durchmesser geleitet wird. (Anmerkung: Entgegen der Darstellung hier kuhlt der Dampf wahrend der Abwartsbewegung des Kolbens kaum noch weiter ab.)
= Niederdruckdampfmaschine =
Bei der Niederdruckdampfmaschine wird der Dampf mit einem leichten Uberdruck von einigen 100 mbar aufgegeben.
Getrennter Kondensator Im Gegensatz zur Newcomen-Dampfmaschine wird nicht nur bei der Kondensation, sondern auch bei der Befullung des Zylinders Arbeit verrichtet. Dies fuhrt zur Steigerung der Leistungsfahigkeit und war Ausgangspunkt fur die Weiterentwicklung der Dampfmaschine zu hoheren Dampfdrucken. Dabei wurde fur die Kondensation durch eingespritztes Kuhlwasser ein eigener Behalter vorgesehen, um die Abkuhlung des Arbeitszylinders zu vermeiden. Die bekanntesten Vertreter dieser Bauart waren die Dampfmaschinen von James Watt ab etwa 1769 (siehe unten).
Doppeltwirkende Maschine Watt entwickelte die einfachwirkende Dampfmaschine, die den Kolben nur von einer Seite beaufschlagt, zur doppeltwirkenden weiter, bei der der Kolben abwechselnd von beiden Seiten beaufschlagt wird. Dies erbrachte eine Steigerung von Wirkungsgrad und Leistung, da der Leerhub entfiel. Man ging dann dazu uber, das Schwungrad uber einen Kurbeltrieb direkt anzutreiben, womit eine Senkung der Masse verbunden war, weil dar Balancier entfiel.
= Hochdruckdampfmaschine =
Bei Hochdruckdampfmaschinen wird der Dampf weit uber 100 °C erwarmt, so dass sich ein hoherer Druck aufbaut. Auf eine Abkuhlung des aus dem Zylinder austretenden Wasserdampfes kann verzichtet werden, da der Atmospharendruck im Vergleich zum deutlich hoheren Betriebsdruck nicht mehr ins Gewicht fallt (Auspuffbetrieb). Der Kondensator kann damit entfallen, was diesen Maschinentyp in Verbindung mit der hoheren Energiedichte des unter Druck stehenden Dampfes erheblich leichter macht und damit den Einsatz von Dampfmaschinen in Dampflokomotiven erst ermoglichte. Vertreter dieser Bauart sind praktisch alle Kolbendampfmaschinen in Fahrzeugen seit Oliver Evans und Richard Trevithick ab etwa 1802 (s. u.). Hochdruckdampfmaschinen ermoglichten auch die Nutzung der Dampfexpansion. Wahrend atmospharische und Niederdruckdampfmaschinen in der Regel Volldruckmaschinen sind, bei denen in die Zylinder wahrend des gesamten Kolbenhubes Dampf einstromt, werden die Zylinder einer Expansionsmaschine nur zu Beginn jedes Kolbenhubes mit Dampf beaufschlagt. Die weitere Bewegung wird durch die Ausdehnung des Dampfes bei fallendem Druck bewirkt. Die im Dampf gespeicherte Energie wird dadurch deutlich besser ausgenutzt.
= Verbunddampfmaschine =
Eine Verbunddampfmaschine oder Mehrfachexpansionsmaschine ist eine Dampfmaschine mit mindestens zwei in Dampfrichtung nacheinander geschalteten Arbeitseinheiten.
= Gleichstromdampfmaschine =
Diese Bauart wurde um 1908 vom Geheimen Regierungsrat und Professor an der Technischen Hochschule J. Stumpf vorgestellt. Bei einer Gleichstromdampfmaschine findet beim Ausstoßen des entspannten Dampfes kein Wechsel der Stromungsrichtung statt. Ein- und Ausstromung sind voneinander getrennt, die Ausstromung erfolgt durch Ausstromschlitze in der Mitte der Zylinder, die Einstromung wie gehabt von den Zylinderenden her. Durch diese Bauweise konnten die Abkuhlungsverluste deutlich gesenkt werden, allerdings wird das mit erheblich langeren Zylindern erkauft. Die Einfuhrung dieser Maschinen scheiterte am seinerzeit zu geringen ublichen Dampfdruck von 12 bis 14 bar, erst bei Drucken ab 20 bar hatte sich diese Konstruktion bewahrt.
Geschichte der Dampfmaschine = Die Anfange =
Die Geschichte der Dampfmaschine reicht zuruck bis ins erste nachchristliche Jahrhundert – der erste Bericht uber eine technische, rudimentar als „Dampfmaschine“ zu bezeichnende Apparatur, den Heronsball (auch Aeolipile oder Aolsball genannt), stammt aus der Feder des griechischen Mathematikers Heron von Alexandria. In den Jahrhunderten, die den ersten neuzeitlichen Dampfmaschinen vorangingen, wurden dampfgetriebene „Maschinen“ hauptsachlich zu Demonstrationszwecken gebaut, um das Prinzip der Dampfkraft zu illustrieren. Die ersten konkreten Versuche kamen unter anderem im Jahr 1543 von Blasco de Garay, 1615 von Salomon de Caus und 1629 von Giovanni Branca.
Der Ingenieur Jeronimo de Ayanz y Beaumont ließ 1606 als erster eine Dampfmaschine patentieren. Die von ihm konstruierte Maschine kam bei der Entwasserung von Bergwerksstollen auch zur praktischen Anwendung, indem der Dampfdruck dazu diente, einen kontinuierlichen Wasserfluss in Rohrleitungen anzutreiben. Weitere Fortschritte wurden dann unter anderem durch Denis Papin 1690 durch die Erfindung des Sicherheitsventils und den Papinschen Topf erzielt. Thomas Saverys Dampfpumpe von 1698 stellte einen bedeutenden Schritt in der praktischen Anwendung von Dampf dar. 1707 baute Papin ein durch einen Dampfzylinder und Muskelkraft angetriebenes Schaufelradboot, mit dem er auf der Fulda von Kassel bis nach Munden fuhr. Dieses Schiff fand nach der Ankunft jedoch ein unruhmliches Ende.
Die erste verwendbare Dampfmaschine wurde 1712 von Thomas Newcomen konstruiert und diente zur Wasserhaltung in Bergwerken. Diese sogenannte atmospharische Dampfmaschine erzeugte durch Einspritzen von Wasser in einen mit Dampf gefullten Zylinder einen Unterdruck gegenuber der Atmosphare. Mit diesem Druckunterschied wurde der Kolben im Arbeitstakt vom atmospharischen Luftdruck nach unten gedruckt und anschließend durch das Eigengewicht der anzutreibenden Pumpenstange wieder nach oben in die Ausgangsposition gezogen. Die Kraftubertragung zwischen Kolbenstange und Balancier erfolgte mittels einer Kette. Der Wirkungsgrad dieser newcomenschen Maschine lag bei 0,5 Prozent und begrenzte ihre Anwendung auf diesen Pumpvorgang.
1720 beschrieb Jacob Leupold, Mathematico und Mechanico in Preußen und Sachsen, eine Hochdruckdampfmaschine mit zwei Zylindern. Die Erfindung wurde in seinem Hauptwerk Theatri Machinarum Hydraulicarum Tomus II veroffentlicht. Die Maschine verwendete zwei mit Blei belastete Kolben, die ihre kontinuierliche Bewegung einer Wasserpumpe zur Verfugung stellten. Jeder Kolben wurde durch den Dampfdruck gehoben und kehrte durch sein Eigengewicht in die ursprungliche Stellung zuruck. Die zwei Kolben teilten sich ein gemeinsames Vierwegeventil, welches direkt mit dem Dampfkessel verbunden war.
Die Maschine von Newcomen wurde weiterentwickelt, um 1770 waren in England rund 100 davon im Einsatz, vor allem im Bergbau.
= Wattsche Dampfmaschine =
James Watt, dem oft falschlicherweise die Erfindung der Dampfmaschine zugeschrieben wird, verbesserte den Wirkungsgrad der Newcomenschen Dampfmaschine erheblich. Er verlagerte mit seiner 1769 patentierten und sechs Jahre spater von John Wilkinson gebauten Konstruktion den Abkuhlvorgang aus dem Zylinder heraus in einen separaten Kondensator. So konnte Watt auf das atmospharische Ruckfuhren des Kolbens verzichten und die Maschine bei beiden Kolbenhuben Arbeit verrichten lassen.
Das von ihm erfundene Wattsche Parallelogramm sorgte fur die geradlinige Auf- und Abbewegung der Kolbenstange bei diesen einfachwirkenden Dampfmaschinen. Sowohl Newcomens als auch Watts Dampfmaschinen hatten ursprunglich nur stehende Zylinder, die die Auf- und Abbewegung des Kolbens uber einen Balancier lediglich umlenkten, um sie in den Schacht auf das Pumpengestange zu ubertragen. 1781 patentierte Watt ein Planetengetriebe auf seinen Namen, das der leitende Ingenieur von Boulton & Watt, William Murdoch konstruiert hatte, um die Kolbenbewegung umzuformen und so die Maschine ein Schwungrad drehen zu lassen. Die Verwendung eines Kurbeltriebes war ihm in England durch ein von James Pickard gehaltenes Patent nicht moglich. Das Planetengetriebe ist eine wesentlich aufwendigere Losung des Problems, eine geradlinige in eine rotierende Bewegung umzuformen, hatte andererseits aber den Vorteil, dass damit gleichzeitig eine Uber- oder Untersetzung moglich war. Damit konnten zum Beispiel auch Fordermaschinen fur den Steinkohlenbergbau konstruiert werden. Solche Maschinen waren bis ins 19. Jahrhundert hinein im Einsatz.
James Watt gilt als Entdecker des Nutzens der Dampfexpansion. Bei der Dampfmaschine wird dieser Effekt durch ein vorzeitiges Schließen der Ventile erreicht; dadurch wird die Zufuhrung von Dampf in den Zylinder unterbrochen, wahrend der darin eingeschlossene Dampf weiter Arbeit leistet. Spatere Watt’sche Dampfmaschinen waren doppeltwirkend, der Kolben wurde abwechselnd von der einen und der anderen Seite mit Dampf beaufschlagt. Auf der jeweils gegenuberliegenden Seite befand sich der Auslass zum Kondensator.
Weiterhin fuhrte James Watt 1788 den Fliehkraftregler zur Geschwindigkeitsregulierung seiner Maschine ein. Vorher war dieses Maschinenelement bereits beim Betrieb von Muhlen eingesetzt worden.
Die wattsche Dampfmaschine ersparte durch diese Verbesserungen gegenuber ihren Vorgangern ein Vielfaches der Warmeenergie, die zum Betrieb der Maschine notwendig war. Der Wirkungsgrad der wattschen Maschine erreichte schließlich 3 Prozent. Um die Fahigkeit seiner Dampfmaschinen zu demonstrieren, erfand Watt die Leistungseinheit Pferdestarke. Mit seinem kaufmannischen Teilhaber Matthew Boulton verkaufte er seine Maschinen jedoch nicht, sondern stellte sie seinen Kunden zur Verfugung, um sich einen Teil der eingesparten Brennstoffkosten auszahlen zu lassen. Damit war eine fruhe Form des Contractings geboren. Die Patente von Watt liefen jedoch im Jahr 1800 ab.
= Weitere Entwicklungen =
Mit diesen Entwicklungen sowie weiteren technischen Verbesserungen wurden Dampfmaschinen ab der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts – zumindest im Kohlebergbau – nun auch wirtschaftlich. Das erste funktionsfahige Dampfschiff konstruierte 1783 der Franzose Claude Francois Jouffroy d’Abbans. 1804 baute Richard Trevithick die erste auf Schienen fahrende Dampflokomotive. Wenn auch allmahlich weitere Anwendungsgebiete in der Industrie erschlossen wurden, dauerte es bis in die 1860er Jahre, bis Dampfmaschinen in England massenhaft verwendet wurden. Ein Grund war die notwendige Verwendung von Eisen als Werkstoff fur die entsprechenden Maschinen. Dies war eine neue Technologie, da vorher viele Maschinenteile noch aus Holz gefertigt wurden. In anderen Staaten wie beispielsweise Frankreich und den USA, wo die Wasserkraft ein starker Konkurrent war, erfolgte der endgultige Durchbruch der Dampfmaschine noch etwas spater.
Auch der technische Ubergang vom Segel- zum Dampfschiff dauerte einige Jahrzehnte. Erst 1889 wurde mit dem von Alexander Carlisle (dem spateren Chefdesigner der Olympic-Klasse) konstruierten, 20 Knoten schnellen White-Star-Liner Teutonic der erste Hochsee-Dampfer ohne Segeleinrichtung in Dienst gestellt.
= Hochdruck und Heißdampf =
Eine Hochdruckdampfmaschine wurde 1784 von Oliver Evans konstruiert. Das erste Exemplar wurde von ihm jedoch erst 1812 gebaut. Ihm zuvor kam Richard Trevithick, der 1801 die erste Hochdruckdampfmaschine in ein Straßenfahrzeug einbaute. Voraussetzung fur die Funktionsfahigkeit der Hochdruckdampfmaschinen war der Fortschritt in der Metallherstellung und -bearbeitung zu dieser Zeit, denn in Hochdruckmaschinen mussen die Maschinenteile sehr passgenau sitzen. Außerdem bestand die Gefahr der Explosion des Kessels. Zur Vermeidung derartiger Unfalle wurden in Deutschland sogenannte Dampfkesseluberwachungsvereine gegrundet – die Vorlaufer des TUV.
Die kontinuierliche Weiterentwicklung der druckbetriebenen Dampfmaschine, die zuerst mit so genanntem Sattdampf arbeitete, fuhrte uber die Heißdampf-Maschine mit einfacher Dampfdehnung zur Verbund- oder Compound-Maschine mit Zwei- und Dreifachexpansion und zuletzt zur mehrzylindrigen Heißdampf-Hochdruck-Dampfmaschine, wie sie von Kemna angeboten wurde. Bei einer Sattdampfmaschine befinden sich im Kessel alle Siederohre fur die Dampferzeugung im Wasserbett, ein Heißdampfkessel besitzt mit dem Uberhitzer ein zweites Rohrensystem, das vom Feuer oder den heißen Rauchgasen bestrichen wird. Dadurch erreicht der Dampf Temperaturen um 350 Grad Celsius. Eine Compound- oder Verbundmaschine besitzt einen Hochdruckzylinder mit kleiner Bohrung und einen oder mehrere in Serie geschaltete Niederdruckzylinder. Der als Heißdampf in den Hochdruckzylinder eingespeiste, nunmehr teilentspannte und kuhlere entweichende Dampf hat immer noch genug Arbeitsvermogen, um den mit einer wesentlich großeren Bohrung versehenen Niederdruckzylinder zu bewegen. Dabei wird versucht, die Zylinderbohrungen so abzustimmen, dass das erzeugte Drehmoment beider Zylinder auf die Kurbelwelle etwa gleich ist. Auch muss das Volumen beider Zylinder auf die Drehzahl der Dampfmaschine abgestimmt sein, damit die Entspannung des Dampfes auf beide Zylinder verteilt wird. Kemna baute ab 1908 Dampfmaschinen mit zwei Hochdruckzylindern. Bei ortsfesten und Schiffsmaschinen wurde Dreifachexpansion ublich.
Hochdruckmaschinen erreichten im Jahre 1910 beispielsweise einen Steinkohlenverbrauch von 0,5 kg pro PS-Stunde mit „mittlerer Steinkohlenqualitat“. Das entspricht einem Wirkungsgrad von uber 18 %.
= Deutschland =
Preußen In Preußen war man bereits 1769 auf die „Feuermaschinen“ aus England aufmerksam geworden. Besonders der Oberkonsistorialrat Johann Esaias Silberschlag, der sich auch als Naturwissenschaftler einen Namen gemacht hatte, erkannte fruhzeitig den Nutzen dieser Maschine und fertigte bis 1771 mehrere umfangreiche Gutachten daruber an. 1785 wurde dann die erste, in Preußen nachgebaute Dampfmaschine wattscher Bauart bei Burgorner in Betrieb genommen. Bereits 1778 hatte sich James Watt bereiterklart, der preußischen Bergverwaltung seine verbesserte Dampfmaschine zur Wasserhaltung unter fachmannischer Anleitung zu uberlassen. Seine Firma Boulton & Watt forderte jedoch ein 14-jahriges Liefermonopol, eine Bedingung, auf die man im merkantilistischen Preußen nicht eingehen wollte. Unter dem Vorwand einer Erwerbsabsicht wurden der Oberbergrat Waitz von Eschen und der Assessor Carl Friedrich Buckling (1756–1812) vom preußischen Minister Friedrich Anton von Heynitz nach England geschickt. Waitz sollte sich speziell mit der Funktionsweise der Maschine vertraut machen und Buckling entsprechende Bauplane anfertigen. Lediglich eine englische Dampfmaschine wurde erworben und 1779 auf einer Braunkohlengrube bei Altenweddingen eingesetzt.
Nachdem Buckling noch ein zweites Mal nach England geschickt worden war, war er in der Lage, exakte Bauplane fur eine eigene Dampfmaschine nach dem Vorbild der wattschen unter Mitwirkung der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu entwerfen. Bis 1783 wurde ein verkleinertes, funktionsfahiges Modell gebaut, von da an wurden die Teile in Originalgroße hergestellt und zusammengesetzt. Am 23. August 1785 wurde die erste deutsche Dampfmaschine wattscher Bauart auf dem Konig-Friedrich-Schacht bei Hettstedt offiziell in Betrieb genommen. Ihre Storanfalligkeit brachte der Maschine anfangs viel Spott ein. Durch die Abwerbung des britischen Dampfmaschinen-Mechanikers William Richards konnten die Probleme in Hettstedt bis 1787 beseitigt werden. Die Maschine wurde zu einem okonomischen Erfolg. 1794 wurde sie durch eine starkere ersetzt und nun auf einem Steinkohlenschacht bei Lobejun aufgestellt, wo sie noch bis 1848 arbeitete. Im Mansfeld-Museum in Hettstedt steht seit 1985 ein 1:1-Nachbau dieser Dampfmaschine, der in Bewegung vorgefuhrt werden kann. Im oberschlesischen Tarnowitz wurde am 19. Januar 1788 eine Dampfmaschine in Betrieb genommen, die zur Entwasserung der Tarnowitzer Bergwerke diente. Von dieser Dampfmaschine wird falschlicherweise behauptet, sie sei die erste auf dem europaischen Festland gewesen.
Die erste Dampfmaschine des Aachener Reviers stand 1793 in Eschweiler und wurde dort ebenfalls fur die Wasserhaltung im Bergbau eingesetzt. 1803 baute Franz Dinnendahl in Essen die erste Dampfmaschine im Ruhrgebiet. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Dinnendahl den Einsatz der ersten Dampfmaschine zur Wasserhaltung im Ruhrbergbau betreut. Hergestellt in England, wurde diese auf der Zeche Vollmond in Bochum-Langendreer in Betrieb genommen.
Andere deutsche Staaten Etwa zeitgleich wurde im Herzogtum Sachsen-Gotha in einem kleinen Vitriol-Bergwerk bei Muhlberg (Thuringen) vom spateren Ingenieur-Leutnant Carl Christoph Besser, der von 1763 bis 1774 bei dem Bergwerk tatig war, die erste funktionsfahige Dampfmaschine Thuringens aufgebaut und uber Wochen in Betrieb gehalten, sie diente zum permanenten Fordern des Grubenwassers und wurde von zwei Heizern bzw. Maschinisten Tag und Nacht am Laufen gehalten. Der vielseits talentierte Besser wurde spater vom Herzog Ernst als Ingenieur und Architekt beim Bau der Seeberg-Sternwarte und anderer Projekte in Gotha eingesetzt und verlor so das Interesse am Maschinenbau.
Von diesen fruhen Anfangen bis zur weiten Verbreitung der Dampfmaschine in der Wirtschaft vergingen jedoch einige Jahrzehnte. So errichtete man 1811 die erste Dampfmaschine in Sachsen (Saline Bad Durrenberg). 1836 erstellte man die erste deutsche Dampfmaschinenstatistik, und zwar fur den Regierungsbezirk Dusseldorf. Durch technische Verbesserungen, der beginnenden Konzentration der sich formierenden Industrie, zunehmend ausgeschopfter Wasserkraftpotentiale sowie der massiven Verbilligung des Kohletransportes durch die Eisenbahn wurden Dampfmaschinen wirtschaftlich immer rentabler. Nach einer nicht ganz vollstandigen Statistik des Jahres 1846 gab es im Zollverein 1518 Dampfmaschinen. 1861 war die Zahl bereits auf 8695 Stuck gestiegen.
In der Stahlindustrie wurden Dampfmaschinen unter anderem zum Antrieb von Geblasen, Pumpen und Walzstraßen eingesetzt. Zwei Walzenzugmaschinen mit Leistungen von 10 000 PS, Baujahr 1913, und 15 000 PS, Baujahr 1911, arbeiteten zuverlassig in der Maxhutte (Sulzbach-Rosenberg) bis zu deren Stilllegung im Jahr 2002. Sie gehorten zu den leistungsfahigsten Kolbendampfmaschinen weltweit.
Dampfmaschinen heute Als Fahrzeugantrieb sind Dampfmaschinen weitgehend durch Verbrennungsmotoren abgelost worden, die ohne Aufwarmzeit starten, einen hoheren Wirkungsgrad haben, großere Leistung bei geringerem Gewicht bieten und komfortabler zu bedienen sind. Weiterhin hat die Dampfmaschine durch die flachendeckende Versorgung mit elektrischer Energie ihre Funktion als zentrale Energiequelle eines Industrieunternehmens verloren, die sie lange Zeit innehatte. Im Steinkohlenbergbau wurden und werden noch Dampfmaschinen in Forderanlagen eingesetzt, denn dort kann die Dampfmaschine sowohl als Fordermaschine zum Heben von Kohle als auch als Bremse zum Herablassen von Versatzmaterial dienen und der Brennstoff steht ohne externe Kosten zur Verfugung.
Obwohl die Zeit der Kolbendampfmaschine schon lange vorbei zu sein scheint, ist eine Renaissance nicht ausgeschlossen. Einer ihrer Vorteile gegenuber Verbrennungsmotoren ist der kontinuierliche Verbrennungsvorgang, der sich emissionsarmer gestalten lasst. Durch den heute ublichen geschlossenen Kreislauf von Dampf und Speisewasser ergibt sich eine emissionsarme Schmierung von Zylinder und Kolben der Maschine. In diesem Sinne ist als modernisierte Dampfmaschine der Dampfmotor entwickelt worden. Eine Kolbendampfmaschine arbeitet (wie ein Elektromotor) drehzahlelastisch und kann unter Last anlaufen, somit konnen Direktantriebe konstruiert werden, wobei im Vergleich zu Verbrennungsmotoren Rutschkupplungen entfallen und Getriebe vereinfacht werden.
Im Auftrag der Volkswagen AG entwickelte die IAV GmbH in den spaten 1990er Jahren eine solche moderne „Dampfmaschine“, die uber eine extrem emissionsarme externe Verbrennung einen gewissen Vorrat an hochgespanntem Dampf erzeugt, der dann wie beim Dieselmotor uber Dusen je nach Energiebedarf eingespritzt wird. Ende 2000 ging daraus die Firma Enginion hervor, die aus dem ZEE-Prototyp (Zero Emission Engine), der einen Wirkungsgrad von 23,7 % erreichte, die heutige SteamCell weiterentwickelte. Diese Maschine arbeitete im Zweitaktverfahren und kam außerdem ohne ubliche Schmiermittel aus, weil die Verschleißteile aus modernen Kohlenstoffkomponenten gefertigt waren. Enginion musste jedoch 2005 Insolvenz anmelden.
Wahrend die Kolbendampfmaschinen an Bedeutung verloren, bilden nunmehr die eingangs erwahnten Dampfturbinen als Bestandteil moderner Dampfkraftwerke, z. B. Kohle-, Gas-, Kernkraft- und Solarthermiekraftwerke, ein Ruckgrat der heutigen Stromproduktion und anderer industrieller Prozesse.
Siehe auch Modelldampfmaschine
Geschichte der Produktionstechnik
Technik in der Industrialisierung
Technik in der Renaissance
Literatur Gustav Schmidt: Theorie der Dampfmaschinen. Freiberg 1861; archive.org.
Heinrich Dubbel: Entwerfen und Berechnen der Dampfmaschinen. 2. Auflage. Springer, Berlin 1907.
F. Frohlich: Kolbendampfmaschinen. In: Dubbels Taschenbuch fur den Maschinenbau. 11. Auflage. Zweiter Band. 1953, S. 93 ff.
R. Christiansen: Kolbendampfmaschinen mit Zahnraduntersetzung. In: Konstruktion – Zeitschrift fur das Berechnen und Konstruieren von Maschinen, Apparaten und Geraten. Band 1, Nr. 1, 1949, S. 2–7.
Conrad Matschoss: Geschichte der Dampfmaschine: ihre kulturelle Bedeutung, technische Entwicklung und ihre großen Manner. 3. Auflage. Berlin 1901. Reprint: Gerstenberg, Hildesheim, ISBN 3-8067-0720-0.
Technik leicht verstandlich. Fachredaktion Technik des Bibliographischen Instituts unter Leitung von Johannes Kunsemuller, Fackel-Buchklub.
Otfried Wagenbreth, Helmut Duntzsch, Albert Gieseler: Die Geschichte der Dampfmaschine. Historische Entwicklung – Industriegeschichte – Technische Denkmale. Aschendorff Verlag, Munster 2002, ISBN 3-402-05264-4, mit CD.
Hebestedt: Die Geschichte der Hettstedter Dampfmaschine von 1785. In: 200 Jahre erste deutsche Dampfmaschine. Hrsg. vom Mansfeld Kombinat Wilhelm Pieck, Eisleben 1985.
Christoph Bernoulli: Handbuch der Dampfmaschinen-Lehre (PDF, 14 MB) Basel 1833
Hans Otto Gericke: Die erste Dampfmaschine Preußens in der Braunkohlengrube Altenweddingen (1779-1828). In: Technikgeschichte, 1998, Band 65, Heft 2, S. 97–119.
Weblinks Literatur zur Dampfmaschine im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Interaktives FlashLet der Wattschen Niederdruckdampfmaschine
Dampfmaschinen und Lokomotiven – Ihre Entwicklung, ihr Einsatz und erhaltene Objekte – Umfangreiches Verzeichnis von Dampfmaschinen
Sachsischer Dampfmaschinenverein e. V.
Suche nach Dampfmaschinen. In: Deutsche Digitale Bibliothek
Einzelnachweise
|
Eine Dampfmaschine ist (im engeren Sinne) eine Kolben-Warmekraftmaschine. In einem beheizten Dampferzeuger, der als Bestandteil der Maschine gilt, wird Wasser verdampft. Der unter Druck gesetzte Dampf wandelt die in ihm enthaltene Warmeenergie (auch Druckenergie) durch Verschieben eines in einem Zylinder beweglichen Kolbens in Bewegungsenergie um. Ublicherweise ist der Kolben Teil eines Schubkurbelgetriebes, mit dem die hin- und hergehende Bewegung des Kolbens in Rotation eines Schwungrades, das die Arbeitsmaschine antreibt, umgewandelt wird. Zur Bewegungsumkehr des Kolbens wird der Druck jeweils auf dessen andere zylindrische Seite umgelenkt.
Eine andere mit Dampf betriebene Warmekraftmaschine ist die Dampfturbine, die schon ohne einen die Bewegungsart andernden Folgemechanismus (Getriebe) die Warmeenergie des Dampfs in Rotationsenergie umwandelt.
Dampfmaschinen sind Warmekraftmaschinen mit „außerer Verbrennung“, was sie von Verbrennungsmotoren unterscheidet.
Die Anwendungen der ersten funktionsfahigen Dampfmaschine von Thomas Newcomen fanden sich ab Anfang des 18. Jahrhunderts im Steinkohlebergbau zur Wasserhaltung, wo sie zunachst altere mechanische Kraftquellen wie z. B. Wasserrader erganzten und spater auch ersetzten. Nach allmahlichen Verbesserungen des Wirkungsgrades lohnte es sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts, sie ebenfalls in der wachsenden Textilindustrie zum Antrieb von Textilmaschinen einzusetzen und sie verbreiteten sich schließlich auch in weiteren Industriebranchen, wo sie ebenfalls Wasser- und Windmuhlen erganzten. Eine entscheidende Verbesserung gelang James Watt, der 1769 darauf ein Patent erhielt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erlangten sie eine wichtige Rolle im Verkehrswesen, insbesondere zum Antrieb von Dampfschiffen und Dampflokomotiven. Ebenfalls nicht unbedeutend war zudem der Einsatz als Lokomobile. Nach anfanglichen Erfolgen verlor ihre Anwendung in Dampfautomobilen und -lastwagen an Bedeutung und existiert heute praktisch nicht mehr. Ahnliches gilt fur den Bereich der Dampftraktoren und Lokomobile, wo der Dampfantrieb vor 1900 dominierte. Auch das erste Luftschiff wurde 1852 von einer Dampfmaschine angetrieben.
Abgelost wurden die Dampfmaschinen in der Wende zum 20. Jahrhundert allgemein durch den Elektromotor und als Fahrzeugantrieb durch den Verbrennungsmotor. In Kraftwerken werden bis heute Dampfturbinen genutzt, um elektrische Energie zu erzeugen.
Der folgende Artikel behandelt nur Kolbenkraftmaschinen (Dampfmaschinen „im engeren Sinne“).
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Dampfmaschine"
}
|
c-13926
|
Die Siedlung Eisenheim in Oberhausen gilt als die alteste Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets und eine der altesten erhaltenen Arbeitersiedlungen in Deutschland. Eisenheim ist die erste deutsche Arbeitersiedlung, die unter Denkmalschutz gestellt wurde.
Die ersten Hauser auf dem rund sieben Hektar großen Areal entstanden 1846, errichtet von der spateren Gutehoffnungshutte (GHH), zunachst fur ihre Huttenarbeiter. Erst ab der zweiten Ausbaustufe kamen nach 1865 auch Bergleute der Zeche Osterfeld hinzu. Um 1900 lebten etwa 1200 Menschen in 51 anderthalb- und zweigeschossigen Hausern.
Nach teilweisen Zerstorungen im Zweiten Weltkrieg entstanden Plane, die „hasslichen Altbauten“ abzureißen, die Siedlung komplett durch Neubauten zu ersetzen und so die „Koloniezeit auszuloschen“. Die gewachsenen Sozialstrukturen innerhalb der Siedlung wurden dabei nicht berucksichtigt. Der Widerstand der Anwohner wurde Anfang der 1970er-Jahre durch eine Bielefelder Studentengruppe unter Leitung von Roland Gunter unterstutzt. Es kam zur Grundung der ersten Arbeiterinitiative im Ruhrgebiet, die Vorbild und Ansporn vieler weiterer solcher Initiativen in der Region werden sollte. Nach langem Kampf konnten die verbleibenden 38 Hauser vor dem Abriss bewahrt und 1972 unter Denkmalschutz gestellt werden. Die soziologischen Studien, die in diesem Zusammenhang erstellt wurden, zahlen zu den „Klassikern der Sozialwissenschaft der Siebziger Jahre“ und waren entscheidend am „Paradigmenwechsel hin zu einer starker auf die sozialen Auswirkungen von Architektur und Stadteplanung ausgerichteten Offentlichkeit“ beteiligt.
Die Siedlung hat mit dem Museum Eisenheim in der Berliner Straße eine Außenstelle des LVR-Industriemuseums Oberhausen. Uber das Projekt „Sprechende Straßen – sprechende Baudenkmaler“ kann bei einem Spaziergang durch die Siedlung deren Geschichte und die ihrer Bewohner nachvollzogen werden.
Heute ist die Siedlung, die auch durch die mehrteilige WDR-Fernsehserie Die Helden von Eisenheim bekannt wurde, ein Teil der Route der Industriekultur.
Geschichte Werkswohnungsbau, der zunachst auf staatliche Initiativen zuruckging, fand in Deutschland bereits im 18. Jahrhundert statt, zuerst fur Landarbeiter und spater fur Bergarbeiter. Das erste Beispiel fur einen privatwirtschaftlichen Wohnungsbau war ein dreistockiger Arbeiterwohntrakt bei der Textilfabrik Cromford in Ratingen.
Der Anstoß fur die Grundung Eisenheims war die einsetzende Eisenbahnkonjunktur am Ende der 1830er-Jahre. Die Huttengewerkschaft Jacobi, Haniel & Huyssen (JHH), die Vorlauferin der Gutehoffnungshutte (GHH), verlagerte ihren Produktionsschwerpunkt von der Erzeugung von Roheisen auf die Verarbeitung des Eisens und produzierte die ersten Schienen der Region. Fur die neuen, aus dem Ausland eingefuhrten Produktionsverfahren wurden auch auslandische Fachkrafte benotigt. Der Huttendirektor der JHH Hermann Wilhelm Lueg hatte die Idee, fremde Meister nicht nur abzuwerben, sondern ihnen auch attraktive Ansiedlungsmoglichkeiten zu bieten.
Die JHH hatte bereits seit den 1820er-Jahren Werkswohnungsbau rund um Sterkrade betrieben, aber Eisenheim galt zum Ende des 20. Jahrhunderts als der alteste erhaltene Siedlungskomplex im Ruhrgebiet. Er spiegelt mit seiner sechzigjahrigen Entstehungszeit von 1846 bis 1903 anhand der verschiedenen Gebaudetypen die Baugeschichte des Siedlungsbaus im Ruhrgebiet auf einzigartige Weise wider.
= Erste Ausbauphase 1846 =
Am 27. Februar 1830 bekundete Lueg im Zusammenhang mit dem Ausbau des Walzwerkes: „Da hierdurch den sehr vermehrten Fabrikarbeitern die Wohnungen mangeln, so wollen wir ein großes Wohngebaude fur mehrere Arbeiterfamilien erbauen lassen.“ Wo dies genau geschehen sollte, stand noch nicht fest. 1834 verhandelte er mit dem Burgermeister von Holten uber den Bau von 15 Arbeiterwohnungen, deren Bau aber wegen eines Konjunktureinbruches nicht zustande kamen.
Am 8. Februar 1844 erwarb Lueg vom Bauern Theodor Rubbekamp 27 Morgen, 139 Ruten und 60 Fuß Land auf den Gemarkungen Ravelkamp und Wesselkamp zum Preis von 2350 Talern. Der Standort lag an der Provinzialstraße von Mulheim an der Ruhr nach Dorsten, die damals gerade als Kunststraße ausgebaut wurde. Sie verband die Hutte Gute Hoffnung in Sterkrade mit dem Puddlings- und Walzwerk an der Emscher. Die Grundstucke lagen auf leicht sumpfigem, haufig uberschwemmtem Ackerland, weitab von den damaligen Fabriken und anderen Wohngebieten. Neben den gunstigen Grundstuckspreisen war auch die geplante Ansiedlung von Fremden und Auslandern fur die Wahl des abgelegenen Standorts verantwortlich, da dieser Umstand von der ansassigen landlichen Bevolkerung mit Misstrauen betrachtet wurde.
Die Grundbucheintragung zog sich nach dem Kauf des Landes noch zwei Jahre hin, da die gutsherrliche Genehmigung fehlte. Der Bauantrag an die erst 1841 gebildete Gemeinde Osterfeld wurde von dieser zuruckgewiesen.
Unter Einschaltung des Ministeriums des Inneren der Bezirksregierung in Munster und des Landrats erwirkte Lueg eine vorlaufige Baugenehmigung. Am 6. April meldete der Ortsvorsteher, dass die Bauarbeiten begonnen hatten, am 28. August teilte die JHH mit, dass in 14 Tagen sieben Hauser fertiggestellt sein wurden und sie den Antrag stelle, die Siedlung „Eisenheim“ zu nennen.
Tourneau entsprach dem Antrag wieder nicht und verwies an die Regierung. Als die ersten Mieter bereits eingezogen waren, stimmte die konigliche Regierung in Munster am 6. Januar 1847 der Namensgebung und dem Bauantrag nachtraglich zu.
Die Probleme mit der sozialen Lastenverteilung durch solche Ansiedlungen wurde erst im Jahr 1876 durch das preußische Ansiedlungsgesetz geklart, welches die Frage des Unterstutzungsrisikos zugunsten der Gemeinden regelte.
Der englische Reisende Thomas Collins Banfield beschrieb Eisenheim – die Meisterhauser an der Provinzialstraße – im Sommer 1846 folgendermaßen:
Bedingt durch die Diskussion um die Sozialfolgekosten anderte Lueg in seinen Antragen mehrmals den Typ und die Eigentumseigenschaften der geplanten Hauser. Zunachst kundigte er ein Wohnhaus „fur tuchtige Meister und Arbeiter rechter Art“ an. Dann beantragte er im Marz 1846 den „Bau kasernenartiger Wohnungen“. Zunachst hatte Lueg geplant, die Hauser an die Nutzer auf der Basis eines Pramienhaussystems, wie es im saarlandischen Bergbau ublich war, zu verkaufen. Die Darlehenspramien sollten direkt vom Lohn abgezogen werden. Dann entschied er sich aber doch fur eine Uberlassung auf Mietbasis. Konsequenterweise wurden auch die beiden Mietskasernenhauser errichtet.
Zuletzt entstanden insgesamt elf Wohngebaude: Zunachst im Fruhjahr 1846 sieben Meisterhauser entlang der Provinzialstraße (heute Sterkrader Straße), im Spatsommer und Herbst folgten das Doppelhaus in der Kasernenstraße (heute Fuldastraße Nr. 5–7) und zwei zweistockige Siedlungshauser am Communalweg (heute Wesselkampstraße Nr. 27/29 und 31/33).
1848 lebten rund 128 Personen in 30 Familien in der Siedlung. Sie stammten aus dem Saarland, der Pfalz, dem Bergischen Land und den preußischen Ostprovinzen sowie dem benachbarten Ausland, einige kamen auch aus der Nachbarschaft. Es handelte sich vorwiegend um Katholiken. Die Bewohner waren dabei nicht nur Meister, sondern auch Vor- und Facharbeiter, einfache Arbeiter und Tagelohner. Die meisten arbeiteten in der eine halbe Stunde Fußmarsch entfernten, an der – damals noch weiter sudlich fließenden – Emscher gelegenen „Alten Walz“.
= Zweite Ausbaustufe 1865/66 =
Die zweite Ausbaustufe war verbunden mit einem lang anhaltenden Konjunkturaufschwung. Von 1842 bis 1865 war die Belegschaft der Huttengewerkschaft von 2000 auf fast 5000 gestiegen. Die 1873 gebildete Gutehoffnungshutte AG (GHH) konnte durch die Verhuttung einheimischer Erze mit Koks auf der Friedrich Wilhelms-Hutte in Mulheim wieder in die Roheisenproduktion einsteigen. Es entstanden sowohl die Eisenhutte I als auch das Walzwerk Neu-Oberhausen. Die Entwicklung steigerte sich zum Grunderboom.
Ab 1865 entstanden zehn weitere Wohngebaude, sieben in der Berliner Straße (Nr. 8, 10, 12, 14, 16, 18, 20) und zwei in der Wesselkampstraße (Nr. 19/21 und 23/25).
= Dritte Ausbauphase 1872 =
Das im Jahr 1872 errichtete einzelne Siedlungshaus (Wesselkampstraße Nr. 35) stellt eine revolutionare Neuerung dar. Es gibt keine fruheren Belege fur diesen Typ, so dass anzunehmen ist, dass er von einem unbekannten Planer in der GHH entwickelt wurde. Der Kreuzgrundriss wurde dahingehend modifiziert, dass die Wohnungen und ihre Eingange an die jeweiligen Hausseiten verlegt wurden. So hatte jede der vier Familien auch im Außenbereich ihren eigenen privaten Bereich und konnte sich fast der Illusion hingeben, in einem eigenen Haus zu wohnen.
Dass in dieser Phase nur ein Haus errichtet wurde, spiegelt aber auch den Grunderkrach von 1873 wider. Die GHH reagierte mit der Entlassung von 1/3 der Beschaftigten. Der Ausbau der Siedlung wurde zunachst gestoppt. Die Siedlung bestand jetzt aus 21 Wohngebauden. Die Zahl der Haushaltungen hatte sich mit 66 in etwa verdoppelt, die Einwohnerzahl aber nahezu vervierfacht. Es lebten jetzt 224 mannliche und 194 weibliche Personen in der Siedlung.
= Vierte Ausbaustufe ab 1897 =
Die vierte Ausbaustufe war gepragt von der Bergbaukonjunktur. Die Nordwanderung des Abbaus war bereits uber die Emscher vorgeruckt. Die GHH teufte, neben ihrer bereits bestehenden zwei Zechen Oberhausen und Osterfeld, drei weitere Zechen im Raum Oberhausen ab. Die Anzahl der bei der GHH beschaftigten Bergleute verdoppelte sich in der Zeit des Ausbaus auf 9000, bei einer Gesamtbelegschaft der GHH von 18000 Mitarbeitern. Ein großer Teil der Beschaftigten kam aus den preußischen Ostprovinzen und aus Polen. Die sozialen Folgen dieses rasanten Bevolkerungswachstums waren verheerend. Die Konzerne nahmen den Werkswohnungsbau wieder in Angriff. Allein die GHH baute vierzehn neue Siedlungen mit zum Teil mehr als 100 Hausern, dies reichte aber nur fur eine Minderheit von funf bis sechs Prozent der Beschaftigten. Die Hauptfunktion des Werkswohnungsbaus lag darin, eine schmale Schicht von Stammarbeitern an das jeweilige Werk zu binden.
In den neuen Wohneinheiten in Eisenheim wurden ausschließlich Bergarbeiter der Zeche Osterfeld angesiedelt, darunter auch viele Polen, was zu Einspruchen der „alteingesessenen“ Eisenheimern fuhrte: So schrieb ein Meister, man habe sich „im Laufe der Jahre einen ruhigen und behaglichen Aufenthalt geschaffen“, den man durch den Zuzug „fremder Zechenarbeiter“ bedroht sah.
Bedingt durch die Engpasse am Wohnungsmarkt und die niedrigen Lohne kam es zu einer Uberbelegung der Wohnsiedlungen. Teilweise wohnten funf statt vier Familien in einem Siedlungshaus. Hinzu kam das Kost- und Quartiergangerwesen. Das heißt, einzelne, junge, ledige Bergleute nutzen dieselbe Schlafstatt – abgestimmt auf ihre Arbeitszeiten – schichtweise. Bei einer Revision wurden in einer Wohnung acht Kostganger festgestellt, der Durchschnitt in einer Untersuchung fur den Kreis Recklinghausen betrug 2,4 pro Wohnung. Die Nennzahl von 186 in Eisenheim vorhandenen Haushaltungen durfte also wohl ebenfalls ubertroffen worden sein.
Unter dem Begriff Eisenheim II entstanden insgesamt 30 Mietshauser. Zuerst wurden die vorhandenen Lucken gefullt: Kasernenstraße (Fuldastraße Nr. 3, 9, 11), Communalweg (Wesselkampstraße Nr. 37, 39, 41, 43) und Berliner Straße (Nr. 4, 6). Entsprechend den ursprunglichen Planungen Hermann Luegs wurden die Koloniestraße und die Eisenheimerstraße als Verbindungsstraßen innerhalb der Siedlung angelegt. Dadurch wurden auch die Wegstrecke zur nordlich gelegenen Vestischen Straße verkurzt, wo sich mittlerweile ein gut erreichbares Geschaftsviertel entwickelt hatte. Im Jahr 1898 entstanden entlang der Nordseite der neuen Koloniestraße weitere Hauser (Werrastraße Nr. 2, 4, 6, 10) und an der Werkbahn der Zeche Osterfeld ein weiteres Haus gegenuber dem Haus Wesselkampstraße 43.
Im selben Jahr wurde die Straßenbahnlinie 1 eroffnet, die auf der Provinzialstraße – an den Meisterhausern vorbei – nach Sterkrade fuhrte. Im Jahr 1901 erhielten die Hauser der Siedlung Hausnummern und in die Meisterhauser an der Provinzialstraße wurden Gasleitungen verlegt. Die Siedlung erhielt eine Straßenbeleuchtung mit Gaslicht.
Nach vierjahriger Unterbrechung wurde der Ausbau mit den Gebauden Eisenheimer Straße (Nr. 1, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10) fortgesetzt. Die letzten Hauser entstanden 1903 in der Eisenheimer Straße (Nr. 2, 4) und der Koloniestraße (Werrastraße Nr. 1, 3, 5, 7). Ein weiteres Haus stand an der Bahnunterfuhrung gegenuber von Wesselkamp Nr. 39. Der Gesamtbestand an Hausern betrug nun 51 Hauser. Verwaltungstechnisch unterschied die Wohnungsverwaltung der GHH zwischen den alteren Wohnungen, die als Eisenheim I dem Walzwerk zugeordnet wurden, und Eisenheim II, das der Zeche Osterfeld unterstand.
Am 1. Oktober 1905 wurde die katholische Schule-West an der Wesselkampstraße eroffnet. Im Eroffnungsjahr wurde sie von 135 Kindern besucht. Die Schule wurde 1943 wegen der Luftangriffe geschlossen. Sie wurde nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut, die Kinder besuchten danach im Schichtbetrieb die benachbarte Katholische Osterfelderheideschule. Der Bau eines Kinderhauses im Jahr 1911 war die letzte großere bauliche Erweiterung der Siedlung.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erhielten einzelne Straßen, wie die Berliner Straße, Strommasten. Die gesamte Elektrifizierung der Siedlung dauerte aber bis in die 1930er-Jahre an. Einen Anschluss an das stadtische Kanalisationsnetz erhielten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nur die Hauser an Durchgangsstraßen, die meisten wurden erst in den 1970er-Jahren an die stadtische Kanalisation angeschlossen. Bis dahin entwasserten die Hauser in die Straßenrinnen und die Fakalien der Plumpsklos in den Toilettenhausern wurden zusammen mit dem Stallmist in den Garten der Siedlung als Dunger verwendet. Bis zu den Umbauten in den 1970er-Jahren hatten die meisten Hauser Eisenheims weder ein Badezimmer noch eine Toilette.
Im Verlauf der 1930er Jahre erfolgte die Umbenennung der Straßen auf die heutigen Namen. Im Oktober 1938 wurde auch die erste Garage in Eisenheim gebaut. Otto Loos, Weselkampstraße 29, erhielt die Genehmigung, eine Wellblechgarage zu errichten, aber mit der Auflage, diese gegen Sicht von der Straße zu bepflanzen.
= Kriegsschaden und Wiederaufbau =
Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde 1942 ein Hochbunker in der Mitte der Siedlung errichtet. Am Abend des 30. Marz 1944 wurden 23 (nach anderen Quellen 41) Menschen getotet und 32 weitere verletzt, als unmittelbar vor dem Bunkereingang eine einzelne, von einer De Havilland Mosquito abgeworfene Luftmine explodierte. Durch Bombardierungen wurden wahrend des Krieges mehrere Hauser vollig zerstort, darunter auch zwei der Meisterhauser an der Sterkrader Straße. Die anderen Meisterhauser zwischen Fuldastraße und Eisenheimer Straße wurden notdurftig repariert und waren bis 1952 bewohnt. Die Akten geben Beispiele fur die katastrophale Situation. Ein Zechenarbeiter mietete den Stall eines zerstorten Meisterhauses an, da er zusatzlich zu seiner siebenkopfigen Familie auch noch die aus dem Osten geflohenen Verwandten unterbringen musste. Eine andere Familie, drei Erwachsene und zwei Kinder, lebten in der Waschkuche eines zerstorten Meisterhauses. Auch der Bunker wurde bis in die 1950er-Jahre als Unterkunft genutzt.
Neun vollig oder teilweise zerstorte Hauser an der Werra- und Fuldastraße wurden zwischen 1946 und 1958 in vereinfachter Form wieder aufgebaut. Die Kosten pro Haus betrugen etwa 15.000 DM. Die funf Meisterhauser an der Sterkrader Straße zwischen Eisenheimer Straße und Fuldastraße wurden aber, beginnend 1948, abgerissen. An ihrer Stelle entstanden ab 1952 vier dreigeschossige Wohnblocks. Durch die Moglichkeit, mehr Wohneinheiten auf gleicher Grundflache bereitzustellen, ließen sich hohere Renditen erzielen. Der Einbau von Bad und Toilette fuhrte auch zu hoheren Mieten. Der fruhere Hofweg hinter den Hausern wurde von den Eisenheimern „Marmeladenstraße“ genannt, da die dortigen Bewohner einen betrachtlichen Teil ihres Lohnes fur die Miete aufbringen mussten, weshalb es als Brotbelag – statt Wurst – haufig Marmelade gab.
Die Kosten der Instandsetzung eines der Meisterhauser an der Sterkrader Straße Anfang der 1960er-Jahre hatten nach Schatzungen 50.000 DM betragen, ein Aufwand, der bei einer geplanten „Totalsanierung“ (sprich: Abriss) der Siedlung als nicht mehr lohnend angesehen wurde, so dass die verbliebenen beiden Meisterhauser 1962 ebenfalls abgerissen wurden. Dieser Platz ist bis heute unbebaut. Ende der 1960er-Jahre wurde das Haus Weselkampstraße 42 am Bahndamm der Werksbahn als letztes der Siedlung abgerissen.
Erste denkmalgeschutzte Arbeitersiedlung Deutschlands = Drohender Abriss =
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollten die machtigen Ruhrkonzerne nach dem Willen der Alliierten entflochten werden. Die GHH betrieb unter ihrem alten Namen nur noch die Weiterverarbeitung von Stahl. Die Erzeugung von Stahl wurde von der Huttenwerke Oberhausen AG (HOAG) weiter verfolgt. Der Bergbau wurde der Bergbau AG Neue Hoffnung zugeschlagen. Eisenheim wurde unter die Verwaltung der HOAG gestellt, aber die meisten Wohnungen waren an Bergleute vergeben, so dass uber die Vergabe der Wohnungen die Bergbau AG entschied. Mit Beginn der Kohlekrise erlosch das Interesse der Gesellschaften an ihren alten Siedlungen. Diese waren bereits abgeschrieben, im Gegensatz dazu profitierten die Wohnungsgesellschaften von den staatlichen Wohnungsbaupramien. Auch die Gewerkschaften teilten mit ihrem eigenen Unternehmen Neue Heimat diese Denkweise.
Sowohl die HOAG, die Stadtverwaltung und die Medien waren entschlossen, die „hasslichen Altbauten“, „Veteranen“ einer „Kolonie-Zeit“ zu beseitigen. Schlagzeilen wie „Hier wird die alteste ‚Kolonie‘ der GHH mit einem Schlage verzaubert. Man wird das alte Eisenheim sozusagen nicht wiedererkennen, wenn alles fertig ist.“ waren als Verheißung gemeint.
1961 wurde ein Plan vorgelegt, Eisenheim total abzubrechen und an seiner Stelle eine „Siedlung modernster Art“ zu errichten. Der Grund, weshalb Eisenheim nicht sofort abgerissen wurde, lag darin, dass gleichzeitig Planungen bestanden, die Bundesstraße 223 zu verbreitern. So blockierten sich zwei Abrissplane gegenseitig. Der Grund: Jeder der Beteiligten – Stadtverwaltung und HOAG – wollten das jeweils Beste fur sich herausschlagen und so wurden in beiden Projekten – jeweils gegensatzlich – die wechselseitigen Besitzverhaltnisse gegeneinander ausgespielt.
Die Eigentumer Eisenheims wechselten mehrfach: Zunachst ging die HOAG an die August Thyssen Hutte AG uber, heute wird die Siedlung, seit 1992, von der TreuHandStelle fur Bergmannswohnstatten, heute THS GmbH verwaltet.
Die Anwohner wehrten sich zunachst wenig erfolgreich mit Leserbriefen gegen die Abrissplane. 1968 wurde zumindest der Bebauungsplan dahingehend geandert, dass einige wenige historische Gebaude erhalten werden sollten und ansonsten zweistockige Mietshauser und Eigenheime errichtet werden sollten. 1969 wurde eine Unterschriftenliste gegen die Abrissplane initiiert.
= Forschungsstelle Eisenheim fur Arbeiterwohnung im Ruhrgebiet =
Pfingsten 1972 kam Roland Gunter mit einer Projektgruppe der Fachhochschule Bielefeld nach Eisenheim. Er kannte die Siedlung bereits aus seiner Zeit als Mitarbeiter des Landeskonservators und hatte von den Abrissplanen gehort. Sein ursprunglicher Plan war, die Siedlung vor ihrer Zerstorung noch zu dokumentieren. Mit Hilfe von modernen Untersuchungs- und Befragungsmethoden wurden – auch von Gunters Ehefrau Janne – die besonderen sozialen Beziehungen erforscht, die die Qualitat einer Arbeitersiedlung ausmachten: Die personlichen Beziehungen untereinander, aber auch die privaten und offentlichen Wege innerhalb der Siedlung und die Funktion der selbst geschaffenen Bauten der Bewohner.
Die Projektgruppe organisierte Ausstellungen, Pressekonferenzen, Versammlungen, Filmvorfuhrungen und andere Aktionen, die die Aufmerksamkeit der Medien auf Eisenheim zogen. Aber auch die internationale Fachwissenschaft nahm Kenntnis von Eisenheim. Die Bewohner grundeten 1972 eine Arbeiterinitiative, die bald auch Vorbild fur 50 weitere solcher Initiativen in anderen bedrohten Siedlungen des Ruhrgebiets werden sollte. Ein Quartierrat, gebildet aus der Vollversammlung aller Bewohner, vertrat die Interessen nach außen und bereitete Aktionen vor.
Das erste Ergebnis dieser Bemuhungen war, dass noch 1972 Eisenheim vom Landeskonservator als erste Arbeitersiedlung in der Bundesrepublik unter Denkmalschutz gestellt wurde.
Roland Gunter, fur den Eisenheim zu diesem Zeitpunkt eine regelmaßige Zwischenstation zwischen seinem Wohnort Bonn und seiner Arbeitsstelle in Bielefeld war, entschloss sich, inspiriert von einer Aktion Gunter Wallraffs in Griechenland, sich in Eisenheim anzuketten, falls es zu einer Abrissaktion kommen sollte. Im Sommer 1974 zogen Roland und Janna Gunter mit ihren beiden Kindern in eine Wohnung in eines der Hauser in der Werrastraße. Der Umzug erhielt ein breites Medienecho. Die Zeit widmete Gunter eine ganzseitige Reportage: „Professor in der Arbeitersiedlung“. Gegen das Argument der Siedlungseigentumer, der Abriss sei notwendig, da die Hauser keine Toilette und kein Bad haben und das Spulwasser in die Gosse fließe, baute die Familie, zum damaligen Preis von 6000 DM, einen Abwasserkanal zur Fuldastraße, ein Bad und eine Toilette, sowie eine, von einem Flussiggastank gespeiste, weitere Heizung in die Wohnung ein. Dem stand damals der Neubaupreis fur eine subventionierte Sozialwohnung von 120.000 DM entgegen.
Quasi in der Kuche der Wohnung befand sich von 1974 bis 1980 das Sekretariat der Forschungsstelle Eisenheim fur Arbeiterwohnung im Ruhrgebiet. Forschungsschwerpunkte waren die Siedlungsstruktur, vor allem die Nutzung von Architektur, die Arbeitersprache und die Arbeiterkultur. Dem damaligen Mainstream, der Hochhauser nach dem Schema „Lange mal Breite mal Geld“ produzierte, konnten die Studien eine lebendige Alternative entgegenstellen. Architekten, Geographen und Sozialwissenschaftler profitieren von den Studien, welche die Gebrauchswerte der Siedlung hervorhoben, die deren Bewohnern als selbstverstandlich erschienen, die aber von der Abrissideologie in Frage gestellt wurde. Durch die Offenlegung dieses Handlungswissens konnte das Selbstbewusstsein und die Handlungsfahigkeit der Siedlungsbewohner gestarkt werden. Die Forschungsstelle wurde so auch zum Sekretariat und zur Anlaufstelle fur die 50 weiteren Arbeiterinitiativen im Ruhrgebiet.
Das Haus der Gunters wurde zum Gastehaus fur eine Vielzahl renommierter Besucher, die die Rettung Eisenheims unterstutzen und diesem Anliegen auch eine nationale und internationale Buhne schafften.
= Der schwierige Weg der Rettung =
Auf dem Architektentag 1974 hob Bundesprasident Gustav Heinemann Eisenheim als Beispiel fur „Soziale Architektur“ im Gegensatz zu „rein technisch-wirtschaftlichen Losungen“ hervor. Im gleichen Jahr beantragte die Stadt Oberhausen mit den Stimmen aller Fraktionen eine Sanierung nach dem Stadtebauforderungsgesetz. Dies setzte eine Begutachtung voraus. Daraus folgte 1975 der einstimmige Beschluss (SPD, CDU, FDP des Stadtparlaments), die Siedlung zu erhalten und zu sanieren.
Der nordrhein-westfalische Innenminister Burkhard Hirsch (FDP) stellte sich noch gegen Eisenheim. Er geriet in Streit mit dem Landeskonservator Gunther Borchers und dem Vorsitzenden der Europaratkommission fur Denkmalschutz, dem MdB und MdEP Olaf Schwencke (SPD). Dann versuchte er die Verantwortung fur einen Abriss mit dem Argument, die Siedlung ware durch die benachbarte Kokerei Osterfeld stark beeintrachtigt, in das Ressort des Sozialministers Friedhelm Farthmann (SPD) abzuschieben. Doch der Oberhausener MdL Heinz Schleußer (SPD) intervenierte. Im Bundestagswahljahr 1976 hatten die drei großen Parteien – jede fur sich – die Vorzuge der reviertypischen Arbeitersiedlungen entdeckt. Zuletzt musste Innenminister Hirsch ein Landesforderprogramm fur Wohnbereiche mit besonderer Sozialstruktur (Amtsdeutsch fur Arbeitersiedlung) hinnehmen.
Im Januar 1977 wurde wahrend einer Sendung von Hallo U-Wagen mit dem Titel „Was der Krieg nicht zerstorte, zerstort die Sanierung“ auf dem Platz vor dem Bunker von Carmen Thomas die Nachricht uber die Rettung der Siedlung in Form eines Briefes von Minister Farthmann verkundet. Die medienwirksame Inszenierung wurde sogleich dazu genutzt, die Stadtverwaltung dazu aufzufordern, den gerade begonnenen Abriss auf der Siedlung Rheinpreußen zu beenden.
Die Arbeiterinitiative erhielt 1978 einen der ersten Kulturpreise der Kulturpolitischen Gesellschaft.
Eine „Große technische Kommission“ wurde nun eingesetzt, um uber die notwendigen Sanierungsmaßnahmen, die Kanalisation, dem Einbau von Sanitareinrichtungen und den Innenausbau zu organisieren. Teilnehmer waren Bewohner, Sozialarchitekten und Berater nach Wahl der Eisenheimer, die Stadtverwaltung vertreten durch das Amt fur Sanierung, Parlamentsmitglieder, die August Thyssen Hutte AG als Eigentumer, der Sanierungstrager (Thyssen bauen und wohnen) und die Wohnungsverwaltung der Ruhrkohle AG. In einer „Kleinen technischen Kommission“ wurden in wochentlichen Montagskonferenzen die Tagesprobleme zwischen den beiden Sozialarchitekten Ernst Althoff und Niklaus Fritschi und der Bauleitung der Firma Thyssen besprochen.
Im Gelande um den Bunker wurde eine Containersiedlung eingerichtet, in der die Bewohner wahrend der Sanierung ihrer Wohnungen wohnen konnten. Nach anfanglicher Skepsis entwickelte sich aus diesem engen Nebeneinander ein noch starkeres Wir-Gefuhl.
Zu diesem Zeitpunkt wohnten in den verbleibenden 39 Hausern knapp 500 Menschen, etwa 75 Prozent von ihnen gehorten der Arbeiterschaft an. Die Mehrheit von ihnen arbeiteten auf Zechen, aus einer Huttenarbeitersiedlung war eine Zechenkolonie geworden.
1981 war die Sanierung abgeschlossen. Im heutigen Museum Eisenheim wurde die Rettung der Siedlung dokumentiert und aus Haushaltsauflosungen ein Grundstock an Mobeln geschaffen, um die fruhere Lebenssituation in der Siedlung darzustellen. Im Jahr 1996, zum 150-jahrigen Jubilaum der Siedlung, folgte das Projekt „Sprechende Straßen – sprechende Baudenkmaler“. Auf uber 70 Tafeln, die zumeist an den Gebauden angebracht sind, erfahrt man – im Vorbeigehen – die „… Kontexte der Bauphasen und das Leben in und zwischen den Hausern.“
Zwanzig Jahre spater kommentierte Roland Gunter die Situation in den Arbeitersiedlungen folgendermaßen:
Architektur In der 60-jahrigen Bauzeit kamen verschiedene Haustypen zum Einsatz. In Eisenheim wurde der Kreuzgrundriss in einer einzigartigen Weise revolutioniert und wurde in dieser Form zum Muster fur weitere Siedlungen im Ruhrgebiet.
Die ersten Hauser spiegeln noch wider, dass der Charakter der Siedlung, ob stadtisch oder landlich, noch nicht festgelegt war. Das Ruhrgebiet war und ist keine klassische Stadt, die sich von einem Zentrum aus entwickelte. Joseph Roth beschrieb es (auf Essen bezogen) folgendermaßen:
Das Gebiet um Eisenheim war eine Heidelandschaft. Die neu entstandenen Industriestandorte sowie die Bahnhofe der Koln-Mindener-Eisenbahn bildeten die Kristallisationspunkte fur neue Ansiedlungen. In Eisenheim, wie in vielen anderen Arbeitersiedlungen, setzte sich ein landlicher Bautyp durch, da die Arbeiter, welche durch sie angeworben werden sollten, zumeist aus einem bauerlichen Umfeld stammten und sich auch durch Stalltierhaltung und Gemuseanbau selbst versorgen sollten.
= Wohnhauser =
Landliches Kleinhaus Die Meisterhauser an der Provinzialstraße. Baujahr 1846
Es handelte sich um eineinhalbstockige, traufstandige Backsteinbauten. Sie waren weiß verputzt mit einem umlaufenden, geschossteilenden Gesims und Nischen im Mauerwerk oberhalb der Turen und Fenster.
Sie enthielten zwei getrennte Wohneinheiten mit nebeneinander liegenden Eingange vorn und jeweils einem eigenen Kuchenausgang hinten. Drei Zimmer befanden sich im Erdgeschoss, zwei Zimmer im Bodenraum des Halbgeschosses. Die Wohnflache pro Wohneinheit betrug insgesamt 70 m².
Daran angebaut waren zwei einstockige Toiletten-/Stall-Backsteingebaude mit eigenem Zugang pro Wohneinheit.
Stadtisches Dreifensterhaus „Kaserne“ Fuldastraße Nr. 5/7. Baujahr 1846
Dies ist ein zweigeschossiges Doppelhaus mit Satteldach aus Backstein. Es hat ein zweistufiges Traufgesims und ist im Stadthausstil gehalten, der sich am stadtischen Dreifensterhaus orientierte.
Es enthielt ursprunglich insgesamt acht Wohneinheiten mit jeweils zwei nebeneinander liegenden Hauseingangen und einem dahinter liegenden gemeinsamen Hausflur mit Hofzugang fur jeweils zwei Familien im Erd- und Obergeschoss. Jede Wohnung hatte drei Zimmer mit 25, 13,5 und 17 m².
Das Toiletten-/Stall-Gebaude in Backstein ist separat. Eine gemeinsame Toilette fur jede Erd- und Obergeschosseinheit befand sich am Haus.
Der Haustyp verfolgte den Kasernengedanken und war ausgelegt fur Mieter. Die Annahme, es handelte sich bei der Kaserne zunachst um eine Menage, also ein Ledigenheim, ist falsch. Die ersten Bewohner waren Familien von Facharbeitern. Der Name geht zuruck auf friderizianische Kasernen, bei denen es sich nicht um Mannschaftsunterkunfte handelte, sondern um Wohnanlagen fur Soldaten und ihre Familien.
Kombinationstyp I Zweigeschossige Traufhauser Wesselkampstraße Nr. 27/29 und 31/39, Baujahr 1846
Dies waren gelblich gestrichene Backsteinbauten mit einfachem, geschossteilenden Gesims auf der Frontseite.
Sie enthielten ursprunglich jeweils vier Wohnungen. Die Raumaufteilung war identisch mit den Kasernenwohnungen, aber mit jeweils nur insgesamt 43 m². Dies waren die kleinsten Wohnungen in Eisenheim. Der Grundriss und die Ansicht ahnelte dem Stadtischen Dreifensterhaus der Kaserne. Die freistehende Bauweise und der angebaute Stall-/Toilettenbau glich hingegen den Meisterhausern und damit dem Landlichen Kleinhaus.
Die Toiletten-/Stallgebaude waren angebaut und hatten ein eigenes Satteldach.
Dieser Bautyp hatte wie auch die Kaserne zwei Nachteile: Nachts arbeitende Schichtarbeiter hatten tagsuber keine ausreichend geschutzten Ruheraume und der Flur musste von der Erdgeschoss- und der Obergeschosswohnung gemeinsam genutzt werden, ein Potential fur Nachbarschaftsstreit.
Kombinationstyp II Eineinhalbgeschossige Traufhauser in der Wesselkampstraße Nr. 19/21 und 23/25. Baujahr 1865/66
Dies sind gelblich gestrichene Backsteinbauten mit nebeneinander liegenden Tureingangen. Sie haben ein geschossteilendes Gesims und ein flaches, dreistufiges Dachgesims. In der vorderen Hauswand befinden sich im Halbgeschoss, querrechteckige Stichbogennischen. Im außeren Aussehen ahneln sie den zeitgleich in der Berliner Straße gebauten Hausern.
Sie enthielten aber nur jeweils zwei Meisterwohnungen pro Haus. Funf Zimmer und eine Dachkammer mit einer Wohnflache von 96 m² pro Wohnung. Es waren die am großzugigsten ausgestatteten Wohnungen in Eisenheim. Sie wurden ausschließlich an „Beamte“, Meister und Technische Angestellte der Gutehoffnungshutte vergeben
Das Toiletten-/Stallgebaude ist ein eingeschossiger Backsteinbau mit schrag vom Haus wegfallendem Pultdach separat vom Wohnhaus.
Mitte der 1930er Jahre wurde das Niveau der Straße angehoben, so dass die Hauseingange heute unter dem Straßenniveau liegen.
Kreuztyp = Grundform nach Mulhauser Muster =
Berliner Straße, Baujahr 1865/66
Eine Hausform, die erstmals in der cite ouvriere (Arbeiterstadt) im elsassischen Mulhausen im großen Stil angewandt wurde.
Es handelt sich um ein eineinhalbstockiges Traufhaus in Backstein. Die Fassade mit glatten Flachen und klaren Proportionen mutet klassizistisch an. Uber den Turen sind Basaltrahmen und kassettenformige Nischen uber den Turen und Fenstern. Die Maueranker wurden gegen Bergschaden angebracht. An den Schmalseiten befindet sich jeweils ein hervortretender Kamin.
Die Hauser waren als Vierfamilienhaus im Kreuzgrundriss angelegt. Jeweils zum Hof und zur Straßenseite befinden sich zwei Hauseingange nebeneinander.
Durch die Eingangstur betrat man den ersten Wohnraum, in dem sich auch die Treppe ins Obergeschoss befand. Im Erd- und dem Obergeschoss ging vom Raum mit Treppe jeweils ein weiterer Raum ab. Bei einer Gesamtwohnflache von 55 m² gewann man einen weiteren Raum.
Das einstockige Toiletten-/Stall-Backsteingebaude liegt separat uber dem Hof.
In Oberhausen wurde diese Hausform erstmals im Knappenviertel eingesetzt.
= Kreuztyp mit getrennten Eingangen =
Wesselkampstraße 35: Baujahr 1872
Dies ist ein eineinhalbgeschossiges Traufhaus aus Backstein mit zweistufigem Dachgesims und Stichbogenfenstern. Die Erhohung an der Straßenseite erfolgte bei einem spateren Umbau.
Der Eingang der einzelnen Wohnungen wurde bei diesem Kreuztyp jeweils an die vier Außenwande verlegt.
Der Hauseingang fuhrte in einen kleinen Flur mit Treppe. Im Erdgeschoss davon abgehend befand sich eine Stube und eine Kuche, im Obergeschoss waren zwei Schlafraume. Die Wohnflache betrug 50 Quadratmeter.
Dieser Haustyp wurde in Oberhausen erstmals bei diesem Haus eingesetzt. Durch die eindeutige Trennung von Schlaf- und Wohnbereich war sichergestellt, dass Schichtarbeiter tagsuber ungestort in den oberen Zimmern schlafen konnten.
Da sich das Leben der Familien auch viel vor den Hausern abspielte, war es erstmals gelungen, jeder Familie einen eigenen Hofbereich zuzuordnen.
Das einstockige Toiletten-/Stall-Backsteingebaude liegt separat uber dem Hof.
= Varianten der dritten Ausbaustufe =
Werrastraße 10, Baujahr 1898 und Eisenheimer Straße Nr. 5, Baujahr 1902.
Es handelt sich um zwei Hausformen als Ableitung der Variante von 1872. Sie unterscheiden sich lediglich durch die verschiedenen Backsteinornamente. Bei den nach 1900 erbauten Hausern sind sie zuruckhaltender.
Die traufstandigen, eineinhalbstockigen Backsteinbauten hatten Hauseingange an allen vier Seiten. Bei den alteren Hausern findet man ein Backsteinmuster uber den Turen, ein mehrstufiges Backsteingesims mit Zahn- und Schragschnittfriesen unterhalb der Traufe und ein Kassettenfries mit muschelformigen Fullungen auf den Langsseiten des Halbgeschosses. Im Dachhalbgeschoss befinden sich Dachgauben.
Die jungeren Hauser haben Stichbogenfenster mit Schlusssteinen aus Zement.
Die einstockigen Toiletten-/Stall-Backsteingebaude stehen separat.
Dieser Bautypus findet sich auch in anderen Oberhausener Kolonien, wie Stemmersberg, Dunkelschlag und Ripshorster Straße.
= Garten =
Jeder Familie standen 200 bis 300 m² Land zu. Das Land war aufgeteilt in einen Ziergartenteil und einen Nutzteil. Der Ziergarten befand sich bei den Hausern des neueren Kreuztyps fur die Familien in den Kopfteilen der Hauser vor ihrer Haustur. Die Familien mit der Wohnung zur Straße oder zum Hof hatten ihren Ziergarten jeweils seitlich neben dem Stall-/Toilettenhaus. Der Nutzgarten befand sich fur jede der Familien in langlichen Streifen hinter dem Stall-/Toilettenhaus. Die Flachen wurden in der Regel von den Frauen und Kindern bewirtschaftet. Zusammen mit den im Stall gehaltenen Nutztieren (Schwein oder Ziege) dienten sie der Selbstversorgung. Hinter dem Stall-/Toilettenhaus befand sich ein Mist-/Komposthaufen fur jede Familie.
= Hochbunker =
Der Bunker wurde etwa 1942 errichtet. Es handelt sich um einen quaderformigen, massiven Hochbunker aus Eisenbeton. Am 30. Marz 1944 um 21:45 wurden 41 Personen, darunter vier Kinder, getotet und 23 Personen verletzt, als eine einzelne Bombe dicht neben dem Bunkereingang einschlug. Die Alarmierung war zu spat erfolgt und die Bombe stammte von einem vermutlich vereinzelt fliegenden Bomber. Nach dem Krieg diente der Bunker bis in die 1950er-Jahre als Notunterkunft fur ausgebombte Familien. Danach wurde er kurzfristig fur eine Champignonzucht verwendet. In den Zeiten der Arbeiterinitiative wurde mit einem Bauunternehmer verabredet, dass er rundum Erde aufschutten sollte. Fur die Kinder war das ein szenisches Gelande und im Winter eine Rodelbahn. Aber das Bundesvermogensamt bestand auf eine komplette Freiraumung. Fur einen Betrag in unbekannter Hohe wurde der gesamte Bunker wieder funktionstuchtig gemacht. Die Eisenheimer sagen, dass der Betrag so hoch gewesen sei, wie die gesamten Kosten der Sanierung der Siedlung.
= Die Waschhauser =
Die Waschhauser wurden im Jahr 1952 erbaut. Es sind eingeschossige Backsteinbauten mit Walmdach. Die vier Eingangsturen fuhrten zu jeweils hintereinander liegenden Wasch- und Trockenraumen. Die Gesamtflache betragt 128 m².
Werrastraße
Dieses Haus wurde 1974 als Volkshaus ausgebaut. Es diente als Versammlungs- und Gemeinschaftshaus und als Tagungsraum des Quartierrates. Es wurde am 30. November 1974 in Anwesenheit des Zukunftsforschers Robert Jungk eingeweiht, der dabei eine Zukunftswerkstatt einrichtete. Das Volkshaus diente und dient aber auch fur Familienfeiern, Basaren und anderen Freizeitveranstaltungen. Zeitweilig war es auch Buro des Volksblattes, einer Zeitung fur Burgerinitiativen. Im Vorgarten befinden sich Kunstwerke des Bergarbeiterkunstlers Karl Falk († 1978).
Eisenheimer Straße
Zunachst wurde dieses Haus als Jugendhaus genutzt. Spater wurde das Kinderhaus hierher verlegt, wodurch der im Krieg zerstorte Kindergarten eine von den Eisenheimern selbstverwaltete Nachfolgeeinrichtung erhielt.
Berliner Straße
Das Waschhaus wurde 1968 außer Betrieb genommen. Ende der 1970er-Jahre wurde es in ein Museum umgebaut. Mit den Mobeln eines Nachlasses wurde eine Arbeiterwohnung eingerichtet, Ende der 1980er-Jahre wurde das Museum in das LVR-Industriemuseum Oberhausen eingegliedert. Es wurde vollig neu konzipiert und enthalt heute die Ausstellung Eisenheim. Grundung, und Ausbau, Niedergang und Neubeginn der altesten Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet.
= Der Blaue Turm =
An der Ecke Eisenheimer Straße/Wesselkampstraße stand zunachst ein Zechenhaus der letzten Ausbaustufe. 1911 erbaute die Gutehoffnungshutte zu ihrem hundertjahrigen Jubilaum in verschiedenen Zechen mehrere Kinderhauser. Ein Foto aus den 1930er-Jahren lasst darauf schließen, dass das ursprungliche Haus durch einen Anbau und weitere Umbauten stark vergroßert wurde. Es handelte sich um ein doppelgiebeliges, eineinhalbstockiges Backsteinhaus, an dessen Ruckwand sich ein wintergartenahnlicher Anbau befand. Zwei Erzieherinnen betreuten rund funfzig bis sechzig Kinder. Der Kindergarten wurde im Zweiten Weltkrieg zerstort.
Im Jahr 2003 erbauten Roland und Janne Gunter auf dem Grundstuck den „Blauen Turm der vielen Bucher“. Er entstand in Teamarbeit unter anderem mit dem Architekten Bernhard Kuppers, dem ehemaligen Stadtbaumeister Bottrops und Architekten des dortigen Albers-Museum „Quadrat“.
Neben der Bibliothek entstand der „Garten der Dichter“ gestaltet von Herman Prigann mit Texten des Dichters und Drehbuchautorens Tonino Guerra.
Die Bibliothek stellt die Arbeitsstatte des Autorenehepaars Gunter dar und steht fur kleinere Konferenzen zur Verfugung. Die 25.000 Bande sowie das Archiv mit den Schwerpunkten Eisenheim, Burgerinitiativen, Denkmalpflege, Industriekultur und Fotosammlung stehen nationalen und internationalen Studiengasten zur Verfugung. Die Bibliothek sieht sich in der Tradition der kulturgeschichtlichen Bibliothek des Aby Warburgs.
Das Gebaude steht im bewussten Kontrast zu den umgebenden Gebauden, gemaß den Moglichkeiten der Denkmalpflege, die es gestatten, dass Neubauten nicht imitieren, sondern kontrastieren sollen. Dabei soll die Qualitat des Gebaudes verhindern, dass das Gebaude als storend empfunden wird. Stattdessen soll eine nachdenkliche Spannung erzeugt werden. Die Bibliothek nimmt die Tradition der Nachkriegswiederanknupfung an das Bauhaus auf. Die großen Scheibenflachen sollen Unendlichkeit und Offenheit vermitteln.
Literatur Dorit Grollmann: „…fur tuchtige Meister und Arbeiter rechter Art“: Eisenheim – die alteste Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet macht Geschichte (= Schriften des Rheinischen Industriemuseums. Band 12). Rheinland-Verlag u. a., Koln u. a. 1996, ISBN 3-7927-1606-2.
Janne Gunter: Leben in Eisenheim. Arbeit, Kommunikation und Sozialisation in einer Arbeitersiedlung. Beltz, Weinheim u. a. 1980, ISBN 3-407-57021-X.
Janne Gunter, Roland Gunter: „Sprechende Straßen“ in Eisenheim. Konzept und Texte samtlicher Tafeln in der altesten Siedlung (1846/1901) im Ruhrgebiet. Klartext-Verlag, Essen 1999, ISBN 3-88474-810-6.
Janne Gunter, Roland Gunter: „Sprechende Straßen“: Die Tafeln vor Ort.
Roland Gunter: Im Tal der Konige. Ein Reisebuch zu Emscher, Rhein und Ruhr. Klartext-Verlag, Essen 1994, ISBN 3-88474-044-X.
Roland Gunter, Janne Gunter: Die Arbeitersiedlung Eisenheim in Oberhausen (= Rheinische Kunststatten. Heft Nr. 541). Rheinischer Verein fur Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Koln 2013, ISBN 978-3-86526-086-4.
Gunter Morsch: Eisenheim: Alteste Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet (= Wanderwege zur Industriegeschichte. Band 1). Rheinland-Verlag, Koln 1990, ISBN 3-7927-1195-8.
Ines Peper: Between Village, Utopian Settlement, and Garden City. Urban Agriculture in the Company Housing Project of Eisenheim (Founded in 1844) in Historical Context In: Erich Landsteiner und Tim Soens (Hrsg.): Farming the City. Resilienz und Niedergang der stadtischen Landwirtschaft in der europaischen Geschichte (= Rural History Yearbook / Jahrbuch fur Geschichte des landlichen Raums. 16). StudienVerlag, Wien 2019, ISBN 978-3-7065-5115-1, S. 122–143 doi:10.25365/rhy-2019-7.
Weblinks Literatur uber Siedlung Eisenheim im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Regionalverband Ruhr: Siedlung Eisenheim Oberhausen – Die alteste Arbeitersiedlung im Revier. In: Route der Industriekultur. Abgerufen am 20. Marz 2021
Siedlung Eisenheim – Museum mitten im Leben. In: oberhausen-tourismus.de. Abgerufen am 20. Marz 2021
LVR Industriemuseum St. Antony-Hutte: Museum Eisenheim – Die alteste Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. In: industriemuseum.lvr.de. Abgerufen am 20. Marz 2021
Christoph Teves: Arbeitersiedlungen: Eisenheim – Erste Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. In: Planet Wissen. 4. Juni 2019; abgerufen am 20. Marz 2021.
Einzelnachweise
|
Die Siedlung Eisenheim in Oberhausen gilt als die alteste Arbeitersiedlung des Ruhrgebiets und eine der altesten erhaltenen Arbeitersiedlungen in Deutschland. Eisenheim ist die erste deutsche Arbeitersiedlung, die unter Denkmalschutz gestellt wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Siedlung_Eisenheim"
}
|
c-13927
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Al-Mustasim"
}
|
||
c-13928
|
Der Mil Mi-8 (russisch Миль Ми-8, NATO-Codename: Hip) ist ein in der Sowjetunion von Mil entwickelter und gefertigter Mehrzweck- und Transporthubschrauber mit zwei Turbinentriebwerken und großen Heckladetoren.
Als Varianten des Mi-8 gelten die Modelle mit den Bezeichnungen Mi-17, Mi-18, Mi-19, Mi-171 und Mi-172. Ein naher Verwandter ist die Marineversion Mi-14, die aber als eigenstandiges Muster gefuhrt wird.
Geschichte Die Mi-8 wurde als Ersatz fur die altere, mit einem Kolbenmotor ausgerustete Mil Mi-4 entwickelt und eingefuhrt. 1957 begann das OKB-329 die Eigenschaften fur den neuen Hubschrauber zu spezifizieren. Da Nikita Chruschtschow in dieser Zeit der Entwicklung von Raketen den Vorrang gab, stand fur die Flugzeugindustrie wenig Geld zur Verfugung. So bediente sich Michail Mil einer Notluge und prasentierte den Entwurf als „massive Modifikation“ der Mi-4 mit Turbinenantrieb und neuer Bug- und Rumpfsektion, die in Ganzmetall-Halbschalenbauweise aus Duraluminium gefertigt wurden. Der Heckausleger, der Antriebsstrang mit den Rotoren, das Flugregelungssystem und weiteres sollte von der Mi-4 ubernommen werden. Da sich die zivile sowjetische Luftfahrtbehorde und die Spitze des sowjetischen Militars neben der Transportversion auch fur einen neuen VIP-Hubschrauber interessierten, wurde der Entwurf am 20. Februar 1958 akzeptiert und Mil mit der Entwicklung des W-8 (W fur wertoljot [вертолёт], die russische Bezeichnung fur „Hubschrauber“) beauftragt. Der Hubschrauber sollte eine Nutzlast von 1,5 bis 2,0 Tonnen haben. Als Antrieb war zum Verdruss von Mil eine einzelne Turbine vom Typ Iwtschenko AI-24W geplant, die normalerweise in der An-24 eingesetzt wird und fur den Einsatz im W-8 von 2400 auf 1900 PS gedrosselt wurde, um die Kraftubertragung und die Rotoren der Mi-4 einsetzen zu konnen. Der erste Prototyp des einmotorigen W-8 wurde im Juni 1961 fertiggestellt und am 24. Juni 1961 von Boris W. Semskow erstmals geflogen. Nur zwei Wochen nach dem Erststart wurde der an seinem einzelnen Lufteinlauf gut zu erkennende Hubschrauber am 9. Juli 1961 bereits bei der jahrlichen Flugschau in Moskau-Tuschino vorgestellt. Im Dezember 1961 wurde der Hubschrauber zu Abnahmetests abgegeben, und ab 1963 diente er als Testplattform am Boden. Ein zweiter einmotoriger Prototyp nahm im November 1961 die Flugerprobung auf.
Mil sah die einmotorige Losung in Bezug auf Sicherheit und Leistungsfahigkeit als unzureichend an und trieb nebenher die Entwicklung einer zweimotorigen Variante W-8A voran. Da kein geeignetes Triebwerk zur Verfugung stand, wurde vom OKB-478 Isotow das TW2-117 entwickelt. Die ersten Triebwerke und das WR-8-Untersetzungsgetriebe wurden im Sommer 1962 geliefert. Erste Flugtests mit diesem Hubschrauber wurden am 2. August 1962 von N. W. Leschin durchgefuhrt, der erste echte Flug folgte am 17. September 1962, und nur wenige Tage spater wurde der Hubschrauber Nikita Chruschtschow und hochrangigen Funktionaren der Warschauer Vertragsorganisation vorgefuhrt. Die Flugtests wurden bis Anfang 1963 fortgesetzt, bevor der Hubschrauber im Marz 1963 fur erste Tests an die Aeroflot ubergeben wurde. Im Laufe der Tests wurden verschiedene Modifikationen vorgenommen, so wurde zur Reduzierung von Vibrationen der Vierblattrotor durch einen im Aufbau identischen Funfblattrotor ersetzt. Auch der Heckrotor, das Enteisungssystem und das Triebwerkskontrollsystem wurden verandert.
Der im Sommer 1963 fertiggestellte dritte Prototyp W-8AT enthielt einige Anderungen, die sich aus den Flugtests ergeben hatten, und stellte das eigentliche Versuchsmuster fur die zivile und militarische Transportvariante Mi-8T dar. So wurden unter anderem die bisherigen separaten seitlichen Turen fur die Piloten durch Schiebefenster ersetzt, die Hecktore vergroßert und eine mit Kerosin betriebene Kabinenheizung in einer Verlangerung des externen Steuerbord-Kraftstoffbehalters installiert. Der im Mai 1964 fertiggestellte vierte Prototyp W-8AP diente von Beginn an als Testmuster fur die spatere VIP-Version und fur die spatere Passagierversion Mi-8P.
Nach den vier Prototypen wurde im November 1964 die Freigabe zur Serienproduktion empfohlen, im Marz 1965 erteilt, und Ende 1965 liefen die ersten Serienhubschrauber Mi-8P und Mi-8T in Kasan vom Band. Der Testpilot des ersten W-8A, Leschin, kam im Januar 1966 bei einem Testflug mit einer Mi-8 ums Leben, als sein Hubschrauber wegen Versagens des Heckrotors unkontrollierbar wurde und absturzte.
Seit dieser Zeit wurden mehr als 12.000 Hubschrauber des Typs Mi-8 in mehr als 120 Versionen gebaut; der Hubschrauber wird standig weiterentwickelt und ist immer noch in Serienproduktion. Hergestellt wurden die Mi-8-Versionen im Staatlichen Flugzeugwerk Nr. 387 in Kasan (mehr als 7.300 Stuck) und im Staatlichen Flugzeugwerk Nr. 99 in Ulan-Ude (mehr als 3.800 Stuck), UdSSR.
Antrieb und Flugwerk fanden Eingang in die Konstruktion des Kampfhubschraubers Mi-24. Die Mi-14 ist eine aus der Mi-8 entwickelte Marineversion, die am bootsahnlichen Schwimmrumpf (der einen separaten Waffenschacht u. a. fur Torpedos und Wasserbomben besitzt) zu erkennen ist. Sie stellt jedoch aufgrund der kompletten Umkonstruktion des Rumpfes praktisch eine Neuentwicklung und damit ein unabhangiges Muster dar. Die Mi-38 basiert ebenfalls auf der Mi-8, hatte aber neben moderner Avionik mit westlichen Triebwerken ausgerustet werden sollen.
Konstruktion Der ursprunglich als Transporthubschrauber entwickelte Mil Mi-8 zeigte schnell seine Eignung fur die verschiedensten Einsatzarten, etwa zur Bodenunterstutzung mit Raketen und Kanonen auch in Kombination als Kampfhubschrauber. Er verfugt uber eine Lastaufhangung, so dass er unter gunstigen Bedingungen bis zu drei Tonnen heben kann. Zusatzlich gibt es eine Personenrettungswinde fur Lasten bis zu 250 Kilogramm. Grundsatzlich unterteilte man die Mi-8 in drei Versionen: die Transportversion Mi-8T, die bewaffnete Transportversion Mi-8TW und die Variante mit Sonderausstattung Mi-8S.
= Rumpf =
Der konventionell aufgebaute Rumpf besteht aus vier Sektionen (Vorder- und Mittelrumpf, Heckausleger und Heckrotorausleger) und wird in Ganzmetall-Halbschalenbauweise aus Duraluminium gebaut. Der Heckausleger ist fur Wartungszwecke und den Transport abnehmbar. Die Cockpitsektion besaß ursprunglich funf Fenster in der oberen Reihe und vier in der unteren, wobei die Konstruktion der unteren Reihe spater infolge des Einbaus eines PKT-Maschinengewehrs, eines Wetterradars oder einer Panzerung variierte. Die drei mittleren Fenster der oberen Reihe bestanden aus optisch flachem Glas und enthielten ein elektrisches Enteisungssystem. Die beiden seitlichen Fenster der oberen Reihe waren als nach außen gewolbte Schiebefenster aus Plexiglas ausgelegt. Das Cockpit war mit drei Instrumentenpaneelen und einer doppelten mechanischen Flugsteuerung fur die beiden Piloten ausgerustet. Die Paneele waren dabei so angeordnet, dass sich durch die Fenster eine moglichst gute Rundumsicht ergab. Der Transport-/Passagierraum wurde durch eine zum Cockpit hin offnende Tur abgetrennt, wobei der Flugingenieur im Gang zur Tur seinen Platz hatte. An der Außenseite des Rumpfes zwischen dem Cockpit und der Tur bzw. dem ersten Fenster befanden sich auf beiden Seiten je zwei Klappen zum Zugang zu den Akkumulatorenfachern des Hubschraubers.
Im Mittelrumpf befindet sich neben der Kabine auch die Triebwerksanlage. Bei den Transportversionen kann auf mitgefuhrten Spurbahnen auch ein PKW in den 5,34 m × 2,25 m × 1,8 m großen und fur eine Beladung mit bis zu vier Tonnen ausgelegten Rumpf eingefahren werden. Eine Lastenaufnahme fur bis zu 2,5 bis 3,0 t Last (je nach Version) befindet sich im Innenraum an vier Punkten an den Deckenspanten. Dies hat den Vorteil, dass die Last etwa am Schwerpunkt des Hubschraubers angreift und so die Pendelneigung um den Punkt der Lasteinleitung verringert wird. Das Lastseil wird durch eine Luke im Kabinenboden nach unten gefuhrt. An der Tur befindet sich noch eine Seilwinde fur eine Last zwischen 150 und 250 kg. Die Kabine der Versionen Mi-8P/Mi-8PS/Mi-172 ist 6,36 m lang, 2,05 m breit und 1,7 m hoch, die der Mi-8MTW-5 ist 6,36 m × 2,34 m × 1,80 m. Als Zugang zur Kabine dient eine im Notfall abwerfbare und nach hinten offnende Schiebetur mit einer Große von 1,4 m × 0,62 m auf der linken Seite. Neben dem militarischen Einsatz werden auch viele Mi-8 weiterhin fur den zivilen Transport oder als VIP-Hubschrauber verwendet. Bei Letzteren kam zum Teil auch eine nach unten klappende Tur, die gleichzeitig als Einstiegstreppe diente, zum Einsatz. Bei einigen spateren Versionen wurde auf der rechten Seite eine Schiebetur eingebaut. Je nach Version befanden sich auf jeder Seite funf bis sieben Fenster, wobei die Passagierversionen meist uber rechteckige und die Transportversionen uber runde Fenster verfugten. Am Heck befanden sich aus zwei Halften bestehende und zur Seite offnende und abnehmbare Heckturen. Im geschlossenen Zustand stand im Rumpf eine Lange von 7,28 m zur Verfugung. Eine der beiden Heckturen war wiederum mit einer kleineren Tur zur Evakuierung im Notfall ausgerustet. An der Rumpfseite gab es Aufhangungspunkte fur die Kraftstofftanks (anfangs 745 l links und 680 l rechts, spater 1140 l links und 1030 l rechts), den Kabinenheizer und/oder eine Klimaanlage. Bei den militarischen Varianten kamen noch je nach Version verschiedene Außenlasttrager dazu.
Der konische Heckausleger aus Metall mit kreisformigem Querschnitt endet am im 45°-Winkel nach oben verlaufenden Heckrotorausleger mit dem Getriebe fur den dreiblattrigen Heckrotor mit 3,9 m Durchmesser, 260 mm Blatttiefe und NACA-230M-Profil. Der Heckausleger tragt Stabilisierungsflachen aus Metall von 2,7 m Spannweite mit einem symmetrischen NACA-0012-Profil, die am Boden um 9° nach oben oder unten verstellt werden konnen. Bei militarischem Einsatz kann am Heckausleger ein Tauschkorperwerfer angebracht werden.
= Fahrwerk =
Das dreibeinige und hydropneumatisch gefederte Fahrwerk ist nicht einziehbar, hat einen Radstand von 4,26 m und eine Spurweite von 4,5 m. Das Hauptfahrwerk ist mit einzelnen 86,5 cm × 28,0 cm großen pneumatischen gebremsten Radern ausgerustet. Das Bugradfahrwerk ist mit zwei 53,5 × 18,5-cm-Radern doppelt bereift und besitzt weder Bremsen noch eine Steuerung (ohne Belastung rastet es in Flugrichtung ein). Der Hubschrauber wird am Boden durch unterschiedliches Bremsen des Hauptfahrwerkes gesteuert. Der Heckausleger (und damit der Heckrotor) wird von einem kleinen federnden Hecksporn vor Bodenberuhrung geschutzt.
= Hauptrotor und Antrieb =
Der Hauptrotor ist funfblattrig und befindet sich direkt uber den beiden parallel nebeneinander oberhalb der Kabine liegenden Antriebsturbinen. Er ist in der Draufsicht rechtslaufend (im Uhrzeigersinn) und verfugt uber Schlag- und Schwenkgelenke mit hydraulischen Dampfern. Die austauschbaren Blatter aus Aluminium mit Stahlvorderkanten und Enteisungssystem haben eine konstante Blatttiefe von 520 mm und ein NACA-23012-Profil. Die beiden bis auf die Anordnung des Abgasrohres baugleichen Antriebsturbinen sind so ausgelegt, dass ein Flug auch beim Ausfall einer Turbine unter Einschrankungen fortgesetzt werden kann, da die andere die zusatzliche Leistung zur Verfugung stellen kann. Als Antrieb kommen verschiedene Versionen des Isotow/Klimow TW2-117- oder TW3-117-Triebwerkes zum Einsatz, die zwischen 1500 und 2200 PS Startleistung zur Verfugung stellen und als Treibstoff Kerosin vom Typ T-1, TS-1 oder T-7P (JP-1 oder JP-4) verwenden. Hinter den Triebwerken ist das dreistufige Hauptgetriebe angebracht, hinter diesem wiederum der Nebenabtrieb fur das Hydrauliksystem und der Hydraulikblock selbst. Das Hauptgetriebe untersetzt die maximale Eingangsdrehzahl der Triebwerke von 12.000/min in maximal 192/min fur den Hauptrotor, 2.589/min fur die Heckrotorwelle und etwa 6.000/min fur das Geblase der Olkuhler fur Triebwerke und Getriebe. Das Heckrotorengetriebe hat ein Untersetzungsverhaltnis von 2,3:1; die Heckrotordrehzahl betragt etwa 1.124/min.
= Bordsysteme =
Das Hydrauliksystem besteht aus einem Hauptsystem mit 45 kg/cm² Druck und einem Reservesystem mit 65 kg/cm², das im Notfall automatisch die Steuerung der Flugkontrollsysteme ubernimmt. Das elektrische System arbeitet mit 12/48 Volt und wird von zwei 48-kW-Startergeneratoren GS-18TP und sechs 12-V/55-Ah-Bleiakkumulatoren versorgt. Die Elektronikausrustung des Hubschraubers bestand aus einem Vierkanal-Autopiloten sowie diversen Flugsteuerungs- und Kommunikationssystemen wie Radiohohenmesser, Doppler-Geschwindigkeitssensor, Radiokompass, UHF-Radio, IFF-Transponder, Radarwarnsystem S-3M Sirena und Flugdatenrekorder.
Versionen Insgesamt wurden mehr als 120 verschiedene Versionen produziert, die jeweils nach den verwendeten Triebwerken (TW2-117 oder TW3-117) in zwei Generationen unterschieden werden konnen. Zusatzlich zu dieser großen Anzahl an Versionen, die sich aus einer Vielzahl fur spezielle Einsatzzwecke und als Versuchsmuster gebauter Maschinen ergibt, wurden einige exportierte Modelle (zum Beispiel die nach Indien und Finnland gelieferten) mit spezieller Ausrustung wie einem Wetterradar nachgerustet und danach mit einer eigenen Versionsbezeichnung versehen.
= Prototypen =
W-8 (NATO-Codename Hip-A): Prototyp mit einem AI-24W-Triebwerk, 2 Tonnen Nutzlast, 18 Sitzen und 450 km Reichweite. Er verfugte uber zwei zusatzliche Turen fur die Piloten.
W-8A (Hip-B): Prototyp mit zwei TW2-117-Triebwerken und 20 Sitzen.
W-8AT: Prototyp fur die Mi-8T, jedoch mit rechteckigen Fenstern
W-8AP: Prototyp fur die Mi-8P
= Serienhubschrauber =
Mi-8T (Hip-C): Die zivile Version wurde 1969 auf der 27. Pariser Luftfahrtschau zuerst offentlich ausgestellt. Die Transportversion ist mit Isotow-TW2-117-Triebwerken und runden, nach innen und oben offnenden, Fenstern ausgerustet. Durch diese konnten bei den militarischen Versionen die Soldaten ihre Maschinenpistolen einsetzen. Die Turen der Laderampe hatten gegenuber dem Prototyp nun dreieckige nach innen in die Turen faltbare Unterkanten, um die Be- und Entladung zu erleichtern. Gut sichtbar unter dem Heckausleger ist der Doppler-Geschwindigkeitssensor DISS-2 angebracht. Der Hubschrauber kann intern bis zu 4 Tonnen oder extern 3 Tonnen transportieren. Im Rumpf sind Sitze fur 24 Passagiere oder 12 Bahren installiert. Die ab den 1980er-Jahren produzierten Mi-8AT entsprachen den Mi-8T, waren aber mit verbesserten 1700 PS Startleistung liefernden TW2-117AG-Triebwerken ausgerustet, die auch eine langere Lebensdauer erreichten. Diese Maschinen wurden vor allem in Regionen mit „Hot and high“-Anforderungen geliefert. Auch andere Versionen der Mi-8 (wie die Mi-8AP) wurden mit diesen Triebwerken ausgerustet. Als Mi-8TP wurden Versionen mit neuem Triebwerk und der Umrustmoglichkeit zwischen Transport- und Passagierversion bezeichnet. Auch die ab den 1990er-Jahren produzierten Mi-8TM besaßen die neuen Triebwerke, wurden jedoch mit weiteren Verbesserungen wie einem „Kontur“-Wetterradar anstelle des unteren mittleren Cockpitfensters ausgerustet. Die Produktion der Mi-8T endete in Kasan 1986, im anderen Werk 1999.
Mi-8P (Hip-C): Passagierversion fur 28 bis 32 Passagiere. Sie unterschied sich vom Prototyp W-8AP hauptsachlich durch als zusatzliche Notausgange ausgelegte hintere Kabinenfenster sowie das Fehlen der kleinen Seitenfenster an den Schiebefenstern der Piloten. Die Basisversion besaß 28 Sitze (sieben Reihen zu je zwei Doppelsitzen), wobei spater auch komfortablere 20-, 24- und 26-sitzige Versionen gebaut wurden. International wurde der Hubschrauber zuerst im Juni 1965 in Paris ausgestellt. Die Mi-8P wurde bis etwa 1993 hauptsachlich in Kasan gebaut.
Mi-8PS bzw. Mi-8S (Hip-C): Salonversion mit rechteckigen Fenstern und einem KO-50-Kabinenheizer an der Steuerbordseite, die je nach der Anzahl der Sitze (7, 9 oder 11) und der Innenausstattung auch als Mi-8PS-7, Mi-8PS-9 oder Mi-8PS-11 bezeichnet wurden. Viele wurden mit zusatzlicher Kommunikationstechnik ausgerustet, die im Laufe der Produktion stetig verbessert wurde. Manche der ab 1969 gebauten Maschinen unterschieden sich von der vorherigen Version hauptsachlich durch ein fehlendes Fenster auf der linken Seite und den Ersatz der Schiebetur durch eine nach unten klappende Tur, die auch als Treppe diente. Dadurch entstand der Platz fur den Einbau eine Klimaanlage. Die Maschinen verfugten auch uber eine verbesserte Gerauschdammung, Vibrationsdampfer zwischen den Rotorblattern und teilweise auch uber eine Inneneinrichtung mit Sesseln, Tischen und einer Toilette. Es wurde auch eine besonders fur lange Fluge vorgesehene sechssitzige Version gebaut. Einige Mi-8S entstanden auch auf Kundenwunsch als Umbau aus einer Mi-8T. Die Bezeichnung als Mi-8S oder als Mi-8PS variiert teilweise nicht nachvollziehbar, wobei vor allem die ab 1974 gebauten Maschinen als Mi-8S bezeichnet wurden. Ende der 1970 wurden die Maschinen mit starkeren Triebwerken TW2-117F ausgerustet, die 1700 PS Startleistung anstelle der 1500 PS der bisherigen Triebwerke erbrachten. Da die erste so ausgerustete Maschine 1980 an die japanische Firma Aero Asahi ausgeliefert wurde, erhielt diese Version die Bezeichnung Mi-8PA (A fur Asahi).
Mi-8MB: 1973 aus der Version Mi-8T entwickelte Spezialversion zur Evakuierung von Opfern von Atomwaffenangriffen.
Mi-8AW / Mi-8WSM: 1975 aus der Mi-8T entwickelte Version zur Verlegung von Panzerminen. Die Mi-8AD wurde 1978 entwickelt und diente der Verlegung von Antipersonenminen.
Mi-8R / Mi-8GR / Mi-8TARG: Mitte der 1970er-Jahre entwickelte Aufklarungsversionen. Fur die Artilleriebeobachtungs- und Gefechtsfelduberwachungsversion Mi-8TARG mit TV-System wurde zum Teil auch die mehrfach genutzte Bezeichnung Mi-8TG verwendet. Sie war mit Kameras mit 1000 mm oder 1300 mm Brennweite im zweiten Fenster auf der Steuerbordseite und einer On-Bord-Entwicklungsmaschine ausgerustet.
Mi-8WKP und Mi-8WZPU (Hip-D): In den fruhen 1970er-Jahren aus Standard-Mi-8T zur taktischen Gefechtsfelduberwachung und Gefechtsfuhrung (Aufgaben ahnlich wie bei der spateren Mi-9) umgebaute Maschinen. Sie konnen an zwei als „Handtuchhalter“ verspotteten Antennen auf dem vorderen Teil des Heckauslegers und fest an den Waffentragern angebrachten Elektronikpods identifiziert werden.
Mi-8TW (Hip-E): Erste als Unterstutzungs- und Kampfhubschrauber vorgesehene Version, die ab 1968 produziert wurde. Sie trug anfangs die fur die Mi-4AW entwickelte Außenlasttrager mit vier Pylonen fur vier UB-16-57U-Raketen-Pods oder Bomben mit bis zu 500 kg Gewicht. Im mittleren Fenster der unteren Reihe der Cockpitverglasung wurde bei einigen Hubschraubern ein PKT-Maschinengewehr mit 7,62 mm Kaliber beweglich eingebaut. Gezielt wurde mit einem einfachen am Rohr angebrachten Fadenkreuz. Die entsprechenden Befestigungsmoglichkeiten fur den Außenlasttrager waren auch an alle Mi-8T vorhanden, so dass diese im Notfall umgerustet werden konnten. Diese Moglichkeit wurde von einigen Exportlandern genutzt. Diese Exemplare wurden im Westen noch als „Hip-C“ bezeichnet. Die ab 1974 gefertigten Exemplare verfugten uber geanderte Außenlasttrager fur bis zu sechs UB-32-Raketenbehalter und vier an der Oberseite des Auslegers angebrachte 2K8-Falanga-Panzerabwehrlenkwaffen, die vom Copiloten uber ein kreiselstabilisiertes Visier gelenkt wurden. Die Mi-8TW wird haufig mit der Mi-8TB verwechselt, was durch den kyrillischen Buchstaben „В“ (=„W“) zustande kommt. Die Mi-8TB stellte eine mit zusatzlicher Panzerung versehene Mi-8 dar.
Mi-8TWK (Hip-F): Exportversion der Mi-8TW mit sechs 9M14-Maljutka-Panzerabwehrlenkraketen anstelle der vier 2K8 und beweglichem 12,7-mm-MG im Bug.
Mi-8TZ: Ab 1977 produzierte Version zur Versorgung mit Treibstoff.
Mi-8TL: Ab 1977 produzierte Version zur Feuerbekampfung.
Mi-9 (Hip-G): auch als Mi-8IW bezeichnete Variante als fliegender Befehlsstand (Luftbewegliche Fuhrungsstelle) mit runden Fenstern (wie Mi-8T) und kleiner Hecktur der Mi-8P. Die Elektronik wird am Boden von einer Ai-9-Gasturbine mit 24-kW-Generator mit Strom versorgt. Der Prototyp wurde 1977 in Ulan-Ude gebaut und 1978 begann die Serienproduktion.
Mi-8TG: Version zum Betrieb mit Flussiggas fur das entsprechend modifizierte Triebwerk mit der Bezeichnung TW2-117TG. Das entsprechende Forschungsprogramm wurde am 6. Marz 1979 vom sowjetischen Ministerrat beschlossen und in Zusammenarbeit mit verschiedenen Instituten umgesetzt. Eine Mi-8T wurde 1987 in den Prototyp umgebaut, der am 7. September 1987 seinen Erstflug hatte. Dazu wurden an von der Mi-8TW ubernommenen Außenlaststationen vier kleine Metalltanks fur flussiges Methan angebracht. Spater wurden diese durch je zwei große Tanks ersetzt.
Mi-8SMW (Hip-H): 1971 wurde aus der Mi-8T eine ECM-Version (Elektronische Gegenmaßnahmen) entwickelt, welche die erste einer Reihe von ECM-Versionen war. Sie trug den Smalt-ECM-Komplex, der von außen durch eine Antenne zu erkennen ist, die das zweite und das letzte Kabinenfenster auf beiden Seiten ersetzt. Die Serienproduktion in Ulan-Ude begann 1977. Die Version wurde im Laufe der Zeit mehrfach verbessert.
Mi-8PP / Mi-8PPA (Hip-K): 1974 entwickelte ECM- und Signalaufklarungsversion mit jeweils sechs kreuzformigen Antennen an den Rumpfseiten anstelle des letzten Kabinenfensters, einer Antenne anstelle des ersten Kabinenfensters und sechs parallel angeordneten Kuhlern unter dem Rumpf, die zum Polje-ECM-Komplex gehorten. Die Serienproduktion begann wie die der Mi-8SMW 1977 in Ulan-Ude. Die Mi-8PPA enthielten den weiterentwickelten Akazie-ECM-Komplex.
Mi-8MT / Mi-17 (Hip-H): Augenscheinlichster Unterschied ist neben den leistungsstarkeren neuen Triebwerken Klimow TW3-117 und vielen technischen Verbesserungen die Position des Heckrotors. Er wurde bei der Mi-8MT/Mi-17 auf die Backbordseite gesetzt (links in Flugrichtung) und blast dadurch nicht mehr gegen den Heckausleger, was seine Effektivitat stark erhoht. Schon 1964 begann die Entwicklung einer als Mi-8M bezeichneten Version mit erhohter Startmasse und einer Nutzlast von mehr als 4 Tonnen. Durch die Verlangerung des Rumpfes vor und hinter dem Hauptrotor wurde auch die Sitzkapazitat auf 40 erhoht. Zum Ausgleich sollten die starkeren Triebwerke TW3-117 der in Entwicklung befindlichen Mi-14 und Mi-24 eingesetzt werden, die auch die schlechte Hot-and-High-Leistung verbessern sollten, da die der bisherigen Mi-8 sogar hinter der Mi-4 und vielen westlichen Modellen zurucklag. Im November 1967 wies das Zentralkomitee die Entwicklung der Maschine an, die jedoch schleppend verlief, da die Notwendigkeit einer Verbesserung nicht dringend erschien. So begann die letzte Entwicklungsphase erst 1971, wurde jedoch nicht abgeschlossen. Erst mit der Ausmusterung der Mi-4 wurde der Bedarf an einer Maschine mit vergleichbaren Hot-and-High-Fahigkeiten großer. So wurde dann ein Zwischenschritt eingeschoben, der nur die Triebwerke, die hinter dem Hauptgetriebe eingebaute und quer zur Flugrichtung eingebaute Iwtschenko AI-9W APU und das Hauptgetriebe der Mi-14 umfasste, was an den nun ovalen Triebwerksauslassen erkennbar war. Im Sommer 1975 wurde dieser Entwurf in Mi-8MT umbenannt, der dann in Form eines Umbaus aus einer Mi-8TW Mk.2 am 17. August 1976 seinen Erstflug hatte. Die Serienproduktion der neuen Version startete 1977 im Werk in Kasan. Fur langere Zeit wurden in Kasan auch noch die alteren Mi-8-Modelle weiter produziert. Erst mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan und den dort notwendigen Hot-and-High-Fahigkeiten der eingesetzten Hubschrauber wurde die Anzahl der gefertigten Mi-8MT stark gesteigert. Der Hubschrauber wurde im Laufe der Produktion mehrfach verbessert, so wurde ab 1978 das verbesserte TW3-117MT-Triebwerk eingesetzt. Auch die Erfahrungen des Afghanistan-Krieges flossen ein. So wurde die Tur in den Hecktoren vergroßert, um daraus auch Maschinengewehre zur Selbstverteidigung einsetzen zu konnen, Staubabscheider fur die Triebwerke entwickelt und eine zusatzliche interne und externe Panzerung des Cockpits bei einigen Versionen eingerustet. Zusatzlich konnte ein 7,62-mm-PKT-Maschinengewehr in der Nase und zwei oder vier weitere auf den Außenlaststationen installiert werden. Bei einigen Maschinen wurden auch 12,7-mm-Maschinengewehre NSW oder der 30-mm-Granatwerfer AGS-17 Plamja in der Seiten- oder Hecktur verbaut. Zusatzlich konnten an den Außenlaststationen auch 23-mm-Kanonenpods UPK-23-250, Bomben, Raketen und weitere Bewaffnung mitgefuhrt werden. Zur Abwehr von schultergestutzten Luftabwehrraketen konnten ab 1984 auch Abluftmischer an den Triebwerken und anstelle des einzelnen Chaff/Flare-Werfers unter dem Heckausleger sechs Stuck an den Rumpfseiten in der Nahe der Triebwerksauslasse installiert werden. Auch ein aktiver optoelektronischer infrarot-Storsender L-166V-11E wurde an den Seiten hinter dem Hauptrotor eingebaut. Dazu kamen diverse weitere Anderungen zur Verbesserung der Uberlebensfahigkeit und der Zuverlassigkeit und Wartbarkeit. Ab 1986 wurden dann in Kasan nur noch Versionen der neuen Mi-8-Generation gefertigt, wobei ab 1983 auch zivile Maschinen produziert wurden. Die Bezeichnung Mi-17 gilt fur die Exportvariante der Mi-8MT, die erstmals 1981 auf der Pariser Luftfahrtschau gezeigt wurde. Diese Bezeichnung wurde nur fur unbewaffnete Exportvarianten gewahlt.
Mi-17P / Mi-17S: Passagierversion der Mi-17 fur den Export mit einem ahnlichen Layout wie die Mi-8P, aber mit runden Fenstern und großer Hecktur. Als Mi-17S, Mi-8S-2, Mi-8MD, Mi-8MS, Mi-8MO und weiteren wurden von der Mi-8MT auch eine Reihe von VIP-Versionen gebaut.
Mi-8MTW-1: Erste Version mit der mehrfach verwendeten Bezeichnung Mi-8MTW. Diese war eine Mi-8MT als Feuerloschhubschrauber mit angehangtem 2-m³-Wassertank und Platz fur 20 Feuerbekampfer. Ebenfalls zur Feuerbekampfung diente die 1983 vorgestellte Mi-8MTL.
Mi-8MTI / Mi-13: ECM-Version der Mi-8MT mit großen rechteckigen Antennengehausen ahnlich der Mi-8PP an den Rumpfseiten. Die Mi-8MTP, Mi-8MTPB (HIP-K) und Mi-8MTSch sind ebenfalls ECM-Versionen, die sich in der Anbringung der Antennen und der Ausstattung unterschieden. Die ahnliche Exportversionen hießen zum Beispiel Mi-8PGE; Mi-17PG, Mi-17PP und Mi-17TB.
Mi-18: Prototyp fur die zweite Entwicklungsstufe zum eigentlichen Mi-8M. 1977 begannen die Arbeiten an dieser Version, im April 1978 wurden die Spezifikationen offiziell bestatigt und der Entwicklungsauftrag genehmigt. Beim ersten – aus einem Mi-8MT umgebauten – Prototyp wurde die Kabine vor und hinter dem Schwerpunkt jeweils um 25 cm sowie in der Sektion 13 des Rumpfes um weitere 68 cm verlangert, was das Erscheinungsbild des Hubschraubers stark veranderte. Die Sitzanzahl konnte so auf bis zu 36 vergroßert werden. Zusatzlich wurde auch die Avionik komplett uberarbeitet, der Antrieb (WT3-117MT mit 1900 PS Startleistung) jedoch unverandert von der Mi-8MT ubernommen. Der Prototyp startete 1979 zu ersten Testflugen und wurde 1980 einer Regierungskommission vorgestellt. Es zeigte sich jedoch, dass der verlangerte Rumpf zu strukturellen Problemen fuhren konnte. Da sich diese durch die im Afghanistan-Krieg notwendigen Zusatzpanzerungen am Cockpit und die zusatzliche Bewaffnung am Hecktor noch verscharfen wurden, fand dieser Entwurf keine Zustimmung. Stattdessen wurde im Mai 1981 ein zweiter Entwurf mit einem geanderten Aufbau gefordert. Bei diesem wurde auf den Einschub am Schwerpunkt verzichtet, dafur aber der Einschub an der Sektion 13 auf 102 cm vergroßert, so dass die Kabine nun eine Große von 6,34 m × 2,34 m × 1,80 m hatte. Die dadurch verursachte Schwerpunktanderung wurde mit der Zusatzpanzerung am Cockpit ausgeglichen. Gleichzeitig wurde auch der Rumpfaufbau komplett neu konstruiert, wodurch dieser steifer und vibrationsarmer wurde. Auch ein Einziehfahrwerk, andere Heckturen und ein großerer Heckrotor wurde eingebaut sowie der Einbauort des Kabinenheizers unter den Rumpf verlegt. Die maximale Startmasse vergroßerte sich so auf 13,5 t und die maximale Nutzlast auf 5 t. Der Mi-18 Mk II genannte Prototyp (ebenfalls ein Umbau aus einem Mi-8MT) hatte am 26. April 1984 seinen Erstflug mit den Testpiloten N. A. Zhen und W. T. Dworjankin an Bord. Der Start der Serienproduktion wurde fur 1985 empfohlen, aber geanderte Ziele wegen der beginnenden Perestroika fuhrten zu einer Verzogerung, so wurden erst 1987 die (erstmals mit CAD erstellten) Bauplane an die Herstellerwerke ubergeben. Inzwischen hatte sich die Lage in der Sowjetunion allerdings so geandert, dass die Fuhrung des Landes nun Hubschrauber forderte, die auch auf dem Weltmarkt erfolgreich sein konnten. Dies brachte das Herstellerwerk in Kasan dazu, die Serienfertigung einer weiteren Mi-8-Version abzulehnen und auf die Einfuhrung der geplanten Mi-38-Version zu warten, die ironischerweise vom Entwicklungsburo des Herstellerwerkes Kasan selbst auf Basis vieler Konstruktionsdetails der Mi-18 entwickelt wurde. So wurden nur die beiden Prototypen der Mi-18 gebaut, aber nie Abnahmetests durchgefuhrt und auch nie die Serienproduktion aufgenommen. Der zweite Prototyp wurde spater fur Spezialeinsatze stark umgebaut.
Mi-19: Version als fliegender Befehlsstand, der die Ausrustung der Mi-9 mit der Antriebstechnik der Mi-8MT kombiniert. Mi-19 wurde ab 1987 produziert. Die Version Mi-19R ist eine Version der Mi-19 fur die strategischen Raketentruppen.
Mi-8MTKO: Nachtflugfahige Version der Mi-8MT, die am 15. August 1999 zum ersten Mal gezeigt wurde.
Mi-8MTW: Version der Mi-8MT mit starkeren TW3-117MT-Triebwerken fur bessere „Hot and High“-Fahigkeiten und Verbesserungen aus den Erkenntnissen des Afghanistan-Krieges wie einer Cockpitpanzerung, innen ausgeschaumten Tanks, sechs statt vier Chaff-/Flare-Werfern, PKT-Maschinengewehr in der Rumpfnase und anderen Anderungen fur eine bessere Uberlebensfahigkeit im Kampf. Die Mi-8MTW-1 war die zivile Variante dieser Version mit Wetterradar in der Bugnase. Beide Versionen wurden ab 1998 in Kasan gebaut. Die Mi-8MTW-2 ist eine noch starker gepanzerte militarische Version der Mi-8MTW, die zusatzlich uber ein Wetterradar unter der Bugnase und eine geanderte Verteidigungsausrustung verfugt. Die Mi-8MTW-3 erhielt die starkere Panzerung und das Wetterradar der Mi-8MTW-2, aber kein PKT-Maschinengewehr in der Nase und nur vier Außenlaststationen. Von diesen Versionen wurden auch verschiedene Derivate als VIP-Transporter, fliegender Kran (Mi-8MTW-K) und Rettungshubschrauber (z. B. Mi-8MPS = Mi-8MTWMPS fur die Suche nach ruckkehrenden Raumfahrern der Sojus-Missionen) gebaut. Die Mi-17-1W war eine ab 1982 produzierte Exportvariante der Mi-8MTW. Die in Ulan-Ude gebauten Versionen der Mi-8MTW bekamen die Bezeichnung Mi-8AMT, deren in der Elektronik leicht geanderte und mit Wetterradar ausgerustet Exportvarianten wurde als Mi-171 vermarktet. Die mit Mi-171Sch bezeichneten Maschinen sind mit TW3-117WM-Triebwerken ausgerustet.
Mi-8MTW-5 / Mi-17MD: Ab 1995 gebaute Version auf Basis der Mi-8MTW-3 mit neuer Elektronik einschließlich neuen Navigationssystemen, einer zusatzlichen Schiebetur auf der Steuerbordseite, einem umgestalteten stromlinienformigen Bug ohne untere Cockpitfenster und einem geanderten Heck mit einer hydraulisch ausfahrbaren Laderampe. Der Hubschrauber verfugte uber 36 bis 40 Sitzplatze und Einbaumoglichkeiten fur vier Zusatztanks mit zusammen 1660 l in der Kabine. Ab 1997 wurde eine Version mit geanderter Heckrampe angeboten. Der Export begann 1999, wobei auch Maschinen fur die russische Armee gebaut wurden. Die Variante Mi-8MTW-5-1 erhielt zusatzlich noch eine neue Funkausrustung (KSS-28N-2).
Mi-172: Die aktuellen Modellbezeichnungen variieren nach Herstellungswerk, Triebwerk und anderem, sodass fur einige Maschinen Bezeichnungen wie Mi-171 (z. B. fur an die tschechische Armee gelieferte Maschinen) und Mi-172 benutzt werden. Die Mi-172 wurde ab 1991 vom Werk Kasan als 26-sitziger Passagierhubschrauber ahnlich der Mi-8P basierend auf dem Mi-8MTW angeboten. Er erhielt 1994 eine US-FAR-Pt29-Zulassung. 1999 wurde eine VIP-Version fur den ruandischen Prasidenten, 2003 eine fur den russischen Prasidenten Wladimir Putin gebaut. Die Mi-172AG erhielt die 2000 PS starken TW3-117WMA-SB3-Triebwerke.
Mi-17KF Kittiwake: Version auf Basis der Mi-8MTW mit westlicher Avionik (z. B. Glascockpit Honeywell EDZ-756). Der Vertrag mit der kanadischen Firma Kelowna Flighcraft wurde 1996 unterzeichnet und der erste Prototyp startete 1997 zum Erstflug.
Mi-8MTW-6, Mi-8MTW-7, Mi-8AMTSch-W: Versionen mit WK-2500-Triebwerk (= TW3-117WMA-SB3). Bei der -7 kamen noch Rotorblatter aus Verbundwerkstoffen dazu. Die Mi-8AMTSch-W wurde Anfang 2016 in Syrien erstmals in einer Version gesichtet, die auch das Selbstschutzsystem L-370E8 Witebsk trugen. Diese arbeitet mit vier Lenkwaffensensoren im UV-Bereich und drei Infrarot Storsendern. Die Mi-8AMTSch-WA wurde speziell fur den Einsatz in der Arktis entwickelt. Sie verfugt neben einer verbesserten Heizung fur die Kabine uber Heizungen fur Triebwerk und Getriebe, eine bessere Warmedammung fur Cockpit und Kabine sowie uber Schlauche aus Teflon fur Hydraulik und Kraftstoff. Ebenfalls uberarbeitet wurde die Avionik, die nun einen Autopiloten, Nachtsichtgerate und verbesserte Navigationsgerate mit redundanten GPS-Empfangern enthalt.
Mi-171M/Mi-171A2/Mi-8AMTSch-2/Mi-171A3: Version auf Basis von Neuentwicklungen fur die Mi-28N und Mi-38. Dazu wurden neben der Avionik auch der Frachtraum leicht vergroßert und neue Rotorblatter aus Kompositwerkstoffen eingebaut. Die Mi-171A2 ist die zivile Version des Hubschraubers. Der Prototyp OP-1 hatte im November 2014 seinen Erstflug. Der Prototyp ist vor allem fur die Versuche mit dem neuen Avioniksystem KBO-17 vorgesehen, das vom Instrumenten-Entwicklungs- und Fertigungsbetrieb in Uljanowsk (Teil von KRET) entwickelt wurde. Es umfasst auch große Farbbildschirme und ermoglicht eine Zweimann- anstelle der bisherigen Dreimannbesatzung. Erganzt werden kann das KBO-17 durch ein Enhanced Vision System (TV und Infrarotkamera). Als Triebwerke kommen die WK-2500PS-03 von Klimow und ein neuer Hauptrotor mit Blattern aus Verbundwerkstoffen sowie ein Heckrotor in X-Form (der bereits im Versuchstrager Mi-171LL im Flug erprobt wurde) zum Einsatz. Die Musterzulassung fur Russland wurde im August 2017 erreicht, die fur Sudkorea im September 2020. Die Neuerungen ermoglichten es, die Manovrierfahigkeit zu verbessern und das Gesamtgewicht des Rotorsystems zu senken. Außerdem stiegen die Reise- und die Hochstgeschwindigkeit um 20 % bei gleichzeitig großerer Reichweite. Der Mehrzweckhubschrauber Mi-171A3 soll in der Erdolindustrie eingesetzt werden und erfullt die Standards der International Association of Oil and Gas Producers (IOGP) sowie die hohen Sicherheitsanforderungen fur Uberwasserfluge. Die Entwicklung begann 2018 und Mitte Dezember 2021 startete der erste Hubschrauber dieser Version zu seinem Erstflug.
Mi-8AMTSch-WA: Ein fur die russische Marine speziell entwickelte bewaffnete Version, auf Basis der Mi-8AMTSch-Variante, fur Regionen der Arktis. Die Hubschrauberversion wurde fur besonders niedrige Temperaturen bis zu -60 Grad Celsius entwickelt, indem ein Hilfsaggregat, TA-14 aus erstmals russischer Produktion, fur den Start der Triebwerke unter den niedrigen Temperaturen zustandig ist (davor wurden diese Hilfsaggregate aus ukrainischer Produktion importiert). Der Hubschrauber verfugt unter anderem uber eine verstarkte Warmedammung.
Mi-17 IFR: Upgradeversion fur altere und neue Mi8-/Mi17-Hubschrauber des sudafrikanischen Unternehmens Advanced Technologies and Engineering (ATE) bei dem unter anderem Gewichtsreduktionen und Verbesserungen der Avionik durchgefuhrt werden. Die Titan-Rotoren werden gegen Eigenentwicklungen aus Verbundstoffen ersetzt. Das Unternehmen hatte dazu im Jahr 2006 umfassende Vertrage mit Mil, Rosvertol und dem Kasaner Hubschrauberwerk abgeschlossen, die auch die Modellreihen Mi-2, Mi-24, Mi-26 und Mi-34 umfassen.
Mi-8MTPR-1: Version fur die Elektronische Kampffuhrung basierend auf einer Mi-8MTW-5-1 zum elektronischen Aufspuren des feindlichen Gefechtsstandes und Einsatz von Elektronische Gegenmaßnahmen desselben.
Mi-8AMT Arctic: Version fur den Arktik-Einsatz. Zu den Hauptmerkmalen des Drehfluglers gehort ein laut Russian Helicopters einzigartiges System zum Heizen von Antriebskomponenten, das vom Nationalen Hubschrauberzentrum „Mil & Kamow“ entwickelt wurde. Dieses System soll auch bei extrem tiefen Temperaturen einen schnellen Start der beiden Klimow WK-2500PS-03-Triebwerke ermoglichen – selbst dann, wenn der Hubschrauber langere Zeit im Freien stand. Erganzend hierzu bietet die Mi-8AMT Arctic einen verbesserten Warmeschutz der Ladekabine sowie eine spezielle Dammung der Schiebe- und Cockpitturen. Zum Schutz vor Frostschaden im Stand ersetzen Teflon-Schlauche die gewohnlichen Gummi-Pendants. Eine spezielle Abdeckung schutzt den Hubschrauber vor niedrigen Temperaturen, hoher Luftfeuchtigkeit und starkem Wind, wenn er langere Zeit ohne Hangar eingesetzt wird. Des Weiteren wurde ein umfangreiches Navigationssystem samt modernem Wetterradar und digitalem Autopiloten nachgerustet. Dieser lasst den Hubschrauber bei Bedarf „automatisch schweben, eine geplante Schweberoute fliegen und landen“.
Nutzerstaaten = Aktuelle Nutzer =
= Ehemalige Nutzer =
Zwischenfalle Bruchlandung eines Mi-8 der Bundeswehr in der Nahe der A 4 bei der Ausfahrt Erfurt West am 25. Marz 1991 bei einem Rettungseinsatz. Keine ernsthaften Verletzungen der Besatzung, aber Totalschaden am Hubschrauber.
Abschuss eines Mil-Mi-8-Militarhubschraubers nahe Xocavənd 1991
Absturz eines Mi-8 der Trans Maldivian Airways mit 11 Insassen am 8. Januar 1994 bei Fesdhoo im Nord-Ari-Atoll (Malediven); 9 Passagiere starben; 2 uberlebten, 1 davon schwerverletzt.
Absturz eines Mi-8 der Trans Maldivian Airways am 26. Januar 1999 mit 20 Insassen bei Rangali im Sud-Ari-Atoll (Malediven); 4 Menschen starben, 16 uberlebten.
Am 27. Januar 2002 wurde ein Mi-8 in Schelkowskaja, Bezirk Nadterechny, Russland abgeschossen. Alle 14 Menschen an Bord kamen dabei ums Leben.
Am 4. Dezember 2003 sturzte ein Mi-8P in der Nahe von Piaseczno in Polen ab. 14 Menschen an Bord wurden verletzt, darunter auch der polnische Premierminister Leszek Miller.
Am 11. September 2006 wurde ein Mi-8 von der militanten Gruppe Kataib al-Khoul in der Nahe von Wladikawkas in Russland abgeschossen. Dabei starben 12 der 16 Menschen an Bord.
Dezember 2015 Absturz einer Mi-8T in Sibirien mit einem Toten
Am 25. Oktober 2017 sturzte ein russischer Mi-8 mit 8 Mann an Bord etwa 2 km vor Barentsburg, Spitzbergen ins Eismeer.
Am 4. August 2018 verungluckte ein Mi-8 nahe Krasnojarsk unmittelbar nach dem Start. Bei dem Unfall kamen 18 Menschen ums Leben.
Am 19. Mai 2020 sturzte ein Mi-8 des russischen Militars bei einer Ubung in der Nahe von Moskau ab, es gab 4 Tote.
Am 26. Mai 2020 sturzte ein Mi-8 des russischen Militars bei einem Testflug am Flughafen von Tschukotka ab.
Am 1. November 2022 wurde eine russische Mi-8 von ukrainischen Streitkraften abgeschossen.
Am 12. August 2021 war eine Mi-8 (RA 24744) in Kamtschatka in einen See gesturzt. 8 Menschen starben.
Am 5. November 2022 wurde eine ukrainische Mi-8 von russischen Streitkraften abgeschossen.
Am 13. Mai 2023 wurden zwei russische Mi-8-Helikopter, eine russische Su-34 und eine russische Su-35 uber der Oblast Brjansk nahe den Stadten Klinzy und Starodub abgeschossen. Alle Besatzungen kamen dabei ums Leben. Es wird uber Eigenbeschuss spekuliert.
Am 31. August 2024 starben 22 Menschen (meist Touristen) bei einem Absturz der Mi-8T (RA-25656) in Kamtschatka. Nach dem Erscheinen des Unfallberichts verlor die Betreiberfirma die Lizenz. Sie hatte 2021 23 Hubschrauber.
Am 23. Marz 2025 zerstorte die ukrainische Armee zwei Mil Mi-8-Hubschrauber mittels eines M142-HIMARS-Raketenwerfers. Die Hubschrauber befanden sich auf einem provisorischen Flugfeld im Osten der Oblast Belgorod. Bei dem Angriff wurden auch zwei Kampfhubschrauber vom Typ Kamow Ka-52 zerstort, die ebenfalls auf dem Landeplatz stationiert waren. Personen kamen nicht zu Schaden.
Rekorde Wahrend der Erprobung des Prototyps W-8AT konnten von der Besatzung W. Koloschenko am 19. April 1964 zwei Weltrekorde aufgestellt werden. Der Hubschrauber erzielte auf einer geschlossenen Strecke eine Reichweite von 2464,736 km und auf einer geschlossenen 2000-km-Bahn eine Hochstgeschwindigkeit von 202,900 km/h.
1967 wurden einige Frauen-Weltrekorde aufgestellt: Inna Kopetz erreichte am 23. August eine Hochstgeschwindigkeit von 273,507 km/h auf einer 500-km-Strecke und am 14. September eine Reichweite von 2082,224 km auf geschlossener Strecke. Auf einer 1000-km-Bahn erzielte die Pilotin Issajewa am 28. August auf einer geschlossenen 1000-km-Strecke 258,666 km/h Hochstgeschwindigkeit. Wiederum Inna Kopetz erreichte auf geschlossener 2000-km-Bahn am 28. August 235,119 km/h. Zwei Jahre spater konnte sie am 15. August 1969 mit 2232,218 km auf gerader Strecke ihren letzten Rekord erfliegen.
Technische Daten Bewaffnung Die Ausrustung der militarischen Versionen variierte je nach Einsatzzweck und Produktionsjahr stark, wobei viele Versionen ohne Bugmaschinengewehr ausgeliefert wurden. Die Bewaffnung wurde zum Teil nach Erkenntnissen bei Einsatzen im Afghanistan- und Tschetschenienkrieg auch wahrend des Einsatzes modifiziert.
Bewaffnung im Bug
1 × bewegliches 12,7-mm-MG A-12,7 auf NUW-1U-Lafette mit 700 Schuss Munition und 30° Schwenkbereich (bedient vom Bordtechniker, der zwischen den Piloten sitzt)
Bewaffnung in Tur, Fenstern und Toren
2 × auf Kugellagerlafette montiertes 7,62-mm-Maschinengewehr Kalaschnikow PKB in den Seitenturen (falls zwei vorhanden) oder im Heck
1 × auf Kugellagerlafette montiertes 12,7-mm-Maschinengewehr NSW 6P11 am Heck
1 × AGS-17 „Plamja“ (automatischer 30-mm-Granatwerfer) in der Seitentur
Aufnahmen fur Sturmgewehre Kalaschnikow AK-47 (Kaliber 7,62 mm)/Kalaschnikow AK-74 (Kaliber 5,45 mm) in den Fenstern
Kampfmittel bis zu 1500 kg an sechs Waffentragern seitlich am Rumpf
Luft-Luft-Lenkwaffen
2 × Lenkwaffenwerfer mit je 2 × 9K338 Igla-S (ab Mi-8AMTSch)
Panzerabwehr-Lenkflugkorper
6 × 2K8 Falanga (AT-2C „Swatter“) – drahtgelenkte Panzerabwehr-Flugkorper
6 × 9M14P oder M Maljutka (AT-3 „Sagger“) – drahtgelenkte Panzerabwehr-Flugkorper
8 × 9K114 Schturm (AT-6 „Spiral“) ab Mi-8AMTSch
4 × 9K120 Ataka (AT-9 „Spiral“) ab Mi-8AMTSch
Ungelenkte Luft-Boden-Raketen
6 × UB-16-57-Raketen-Rohrstartbehalter mit je 16 ungelenkten Luft-Boden-Raketen S-5/S-5KO/S-5KP oder S-5MO; Kaliber 57 mm
6 × UB-32-57-Raketen-Rohrstartbehalter mit je 32 ungelenkten Luft-Boden-Raketen S-5/S-5KO/S-5KP oder S-5MO; Kaliber 57 mm
6 × B-8W-20-Raketen-Rohrstartbehalter mit je 20 ungelenkten Luft-Boden-Raketen S-8/S-8A/A-8B/S-8M oder S-8MKO; Kaliber 80 mm (ab Mi-8MT oder Mi-8MTW)
Freifallende Bomben
6 × FAB-50 (50-kg-Freifallbombe)
6 × FAB-100 (100-kg-Freifallbombe)
6 × FAB-250 (250-kg-Freifallbombe)
6 × RBK-250-275 (275-kg-Streubombe)
2 × RBK-500 (500-kg-Streubombe)
2 × FAB-500 (500-kg-Freifallbombe)
2 × ZB-500 (500-kg-Brandbombe)
Externe Behalter
2 × GUW-9-A-669-Universalbehalter (UPK-23-250) fur entweder je eine 23-mm-Zwillingskanone GSch-23L (mit 250 Schuss Munition) oder ein JakB-12,7-mm-MG (mit 750 Schuss Munition)
6 × WSM-1-Streubehalter mit je 145 Antipersonenminen vom Typ POM-1
2 × WSM-1-Streubehalter mit je 464 Antipersonenminen vom Typ POM-2
2 × WSM-1-Streubehalter mit je 11.520–12.960 Antipersonenminen vom Typ PFM-1
2 × WSM-1-Streubehalter mit je 116 Panzerminen vom Typ PTM-1 oder PTM-3
6 × Zusatztanks fur je 305 oder 475 Liter Kerosin, welche die Uberfuhrungsreichweite auf bis zu 1850 km erhohten (Mi-8MT)
Selbstverteidigungssysteme Aktive Maßnahmen
1 × Artem ASO-3-Tauschkorperwerfer in einer abgewinkelten aerodynamischen Verkleidung oberhalb des Hauptfahrwerks. Diese enthalt drei ASO-2W-Tauschkorperdispensereinheiten mit je 32 Hitzefackel-Tauschkorpern im Durchmesser von 26 mm.
1 × Sagorski Optisch- und Mechanisches Werk (SOMS) L-166W-1AE „Ispanka“ („Hot Brick“) optronischer Infrarot-Storstrahler (IRCM) auf dem hinteren Rumpfrucken am Ansatz des Heckauslegers
Passive Maßnahmen
1 × OKB Omsk SPO-15LM (L-006) „Berjosa“ (Birch) Radarwarnsensor
2 × Abgaskuhldiffusoren (Infrarotunterdruckungs-Abgasluftkuhler „EWU“) am Ende der Abgasrohre.
2 × EKSP-39-Signalraketenwerfer fur je vier verschiedenfarbige Signalraketen in der linken Heckklappe
Siehe auch Liste der Hubschraubertypen
Literatur The International Institute for Strategic Studies (IISS): The Military Balance 2018. 1. Auflage. Routledge, London 2018, ISBN 978-1-85743-955-7 (englisch).
Weblinks Mil Mi-171 Malaysia.
Mil Mi-8. Der Universalhubschrauber. In: russland.tv. Russland.news, 21. Januar 2009, archiviert vom Original am 25. Februar 2012; abgerufen am 27. Juni 2023 (deutsch, kurzer Filmbericht uber den Mil-Mi 8, ca. 3 min; Website teilweise mit der veralteten Adobe-Flash-Technik).
Traditionsgemeinschaft Lufttransport Wunstorf e. V.
Einzelnachweise
|
Der Mil Mi-8 (russisch Миль Ми-8, NATO-Codename: Hip) ist ein in der Sowjetunion von Mil entwickelter und gefertigter Mehrzweck- und Transporthubschrauber mit zwei Turbinentriebwerken und großen Heckladetoren.
Als Varianten des Mi-8 gelten die Modelle mit den Bezeichnungen Mi-17, Mi-18, Mi-19, Mi-171 und Mi-172. Ein naher Verwandter ist die Marineversion Mi-14, die aber als eigenstandiges Muster gefuhrt wird.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mil_Mi-8"
}
|
c-13929
|
Ryszard Kapuscinski (* 4. Marz 1932 in Pinsk, Polen, heute Belarus; † 23. Januar 2007 in Warschau) war ein polnischer Reporter, Journalist und Autor. Er ist einer der am haufigsten ubersetzten Autoren Polens.
Leben Kapuscinski wurde am 4. Marz 1932 im damals ostpolnischen Pinsk geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie auf. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in das damalige Ostpolen floh seine Mutter 1940 mit ihm, angesichts drohender Deportation nach Sibirien, in den von Deutschland besetzten Teil Polens.
1945 zog seine Familie nach Warschau. Dort heiratete er 1952 und begann im selben Jahr sein Studium der Geschichte an der Universitat Warschau. Er trat der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei bei, nach Auffassung seiner Biografen als damals „glaubiger Kommunist“. 1955 trat er seine erste Reise nach Asien an und war Reporter bei der Konferenz der blockfreien Staaten auf Java. 1956 beendete er sein Studium mit einem Magister und begann, fur die Jugendzeitung Sztandar Młodych (Fahne der Jugend) zu arbeiten.
1956/57 berichtete er von einer Reise durch China. Bereits ein Jahr spater wurde er Mitarbeiter der polnischen Nachrichtenagentur PAP und reiste 1958 in deren Auftrag nach Afrika. Nach seiner Ruckkehr arbeitete er in der Redaktion der Zeitschrift Polityka. 1962 war er wieder fur die PAP in Afrika unterwegs. 1967, direkt im Anschluss an seinen Afrikaaufenthalt, unternahm er Reisen durch die Sowjetunion. 1967 trat er seine Reise nach Sudamerika an, wo er sechs Jahre fur die PAP als Auslandskorrespondent tatig war. Weiterhin war er Berater der polnischen Zeitschrift Kontynenty.
1994 war er Gast des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in Berlin. 2003 hielt er ebenfalls in Berlin den Vortrag „Herodot - Reporter der Antike“.
Er war sechsfacher Ehrendoktor. Insgesamt erhielt er uber 40 Preise und Ehrungen. Kapuscinski war Mitglied des polnischen Penclubs.
Am 23. Januar 2007 starb Kapuscinski im Banach-Krankenhaus in Warschau an den Folgen einer Herzoperation.
Kritik Wenige Monate nach seinem Tod wurden Akten aus dem Institut fur Nationales Gedenken in Warschau bekannt, nach denen Kapuscinski vorubergehend Informant der polnischen Geheimpolizei SB gewesen sei.
Heftige Kontroversen loste bereits vor ihrem Erscheinen die Biografie Kapuscinski. Non-Fiction (2010) von Artur Domosławski aus, denn Kapuscinskis Witwe wollte die Publikation gerichtlich verbieten lassen, scheiterte aber damit. Domosławski fuhrt die Ergebnisse eigener Recherchen und Aussagen von Zeitzeugen an, die den Wahrheitsgehalt zahlreicher Reportagen sowie auch der Familiengeschichte, wie Kapuscinski sie dargestellt hat, in Zweifel ziehen. Auch wird vom Biografen dargestellt, die spateren Behauptungen Kapuscinskis, dieser sei in Opposition zum Regime der Volksrepublik Polen gestanden, seien unwahr. Ferner soll Kapuscinski entgegen seinen Außerungen weder Che Guevara gekannt noch den kongolesischen Politiker und ersten Premier des unabhangigen Kongos Patrice Lumumba getroffen haben. Vielmehr habe er die Grenzen der Reportage weit auf das Gebiet der Literatur ausgedehnt. „Er hat fabuliert, er hat die Fakten seinem erzahlerischen Ziel untergeordnet“, so sein Biograf Domosławski. Auch die Behauptung, dass sein Vater von einem sowjetischen Kriegsgefangenen-Transport, der ihn nach Katyn habe bringen sollen, fliehen konnte, soll reine Erfindung sein. Domosławski will herausgefunden haben, dass Kapuscinskis Vater niemals in sowjetische Gefangenschaft geraten sei.
Bezuglich Kapuscinskis Buch von 1984 Konig der Konige. Eine Parabel der Macht uber das Ende der Regierungszeit des athiopischen Kaisers Haile Selassie erhob Asfa-Wossen Asserate in seiner Biographie des Kaisers Vorwurfe gegen Kapuscinskis Darstellungen. Er bringt vor, Kapuscinskis Buch „tauge wenig als historische Quelle“, schon die „beruhmte Eingangsszene“ (in der berichtet wird, es habe einen Diener im Palast gegeben, dessen einzige Aufgabe gewesen sei, den Urin eines Hundes des Kaisers von Schuhen von Wurdentragern abzuputzen) sei „absurd“ falsch. Auch Lore Trenkler, Leibkochin von Haile Selassie von 1962 bis 1975, bezeichnete diese Darstellung als unrichtig und kritisierte das Buch in mehrfacher Hinsicht. Kapuscinski brachte vor, sein Buch sei aufgrund von Interviews mit ehemaligen Hofbediensteten entstanden. Dies bezweifelt Asserate: Das zur Zeit der angeblichen Interviews herrschende Mengistu-Regime sei „regelrecht auf der Jagd nach ehemaligen Hoflingen des Kaisers [gewesen]; sie hatten ihr Leben riskiert, hatten sie … einen weißen Journalisten in ihr Haus eingeladen“. Dieses Argument ist gewichtig, weil Kapuscinski die Verhaltnisse ebenso schildert: Er habe seine Gesprachspartner im Schutz der Dunkelheit aufgesucht und Angst gehabt, zusammen mit ihnen „hoch[zu]gehen“ und um sein Leben gefurchtet, besonders deswegen, weil „die Athiopier ... ungemein misstrauisch“ seien. Auch andere Punkte werden bezweifelt (hier beruft sich Asserate auf den amerikanischen Haile-Selassie-Biographen Harold Marcus), etwa die Behauptung, der Kaiser habe keine Fremdsprachen gesprochen und keine Bucher gelesen. Die Beurteilung der Person Haile Selassies und seines Regimes ist aber bei Asserate im Großen und Ganzen dieselbe wie bei Kapuscinski.
Auszeichnungen (in Auswahl) 1958: Goldener Verdienstorden Polens
1959: „Julian Brun“-Preis (Literaturpreis, Polen)
1974: Ritterkreuz des Erneuerten Polens
1975: Literaturpreis „Bolesław Prus“
1976: Polnischer Staatspreis II. Klasse
1976: Preis der Internationalen Journalisten-Organisation
1979: Preis des polnischen Journalisten-Verbandes
1980: Ehrenpreis des Kulturklubs Kuznica
1989: Literaturpreis „Ksawery Pruszynski“
1994: Leipziger Buchpreis zur Europaischen Verstandigung
1995: franzosischer Literaturpreis „Prix de l'Astrolab“
1999: Polnischer „Journalist des Jahrhunderts“ (Wahl der Zeitschrift „Press“)
1999: Hansischer Goethe-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung, Hamburg
1999: Samuel-Bogumil-Linde-Preis
2000: italienischer Literaturpreis Premio Viareggio
2003: italienischer Literaturpreis Premio Grinzane Cavour
2003: Prinz-von-Asturien-Preis fur Kommunikation und Humanwissenschaften
2003: Bruno-Kreisky-Preis fur das politische Buch (Sonderpreis fur das publizistische Gesamtwerk)
Gastprofessuren 1974 Gastprofessur in Bangalore, Indien
1979 Gastprofessur in Caracas, Venezuela
1988 Gastprofessur in Philadelphia, USA
Werke PL 1962: Busz po polsku
PL 1963: Czarne gwiazdy
PL 1968: Kirgiz schodzi z konia
PL 1969: Gdyby cała Afryka
PL 1970: Dlaczego zginał Karl von Spreti?
PL 1975: Chrystus z karabinem na ramieniu
1984: Konig der Konige (PL 1978: Cesarz) Martin Pollack (Ubersetzer): Konig der Konige: Eine Parabel der Macht. Kiepenheuer & Witsch, Koln 1984; Eichborn, Frankfurt 1995; Piper, Munchen 2009, ISBN 978-3492252379
1986: Schah-in-Schah (PL 1982: Szachinszach) Neuauflage 2006: Martin Pollack (Ubersetzer): Schah-in-schah: Eine Reportage uber die Mechanismen der Macht und des Fundamentalismus Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3821856728
1990: Der Fußballkrieg: Berichte aus der dritten Welt (PL 1978: Wojna futbolowa); Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 3-8218-4071-4 (Reihe Die Andere Bibliothek, Bd. 71)
1992: Lapidarium (PL 1990: Lapidarium), als Taschenbuch: 1999: Fischer Taschenbuch – Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3596128525
1993: Imperium (PL 1993: Imperium)
1994: Wieder ein Tag Leben Deutsche Erstausgabe, Eichborn Verlag, als Taschenbuch: 1999: Fischer, Frankfurt ISBN 978-3596128532 (PL 1976: Jeszcze jeden dzien zycia); verfilmt 2018
1999: Afrikanisches Fieber (PL 1998: Heban) – Rezension bzw. Martin Pollack (Ubersetzer): Afrikanisches Fieber. Erfahrungen aus vierzig Jahren. Die Andere Bibliothek – Erfolgsausgabe, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-8218-4483-1
2000: Die Welt im Notizbuch (PL 1996 und 1997: Lapidarium II und Lapidarium III); Martin Pollack (Ubersetzer): Verlag Piper, Auflage: 5, Juli 2008, ISBN 978-3492236454
2000: Die Erde ist ein gewalttatiges Paradies (Textkompilation fur den deutschen Markt aus bereits deutsch vorliegenden Werken) – Rezension; Verlag Piper, 7. Auflage, 2007: Martin Pollack, Renate Schmidgall, Edith Heller (Ubersetzer): Die Erde ist ein gewalttatiges Paradies: Reportagen, Essays, Interviews aus vierzig Jahren ISBN 978-3492236447
2000: Aus Afrika (PL 2000: Z Afryki) (Bildband)
2000: Martin Pollack (Ubersetzer): Imperium. Sowjetische Streifzuge. Die Andere Bibliothek – Erfolgsausgabe, ISBN 978-3821847078
PL 2003: Autoportret reportera
2007: Martin Pollack (Ubersetzer): Meine Reisen mit Herodot: Reportagen aus aller Welt Verlag Piper, ISBN 978-3492247870 (PL 2004: Podroze z Herodotem)
2007: Ilija Trojanow (Herausgeber): Die Welt des Ryszard Kapuscinski: Seine besten Geschichten und Reportagen ISBN 978-3821858234
2007: Martin Pollack (Ubersetzer): Notizen eines Weltburgers, deutsche Erstauflage: Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3821857565; als Taschenbuch: 2008: Piper, ISBN 978-3492252362 (PL 2000 und 2002: Lapidarium IV und Lapidarium V)
2008: Martin Pollack (Ubersetzer): Der Andere Suhrkamp Verlag, Deutsche Erstausgabe, ISBN 978-3518125441
2010: Ein Paradies fur Ethnographen: Polnische Geschichten. Aus dem Polnischen von Martin Pollack und Renate Schmidtgall, mit einem Vorwort von Martin Pollack, 978-3821858371
Audio
2002: Konig der Konige. Eine Parabel der Macht Horspiel, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3821851884
2007: Hanns Zischler (Vorleser): Kapuscinskis Welt. Stationen eines Weitgereisten Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3821854489
Literatur Artur Domosławski: Ryszard Kapuscinski – Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska und Benjamin Voelkel. Rotbuch Verlag, Zurich 2014, ISBN 978-3-86789-185-1
Matthias Schwartz: The Technique of Documenting: On the Early Reportages of Ryszard Kapuscinski and Hanna Krall. In: Clemens Gunther, Matthias Schwartz (Hrsg.): Documentary Aesthetics in the Long 1960s in Eastern Europe and Beyond. Brill, Leiden 2024, S. 164–185.
Weblinks Literatur von und uber Ryszard Kapuscinski im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
kapuscinski.info: Homepage zum Autor, polnisch,
Chronologischer Lebenslauf Kapuscinskis
Wir handeln selbstmorderisch – taz-Interview vom 5. Juni 2004 mit Kapuscinski
Das organisierte Bose – Ein Jahrhundert der Volkermorde – Artikel von Kapuscinski, auf Deutsch am 6. Marz 2001 in Le Monde diplomatique erschienen
Zum Tode Ryszard Kapuscinskis: Der beste Reporter der Welt – Nachruf auf Spiegel Online (24. Januar 2007)
Ryszard Kapuscinski auf culturebase.net
Ryszard Kapuscinski auf Culture.pl
Einzelnachweise
|
Ryszard Kapuscinski (* 4. Marz 1932 in Pinsk, Polen, heute Belarus; † 23. Januar 2007 in Warschau) war ein polnischer Reporter, Journalist und Autor. Er ist einer der am haufigsten ubersetzten Autoren Polens.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ryszard_Kapuściński"
}
|
c-13930
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Wimper-Mannsschild"
}
|
||
c-13931
|
Eilean Donan Castle (schottisch-galisch: Eilean Donnain) ist eine Niederungsburg in der Nahe von Dornie, einem kleinen Dorf in Schottland. Der Name selbst bedeutet „Donans Insel“ und weist auf den Hl. Donnan von Eigg hin, einen keltischen Martyrer aus dem 6. Jahrhundert.
Eilean Donan Castle befindet sich am Loch Duich in den westlichen schottischen Highlands. Die Burg liegt auf einer kleinen Landzunge, die bei Flut zu einer winzigen Gezeiteninsel wird. Sie ist dann nur durch eine steinerne Fußgangerbrucke zu erreichen. Die Burg ist der Stammsitz des schottischen Clans der Macrae.
Geschichte Nicht genauer datierbare archaologische Funde von Schlacke belegen eine Besiedelung der Insel in spateisenzeitlicher oder fruhmittelalterlicher Zeit. Ein auf der Insel errichtetes, dem Hl. Donnan von Eigg († 617) zugesprochenes kleines Kloster konnte bisher nicht durch Funde nachgewiesen werden.
= Die Ursprunge der Burg =
Mit dem Bau der Burg wurde etwa um 1220 wahrend der Regierungszeit von Alexander II. als Verteidigung gegen wikingische Uberfalle begonnen, aus dieser Zeit stammten die (heute nicht mehr erhaltenen) Burgmauer und der Wohnturm. Widerspruchliche Dokumente aus dieser Zeit geben den Earl of Ross sowie die Clans Mackenzies of Kintail, Macrae und Maclennan als Burgherren an; belegt ist ab 1266 der Clan Mackenzies of Kintail.
Im Winter 1307 / 08 diente Eilean Donan Castle Robert the Bruce als Fluchtburg, als er sich im Ersten Schottischen Unabhangigkeitskrieg auf der Flucht vor den Englandern befand. Die Unterstutzung, die er dabei durch den Clan Mackenzies of Kintail erhielt, war jedoch eher gering.
Ab dem fruhen 14. Jahrhundert siedelt der Clan Macrae in der Gegend um Eilean Donan Castle.
= Turbulente Jahre =
Um die rebellischen Highlands zu befrieden, reiste Konig Jakob I. 1427 nach Inverness. Er lud dazu alle Clan Chiefs unter der Zusicherung von freiem Geleit ein, ließ diese jedoch bei ihrer Ankunft entweder einkerkern oder sofort hinrichten. Unter den Clan Chiefs befand sich auch der junge Alexander Mackenzie, nominell der 6. Chief of Kintail. Dieser wurde verurteilt, als Strafe in Perth eine Schule zu besuchen. Wahrend seiner Abwesenheit wurde Eilean Donan Castle von Duncan Macaulay gehalten, im Interesse von Alexander und gegen die Widerstande verschiedener Verwandter des Clans Mackenzie.
In seiner aktiven Zeit als Clan Chief unterstutzte Alexander dann die Monarchie, auch gegen die Lords of the Isles des Clan MacDonald. Dafur wurde er 1463 in seiner Position vom Konig bestatigt.
Widerrechtliche Handlungen des Hector Roy Mackenzie fuhrten 1497 zur Achtung des Clans Mackenzie als Rebellen. 1503 erklarte sich der Graf von Huntly bereit, Eilean Donan Castle zu erobern, der Krone zu ubergeben und in deren Interesse besetzt zu halten. Jakob IV. stellte zu diesem Zweck ein Schiff zur Verfugung. Die Burg wurde nach kurzer Belagerung geraumt und ubergeben.
In einer Urkunde von 1509 erhalt John of Killin das Gebiet von Kintail sowie Eilean Donan Castle zugesprochen. 1511 wird Christopher Macrae zum Burghuter ernannt.
1539 wurde die Burg von Donald Gorm Macdonald of Sleat angegriffen. Obwohl von nur drei Personen verteidigt, konnte der Angriff nach der zufalligen Totung von Donald Gorm Macdonald zuruckgeschlagen werden.
1580 begann eine Fehde zwischen dem Clan Mackenzie und dem Clan MacDonald of Glengarry. In den folgenden Jahren wurde Eilean Donan Castle immer wieder Basis und Ziel dieser Auseinandersetzung, die erst 1602 mit dem Tod von Angus MacDonald of Glengarry ein Ende fand.
Farquhar Macrae wurde 1580 auf der Burg geboren. Nach einem Studium in Edinburgh und seiner Priesterweihe wurde er 1618 zum Verwalter der Burg bestimmt. Colin Mackenzie of Kintail, ab 1623 Earl of Seaforth, besuchte die Burg regelmaßig. Dabei ließ er sich mit seinem Gefolge (etwa 300 bis 500 Mann) sowie die benachbarten Lairds vom Verwalter bewirten.
1635 ernannte George Mackenzie, 2. Earl of Seaforth, Farquhar Macrae zum Privatlehrer seines sechsjahrigen Sohnes Kenneth, der danach auch auf Eilean Donan Castle erzogen wurde.
In den Englischen Burgerkriegen in der Mitte des 17. Jahrhunderts stand der Earl of Seaforth auf der Seite von Karl I. Nach der Hinrichtung des Konigs im Jahr 1649 ordnete das Parlament von Schottland eine Besetzung von Eilean Donan Castle an. Die Besatzer waren jedoch nicht willkommen und wurden durch den Widerstand der Bevolkerung zum Abzug gezwungen.
Im darauffolgenden Jahr sammelte Simon Mackenzie of Lochslin, Bruder des Earl of Seaforth, in der Umgebung von Eilean Donan Castle Truppen, um die royalistische Sache zu unterstutzen. Er uberwarf sich dabei jedoch mit Farquhar Macrae, was diesen wiederum zur Raumung der Burg veranlasste. Farquhar war damit bis zur Restaurierung von Eilean Donan Castle der letzte Verwalter, der auch auf der Burg lebte.
Danach wurde die Burg kurz vom Earl of Balcarres besetzt, der zu dieser Zeit den royalistischen Glencairn-Aufstand unterstutzte. Im Juni 1654 marschierte General Monck, in Schottland der militarische Gouverneur von Oliver Cromwell, wahrend der Unterdruckung des Aufstandes durch Kintail.
= Zerstorung im Ersten Jakobitenaufstand =
Im April 1719 landeten 300 Soldaten unter dem Kommando von George Keith, 9. Earl Marischal als Teil der spanischen Unterstutzung fur die Jakobiten am Loch Duich und besetzten Eilean Donan Castle. Weil jedoch die versprochene Hauptunterstutzung aus Spanien ausblieb, kam es nicht zum erwarteten Aufstand der jakobitischen Highlander. Die Royal Navy entsandte daraufhin drei Fregatten in die Region, die am 10. Mai die Burg erreichten. Die spanischen Soldaten schossen mit Musketen auf den Unterhandler, der sich in einem Beiboot naherte; daraufhin eroffneten die Fregatten das Feuer auf die Burg. Der Beschuss dauerte eineinhalb Tage an, bis eine Mannschaft von den Fregatten aus die Burg sturmte und die 44 noch Uberlebenden gefangen nahm. In den gefundenen Vorraten fanden sich uber 300 Fass Schießpulver, die dann zur Sprengung von Eilean Donan Castle verwendet wurden.
= Die Restaurierung =
1912 erwarb Lt. Col. John MacRae-Gilstrap die Ruine und begann mit ersten Restaurierungsarbeiten. Unterstutzt wurde er dabei von einem ansassigen Steinmetz, Farquhar MacRae, der mit MacRae-Gilstrap den Traum teilte: „claimed to have had a dream in which he saw, in the most vivid detail, exactly the way the castle originally looked“. Die komplette Wiederherstellung wurde zwischen 1920 und 1932 durchgefuhrt, abweichend von den ursprunglichen Planen wurden zusatzlich die steinerne Zugangsbrucke sowie ein Kriegerdenkmal fur die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten des Clans Macrae geschaffen. Die Kosten der Restaurierung werden heute auf 250.000 £ geschatzt.
Nach dem Tod von MacRae-Gilstrap im Jahr 1937 blieb die Burg unbewohnt und wurde 1955 als Museum fur die Offentlichkeit freigegeben.
= Eilean Donan Castle heute =
Eilean Donan Castle befindet sich heute im Besitz der vom Clan Macrae geschaffenen Conchra-Stiftung und wird als Museum genutzt. Sie liegt touristisch gunstig direkt an der A87 auf dem Weg von Glasgow nach Kyle of Lochalsh sowie der Insel Skye und gilt als eines der meistfotografierten Motive in Schottland. Im Jahr 2009 wurden weit uber 310.000 Besucher gezahlt und machen Eilean Donan Castle damit zu der am drittmeisten besuchten Burg Schottlands.
Bauphasen = Fruhe Befestigung =
Im 13. Jahrhundert wurde eine Ringmauer errichtet, die den großten Teil des uber der Hochwasserlinie liegenden Gebietes der Insel umfasste. Die umschlossene Flache betrug ungefahr 3000 m². Uberreste dieser Mauer konnen noch im Nordteil der Insel gefunden werden, andere Teile wurden durch spatere Erweiterungen der Burg uberbaut. Im Nordteil der Mauer finden sich die Fundamente eines Bergfrieds von etwa 12 * 13 m, und die Uberreste von Fundamenten deuten auf zwei weitere Verteidigungsturme sowohl an der Nordost- als auch an der Sudwestecke der Ringmauer hin. Uber die ursprungliche Hohe dieser Turme ist nichts bekannt. Der Zugang zur Anlage erfolgte wahrscheinlich uber ein seeseitiges Tor im Nordwesten der Ringmauer, im Sudwesten ist an einem kleinen Strand ein weiterer Zugang denkbar.
Im 14. Jahrhundert wurde, an die Ringmauer anlehnend, auf dem hochsten Punkt der Insel ein Turmhaus errichtet. Der Turm maß 16,5 * 12,4 m und besaß 3 m dicke Wande. Das gewolbte Erdgeschoss war in zwei Raume aufgeteilt und besaß im Norden eine Treppe, die den Zugang zu den (wahrscheinlich zwei) daruber liegenden Stockwerken erlaubte.
Archaologische Ausgrabungen in den Jahren 2008 und 2009 haben einen Großteil dieser Vermutungen bestatigt und Beweise gefunden, dass im nordlichen Teil der Burg auch Metallbearbeitung stattfand.
= Die verkleinerte Burg =
Wahrscheinlich im spaten 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts wurde die Ringmauer zu Gunsten einer kleineren Verteidigungsanlage aufgegeben. Diese umschloss jetzt nur noch etwa 25 Meter im Quadrat, der Eingang lag im Osten. Grunde fur diese Anderung sind nicht bekannt.
Wahrend des 16. Jahrhunderts wurden zwei Gebaude hinzugefugt. Ein kleines Haus wurde im Sudostwinkel der neuen Ringmauer errichtet. Es besaß uber eine Wendeltreppe einen Zugang zum Wehrgang und diente wahrscheinlich dem Burgverwalter als Wohnung. In der Sudwestecke der Ringmauer kam ein L-formiges Gebaude hinzu, moglicherweise aber erst Anfang des 17. Jahrhunderts. Der sudliche Teil des Gebaudes liegt außerhalb der Ringmauer, der nordliche Flugel aber (moglicherweise als spatere Hinzufugung) innerhalb.
= Das Hornwerk =
Mit der zunehmenden Bedeutung von Kanonen in der Kriegsfuhrung wurde die Burg im spaten 16. Jahrhundert durch eine Richtung Osten zeigende Bastion oder Hornwerk erweitert. Diese bestand aus einer unregelmaßig sechseckigen Struktur mit einer maximalen Große von 11,5 m. Dieses Hornwerk war mit dem Ostteil der Burg durch einen von Wanden umschlossenen dreieckigen Hof verbunden. Im Inneren der sechseckigen Struktur befand sich ein uber 10 m tiefer Brunnen mit etwa 5 m Durchmesser.
Das Hornwerk diente nach seiner Fertigstellung als Zugang zur Burg. Der Brunnen war mit einer beweglichen Brucke uberdeckt und bildete so eine weitere Verteidigung. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde dieser leicht zu verteidigende Zugang zugunsten eines gunstiger gelegenen und bequemeren Eingangs in der Sudwand aufgegeben.
Zeichnungen von Lewis Petit aus dem Jahr 1714 zeigten, dass die Burg zu großen Teilen zerstort wurde; nur das Haus in der Sudostecke besaß noch ein Dach. Vier Jahre spater wurde es vollig abgerissen.
= Die rekonstruierte Burg =
Die gegenwartigen Schlossgebaude sind das Ergebnis der Rekonstruktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Obwohl der Wiederaufbau dem vorhandenen Grundriss folgte, unterscheiden sich die Details der gegenwartigen Burg von ihrem ursprunglichen Außeren. Die Zeichnungen von Lewis Petit wurden erst kurz vor Vollendung der Restaurierung gefunden, daher orientierte man sich an Planen von MacGibbon und Ross aus dem 19. Jahrhundert.
Die Burg betritt man heute aus sudlicher Richtung durch ein Portal, welches mit einem Fallgatter gesichert werden kann. Uber dem Portal befinden sich das Wappen von John Macrae-Gilstrap sowie eine galische Inschrift „Cho fad 's a bhios MacRath a-stigh cha bhi Frisealach a-muigh.“ Deren Ubersetzung lautet: „So lange es einen Macrae drinnen gibt, gibt es keinen Fraser draußen“. Durch das Portal tritt man in den Hof, dessen Niveau abgesenkt wurde, um auf gleicher Hohe wie der Zugang zum Turmhaus zu liegen.
Die gegenwartigen Gebaude im Sudosten spiegeln die Form der fruheren Strukturen einschließlich des runden Treppenturmes wider, sind aber im Ausmaß großer. Ein kleiner Turm wurde in der Nordwestecke der Ringmauer zusatzlich errichtet. Im Sudwesten wurde nur der sudliche Teil des L-formigen Gebaudes als einfaches, dreistockiges Haus wieder aufgebaut, wahrend der Platz des nordlichen Teiles als offene Plattform mit Aussicht uber Loch Duich dient.
Die Einteilung des Hauses folgt den ursprunglichen Dimensionen, obwohl das fruher unterteilte Erdgeschoss jetzt nur ein Zimmer beinhaltet: Den Einquartierungssaal mit Tonnengewolbe. Der erste Stock beherbergt den wappengeschmuckten Speisesaal mit Eichendecke und einem Kamin im Stil des 15. Jahrhunderts.
Trivia Die Burg wurde oft als Kulisse fur Filme und Fernsehserien benutzt; unter anderem in einer Folge der Fernsehserie Das blaue Palais von Rainer Erler und in Filmen wie Highlander – Es kann nur einen geben, Elizabeth – Das goldene Konigreich, Braveheart, Rob Roy, Prinz Eisenherz, Verlockende Falle, Verliebt in die Braut und Mio, mein Mio. Auch fur den James-Bond-Film Die Welt ist nicht genug wurden vor Ort einige Szenen gedreht.
Literatur James Brichan u. a.: Origines Parochiales Scotiae. the Antiquities Ecclesiastical and Territorial of the Parishes of Scotland. W. H. Lizars, Edinburgh 1855 (Online auf archive.org [abgerufen am 15. Januar 2015]).
David Hugh Farmer: The Oxford Dictionary of Saints. University Press, Oxford 1992, ISBN 0-19-283069-4.
Alexander Mackenzie: History of the Mackenzies. A. & W. Mackenzie, Inverness 1894 (Online auf archive.org [abgerufen am 15. Januar 2015]).
John MacRae: Eilean Donan Castle. Dixon, Newport (Wight) 1978.
Roger Miket, David L. Roberts: The Medieval Castles of Skye and Lochalsh. Birlinn, Edinburgh 2007, ISBN 978-1-84158-613-7.
Paula Milburn: Discovery and Excavation in Scotland. Archaeology Scotland, Vol. 9. University of York, Archaeology Data Service, 2008, ISSN 0419-411X (Online [PDF; 16,5 MB; abgerufen am 15. Januar 2015]).
Paula Milburn: Discovery and Excavation in Scotland. Archaeology Scotland, Vol. 10. University of York, Archaeology Data Service, 2009, ISSN 0419-411X (Online [PDF; 21,1 MB; abgerufen am 15. Januar 2015]).
Hagen Seehase: Die vergebliche Belagerung von Eilean Donan 1539. Ein Pfeilschuss macht Geschichte. In: Pallasch. Zeitschrift fur Militargeschichte. Bd. 15 (2011), Heft 39, S. 57–61.
Weblinks Eilean Donan Castle als 3D-Modell im 3D Warehouse von SketchUp
Welcome to Eilean Donan Castle. Eilean Donan Castle, abgerufen am 15. Januar 2015 (englisch).
Eilean Donan Castle on the road to Skye, Scotland. Camvista.com, abgerufen am 15. Januar 2015 (englisch, Webcam).
Eintrag zu Eilean Donan Castle auf trove.scot, der Datenbank von Historic Environment Scotland (englisch)
Einzelnachweise
|
Eilean Donan Castle (schottisch-galisch: Eilean Donnain) ist eine Niederungsburg in der Nahe von Dornie, einem kleinen Dorf in Schottland. Der Name selbst bedeutet „Donans Insel“ und weist auf den Hl. Donnan von Eigg hin, einen keltischen Martyrer aus dem 6. Jahrhundert.
Eilean Donan Castle befindet sich am Loch Duich in den westlichen schottischen Highlands. Die Burg liegt auf einer kleinen Landzunge, die bei Flut zu einer winzigen Gezeiteninsel wird. Sie ist dann nur durch eine steinerne Fußgangerbrucke zu erreichen. Die Burg ist der Stammsitz des schottischen Clans der Macrae.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Eilean_Donan_Castle"
}
|
c-13932
|
Robert I., englisch besser bekannt als Robert Bruce, auch Robert the Bruce (* 11. Juli 1274; † 7. Juni 1329 in Cardross, Dunbartonshire), war von 1306 bis zu seinem Tod 1329 Konig von Schottland. Die mittelalterliche schottisch-galische Schreibweise lautete Roibert a Briuis, die normannisch-franzosische Robert de Brus. Wahrend der Schottischen Unabhangigkeitskriege gegen England war er Anfuhrer der aufstandischen Schotten.
Robert war ein Ururururenkel Konig Davids I. und begrundete damit seinen Anspruch auf den schottischen Thron. Er gilt als einer der bedeutendsten Herrscher Schottlands.
Leben = Familiarer Hintergrund und fruhe Lebensjahre =
Robert wurde als erstes Kind und altester Sohn von Robert de Brus, Earl of Carrick, und dessen Ehefrau Marjorie, Countess of Carrick, geboren. Der Legende nach soll Roberts Mutter seinen Vater gefangen gehalten haben, bis er schließlich nachgab und sie heiratete. Von seiner Mutter erbte er das galische Furstentum Carrick (ein Teil von Ayrshire) und von seinem Vater die Abstammung von einer koniglichen Linie, die es ihm spater ermoglichte, Anspruch auf den Thron zu erheben. Das Datum seiner Geburt ist definitiv gesichert, nicht jedoch sein Geburtsort; wahrscheinlich war es Turnberry Castle in Ayrshire, doch auch Lochmaben Old Castle in Lochmaben, Dumfriesshire, wird genannt.
Uber seine Jugendjahre ist wenig bekannt. Er wurde wahrscheinlich von einer anderen Familie aus der Gegend aufgezogen, was den damaligen lokalen Gebrauchen entsprach. Es kann angenommen werden, dass er fließend Galisch und Normand (normannischer Dialekt des Franzosischen) sprach, daneben Latein und wahrscheinlich auch Englisch. Einem englischen Chronisten zufolge lebte er die meiste Zeit am Hofe Eduards I. Die Thronbesteigung von John Balliol im Jahr 1292 empfand er als ungerecht. Der neue, durch England eingesetzte Herrscher verwehrte damit seiner Familie das rechtmaßige Erbe.
Bald darauf ubergab sein Großvater Robert de Brus, Lord of Annandale, einer der erfolglosen Anwarter auf den schottischen Thron, seinen Lordtitel an seinen Sohn, Roberts Vater. Nach dem Tod seiner Ehefrau im Jahr 1292 ubergab Roberts Vater den Titel des Earl of Carrick an seinen Sohn. Der Vater wie auch der Sohn verbundeten sich mit Eduard I. gegen John Balliol. Im April 1294 erhielt der jungere Bruce die Erlaubnis, wahrend eineinhalb Jahren Irland zu besuchen. Als weiteres Zeichen von Eduards Gunst erhielt er einen Zahlungsaufschub auf alle Schulden beim englischen Konigshaus.
1295 heiratete Robert seine erste Ehefrau Isabella von Mar, die Tochter von Donald, 6. Earl of Mar. Isabella brachte zwischen 1295 und 1297 eine Tochter, Marjorie, zur Welt und starb kurz danach. Roberts Tochter Marjorie Bruce heiratete etwa 1315 Walter Stewart, den Truchsessen (High Steward) von Schottland, und gebar am 2. Marz 1316 den zukunftigen Konig Robert II.
= Beginn der Unabhangigkeitskriege =
Im August 1296 leisteten Vater und Sohn Bruce bei Berwick-upon-Tweed dem englischen Konig Eduard I. gegenuber einen Treueschwur und erneuerten diesen in Carlisle. Doch bereits ein Jahr spater brach der jungere Bruce den Schwur und schloss sich der schottischen Revolte an. Im Sommer 1297 wurde er aufgefordert, Eduards Kommandanten John de Warenne zu unterstutzen. Doch statt dem Befehl zu gehorchen, verwustete Robert Bruce mit seinen Anhangern das Land jener Leute, die zu Eduard hielten. Am 7. Juli wurde Bruce zu einem Waffenstillstand gezwungen, der „Kapitulation von Irvine“. Den schottischen Lords wurde versichert, dass sie nicht gegen ihren Willen in Frankreich dienen mussten. Nach einem erneuten Treueschwur wurden ihnen die Gewalttaten verziehen. Der Bischof von Glasgow, der Truchsess James und Sir Alexander Lindsay ubernahmen die Burgschaft fur Bruce, bis er seine kleine Tochter Marjorie als Geisel ubergab.
Kurz nach der Schlacht von Stirling Bridge am 11. September 1297 schlug sich Robert Bruce wieder auf die Seite seiner Landsleute. Er verwustete Annandale und zerstorte die von den Englandern gehaltene Burg bei Ayr. Als Eduard nach seinem Sieg in der Schlacht von Falkirk nach England zuruckkehrte, entzog er Robert Bruce die Herrschaftsrechte uber Annandale und Carrick, gab ihm aber die Chance, seine Loyalitat ihm gegenuber zu beweisen.
William Wallace war nach Falkirk von seinem Amt als Guardian of Scotland zuruckgetreten. Auf ihn folgten Robert Bruce und John Comyn, die sich das Amt teilten, das demjenigen eines Reichsverwesers entsprach. Doch die beiden konnten ihre personlichen Differenzen nicht beilegen. Als Neffe und Anhanger von John Balliol hatte Comyn ebenso ein Anrecht auf den Thron und war deshalb Bruces Konkurrent. 1299 wurde William de Lamberton, der Bischof von St Andrews, zum dritten neutralen Wachter gewahlt, um den sich anbahnenden Konflikt zwischen Bruce und Comyn zu entscharfen. 1300 trat Bruce von seinem Amt zuruck und wurde durch Sir Ingram de Umfraville ersetzt. De Umfraville, Comyn und Lamberton traten im Mai 1301 ihrerseits zuruck. Neuer alleiniger Wachter Schottlands wurde John de Soulis. Er war vor allem deshalb gewahlt worden, weil er weder zum Bruce-Lager noch zum Comyn-Lager gehorte und daruber hinaus ein Patriot war. De Soulis setzte sich aktiv dafur ein, John Balliol wieder als schottischen Konig einzusetzen.
Im Juli 1301 begann Eduard mit dem sechsten Feldzug nach Schottland. Obwohl er Bothwell und Turnberry Castle eroberte, konnte er die Schotten nicht entscheidend schlagen und einigte sich im Januar 1302 auf einen neunmonatigen Waffenstillstand. Etwa um diese Zeit unterwarfen sich Bruce und andere Adlige dem englischen Konig, obwohl sie bis vor kurzem auf der Seite der Rebellen gekampft hatten. Es gab verschiedene Grunde fur diesen Schritt. Bruce wollte seine Anhanger nicht langer fur eine aussichtslose Sache opfern. Es gab Geruchte, dass John Balliol mit einer franzosischen Armee wieder nach Schottland zuruckkehren wurde. Dies hatte jedoch bedeutet, dass Bruce jegliche Chance verlieren wurde, jemals selbst den schottischen Thron zu besteigen. Eduard wiederum sah ein, dass es zu diesem Zeitpunkt besser war, einen schottischen Adligen als Verbundeten denn als Feind zu haben; er selbst sah sich mit einer Exkommunikation durch den Papst und einer moglichen franzosischen Invasion konfrontiert.
Robert Bruce heiratete 1302 seine zweite Gattin Elizabeth de Burgh, die Tochter von Richard Og de Burgh (Earl of Ulster und enger Freund des englischen Konigs). Er hatte sie wahrscheinlich am englischen Konigshof kennengelernt. Die Hochzeit fand in Writtle bei Chelmsford in Essex statt. Elizabeth gebar ihm vier Kinder, den spateren Konig David II. sowie John, Mathilda und Margaret.
1303 marschierte Eduard erneut in Schottland ein, erreichte Edinburgh und wandte sich nach Perth. John Comyn, mittlerweile der neue „Guardian of Scotland“, konnte nicht hoffen, sich gegen die englische Armee verteidigen zu konnen. Eduard blieb bis Juli in Perth und zog dann weiter uber Dundee, Montrose und Brechin nach Aberdeen, wo er im August eintraf. Danach kehrte er uber Moray und Badenoch nach Dunfermline zuruck. Da Eduard nun praktisch das ganze Land kontrollierte, unterwarfen sich ihm im Februar 1304 alle fuhrenden schottischen Adligen mit Ausnahme von William Wallace. John Comyn fuhrte die Verhandlungen. Die Gesetze und Freiheiten Schottlands, wie sie unter der Herrschaft von Alexander III. bestanden hatten, sollten weiterhin gultig sein. Bei zukunftigen Gesetzesanderungen behielt sich Eduard jedoch ein Mitspracherecht vor.
Robert Bruce und William de Lamberton, die beide Zeugen der heroischen schottischen Verteidigung bei der Schlacht von Stirling Bridge gewesen waren, schlossen am 11. Juni 1304 eine Allianz. Sollte einer der beiden den geheimen Pakt brechen, wurde er dem anderen eine Buße von zehntausend Pfund bezahlen. Diese Allianz war ein Zeichen ihres tief verwurzelten Patriotismus und ihres Kampfes fur die Freiheit Schottlands. Sie beabsichtigten, die Zeit bis zum Tod des englischen Konigs abzuwarten, der bereits im fortgeschrittenen Alter war.
Eduard begann unterdessen mit der vollstandigen Integration des wehrlosen Schottland ins englische Konigreich. Die Adligen schworen erneut Treue. Eine Parlamentssitzung wurde einberufen, um jene zu wahlen, die mit dem englischen Parlament die Regeln fur die Verwaltung Schottlands festzulegen hatten. Die wirkliche Macht lag in den Handen der Englander, die schottischen Regierungsmitglieder waren lediglich Marionetten. Eduards Neffe, der Earl of Richmond, fuhrte die untergeordnete schottische Regierung an.
In der Zwischenzeit war William Wallace in der Nahe von Glasgow gefangen genommen und am 23. August 1305 in London brutal hingerichtet worden. Eduard hatte aus Wallace einen Martyrer gemacht, einen uberlebensgroßen patriotischen Helden fur die Schotten. Anstatt die „schottische Frage“ endgultig zu losen, legte er damit die Grundlage fur weitere Aufstande.
= Exkommunikation und Kronung =
Eduard befahl im September 1305 Robert Bruce, das Kommando uber Kildrummy Castle abzugeben. Er vermutete, dass Bruce nicht vollig vertrauenswurdig sei und womoglich hinter seinem Rucken eine Verschworung organisierte. Der geheime Pakt, den Bruce mittlerweile mit William de Lamberton geschlossen hatte, wurde durch einige Adlige aufgedeckt. Bruce hielt mit John Comyn eine Konferenz ab, die mit einer Einigung endete. Comyn wurde Bruces Anspruch auf den schottischen Thron unterstutzen und im Gegenzug seine Landereien erhalten, oder auch umgekehrt. Doch aus unbekannten Grunden, wahrscheinlich aber um seinen Rivalen zu schadigen, verriet Comyn die Verschworung. Bruce, der sich gerade am englischen Konigshof aufhielt, wurde gewarnt und floh nach Schottland.
Robert Bruce traf am 10. Februar 1306 in Dumfries ein und brachte in Erfahrung, dass Comyn sich ebenfalls dort aufhielt. In der dortigen Franziskanerkirche trafen sich die beiden zu einem privaten Gesprach. Bruce beschuldigte Comyn, ihn verraten zu haben, was dieser jedoch verneinte. Voller Zorn zog Bruce seinen Dolch und verletzte seinen Widersacher schwer. Als Bruce aus Angst aus der Kirche floh, betrat sein Begleiter Sir Roger de Kirkpatrick das Gebaude, fand den noch lebenden Comyn und totete ihn. Bruce wurde spater ob dieser Freveltat auf heiligem Boden von Papst Clemens V. mit dem Kirchenbann belegt.
Nach dem Mord konnte der englische Konig Bruce jedoch nicht mehr decken. Er hatte damit alle Brucken hinter sich abgebrochen und musste sehr schnell handeln. Es gab nur den Weg nach vorn: Um nicht alles zu verlieren – vor allem den Anspruch auf den schottischen Thron –, ließ er sich nur wenige Tage spater am 25. Marz 1306 in Scone zum Konig der Schotten kronen. Obwohl er nun Konig war, hatte er noch kein Konigreich. Seine Bemuhungen, das Land zuruckzuerobern, erwiesen sich bis nach dem Tod von Eduard I. als katastrophale Fehlschlage.
= Ruckeroberung =
Viele Angehorige des galischen und auch des normannischen Adels misstrauten Bruce wegen seiner fruheren engen Beziehungen zum englischen Konigshaus noch immer und unterstutzten ihn nicht. Außerdem hatten die normannischen Fursten noch immer Landereien beiderseits der Grenze in England und Schottland und wagten es daher nicht, sich gegen den englischen Konig zu stellen. So war Robert zunachst ein so gut wie machtloser Konig und standig auf der Flucht vor Eduard, der sich an seinem untreuen Vasallen rachen wollte und ihm seine Hascher nachsandte. Im Juni 1306 wurde er in der Schlacht bei Methven besiegt, worauf er in die Highlands fluchtete. Im Juli oder August wurde seine verbliebene Streitmacht im Gefecht bei Dalry geschlagen. Er schickte seine weiblichen Familienangehorigen nach Kildrummy Castle, um sie in Sicherheit zu bringen. Nach einer von Legenden umwobenen Flucht auf die Außeren Hebriden kehrte Robert Bruce im Februar 1307 nach Schottland zuruck und begann vom Sudwesten aus sein Reich von seinen inneren und außeren Feinden zuruckzuerobern. Er griff unermudlich – meist aus dem Hinterhalt – an und wurde dabei zu einem Meister der Guerillataktik. Dadurch gewann Bruce ganz allmahlich doch den Respekt und die dringend notwendige Unterstutzung des schottischen Adels. Seinen ersten Sieg uber die Englander errang er bei Glen Trool und besiegte dann Aymer de Valence in der Schlacht am Loudoun Hill.
Der englische Konig erklarte die Landereien von Bruce fur verwirkt und verteilte sie unter seinen eigenen Gefolgsleuten. Daruber hinaus veroffentlichte er den durch den Papst verhangten Kirchenbann uber Robert Bruce. Seine Ehefrau Elizabeth de Burgh, seine Tochter Marjorie und seine Schwester Christina gerieten nach der Belagerung von Kildrummy Castle in Gefangenschaft, wahrend seine drei jungeren Bruder exekutiert wurden. Doch am 7. Juli starb Eduard I. und wurde von seinem schwachlichen Sohn Eduard II. abgelost. Das Blatt begann sich zu wenden.
Robert Bruce ubergab dann das Kommando uber die Truppen in Galloway seinem Bruder Edward Bruce, wahrend er selbst seine Operationen nach Aberdeenshire verlegte. Er uberrannte Buchan, und nach einer schweren Krankheit besiegte er im Mai 1308 in der Schlacht bei Inverurie den Earl of Buchan. Bruce begab sich mit seinen Truppen nach Argyll, besiegte in der Schlacht von Brander weitere interne Feinde und eroberte Dunstaffnage Castle. Im Mai 1309 berief er in St Andrews seine erste Parlamentssitzung ein, und im August kontrollierte er alle Gebiete nordlich des Flusses Tay. Bei einer Generalversammlung im Jahr 1310 erkannte ihn der schottische Klerus als Konig an. Dass er trotz der Exkommunikation die Unterstutzung der lokalen Kirchenoberhaupter erhielt, war von großer Bedeutung und wahrscheinlich auf den Einfluss seines Freundes Lamberton zuruckzufuhren.
Wahrend der nachsten drei Jahre fielen mehrere englische Burgen und Außenposten in die Hand der Schotten. Linlithgow wurde 1310 erobert, Dumbarton 1311 und im Januar 1313 Perth (diesen Feldzug fuhrt Bruce personlich an). Bruce fuhrte auch Raubzuge nach Nordengland an. Im Marz 1313 eroberte James Douglas Roxburgh Castle, wahrend Thomas Randolph zur gleichen Zeit Edinburgh Castle einnahm. Im Mai fuhrte Bruce erneut einen Raubzug durch den Norden Englands an und unterwarf die Isle of Man.
In der Auseinandersetzung um Stirling Castle, die letzte von Englandern gehaltene Burg in Schottland, wurde am 23. und 24. Juni 1314 das scheinbar uberlegene englische Heer in der historischen Schlacht an dem kleinen Bach Bannockburn, der Schlacht von Bannockburn, von den Schotten vernichtend geschlagen. Die rund 9000 Schotten rieben die ca. 25.000 Englander fast vollstandig auf, und Robert Bruce wurde zum schottischen Nationalhelden. Der unerwartete Sieg garantierte die vollstandige Akzeptanz von Robert Bruce als Konig im eigenen Land. Von der englischen Bedrohung befreit, zogen die schottischen Armeen nach England, schlugen eine weitere englische Armee nordlich der Grenze zuruck und unternahmen Raubzuge in Yorkshire und Lancashire. Eduard II. sah sich gezwungen, einen Waffenstillstand anzunehmen.
= Feldzug in Irland und Diplomatie =
Bestarkt durch die militarischen Erfolge, starteten die schottischen Truppen 1315 eine Invasion Irlands. Sie wollten die Insel nicht nur von der englischen Herrschaft befreien, sondern damit auch eine zweite Front fur England im andauernden Konflikt schaffen. Dazu verfolgten sie familiare Ziele, denn im Juni 1315 wurde Edward Bruce zum Irischen Hochkonig gekront. Anfang 1317 begab sich Robert Bruce mit einer weiteren Armee dorthin, um seinen Bruder zu unterstutzen.
Die Schotten warben mit einer „pan-galischen Allianz“ um die Gunst der irischen Anfuhrer und betonten dabei die Gemeinsamkeiten wie Sprache, Gebrauche und kulturelles Erbe. Die diplomatischen Bemuhungen brachten einige Erfolge, zumindest in Ulster, wo die Schotten volle Unterstutzung genossen. Doch außerhalb von Ulster stießen sie auf wenig Begeisterung und konnten im Suden der Insel keine nennenswerten Erfolge verbuchen.
Nach dem Trauma der Unabhangigkeitskriege machten die Freien und Machtigen des Reiches im Jahr 1320 ihrem Konig allerdings klar, dass er nicht vollkommen willkurlich handeln konnte. In der Deklaration von Arbroath erklarten sie, dass sie ihn nur solange unterstutzen wurden, wie er die Rechte der Nation zu wahren bereit war. In der entscheidenden Passage aus dieser Erklarung heißt es:
Zwar hielt der Kriegszustand zwischen den beiden Landern noch an, doch wurde 1328 die Unabhangigkeit Schottlands vom englischen Konig Eduard III. im Abkommen von Edinburgh und Northampton anerkannt.
= Familie und spates Leben =
Robert Bruce hatte neben seiner altesten Tochter Marjorie, seiner zweiten Frau Elizabeth de Burgh und ihren gemeinsamen Kindern eine große Familie. Da waren seine Bruder Edward, Alexander, Thomas und Neil, seine Schwestern Christina (oder Christian) of Mar, Isabel (spater Konigin von Norwegen), Margaret, Matilda und Mary sowie seine Neffen Donald und Thomas Randolph. Alexander, Thomas und Neil wurden von den Englandern gefangen genommen und hingerichtet, Edward starb 1318 in Irland auf dem Schlachtfeld.
Marjorie Bruce (geboren zwischen 1295 und 1297), heiratete etwa 1315 Walter Stewart, den Truchsessen (High Steward) von Schottland, und gebar am 2. Marz 1316 den zukunftigen Konig Robert II.
Mit seiner zweiten Ehefrau Elizabeth de Burgh, die er 1302 heiratete, hatte Robert Bruce die folgenden Nachkommen:
Matilda (gestorben am 20. Juli 1353), heiratete Thomas Isaac, mit dem sie die beiden Tochter Joanna und Catherina hatte
Margaret (gestorben November 1347), heiratete 1343 William Earl of Sutherland
David II. (Schottland), sein Nachfolger als Konig von Schottland
John (starb in fruher Kindheit)
Zusatzlich zu seinen legitimen Nachkommen hatte Robert Bruce mehrere illegitime Kinder von unbekannten Geliebten. Die Sohne waren Sir Robert (starb 1332 in der Schlacht von Dupplin Moor) und Nigel of Carrick (starb am 17. Oktober 1346 in der Schlacht von Durham) sowie Christian of Carrick. Daruber hinaus hatte er zwei Tochter, Elizabeth (verheiratet um 1365 mit Sir Walter Oliphant of Aberdalgie) und Margaret (verheiratet mit Robert Glen).
Robert Bruce starb am 7. Juni 1329 im Alter von 55 Jahren beim Rittergut Cardross in Dunbartonshire (der exakte Ort ist ungewiss und war vielleicht gar nicht einmal in der Nahe des heutigen Dorfes Cardross). Seit einigen Jahren hatte er laut zeitgenossischen Berichten an einer „unsauberen Krankheit“ gelitten. Laut der traditionellen Ansicht soll er an Lepra gestorben sein, doch wird dies heute bezweifelt. Zwar bleibt unklar, um welche Krankheit es sich gehandelt hat, doch liegen Syphilis, Schuppenflechte oder eine Reihe von Schlaganfallen im Bereich des Moglichen.
Roberts sterbliche Uberreste wurden in der Dunfermline Abbey beigesetzt. Gemaß seinem letzten Willen aber sollte sein alter Waffengefahrte James Douglas das Herz entnehmen und es auf einem Kreuzzug in das Heilige Land bringen, um Roberts Mord an John Comyn, Lord of Badenoch zu suhnen. Doch Douglas kam nur bis nach Spanien, wo er in der Schlacht von Teba im Kampf gegen die Mauren getotet wurde. Seiner Familie wurde gestattet, das Herz des Robert Bruce in ihr Wappen aufzunehmen. Das Herz wurde spater gefunden, nach Schottland zuruckgebracht und unter dem Hochaltar der Melrose Abbey in Roxburghshire begraben. Roberts einziger uberlebender Sohn bestieg als David II. den schottischen Thron.
Rezeption Robert the Bruce und sein Kampf fur die schottische Unabhangigkeit erfuhr bis heute vielfache Rezeption. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert und zum 700. Jahrestag seiner Geburt im Jahr 1974 wurde und wird Robert the Bruce zunehmend als schottischer Nationalheld stilisiert. In der medialen Rezeption wird er heute zumeist als unbeugsamer Widerstandskampfer dargestellt, der sich auch von wiederholten Ruckschlagen nicht von seinem Ziel abbringen lasst.
1846 entstand fur die Pariser Oper das Opern-Pasticcio Robert Bruce mit Musik von Gioacchino Rossini, in dem der schottische Freiheitskampf behandelt wird.
In der Begrabnisstatte Roberts, der Dunfermline Abbey, erinnert seit dem 19. Jahrhundert ein Gedenkstein und seit 1974 ein Bleiglasfenster mit Portrat an ihn. Bruchstucke seines – in der Reformation zerstorten – Grabmals werden im Museum of Scotland ausgestellt. Statuen von Robert the Bruce stehen heute unter anderem vor Edinburgh Castle, der Scottish National Portrait Gallery sowie auf dem Gelande der Schlacht von Bannockburn und vor Stirling Castle. Eine kunstlerische Darstellung von Robert the Bruce fand sich von 1981 bis 1989 auf den schottischen Ein-Pfund-Banknoten bzw. seit 1990 bis heute auf den 20-Pfund-Noten der Clydesdale Bank.
In einer Reihe historischer Romane taucht Robert the Bruce als Nebenfigur auf oder werden die um seine Person gebildeten Legenden verarbeitet. Der schottische Autor Nigel Tranter widmete zwischen 1969 und 1971 Roberts Leben und Wirken drei Romane, die 1985 als The Bruce Trilogy (in Englisch) erneut veroffentlicht wurden. Das Geschehen um das Herz des Konigs erzahlt Moritz Graf von Strachwitz in der Ballade Das Herz von Douglas mit dichterischer Freiheit. Der erste Band einer derzeit entstehenden Trilogie von Robyn Young ist 2011 in deutscher Sprache unter dem Titel Rebell der Krone erschienen. Nach Aussage der Schopfer der DC-Comicfigur Batman war Robert the Bruce eines der Vorbilder bei der Schaffung der Figur Bruce Wayne.
Der britische Film The Bruce von 1996 mit Sandy Welch in der Hauptrolle beschreibt den Aufstieg Roberts zum schottischen Konig und kulminiert in der Schlacht von Bannockburn. Im US-amerikanischen Film Braveheart von 1995 wird Bruce von Angus Macfadyen verkorpert und seine Rolle im Schottischen Unabhangigkeitskrieg – allerdings in stark fiktionalisierter Weise – angeschnitten. Der Film Outlaw King (2018) schildert das Leben Roberts und den schottischen Unabhangigkeitskampf von etwa 1301 bis 1307. Er beginnt mit Roberts Anerkennung der Herrschaft des englischen Konigs Eduard I. uber Schottland und seiner Heirat mit Elizabeth de Burgh, schildert dann den Beginn des Aufstandes und endet mit der Schlacht am Loudoun Hill. Im Film Robert the Bruce – Konig von Schottland (2019) wird dargestellt, wie Robert the Bruce nach einer Reihe militarischer Niederlagen zunachst den Freiheitskampf aufgibt, dann aber zu neuem Mut kommt, die Schotten zu einen und weiter um die Unabhangigkeit zu kampfen.
In der franzosischen Armee wird der Marche des soldats de Robert Bruce, durch schottische Soldner in franzosischen Diensten, zum Beispiel den Royal Ecossais, bekannt gemacht, bis heute gespielt. Wahrend es Aufnahmen vom Musikkorps der Bundeswehr gibt, wird der Marsch nur selten von Musikern der britischen Armee gespielt.
Siehe auch Stammtafel der Konige von Schottland
Literatur Aeneas James George Mackay: Bruce, Robert (1274–1329). In: Leslie Stephen (Hrsg.): Dictionary of National Biography. Band 7: Brown – Burthogge. MacMillan & Co., Smith, Elder & Co., New York City / London 1886, S. 117–128 (englisch, Volltext [Wikisource]).
Robert I., de Brus, or ‘The Bruce’. In: James Balfour Paul (Hrsg.): The Scots Peerage. Band 1: Abercorn–Balmerino. David Douglas, Edinburgh 1904, S. 7–8 (englisch, Textarchiv – Internet Archive – Im Kapitel: The Kings of Scotland).
Andreas Kalckhoff: Nacio Scottorum. Schottischer Regionalismus im Spatmittelalter. Lang, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-8204-6820-X (Die Studie behandelt den schottischen Unabhangigkeitskrieg 1296–1357 und ist die bisher einzige ausfuhrliche deutschsprachige Darstellung zu Robert Bruce. Mit umfangreicher Bibliographie. Textauszuge: kalckhoff.de).
G. W. S. Barrow: Robert Bruce and the Community of the Realm of Scotland. Edinburgh University Press, Edinburgh 1988, ISBN 0-85224-604-8 (Studie uber Bruce und die Idee einer schottischen Nation).
Bannockburn 1314 “Lets do or die”. In: Karfunkel Combat, 2. Ausgabe; ISSN 0944-2677.
Geoffrey Wallis Steuart Barrow: Robert I., Konig von Schottland (1306–1329). In: Lexikon des Mittelalters (LexMA). Band 7. LexMA-Verlag, Munchen 1995, ISBN 3-7608-8907-7, Sp. 886 f.
Alan Young: Robert the Bruce’s Rivals – The Comyns, 1212–1314. Tuckwell Press, Edinburgh 1997, ISBN 1-86232-053-5 (Geschichte der Comyns, die bedeutendsten Rivalen der Familie Bruce).
Ronald McNair Scott: Robert the Bruce – King of Scots. Canongate Books, Edinburgh 1999, ISBN 0-86241-616-7 (Biographie).
Alison Weir: Britain’s Royal Families – The complete genealogy. Pimlico Random House, 2002, ISBN 0-7126-4286-2.
G. W. S. Barrow: Robert I (1274–1329), king of Scots. In: Henry Colin Gray Matthew, Brian Harrison (Hrsg.): Oxford Dictionary of National Biography, from the earliest times to the year 2000 (ODNB). Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-861411-X; doi:10.1093/ref:odnb/3754 (Lizenz erforderlich), Stand: Oktober 2008.
Weblinks Robert I Bruce, King of Scotland auf thepeerage.com
Einzelnachweise
|
Robert I., englisch besser bekannt als Robert Bruce, auch Robert the Bruce (* 11. Juli 1274; † 7. Juni 1329 in Cardross, Dunbartonshire), war von 1306 bis zu seinem Tod 1329 Konig von Schottland. Die mittelalterliche schottisch-galische Schreibweise lautete Roibert a Briuis, die normannisch-franzosische Robert de Brus. Wahrend der Schottischen Unabhangigkeitskriege gegen England war er Anfuhrer der aufstandischen Schotten.
Robert war ein Ururururenkel Konig Davids I. und begrundete damit seinen Anspruch auf den schottischen Thron. Er gilt als einer der bedeutendsten Herrscher Schottlands.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_I._(Schottland)"
}
|
c-13933
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mercedes-Benz_R107"
}
|
||
c-13934
|
Die Windschutzscheibe (auch Frontscheibe) ist eine Glasscheibe, die dem Fuhrer eines Fahrzeuges die Sicht nach vorne ermoglicht und ihn vor Wind, Wetter und Teilchen im Luftstrom schutzt. Sie wird meist aus Verbundglas ausgefuhrt. Der Wechsel von Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG) zu Verbund-Sicherheitsglas fuhrte zu einer erhohten Sicherheit der Insassen. Die Anforderungen an Windschutzscheiben bzw. Frontscheiben sind hoher als die Anforderungen an alle anderen Scheiben. Dies liegt unter anderem daran, dass die Frontscheiben die ausgelosten Airbags abstutzen mussen und somit den Schutz der Fahrgaste bei einem Unfall maßgeblich beeinflussen. Die Anforderungen an die Scheibenklebstoffe sind bei Frontscheiben besonders hoch, weswegen oft Polyurethanklebstoffe eingesetzt werden.
Montage Die Windschutzscheibe wird in den Windschutzscheibenrahmen mit Gummiprofilen schwimmend befestigt oder bei modernen Fahrzeugen ein- oder aufgeklebt oder selten auch eingeschraubt. Sie tragt dann maßgeblich zur Torsionssteifigkeit eines Fahrzeuges bei und ist damit ein tragendes Teil der Karosserie.
Design Die Wolbung, Große und Tonung der Windschutzscheibe stellen außerdem ein wichtiges Designelement dar. Sie werden durch gesetzliche Vorgaben und das Herstellverfahren eingeschrankt.
Reinigung Man muss zwischen der Reinigung auf der Außenseite und der Reinigung auf der Innenseite der Windschutzscheibe unterscheiden. Auf der Außenseite erfolgt die Reinigung oft wahrend der Fahrt. Im Regen genugen meistens die Scheibenwischer, um die Windschutzscheibe (weitgehend) frei von Wasser zu halten und die Sicht des Fahrers zu gewahrleisten. Bei Nieselregen, beim Fahren auf feuchten Straßen und bei winterlichen Straßenverhaltnissen dient zur Reinigung der Scheibe die heute standardmaßige Scheibenwaschanlage. Diese kann auch bei trockenem Wetter zur Reinigung der Scheibe von Schmutz, Staub, toten Insekten und Vogelexkrementen eingesetzt werden. Weitere Moglichkeiten zur Reinigung der Windschutzscheibe von außen bieten sich beim Tankstopp mittels Waschwasser, Schwamm und Gummiwischer und im Rahmen der generellen Außenreinigung des Fahrzeugs, z. B. in einer Waschanlage. Die Entfernung von Eis geschieht gewohnlich vor Fahrtantritt mithilfe eines Eiskratzers.
Die Reinigung der Windschutzscheibe von innen ist gewohnlich seltener notig als von außen. Auf der Innenseite einer Windschutzscheibe bildet sich mit der Zeit ein zunachst kaum sichtbarer „Nebelschleier“, der sich aber im Lauf von wenigen Wochen so weit verstarken kann, dass er bei Gegenlicht mit tief stehender Sonne zu einer erheblichen Sichtbehinderung fuhrt. Einfache Gegenmaßnahme ist das gelegentliche, am besten vorsorgliche Abwischen der Innenseite der Scheibe (moglichst nicht wahrend der Fahrt) mit einem sauberen, trockenen Tuch. Bei starkerer Verschmutzung kann man auch ein Glasreinigungsmittel verwenden.
Beschlagschutz Zur Vermeidung des Beschlagens durch Feuchtigkeit kann die Windschutzscheibe mit Warmluft angestromt werden. Noch besser lassen sich die Scheiben mit eingeschalteter Klimaanlage beschlagfrei halten. Bei einigen PKW-Modellen kann die Scheibe elektrisch beheizt werden. Dies erfolgt entweder durch eine elektrisch leitende Beschichtung des Glases oder durch in die Verbundfolie eingelegte, sehr feine Drahte. Bei alteren Fahrzeugen, die oft eine noch nicht so leistungsfahige Luftungs-, Heizungs- oder Klimaanlage hatten, wurden auch Tucher oder Schwammchen mit Antifog verwendet.
Antenne Bei manchen Modellen ist eine Antenne fur das Autoradio in die Windschutzscheibe integriert.
Reparatur Bei Verbundglas kann man, im Gegensatz zum Einscheiben-Sicherheitsglas, kleinere Steinschlage oft in einer Fachwerkstatt reparieren lassen.
Literatur Kurt-Jurgen Berger, Michael Braunheim, Eckhard Brennecke: Technologie Kraftfahrzeugtechnik. 1. Auflage, Verlag Gehlen, Bad Homburg vor der Hohe, 2000, ISBN 3-441-92250-6
Dieter K. Franke: V.A.G Handbuch, Do it yourself, Gebrauchtwagenkauf-Zubehoreinbau-Pflege. 1. Auflage, ADAC Verlag GmbH, Munchen, 1984, ISBN 3-87003-227-8
ECE R43
Siehe auch Autoglas
Heckscheibe
Panoramascheibe
Windschutzscheibeneurocode
Tonneau-Windschutzscheibe
Automotive Replacement Glass Identification Centre
Weblinks
|
Die Windschutzscheibe (auch Frontscheibe) ist eine Glasscheibe, die dem Fuhrer eines Fahrzeuges die Sicht nach vorne ermoglicht und ihn vor Wind, Wetter und Teilchen im Luftstrom schutzt. Sie wird meist aus Verbundglas ausgefuhrt. Der Wechsel von Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG) zu Verbund-Sicherheitsglas fuhrte zu einer erhohten Sicherheit der Insassen. Die Anforderungen an Windschutzscheiben bzw. Frontscheiben sind hoher als die Anforderungen an alle anderen Scheiben. Dies liegt unter anderem daran, dass die Frontscheiben die ausgelosten Airbags abstutzen mussen und somit den Schutz der Fahrgaste bei einem Unfall maßgeblich beeinflussen. Die Anforderungen an die Scheibenklebstoffe sind bei Frontscheiben besonders hoch, weswegen oft Polyurethanklebstoffe eingesetzt werden.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Windschutzscheibe"
}
|
c-13935
|
Die Trieste war ein von Auguste Piccard konstruierter Bathyscaph, ein U-Boot, das speziell fur die Tiefseeforschung gebaut wurde.
Geschichte und Einsatz Erste Plane fur dieses Unterwasserfahrzeug entwickelte Piccard im Jahr 1952; es wurde in Italien hergestellt und am 1. August 1953 vom Stapel gelassen. Dieses Fahrzeug war anfangs fur Tauchtiefen bis zu 20.000 Fuß (6100 m) konzipiert.
Bereits am 30. September 1953 fuhrte die Trieste im Tyrrhenischen Meer bei Ponza einen Rekordtauchgang durch. Auguste Piccard und sein Sohn Jacques Piccard stießen dabei in ihrem Tauchboot auf eine Tiefe von 10.300 Fuß (3139 Meter) vor. Dieser Rekord wurde jedoch am 15. Februar 1954 durch den franzosischen Bathyscaphen FNRS-3 uberboten, der vor der Kuste des Senegal 4051 m tief tauchte.
1958 wurde das Boot von der US-Marine ubernommen und war an mehreren Suchaktionen nach verschollenen Schiffen und U-Booten beteiligt, unter anderem an der Suche nach dem verlorenen Atom-U-Boot USS Thresher. Ab 1958 wurde das Fahrzeug umgerustet, um fur Tauchgange in großeren Tiefen geeignet zu sein.
Die eigentliche Bathysphare (die Druckkorperkugel) wurde vom Unternehmen Krupp-Maschinenbau in Essen hergestellt. Sie ließ nunmehr Tauchfahrten bis zu maximal 36.000 Fuß (11.000 m) zu. Ein besonderes Sicherheitsmerkmal war der aus etlichen Stahlkugeln bestehende Teil des Ballasts, der von Elektromagneten gehalten wurde. Bei einem Ausfall der Stromversorgung hatten sich die Kugeln sofort gelost und das Boot ware selbsttatig aufgetaucht. Als Auftriebskorper dienten rund 85 m³ Benzin in einem zylinderformigen Blechtank.
Am 23. Januar 1960 war die Trieste das erste U-Boot, das im Marianengraben mit rund 10.910 m Tiefe das Challengertief, eine der tiefsten Stellen des Weltmeeres, erreichte und anschließend wieder auftauchte. In dieser Tiefe herrscht ein Druck von uber 1000 bar.
Die tiefste Stelle im Pazifik und in den gesamten Weltmeeren ist das Witjastief 1. Es befindet sich etwa 1850 km ostlich der Philippinen im sudwestlichen Teil des Marianengrabens und liegt nur etwa 112 m tiefer als die damals von der Trieste erreichte Tiefe.
Die Besatzung manovrierte die Trieste nur bis 4 m uber den Meeresboden, was wohl als Sicherheitsabstand diente; die 10.910 m Meerestiefe (je nach Quelle wird auch eine Tiefe von 10.916 m genannt) waren der Tauchrekord eines U-Boots, bis sie am 28. April 2019 von der Expedition „Five Deep“ mit dem U-Boot DSV Limiting Factor ubertroffen wurden. Nach der Tauchfahrt wurde dieses Meerestief selten in der Presse als Triestetief bezeichnet. Insassen waren der Schweizer Jacques Piccard und der Amerikaner Don Walsh.
In verschiedenen Nachschlagewerken wird falschlich eine Tiefe von uber 11.000 m angegeben. Die Differenz ist auf die fehlerhafte Kalibrierung des Tiefenmessgerates zuruckzufuhren, die im Sußwasser durchgefuhrt wurde.
Nach der Außerdienststellung des Bootes wurde der Druckkorper weiterverwendet und in den Nachfolger Trieste II eingepasst. Die Trieste ist heute im National Museum of the United States Navy in Washington, D.C. ausgestellt. Ein fehlerhafter Erprobungsguss des Druckkorpers wurde in den 1960er Jahren im Kruppwerk in Essen vor der Verschrottung gerettet. Die Innenausstattung wurde teils mit originalen Ersatzteilen nachgebaut, um moglichst gut dem Vorbild zu entsprechen. Das aufgeschnittene Modell steht heute in der Schifffahrtsabteilung des Deutschen Museums in Munchen.
Literatur Auguste Piccard: Uber den Wolken unter den Wellen. F.A. Brockhaus, Wiesbaden 1958, DNB 453771882.
Auguste Piccard: Earth, Sky and Sea. Oxford University Press, New York 1956 (Digitalisat im Internet Archive).
Ernst von der Laden: Auf den tiefsten Grund unserer Meere Piccard tauchte mit KRUPP-Kugel 11521 Meter In: Krupp Mitteilungen, Band 44, 1960, S. 16–18, OCLC 465353323.
Don Walsh: The Bathyscaph TRIESTE Technological and Operational Aspects,1958-1961. 27. Juli 1962, (englisch); archive.org.
Don Walsh: In the Beginning… A Personal View In: Marine Technology Society Journal, Band 43, Nr. 5, 2009, ISSN 0025-3324, S. 09–14, Digitalisat im Internet Archive (PDF; 5,96 MB).
John Michel: In the Trenches… Topside Remembrances by the Chief of the Boat, DSV Trieste In: Marine Technology Society Journal, Band 43, Nr. 5, 2009, ISSN 0025-3324, S. 20–22, Digitalisat im Internet Archive (PDF; 5,96 MB).
Alan J. Jamieson, Paul H. Yancey: On the Validity of the Trieste Flatfish: Dispelling the Myth In: The Biological Bulletin, Band 222, Nr. 3, 2012, ISSN 0006-3185, S. 171–175, doi:10.1086/BBLv222n3p171.
Colin Babb: An Oral History with Don Walsh In: Future Force Magazine, 2016, S. 28–35, Digitalisat im Internet Archive (PDF; 4,2 MB).
Norman Polmar, Lee J. Mathers: Opening the Great Depths: The Bathyscaph Trieste and Pioneers of Undersea Exploration Naval Institute Press, 2021, ISBN 978-1-68247-591-1.
Weblinks Ariane Sturmer: Tiefenrausch in der ewigen Nacht. Legendare Tauchexpedition. In: einestages. 21. Januar 2010, abgerufen am 2. Marz 2020.
Marc Tribelhorn: Reise in die ewige Dunkelheit. In: Neue Zurcher Zeitung. 26. Januar 2015, abgerufen am 15. Januar 2023.
Claudia Chemello: Conservation of the Trieste submarine at the National Museum of the United States Navy. (PDF; 7,5 MB) Naval History and Heritage Command, 2015, archiviert vom Original am 6. September 2019; abgerufen am 15. November 2022 (englisch).
Triest Programm Dive Log. (PDF; 4,2 MB) United States Naval Undersea Museum, 2014, abgerufen am 4. Oktober 2020 (englisch).
Einzelnachweise
|
Die Trieste war ein von Auguste Piccard konstruierter Bathyscaph, ein U-Boot, das speziell fur die Tiefseeforschung gebaut wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Trieste"
}
|
c-13936
|
Die Dobsinska ladova jaskyna (deutsch Dobschauer Eishohle) ist eine Eishohle in der Slowakei auf dem Gebiet der Gemeinden Dobsina (Dobschau) und Stratena (wortlich: die Verlorene) im Karst Spissko-gemersky kras innerhalb des Gebirgszuges Slovensky raj (Slowakisches Paradies). Sie zahlt zu den großten und interessantesten der wenigen Eishohlen Europas. Sie gibt außerdem einem Ortsteil von Stratena den Namen.
Sie befindet sich im Naturreservat Stratena auf dem Gebiet des Nationalparks Slowakisches Paradies. Sie ist durch die Stromungsaktivitaten des Baches Hnilec (Gollnitz) entstanden.
Geschichte Sie wurde am 15. Juni 1870 von den Dobschauer Burgern Eugen Ruffini (Jeno Ruffinyi, Bergbauingenieur), Andreas Mega, Gustav Lang und Nandor Feher entdeckt, die in einen geheimnisvollen Spalt hineinstiegen, aus dem schon immer ein eisiger Luftzug wehte.
Nur ein Jahr spater wurde die Hohle dank der begeisterten Ortsbewohner zuganglich gemacht. 1887 ist sie als eine der ersten in Europa elektrisch beleuchtet worden.
In den 1950er Jahren trainierten im dortigen Großen Saal neben anderen Eiskunstlaufern auch der beruhmte tschechoslowakische Eislaufer Karol Divin und die tschechoslowakische Eishockeynationalmannschaft.
2000 wurde die Hohle als Erweiterung der seriellen Welterbestatte Hohlen im Aggteleker und Slowakischen Karst ins UNESCO-Naturerbe aufgenommen.
Charakteristik Der Eingang befindet sich zirka 20 Minuten oberhalb des Talbodens auf dem Nordabhang des Berges Duca.
Von den 1.483 Metern Gesamtlange sind seit 1871 nur 475 Meter zuganglich. Eine Besichtigung (15. Mai bis 30. September) dauert etwas mehr als eine halbe Stunde. Der vertikale Niveauunterschied betragt 112 m. Unterhalb der Eishohle befindet sich eine um 1950 von Amateuren erforschte Tropfsteinhohle.
Die Eisausfullung kommt in Form von Bodeneis, Eisfallen, Eisstalagmiten und Saulen vor. Die Eisflache betragt 9.772 m², das Eisvolumen ist 110.100 m³.
Sehr interessant ist der Große Saal, in dem die Lufttemperatur −3,8 °C bis +0,5 °C und die Eisdicke 26,5 m betragt, sowie der Rieseneisblock, der einen Teil des Hohlensystems ausfullt (uber 100.000 Kubikmeter). In den Rieseneisblock ist eine Kapelle geschlagen worden. Außerhalb des Alpengebietes befinden sich nirgendwo anders in Europa mehr als 110.000 Kubikmeter Eis mit uber 25 Meter Dicke.
Das Eis halt sich dank der Hohlenform (der Gang fuhrt vom Eingang schrag nach unten) und kann in der Eishohle in der Form von Bodeneis, Eisfall, Eisstalagmiten und Eissaulen bewundert werden.
Weblinks Offizielle Website slowakischer Hohlen (slowakisch)
Webseite vom UNESCO-Weltkulturerbe (englisch)
Dobsinska Eishohle (englisch)
Einzelnachweise
|
Die Dobsinska ladova jaskyna (deutsch Dobschauer Eishohle) ist eine Eishohle in der Slowakei auf dem Gebiet der Gemeinden Dobsina (Dobschau) und Stratena (wortlich: die Verlorene) im Karst Spissko-gemersky kras innerhalb des Gebirgszuges Slovensky raj (Slowakisches Paradies). Sie zahlt zu den großten und interessantesten der wenigen Eishohlen Europas. Sie gibt außerdem einem Ortsteil von Stratena den Namen.
Sie befindet sich im Naturreservat Stratena auf dem Gebiet des Nationalparks Slowakisches Paradies. Sie ist durch die Stromungsaktivitaten des Baches Hnilec (Gollnitz) entstanden.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Dobšinská_ľadová_jaskyňa"
}
|
c-13937
|
Ein Stalagmit ist der vom Boden einer Hohle emporwachsende Tropfstein, sein Gegenstuck ist der von der Decke hangende Stalaktit (Eselsbrucken siehe Tropfstein#Eselsbrucken). Von Stalagnat spricht man, wenn beide Typen zusammengewachsen sind.
Beschreibung Ein Stalagmit ist ein Spelaothem, bei dem durch auftropfendes kohlensaurehaltiges Wasser, das Calcit ablagert, ein Tropfstein entsteht, der verschiedene Formen annehmen kann. Die Intensitat der Tropfstelle, aber auch die Fallhohe des Tropfwassers und die Bodenbeschaffenheit haben Einfluss auf die Form des Stalagmits.
So unterscheidet man die gleichmaßig schlanken Kerzenstalagmiten und die kegelformigen Palmstammstalagmiten. Die Kerzenstalagmiten entstehen durch eine gleichmaßige Losungszufuhr und konnen bei geringem Durchmesser mehrere Meter Hohe erreichen. Die kegelformigen Stalagmiten entstehen durch eine sehr starke Sickerwasserzufuhr und konnen an der Basis mehrere Meter Durchmesser aufweisen, wie zum Beispiel der Millionar in der Sophienhohle.
Die Fallhohe wiederum hat einen Einfluss auf das obere Ende des Tropfsteins. Ein gerundetes Ende entsteht bei geringer Fallhohe des Wassers; bei zunehmender Fallhohe wird das Ende flacher und kann im Extremfall nach innen gewolbt sein.
Weiterhin gibt es Tropfsteinformen, die von diesen Grundwerten abweichen, wie etwa ein Stalagmit im Schulerloch, dessen Spitze als Wasserbecken ausgeformt ist, oder der Vesuv in der Eberstadter Tropfsteinhohle, der durch kohlensaurehaltiges Wasser gebildet wurde, aber jetzt durch kohlensaurefreies Wasser langsam wieder abgetragen wird.
Die Analyse von Stalagmiten kann das Ablagerungsgeschehen chronologisch erfassen und damit Ruckschlusse auf Palaoklimatologie und Vegetationsgeschichte erlauben.
Literatur Stephan Kempe: Welt voller Geheimnisse – Hohlen. Reihe: HB Bildatlas Sonderausgabe. Hrsg. v. HB Verlags- und Vertriebs-Gesellschaft, 1997, ISBN 3-616-06739-1
Hardy Schabdach: Die Sophienhohle im Ailsbachtal – Wunderwelt unter Tage. Verlag Reinhold Lippert, Ebermannstadt 1998, ISBN 3-930125-02-1.
Weblinks Einzelnachweise
|
Ein Stalagmit ist der vom Boden einer Hohle emporwachsende Tropfstein, sein Gegenstuck ist der von der Decke hangende Stalaktit (Eselsbrucken siehe Tropfstein#Eselsbrucken). Von Stalagnat spricht man, wenn beide Typen zusammengewachsen sind.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Stalagmit"
}
|
c-13938
|
Ernst Eberhard Ihne, ab 1906 von Ihne, (* 23. Mai 1848 in Elberfeld; † 21. April 1917 in Berlin) war ein deutscher Architekt und preußischer Hofbaurat. Zu seinen Hauptwerken gehoren der Konigliche Marstall am Schloßplatz, das Kaiser-Friedrich-Museum auf der Museumsinsel und die Konigliche Bibliothek an der Prachtstraße Unter den Linden in Berlin.
Leben und Werk Ihne wurde als Sohn des Altphilologen und Historikers Wilhelm Ihne geboren. Nach seiner Schulzeit studierte er an der Bauschule der Technischen Hochschule Karlsruhe, der Berliner Bauakademie und an der Ecole des beaux-arts in Paris. Mit seinem Partner Paul Stegmuller eroffnete er 1877 in Berlin ein „Buro fur Architektur und Kunstgewerbe“, das hauptsachlich Landhauser, aber auch Mobel entwarf. Er war 1879 Grundungsmitglied im Verein Berliner Architekten.
Ihne bevorzugte anfanglich die deutsche Renaissance mit franzosischen Einflussen. Seine Hauptwerke in Berlin entstanden im Stil des Neobarock, wahrend die Werke seiner Spatphase (nach 1910) vom englischen Landhausstil beeinflusst sind. Als preußischer Hofbaumeister unter Friedrich III. und Wilhelm II. war Ihne einer der bekanntesten Vertreter der wilhelminischen Architektur im deutschen Kaiserreich.
Erste Auftrage waren
1878–1885 der Bau des Neuen Jagdschlosses Hummelshain (mit Paul Stegmuller) und
1886–1887 die Einrichtung des Offizierskasinos des Leib-Garde-Husaren-Regiments in Potsdam.
Letztere fand 1888 die Bestatigung des Kaisers Wilhelm I. und in demselben Jahr ernannte ihn Kaiser Friedrich III. nach seiner Thronbesteigung zum Hofarchitekten. Ihne, der sich zwischenzeitlich von Stegmuller getrennt hatte, erhielt von der Witwe des Kaisers, der Kaiserin Friedrich
1888 den Auftrag zum Bau des Schlosses Friedrichshof bei Kronberg im Taunus.
1894 wurde er mit der Erweiterung des Palais Schaumburg in Bonn beauftragt, dem spateren Bundeskanzleramt.
1895–1897 entstand im Frankfurter Westend die Villa Bonn, die Sitz der Frankfurter Gesellschaft fur Handel, Industrie und Wissenschaft ist.
1897–1898 entstand in Berlin-Grunewald die Villa Mendelssohn, Bismarckallee 23 (nach Umbauten in den 1960er Jahren vom St.-Michaels-Heim der Johannischen Kirche genutzt).
1900–1902 entstand die Anlage des Kaiser-Friedrich-Denkmals im Stadtpark von Kronberg im Taunus.
1904–1905 Villa Felseck in Heidelberg (Wohnhaus seines Vaters).
Fur Wilhelm II. plante er in Berlin
im Berliner Schloss den Ausbau der kaiserlichen Wohnung (ab 1888; 1945 ausgebrannt, 1950 gesprengt) und den Umbau und die Erweiterung des Weißen Saals (1891–1895; 1950 bei der Sprengung des Schlosses zerstort),
den Neuen Marstall (1897–1900; in vereinfachter Form erhalten),
das Kaiser-Friedrich-Museum (1898–1904; erhalten, jetzt „Bode-Museum“),
die Monbijou-Brucken (1903),
die Umbau und Erganzungsbau des Palais Arnim als Sitz der Preußischen Akademie der Kunste (1905–1907; das Ausstellungsgebaude erhalten, das 1945 ausgebrannte Palais 1960 abgerissen),
die Staats- und Universitatsbibliothek Unter den Linden (1903–1914; bis auf den Hauptlesesaal und den Universitatslesesaal erhalten),
das Kaiserin-Friedrich-Haus im Auftrag der Kaiserin-Friedrich-Stiftung fur das arztliche Fortbildungswesen (1904–1906; erhalten),
die ersten Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin-Dahlem (1911–1916), die heute von der Freien Universitat bzw. der Max-Planck-Gesellschaft genutzt werden.
Fur den Familiensitz des Fursten Donnersmarck, der stets gute Kontakte zu Wilhelm II. pflegte, entwarf Ernst von Ihne
den Kavalierspalast im oberschlesischen Neudeck (1903–1906).
Der Kaiserbahnhof in Potsdam wurde von 1905 bis 1909 nach seinen Planen erbaut.
Prinz Heinrich von Preußen ließ von Ihne
1902–1904 das Gutshaus Hemmelmark in Schleswig-Holstein errichten (erhalten, Privatbesitz).
Unweit Remagen entstand nach Entwurfen von Ihne
1906–1908 das uber dem Rhein thronende Schloss Ernich, das von 1955 bis 1999 als Residenz des franzosischen Botschafters diente.
Der Gutsbesitzer Johannes Schlutius (1861–1910) ließ nach Ihnes Planen
1906–1907 den Erweiterungsbau des Herrenhauses Karow bei Plau am See errichten.
In Frascati bei Rom erfolgte nach seinen Planen
1908–1910 der Umbau der Villa Falconieri.
Gustav Krupp von Bohlen und Halbach ließ von Ihne
1912–1914 die Große Halle der Villa Hugel in Essen umbauen.
Weitere Bauten, die nach Ihnes Planen errichtet wurden, aber nicht mehr existieren:
1881: Einrichtung des Cafes Keck in Berlin, Leipziger Straße 96 (mit Paul Stegmuller, vor 1917 abgerissen)
1885: Wohn- und Geschaftshaus Schwartz mit Restaurant Lowenbrau in Berlin, Ecke Charlottenstraße / Franzosische Straße (mit Paul Stegmuller)
1890–1891: Wohnhaus fur Robert Dohme in Berlin, Handelstraße 1 (kriegszerstort)
1891: Kraftzentrale der Siemens-Werke in Berlin-Charlottenburg (zerstort)
1893: Schloss Primkenau (kriegszerstort)
1898: Villa fur Carl Furstenberg in Berlin-Grunewald, Koenigsallee 53 (kriegszerstort)
1895–1896: Palais fur Fritz von Friedlaender-Fuld in Berlin, Pariser Platz 5a (nach Kriegsschaden 1960 abgerissen)
1901–1903: Denkmal fur Kaiser Friedrich III. und Kaiserin Viktoria in Berlin, vor dem Brandenburger Tor (kriegsbeschadigt und nach 1950 abgetragen)
1907–1908: Umbau eines Wohnhauses als Italienische Botschaft in Berlin-Tiergarten, Viktoriastraße 36 (kriegszerstort)
Kaiser Wilhelm II. erhob ihn am 27. Februar 1906 in den erblichen Adelsstand und verlieh ihm die Titel Wirklicher Geheimer Oberhofbaurat (am 23. Oktober 1912) und Exzellenz (am 22. Marz 1914).
Am 26. Januar 1913 kollidierte er mit seinem Automobil mit einer entgegenkommenden Straßenbahn, nachdem er vom Hohenzollerndamm aus in den Fehrbelliner Platz einbiegen wollte. Da er jedoch nur leichte Verletzungen in Form von Schnittwunden am Mund erlitt, konnte er spater seine Ruckfahrt mit einem anderen Automobil fortsetzten.
Ernst von Ihne starb am 21. April 1917 im Alter von 68 Jahren in seiner Wohnung in der Viktoriastraße 12. Er wurde anschließend in der St.-Hedwigs-Kathedrale beigesetzt. 1956 kam es zur Umbettung seiner sterblichen Uberreste auf den St.-Hedwig-Friedhof an der Liesenstraße. Da dieses Grab spater im Bereich des Grenzstreifens an der Berliner Mauer lag, wurde es eingeebnet.
Ehrungen 1888: Hofarchitekt
1896: Geheimer Oberhofbaurat
1906: erblicher Adelsstand
1912: Wirklicher Geheimer Oberhofbaurat
1913: Große Goldene Medaille fur Kunst
1914: Excellenz
Die Ihnestraße im Ortsteil Dahlem des Berliner Bezirks Steglitz-Zehlendorf ist seit dem 16. August 1928 nach ihm benannt.
Literatur Hans Reuther: Ihne, Ernst von. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 10, Duncker & Humblot, Berlin 1974, ISBN 3-428-00191-5, S. 128 f. (Digitalisat).
Christina Schmitz: So ein Bau wie die Staatsbibliothek Unter den Linden, der macht was her. Zum 100. Todestag des Architekten Ernst von Ihne. In: Bibliotheksmagazin, Mitteilungen aus den Staatsbibliotheken in Berlin und Munchen. Nr. 1, 2017, ZDB-ID 2217966-5, S. 43–46 (staatsbibliothek-berlin.de [PDF]).
Oliver Sander: Die Rekonstruktion des Architektennachlasses von Ernst von Ihne (1848–1917). Berlin 2000 (Dissertation, Humboldt-Universitat, Berlin 2001).
Helmut Caspar: Umstrittener Architekt Kaiser Wilhelms II. In: Berlinische Monatsschrift (Luisenstadtischer Bildungsverein). Heft 4, 2000, ISSN 0944-5560, S. 91–95 (luise-berlin.de).
Uwe Kieling: Berliner Baubeamte und Staatsarchitekten im 19. Jahrhundert. Biographisches Lexikon. Kulturbund der DDR, Berlin 1986, S. 49 f.
Weblinks Literatur von und uber Ernst von Ihne im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und uber Ernst von Ihne in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Suche nach „Ernst von Ihne“ im Online-Katalog der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Einzelnachweise
|
Ernst Eberhard Ihne, ab 1906 von Ihne, (* 23. Mai 1848 in Elberfeld; † 21. April 1917 in Berlin) war ein deutscher Architekt und preußischer Hofbaurat. Zu seinen Hauptwerken gehoren der Konigliche Marstall am Schloßplatz, das Kaiser-Friedrich-Museum auf der Museumsinsel und die Konigliche Bibliothek an der Prachtstraße Unter den Linden in Berlin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_von_Ihne"
}
|
c-13939
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bodemuseum"
}
|
||
c-13940
|
Der Todesmarsch von Bataan war ein 1942 von japanischen Soldaten an amerikanischen und philippinischen Kriegsgefangenen verubtes Kriegsverbrechen in der Fruhphase des Pazifikkriegs (Zweiter Weltkrieg) auf den Philippinen.
Vorgeschichte Nachdem die japanische Flotte am 7. Dezember 1941 Pearl Harbor angegriffen hatte, begannen die japanischen Streitkrafte gleichzeitig mit der Invasion mehrerer Lander des sudostasiatischen Raums. Dabei kam es zur Invasion der Philippinen.
Die philippinischen und US-amerikanischen Soldaten wurden uberrannt, was das US-Kriegsministerium veranlasste, General Douglas MacArthur von den Philippinen abzuberufen und ihn zum Oberbefehlshaber der alliierten Truppen im Sudwestpazifik zu ernennen. Er wurde durch Jonathan Wainwright ersetzt. Etwa 14.000 Soldaten der US-Marineinfanterie und 2.000 philippinische Panzersoldaten konnten auf der Halbinsel Bataan und der vorgelagerten Insel Corregidor ein letztes Widerstandsnest bilden.
Kapitulation Am 9. April 1942 musste sich Generalmajor Edward P. King, der nun auf Bataan das Kommando fuhrte, mit rund 70.000 Mann seiner aus US-Amerikanern und Philippinern bestehenden Truppen den japanischen Angreifern unter Homma Masaharu ergeben, da kaum noch Trinkwasser und Nahrung zur Verfugung standen. Einige Verteidiger konnten sich ins Meer retten, wo sie von einem amerikanischen Kanonenboot an Bord genommen und nach Corregidor gebracht wurden. Die an Land Verbliebenen zerstorten, so weit es ging, ihre Schiffe und Waffen und begaben sich in die Hande der Japaner. Dadurch waren diese mit einer unerwartet hohen Anzahl an ausgehungerten, kranken und abgemagerten Gefangenen konfrontiert, die die Anzahl der eigenen Truppen weit ubertraf.
Der Marsch Die Gefangenen wurden gezwungen, einen knapp 100 km langen und sechs Tage dauernden Marsch nach Norden zur Eisenbahn-Verladestation San Fernando anzutreten. Von dort aus ging es weiter nach Norden in die Provinz Tarlac zum Gefangenenlager Camp O’Donnell.
Was wahrend des Marsches vor sich ging, wurde spater als eines der großten Kriegsverbrechen der Japaner im Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Da Japan die 1929 beschlossene Genfer Konvention uber die Behandlung von Kriegsgefangenen nicht unterzeichnet hatte, fuhlte man sich nicht daran gebunden. Zudem hatten Kriegsgefangene in den Augen der Japaner ihre Ehre verloren, da sie nicht wie sie selbst bis zum Tode gekampft hatten. Entsprechend behandelten die Japaner ihre Gefangenen. Wer auf dem Marsch vor Erschopfung stehenblieb oder zu Boden fiel, wurde erschossen, gekopft oder mit dem Bajonett erstochen. Wahllos wurden einzelne Gefangene oder ganze Truppenteile der Orientalischen Sonnenbehandlung ausgesetzt: Sie mussten sich ohne Kopfbedeckung auf den Boden setzen und dort mehrere Stunden in der prallen Sonne still sitzen bleiben. Wer umfiel, wurde umgebracht. Marschiert werden musste den ganzen Tag uber. Wer das vorgegebene Tempo nicht hielt, wurde von den Bewachern drangsaliert, schneller zu gehen. Nachts konnten sich die Gefangenen auf freiem Feld hinlegen. Am fruhen Morgen erfolgte ein Weckruf und der Treck zog weiter.
Auf dem ganzen Marsch gab es kaum Verpflegung und Wasser vonseiten der Japaner. Einheimische, die versuchten, den Gefangenen Nahrungsmittel zuzustecken, wurden erschossen. Als der Zug an einem Fluss vorbeizog, rannten viele Soldaten zum frischen Wasser. Sie wurden ausnahmslos erschossen. Erst an den letzten beiden Tagen verteilten die Aufseher Reisballchen, jeweils eines pro Mann und Tag.
Unterstutzten sich die Gefangenen zu Beginn noch gegenseitig, indem beispielsweise Kranke und Verletzte in Decken gelegt und von Kameraden weiter getragen wurden, ging es gegen Ende fur jeden nur noch ums eigene Uberleben. Hinzu kam, dass die letzte amerikanische Bastion auf Corregidor begann, mit Granaten auf Bataan zu feuern. Etliche der Marschierer fielen so dem eigenen Beschuss zum Opfer.
Unter den Gefangenen begannen sich Krankheiten wie Malaria und Ruhr auszubreiten. Viele fielen der Dehydration und dem Hunger zum Opfer. Von den ursprunglich 66.000 erreichten nur knapp 54.000 das Ziel. Die Uberlebenden des Todesmarsches wurden zu Zwangsarbeit herangezogen. Nach Kriegsende kehrten nur 15.000 GIs in die USA zuruck.
Nachspiel Am 6. Juni 1942 sprach die japanische Besatzungsmacht eine Amnestie gegenuber den philippinischen Gefangenen aus und ließ sie frei. Die amerikanischen Soldaten wurden in das Gefangenenlager Cabanatuan in der Provinz Nueva Ecija uberfuhrt.
Nach einiger Zeit in diesem Lager wurden die gefangenen Soldaten auf elf Schiffe verladen, die spater als Hollenschiffe bezeichnet wurden. Sie sollten die Gefangenen nach Busan in Korea bringen. Die Soldaten mussten eingepfercht 33 Tage an Bord wahrend der Uberfahrt verbringen. Niederlandische U-Boote, deren Besatzungen nichts von den Kriegsgefangenen an Bord wussten, griffen die Schiffe an und versenkten sechs von ihnen.
Nach Kriegsende verurteilte ein amerikanisches Kriegsgericht den japanischen Kommandanten Homma Masaharu wegen schwerer Kriegsverbrechen zum Tod. Ob er direkte Befehle zu Misshandlungen gegeben hatte, konnte nicht geklart werden. Zumindest tolerierte er die unmenschlichen Handlungen seiner Untergebenen und unterband sie nicht. Homma wurde am 3. April 1946 außerhalb von Manila hingerichtet.
Erinnerung Im Barangay O’Donnell (Gemeinde Capas) wurde 1991 von der philippinischen Prasidentin Corazon Aquino die nationale Gedenkstatte Capas National Shrine (Paggunita Sa Capas) eingeweiht. Sie erinnert an den Todesmarsch der amerikanischen und philippinischen Soldaten im Jahr 1942. Zu Ehren der Toten wird jedes Jahr am 9. April eine Gedenkveranstaltung durchgefuhrt.
Des Weiteren findet seit 1989 jahrlich auf der White Sands Missile Range (WSMR) der Bataan Memorial Death March statt. In Gedenken an den Todesmarsch legen die Teilnehmer in unterschiedlichen Kategorien (zivil, militarisch, mit und ohne Gepack) eine Strecke von 26,2 Meilen (42,16 km – Green Route) bzw. 14,2 Meilen (22,85 km – Blue Route) im Fußmarsch durch die staubige und trocken-heiße Wuste New Mexicos zuruck und uberwinden dabei ca. 550 positive Hohenmeter.
Der philippinische Regisseur Adolfo Alix Jr. drehte einen Kriegsfilm uber den Todesmarsch von Bataan mit dem Titel Death March, der 2013 in der Sektion „Un Certain Regard“ auf dem Filmfestival in Cannes lief.
Literatur James Bollich: Bataan Death March: A Soldier’s Story. Pelican Publishing Company, 2003, ISBN 1-58980-167-9.
Wm. E. Dyess, Charles Leavelle, Stanley L. Falk: Bataan Death March: A Survivor’s Account. University of Nebraska Press, 2002, ISBN 0-8032-6633-2.
Kristin Gilpatrick: Footprints in Courage: A Bataan Death March Survivor’s Story. Badger Books, 2002, ISBN 1-878569-90-2.
Joseph Quitman Johnson: Baby of Bataan: Memoir of a 14 Year Old Soldier in World War II. Omonomany, 2004, ISBN 1-59096-002-5.
Donald Knox: Death March: The Survivors of Bataan. Harvest/HBJ Book, 2002, ISBN 0-15-602784-4.
Michael und Elizabeth M. Norman: Tears in the Darkness. The Story of the Bataan Death March and its Aftermath. Farrar, Straus & Giroux, 2009, ISBN 978-0-374-27260-9.
Hampton Sides: Das Geisterkommando. 1945 im Dschungel Asiens: Die Geschichte einer hochdramatischen Rettungsaktion. Wilhelm Goldmann Verlag, Munchen 2002, ISBN 3-442-15189-9.
Lester I. Tenney: My Hitch in Hell: The Bataan Death March. Brassey’s Inc, 2000, ISBN 1-57488-298-8.
Weblinks Bataan, Corregidor, and the Death March: In Retrospect (Memento vom 2. Juli 2010 im Internet Archive) (englisch)
Projektseite von Elizabeth Marie Himchak (Memento vom 16. Oktober 2009 im Internet Archive) (englisch)
Ein Uberlebender des Todesmarsches berichtet (englisch)
Bataan Memorial Death March (englisch)
Einzelnachweise
|
Der Todesmarsch von Bataan war ein 1942 von japanischen Soldaten an amerikanischen und philippinischen Kriegsgefangenen verubtes Kriegsverbrechen in der Fruhphase des Pazifikkriegs (Zweiter Weltkrieg) auf den Philippinen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Todesmarsch_von_Bataan"
}
|
c-13941
|
Die Bleriot XI war ein einsitziges Flugzeug des franzosischen Luftfahrtpioniers Louis Bleriot.
Aufbau Der Rumpf der Maschine bestand aus einem mit Stahldrahten verspannten Fachwerk aus Eschenholz, das Tragflachengerust war ebenfalls in Holzbauweise aufgebaut und mit Stoff bespannt. Das Hauptfahrwerk bestand aus den zwei großen Radern eines Fahrrades, erganzt durch ein kleineres Heckrad, angebracht unter dem hinteren Rumpfdrittel.
Beim Erstflug am 23. Januar 1909 war die Maschine mit einer zusatzlichen Stabilisierungsflosse auf dem vorderen Teil des Rumpfes ausgestattet, die Bleriot jedoch mangels Effektivitat wieder entfernte. Angetrieben war die XI zu dieser Zeit mit einem R.E.P.-Flugmotor mit einer Leistung von 21 kW (28 PS), der aber vor dem zweiten Flug, der am 27. Mai 1909 stattfand, gegen einen Anzani-Motor mit 18,4 kW (25 PS) ausgetauscht wurde.
Verwendung 1908 wurde von Louis Bleriot sein erfolgreichstes Modell, die Bleriot XI, ein Eindecker, entworfen. Zuvor hatte der ehrgeizige franzosische Luftfahrt-Pionier fast ein ganzes Jahrzehnt sein gesamtes Vermogen in die Entwicklung eines einsatzfahigen Flugzeuges investiert. Im Dezember 1908 stellte Bleriot auf der Luftfahrtausstellung in Paris das Flugzeug mit einem 7-Zylinder-R.E.P.-Motor aus, der 35 PS leistete.
Im Jahre 1909 ersetzte er den 23 PS starken Motor durch einen 25 PS starken Motor und stellte am 26. Juni 1909 einen europaischen Flugdauerrekord von 36 Minuten und 55 Sekunden auf. Einen Monat spater, am 25. Juli 1909, gelang ihm der Flug uber den Armelkanal, mit dem er den Cross Channel Prize der Daily Mail gewann und international beruhmt wurde. Als Folge dieses Uberfluges entstand eine große Nachfrage nach diesem Modell, die noch gesteigert werden konnte, als Louis Bleriot am 24. August 1909 bei der Flugwoche in Reims fur den Veranstaltungs-Rundkurs von 10 km mit einer Flugzeit von 8 Minuten und 4,4 Sekunden (Durchschnittsgeschwindigkeit 74,318 km/h) den Rundenrekord aufstellte.
Eine von Jorge Chavez Dartnell geflogene Bleriot XI startete am 23. September 1910 oberhalb von Brig (Schweiz), uberflog erstmals den 2006 m uber dem Meeresspiegel gelegenen Simplon-Pass und verungluckte anschließend bei der Landung in der Nahe von Domodossola (Italien). Am 24. Januar 1913 uberflog der Schweizer Flugpionier Oskar Bider auf der Route Pau (Frankreich) – Madrid (Spanien) erstmals die Pyrenaen.
1911 beschaffte die deutsche Heeresverwaltung eine Bleriot XI als Schulflugzeug.
Ende 1913 hatte Bleriot bereits 800 Maschinen ausgeliefert. Hinzu kamen zahlreiche Lizenzbauten in Italien und Großbritannien (Humber Limited). Zu Anfang des Ersten Weltkriegs wurde die Bleriot sogar als Aufklarungs- oder Artilleriebeobachtungsflugzeug kurzfristig eingesetzt, da sie dem Beobachter ein gutes Sichtfeld bot.
1915 wurden aber die Bleriot XI vom Frontdienst abgezogen und dienten nur noch als Schulungsflugzeuge wie in der Flugschule in Issy-les-Moulineaux.
Eine zweisitzige Bleriot XI mit Gnome-T-9-Umlaufmotor (Neunzylinder-Viertaktmotor mit 100 PS bei 1200/min) Baujahr 1914 war das erste Flugzeug der Schweizer Luftwaffe. Die Maschine war gebraucht erworben worden und diente bis Ende 1917 der Grenzkontrolle und dem Pilotentraining. Die Bewaffnung bestand aus einem seitlich an der Maschine angebrachten Karabiner. Die Ausmusterung erfolgte wegen Materialermudung der aus Holz aufgebauten Zelle. Der Motor dieses Flugzeugs ist heute im Flieger-Flab-Museum in Dubendorf bei Zurich, dem Museum der Fliegertruppen der Schweizer Armee, ausgestellt.
Wirtschaftlicher Erfolg Vor dem historischen Kanalflug brach Bleriot mit dieser Maschine bereits verschiedene Langstreckenrekorde.
Der Flug uber den Armelkanal leitete eine erhebliche Nachfrage nach der XI ein; so konnte Bleriot von diesem Flugzeug allein im Jahr 1913 ca. 800 Stuck bei einer Gesamtproduktion franzosischer Flugzeuge von ca. 1.300 Stuck verkaufen. Um die Nachfrage befriedigen zu konnen, ließ er das Flugzeug auch von Subunternehmern produzieren.
Schon bald interessierten sich auch verschiedene Luftwaffen fur Bleriots Maschine. So wurde die XI in den Jahren 1911 und 1912 von der italienischen Luftwaffe in der Cyrenaika und in Libyen gegen das Osmanische Reich eingesetzt.
Aus der XI entwickelte Bleriot ein zweisitziges Modell mit vergroßerten Abmessungen und erheblich starkerer Motorisierung, XI-2 genannt. Von der Bleriot XI-2 wurden 104 Maschinen in Großbritannien und 70 in Italien in Lizenz gefertigt. Mit der Bleriot XI-2 wurden mit Beginn des Ersten Weltkrieges erstmals von Hand kleine Bomben und Fliegerpfeile auf Bodenziele abgeworfen.
Beide Ausfuhrungen waren zu Beginn des Ersten Weltkrieges bei der Armee de l’air in Dienst. Mittlerweile wurde die XI auch in Lizenz in Italien und in England gebaut.
Anfang des Jahres 1915 waren die meisten XI aus dem Dienst in den ersten Linien entfernt und hauptsachlich in Flugschulen im Einsatz.
Technische Daten Varianten XI-BG (Bleriot-Gouin): zweisitziger Schirmeindecker (Parasol), konzipiert als Aufklarungsflugzeug mit besserem Sichtfeld fur den Beobachter
XI-3: Dreisitzer mit einem 88 kW (120 PS) starken Motor
XI E1: einsitziges Schulflugzeug
XI-2bis: Ausfuhrung mit zwei Sitzplatzen nebeneinander
XI R1: da bei dieser Maschine ein großer Teil der Bespannung entfernt wurde, war sie nicht mehr flugfahig und diente lediglich zu Rollubungen, daher der Spitzname „Pingouin“
Die XI heute Aufgrund der besonderen Bedeutung, die dieses Flugzeug fur die Entwicklung der Luftfahrt hatte, sind auch heute noch viele – oft auch flugfahige – Nachbauten weltweit zu finden.
Die alteste noch fliegende Bleriot XI wurde von dem schwedischen Flugkapitan Mikael Carlson Ende der 1980er Jahre in einer Scheune gefunden und von ihm wieder in einen flugfahigen Zustand gebracht. Es handelt sich dabei um eine sogenannte Thulin-Bleriot, die im Zeitraum von 1914 bis 1918 von dem schwedischen Flugzeughersteller Dr. Enoch Thulin in Lizenz gebaut wurde.
Im Fliegermuseum Altenrhein am Bodensee (Schweiz) ist ein flugtuchtiger Nachbau einer Bleriot XI von 1910 ausgestellt, die nach Originalplanen und unter Verwendung eines Originalmotors und -fahrwerks gebaut wurde.
Im Fliegenden Museum in Großenhain befindet sich eine weitere flugfahige Replika, nach Originalplanen gebaut und angetrieben von einem Salmson-A5A-Motor.
Drei verschiedene Ausfuhrungen der XI sind z. B. im Musee de l’air et de l’espace am Flughafen Le Bourget zu sehen. Eine weitere Originalmaschine aus dem Jahre 1909 befindet sich im Deutschen Museum in Munchen in der Abteilung „Historische Luftfahrt“. Sie stammt aus einer Munchner Flugschule und wurde dem Museum 1912 geschenkt.
Am 25. Juli 2009, dem 100. Jahrestag von Bleriots Uberquerung des Armelkanals, wiederholte der Franzose Edmond Salis die Uberquerung in einem originalgetreuen Nachbau der Maschine. Er brauchte zwar einige Minuten langer als Louis Bleriot seinerzeit, dafur uberstand aber das Fahrwerk seines Flugzeugs die Landung ohne Schaden. Im Jahre 1909 war es bei der Landung eingeknickt, was aber dem Erfolg der Aktion keinen Abbruch tat. Bleriot erhielt seinerzeit die von der britischen Tageszeitung Daily Mail ausgelobten 1000 Pfund (entspricht heute ca. 141.000 Euro) fur den ersten erfolgreichen Flug uber den Armelkanal.
Siehe auch Liste von Flugzeugtypen
Geschichte der Luftfahrt
Weblinks Mikael Carlson Flying Machines (englisch)
Einzelnachweise
|
Die Bleriot XI war ein einsitziges Flugzeug des franzosischen Luftfahrtpioniers Louis Bleriot.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Blériot_XI"
}
|
c-13942
|
Der Armelkanal (kurz auch Der Kanal; englisch English Channel, wortlich ‚Englischer Kanal‘; franzosisch La Manche, wortlich ‚Der Armel‘; bretonisch Mor Breizh, wortlich ‚Das Meer der Bretagne‘; kornisch Mor Bretannek, wortlich ‚Britische See‘) ist ein Meeresarm des Atlantiks und verbindet diesen uber die Straße von Dover mit der Nordsee.
Name Der etwa 560 Kilometer lange Armelkanal setzt als Meeresarm den Atlantik in Richtung Osten fort und verjungt sich dabei wie ein Kleidungsarmel. Dies erklart auch den deutschen Namen Armelkanal, evtl. auch als Ubersetzung aus dem Franzosischen.
Die Romer nannten das Seegebiet in der Antike Oceanus Britannicus, was unter anderem bei Claudius Ptolemaus belegt ist. Dieser Name wurde auch beinahe das gesamte Mittelalter hindurch benutzt oder in die jeweilige Sprache ubersetzt. Eine Bezeichnung, die auf Englischer Kanal hindeutet, findet sich vermutlich erstmals auf einer italienischen Karte von 1450 als Canalites Anglie. Diese Bezeichnung wurde auch auf den Karten der damals in Nordeuropa fuhrenden Seefahrtsnation auf Niederlandisch als Het Engelse Kanaal benutzt, die sich seit spatestens dem 18. Jahrhundert auch in Großbritannien als The English Channel durchsetzte. Englischsprechende Nordwest- und Westeuropaer lassen meistens die nahere Bestimmung ganz weg, wenn eindeutig ist, welcher Kanal gemeint ist.
Angesichts der wachsenden Rivalitat zwischen Frankreich und England zum Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit war Frankreich jedoch nicht dazu bereit, mehrere hundert Kilometer der eigenen Kustengewasser „englisch“ zu nennen. Bis zum 17. Jahrhundert entwickelte sich daher, inspiriert durch die Armelform der Kustenlinie, der franzosische Name La Manche.
Das franzosische Departement Manche reicht bis zur Kanalmitte und wird seit 1790 nach dem Kanal bezeichnet.
Geographie Der Armelkanal liegt zwischen Großbritannien im Norden und Frankreich im Suden. Nach der Definition der International Hydrographic Organization wird die Ostgrenze zur Nordsee durch eine Linie gebildet, die etwa zehn Kilometer ostlich der Line Dover–Calais zwei historische Landmarken verbindet, genauer den Leuchtturm Phare de Walde (Frankreich) mit Leathercoat Point (England). Die Westgrenze wird durch die Linie von Land’s End zum Leuchtturm der Ile Vierge gebildet. Die britische Kuste enthalt die Jurassic Coast, eine geschutzte Naturlandschaft. Ein Teil der franzosischen Kuste des Armelkanals ist die Alabasterkuste.
Am Sudrand des Armelkanals liegen die britischen Kanalinseln unmittelbar vor der franzosischen Kuste. Die Isle of Wight, die von einem Seitenarm des Kanals, dem Solent, umschlossen wird, liegt zentral an seinem Nordrand. Am Nordwesteingang ragen die Scilly-Inseln in den Nordatlantik, genauer: in die Keltische See. Der großte Fluss, der in den Kanal mundet, ist die Seine.
Bekannte Hafenstadte am Kanal sind Southampton, Plymouth und Dover in Großbritannien und in Frankreich Cherbourg-en-Cotentin, Le Havre und Calais.
Der Armelkanal ist maximal 248 km breit. Die schmalste Stelle ist die Straße von Dover (engl. Strait of Dover, frz. Pas de Calais) im Osten – die Strecke von Dover nach Cap Gris-Nez misst nur 34 km. Der Kanal hat in der Nahe des offenen Atlantiks eine durchschnittliche Tiefe von 120 m; an der ostlichen Einmundung in die Nordsee sind es seichtere 45 m.
Geologie Wahrend der letzten Eiszeiten war der Wasserstand bis zu 120 Meter niedriger als heute. Die Nordseekuste lag etwa 600 Kilometer nordlich ihrer jetzigen Lage, das Gebiet des Armelkanals war bis auf das westliche Ende Festland (siehe Doggerland). Nach letzten Forschungen gab es einen breiten Fluss, der sich entlang des heutigen Armelkanals dahinzog und durch Rhein, Seine und Themse als Nebenflusse gespeist wurde. Dieses Flusssystem mit seinem Delta nach Westen war vermutlich das großte, das jemals in Europa entstand.
Als das Wasser nach der Eiszeit langsam zu steigen begann, bildete sich im sudlichen Nordseebecken ein großer Sußwassersee, der durch die Doggerbank nach Norden und durch eine Kreideverbindung nach Westen abgesperrt war. Die Kreide zwischen den heutigen Stadten Dover und Calais war etwa 6500 v. Chr. so weit erodiert, dass das Wasser der sudlichen Nordsee uber den Armelkanal in den Atlantik abfließen konnte. Die letzte Landverbindung zwischen Irland und den britischen Inseln und dem Kontinent verschwand vor etwa 7000 Jahren.
Wellen und Winderosion tragen die Kreide an dieser Stelle standig weiter ab, sodass sich der Kanal auch heute noch langsam verbreitert. Erst als der Wasserstand weiter stieg, bildete sich das durchgehende Nordseebecken, sodass heute das Wasser aus dem Atlantik uber den Armelkanal in die Nordsee fließt und entlang der norwegischen Kuste in den Nordatlantik zuruckkehrt.
Verkehr = Bemerkenswerte Kanalquerungen =
Der Kanal wird seit langer Zeit auch als sportliche Herausforderung betrachtet und auf unterschiedlichste Arten uberquert. Das Durchschwimmen wird als Kanalschwimmen bezeichnet. Erstmals nachweislich durchschwommen wurde der Armelkanal am 24. und 25. August 1875 von dem Englander Matthew Webb in 21 Stunden und 45 Minuten.
= Schiffsverkehr =
Die Elise uberquerte 1816 als erstes Schiff mit Dampfantrieb den Armelkanal.
Der im Kanal „Straße von Dover“ genannte zentrale Abschnitt gehort zu den Schifffahrtswegen mit dem weltweit dichtesten Schiffsverkehr (circa 400–500 Schiffe pro Tag). Wichtige Fahrverbindungen kreuzen diesen Ost-West-Schifffahrtsweg zwischen Dover und Calais bzw. Dunkirchen.
Nach Angaben des britischen Innenministeriums kamen im Jahr 2019 etwa 1.800 Menschen in kleinen Booten uber den Armelkanal; 2020 waren es knapp 8.500 und 2021 mehr als 28.500 Menschen. Als Erklarung wird angefuhrt, dass vorgezogenen Grenzkontrollen und pandemiebedingte Kontrollen es in diesen Jahren fur Migranten schwieriger gemacht habe, versteckt in Lastwagen oder auf Zugen nach Großbritannien zu gelangen.2022 sind (Stand Mitte November 2022) es bereits 44.000 Migranten.
Unfalle Unfalle ohne Kollision:
6. Marz 1987: Am Abend kenterte die Fahre Herald of Free Enterprise bei der Ausfahrt aus dem Hafen von Zeebrugge. Von den 623 Personen an Bord kamen 193 ums Leben.
18. Januar 2007: Das Containerschiff MSC Napoli unter britischer Flagge mit Heimathafen London geriet infolge des Orkans Kyrill im Armelkanal in Seenot.
Januar 2015: Kurz nach dem Auslaufen bekam die mit 1400 Luxusautos beladene Hoegh Osaka schwere Schlagseite. Das Schiff wurde vor der Isle of Wight absichtlich auf Grund gesetzt, um ein Kentern im Fahrwasser zu verhindern.
2013 befand sich das deutsche U-Boot U 31 auf der Fahrt zu einer Marineubung vor Plymouth, als es kurz vor dem Armelkanal auf einen Orkan und 12 m hohe Wellen traf; der Signalmast knickte.
Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens im Kanal kommt es immer wieder zu Kollisionen:
6. November 1910: Nach Kollision mit dem vorschriftswidrig kreuzenden Dampfer Brighton lief das Funfmastvollschiff Preußen auf Grund und ging verloren.
16. Marz 1978: Der Oltanker Amoco Cadiz kollidierte nach Ruderausfall mit einem Felsen und zerbrach, was die sechstgroßte Olkatastrophe der Geschichte zur Folge hatte.
30. Marz 1985: Das von Calais kommende Luftkissenfahrzeug Princess Margaret vom Typ Saunders Roe Nautical 4 kollidierte beim Einlaufen in den Hafen von Dover bei „ziemlich schlechtem“ Wetter und Windgeschwindigkeiten von bis zu 30 Knoten mit der Kaimauer. Dabei wurde ein Loch in die Außenhaut gerissen. Vier Personen von 370 Passagieren kamen bei dem Ungluck zu Tode.
31. Oktober 2000: Der elf Jahre alte Flussiggastanker Ievoli Sun sank mit 6000 Tonnen giftiger Chemikalien und liegt seitdem in 70 Metern Tiefe. Teile der biologisch abbaubaren Chemikalien liefen in den folgenden Tagen aus.
14. Dezember 2002: Der 15 Jahre alte Autotransporter Tricolor sank nach einer Kollision mit 2871 Luxuswagen an Bord. In der Folge kollidierten mehrere Schiffe mit dem Wrack, das bei Niedrigwasser nur knapp aus dem Wasser ragte. Es dauerte fast zwei Jahre, das Wrack in neun Teile zu zersagen und abzutransportieren.
31. Januar 2006: Der mit 10.000 Tonnen Phosphorsaure beladene Chemietanker Ece sank nach einer Kollision.
9. Juni 2006: Vor der Kuste der Grafschaft Sussex kollidierten zwei Oltanker. Trotz Beschadigungen lief kein Ol aus.
Zur Regulierung des Schiffsverkehrs wurde im Armelkanal eine Reihe von Verkehrstrennungsgebieten mit nach Fahrrichtung getrennten Seewegen eingefuhrt.
Seeleute auf Vollschiffen nannten den Armelkanal ein Meer von Kopf- und Herzweh (engl. sea of sore heads and sore hearts), vor allem, wenn diese Schiffe mit allen Mann an Deck gegen vorherrschende Sudwestwinde durch das enge und gefahrvolle Revier nach Westen gesegelt werden mussten.
= Schienenverkehr =
Durch den Eurotunnel zwischen Folkestone und Sangatte besteht seit 1994 eine Eisenbahnverbindung zwischen Großbritannien und dem europaischen Kontinent.
Nicht realisierte Bauprojekte = Tunnelprojekt der Kanalgesellschaft =
Im Jahr 1875 begann die Kanalgesellschaft bei Sangatte mit einem Tunnelbau. In England wurde zur selben Zeit bei Abbotscliff mit Kanalarbeiten begonnen. Bis 1882 wurden auf beiden Seiten jeweils ca. 1.800 Meter Tunnel gebaut. Da England eine spatere Invasion durch die Franzosen furchtete, wurden die Arbeiten um 1882 eingestellt.
Der franzosische Filmpionier Georges Melies griff die Idee der Untertunnelung des Armelkanals mit Eisenbahnverbindung als erster filmisch auf und schuf 1907 den Film Le Tunnel sous la Manche ou le Cauchemar franco-anglais („Der Tunnel unter dem Armelkanal oder der franzosisch-englische Alptraum“).
= Vision Bruckenstadt =
1962/1963 entwickelten die Architekten Yona Friedman und Eckhard Schulze-Fielitz die Vision einer Bruckenstadt uber den Armelkanal. Das gigantische Bauwerk, eine megastructure aus Tragwerk und eingebauten Modulen, sollte die Funktionen einer Stadt ubernehmen.
= Brucke uber den Armelkanal =
Boris Johnson schlug im Januar 2018 eine etwa 32 Kilometer lange Brucke uber den Armelkanal vor. Er begrundete dies damit, dass es noch langere Brucken auf der Welt gibt, und mit dem technischen Fortschritt. Außerdem wurde es die Wirtschaftskontakte zwischen Großbritannien und dem Kontinent nach dem Brexit fordern. Die Brucke musste hoher als 60 Meter sein, um die Schifffahrt nicht zu behindern.
Rezeption in der Kunst = Malerei =
Joseph Mallord William Turner (1775–1851). Vielfaches Thema bei ihm sind Seestucke und die Klippen von Dover.
= Literatur =
Matthew Arnolds Gedicht von 1867 Dover Beach (Die Felsen sind ein Zeichen von beruhigender Starke).
Rudyard Kiplings Gedicht The Broken Men (1902).
= Filme =
Der langste Tag: Vereinigte Staaten 1962; Filmklassiker zur Invasion uber die Meerenge im Juni 1944, Regie Ken Annakin, Andrew Marton und Bernhard Wicki u. a. mit Paul Anka, John Crawford; amerikan. Titel: The Longest Day. Der Titel ist bei allen Kriegsparteien eine gangige Bezeichnung fur das Gesamtgeschehen.
Lord Nelsons letzte Liebe: Regie Alexander Korda, Vereinigtes Konigreich 1941; Nelson stirbt bei der Abwehr der frz. Invasionsflotte; mit Laurence Olivier, Vivien Leigh u. a.
Siehe auch Cinque Ports (franz. „Funf Hafen“), ein fruherer Stadtebund entlang des E. Channels in den Grafschaften Kent und Sussex.
Die fur die Meereszone zustandige frz. Prafektur ist die prefecture maritime de la Manche et la mer du Nord in Cherbourg-en-Cotentin. Der Prafekt, ein Militar, wird vom Premierminister ernannt. Der Zustandigkeitsbereich wird so definiert: de la frontiere franco-belge a la baie du mont Saint-Michel, 870 km Kustenlinie.
Die Segelwettbewerbe der 2 großen Bootsklassen bei den Olympischen Sommerspielen 1900 segelten im Armelkanal vor Le Havre vom 1. bis 6. August um die Medaillen. Auch 24 Jahre spater bei den Sommerspielen 1924 fanden hier Segelwettbewerbe statt.
Weblinks Literatur von und uber Armelkanal im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Revierinformationen zum Armelkanal. Auf: SkipperGuide.de.
Kartenskizzen der Verkehrstrennungsgebiete im Armelkanal. Auf: Nationalarchives.gov.uk. (Website der britischen Maritime and Coastguard Agency).
Sanjeev Gupta: Sonar belegt Flut als Ursprung des Armelkanals. (englisch).
Einzelnachweise
|
Der Armelkanal (kurz auch Der Kanal; englisch English Channel, wortlich ‚Englischer Kanal‘; franzosisch La Manche, wortlich ‚Der Armel‘; bretonisch Mor Breizh, wortlich ‚Das Meer der Bretagne‘; kornisch Mor Bretannek, wortlich ‚Britische See‘) ist ein Meeresarm des Atlantiks und verbindet diesen uber die Straße von Dover mit der Nordsee.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ärmelkanal"
}
|
c-13943
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Edikte_des_Ashoka"
}
|
||
c-13944
|
Der Buddhismus ist eine der großen Weltreligionen. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen ist der Buddhismus keine theistische Religion, und daher hat er auch nicht die Verehrung eines allmachtigen Gottes als sein Zentrum (wie es etwa im Christentum der Fall ist). Vielmehr grunden sich die meisten buddhistischen Lehren auf umfangreiche philosophisch-logische Uberlegungen in Verbindung mit Leitlinien der Lebensfuhrung, wie es auch im chinesischen Daoismus und Konfuzianismus der Fall ist. Zudem ist die Praxis der Meditation und daraus herruhrendes Erfahrungswissen ein wichtiges Element im Buddhismus.
Wie andere Religionen umfasst auch der Buddhismus ein weites Spektrum an Erscheinungsformen, die sowohl philosophische Lehre beinhalten als auch Klosterwesen, kirchen- oder vereinsartige Religionsgemeinschaften und einfache Volksfrommigkeit. Sie werden im Fall des Buddhismus aber durch keine zentrale Autoritat oder Lehrinstanz, die Dogmen verkundet, zusammengehalten.
Gemeinsam ist allen Buddhisten, dass sie sich auf die Lehren des Siddhartha Gautama berufen, der in Nordindien lebte, nach den heute in der Forschung vorherrschenden Datierungsansatzen im 6. und moglicherweise noch im fruhen 5. Jahrhundert v. Chr. Er wird als der „historische Buddha“ bezeichnet, um ihn von den mythischen Buddha-Gestalten zu unterscheiden, die nicht historisch bezeugt sind. „Buddha“ bedeutet wortlich „der Erwachte“ und ist ein Ehrentitel, der sich auf ein Erlebnis bezieht, das als Bodhi („Erwachen“) bezeichnet wird. Gemeint ist damit nach der buddhistischen Lehre eine fundamentale und befreiende Einsicht in die Grundtatsachen allen Lebens, aus der sich die Uberwindung des leidhaften Daseins ergibt. Diese Erkenntnis nach dem Vorbild des historischen Buddha durch Befolgung seiner Lehren zu erlangen, ist das Ziel der buddhistischen Praxis – wobei von den beiden Extremen der selbstzerstorerischen Askese und des ungezugelten Hedonismus, aber auch generell von Radikalismus abgeraten wird, vielmehr soll ein Mittlerer Weg eingeschlagen werden. In diesem Zusammenhang stellen die Aussagen des Religionsgrunders Buddha in der Uberlieferung die zentrale Autoritat dar, und es gibt einen historisch gewachsenen Kanon an Texten, mit dem im Rahmen von Buddhistischen Konzilien die Grundlinien der Religion bestimmt worden sind (siehe Buddhistischer Kanon). Gleichwohl handelt es sich nicht um Dogmen im Sinne einer Offenbarungsreligion, deren Autoritat sich auf den Glauben an eine gottlich inspirierte heilige Schrift stutzt. Dementsprechend wird der Buddha im Buddhismus verehrt, aber nicht in einem engeren Sinne angebetet.
Der Buddhismus hat weltweit je nach Quelle und Zahlweise zwischen 230 und 500 Millionen Anhanger – und ist damit die viertgroßte Religion der Erde (nach Christentum, Islam und Hinduismus). Der Buddhismus stammt aus Indien und ist heute am meisten in Sud-, Sudost- und Ostasien verbreitet. Etwa die Halfte aller Buddhisten lebt in China. Er hat seit dem 19. Jahrhundert aber auch begonnen, in der westlichen Welt Fuß zu fassen.
Uberblick = Entwicklung =
Der Buddhismus entstand auf dem indischen Subkontinent durch Siddhartha Gautama. Der Uberlieferung zufolge erlangte er im Alter von 35 Jahren durch das Erlebnis des „Erwachens“ eine innere Transformation. Zunachst habe er es nicht fur moglich gehalten, uber seine Einsichten uberhaupt zu sprechen, habe sich aber dann dazu bewegen lassen, sie in eine ausformulierte Lehre zu kleiden, um sie nach Moglichkeit weiterzugeben. Er gewann bald Schuler und grundete die buddhistische Gemeinde. Bis zu seinem Tod im Alter von etwa 80 Jahren wanderte er schließlich lehrend durch Nordindien.
Von der nordindischen Heimat Siddhartha Gautamas verbreitete sich der Buddhismus zunachst auf dem indischen Subkontinent, auf Sri Lanka und in Zentralasien. Insgesamt sechs buddhistische Konzile trugen zur „Kanonisierung“ der Lehren und, gemeinsam mit der weiteren Verbreitung in Ost- und Sudostasien, zur Entwicklung verschiedener Traditionen bei. Der nordliche Buddhismus (Mahayana) erreichte uber die Seidenstraße Zentral- und Ostasien, wo sich weitere Traditionen, wie etwa Chan (China), Zen (Japan) und Amitabha-Buddhismus (Ostasien), entwickelten. In die Himalaya-Region gelangte der Buddhismus auch direkt aus Nordindien; dort entstand der Vajrayana (Tibet, Bhutan, Nepal, Mongolei u. a.). Aspekte des Buddhismus drangen auch in andere religiose Traditionen ein oder gaben Impulse zu deren Institutionalisierung (vgl. Bon und Shinto bzw. Shinbutsu-Shugo). Von Sudindien und Sri Lanka gelangte der sudliche Buddhismus (Theravada) in die Lander Sudostasiens, wo er den Mahayana verdrangte. Der Buddhismus trat in vielfaltiger Weise mit den Religionen und Philosophien der Lander, in denen er Verbreitung fand, in Wechselwirkung. Dabei wurde er auch mit religiosen und philosophischen Traditionen kombiniert, deren Lehren sich von denen des ursprunglichen Buddhismus stark unterscheiden.
= Lehre =
Die Grundlagen der buddhistischen Praxis und Theorie sind vom Buddha in Form der Vier Edlen Wahrheiten formuliert worden: Die Erste Edle Wahrheit lautet, dass das Leben in der Regel vom Leiden (dukkha) an Geburt, Alter, Krankheit und Tod gepragt ist, sowie von subtileren Formen des Leidens, die vom Menschen oft nicht als solches erkannt werden, wie etwa das Hangen an einem Gluck, das jedoch verganglich ist (in diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass das Wort „dukkha“ sich auch auf Bedeutungen wie „Unbefriedigtsein, Frustration“ erstreckt). Die Zweite Edle Wahrheit lautet, dass dieses Leid in Abhangigkeit von Ursachen entsteht, namlich im Wesentlichen durch die Drei Geistesgifte, die in deutscher Ubersetzung meist als „Gier“, „Hass“ und „Unwissenheit / Verblendung“ bezeichnet werden. Die Dritte Edle Wahrheit besagt, dass das Leiden, da durch Ursachen bedingt, zukunftig aufgehoben werden kann, wenn nur diese Ursachen aufgelost werden konnen, und dass dann vollstandige Freiheit von Leiden erlangt werden kann (also auch Freiheit von Geburt und Tod). Die Vierte Edle Wahrheit besagt, dass es Mittel zu dieser Auflosung der Leidensursachen gibt, und damit zur Entstehung von wirklichem Gluck: Dies ist die Praxis der Ubungen des Edlen Achtfachen Pfades. Sie bestehen in: rechter Erkenntnis, rechter Absicht, rechter Rede, rechtem Handeln, rechtem Lebenserwerb, rechter Ubung, rechter Achtsamkeit und rechter Meditation, wobei mit recht die Ubereinstimmung der Praxis mit den Vier Edlen Wahrheiten, also der Leidvermeidung, gemeint ist.
Nach der buddhistischen Lehre sind alle unerleuchteten Wesen einem endlosen leidvollen Kreislauf (Samsara) von Geburt und Wiedergeburt unterworfen, Ziel der buddhistischen Praxis ist, aus diesem Kreislauf des ansonsten immerwahrenden Leidenszustandes herauszutreten. Dieses Ziel soll durch die Vermeidung von Leid, also ethisches Verhalten, die Kultivierung der Tugenden (Funf Silas), die Praxis der „Versenkung“ (Samadhi, vgl. Meditation) und die Entwicklung von Mitgefuhl (hier klar unterschieden von Mitleid) fur alle Wesen und allumfassender Weisheit (Prajna) als Ergebnisse der Praxis des Edlen Achtfachen Pfades erreicht werden. Auf diesem Weg werden Leid und Unvollkommenheit uberwunden und durch Erleuchtung (Erwachen) der Zustand des Nirwana realisiert. Nirwana ist nicht einfach ein Zustand, in dem kein Leid empfunden wird, sondern eine umfassende Transformation des Geistes, in dem auch alle Veranlagungen, Leiden je hervorzubringen, verschwunden sind. Es ist ein transzendenter Zustand, der nicht sprachlich oder vom Alltagsverstand erfasst werden kann, aber im Prinzip von jedem fuhlenden Wesen verwirklicht werden konnte.
Indem jemand Zuflucht zum Buddha (dem Zustand), zum Dharma (Lehre und Weg zu diesem Zustand) und zur Sangha (der Gemeinschaft der Praktizierenden) nimmt, bezeugt er seinen Willen zur Anerkennung und Praxis der Vier Edlen Wahrheiten und seine Zugehorigkeit zur Gemeinschaft der Praktizierenden des Dharma. Die Sangha selbst unterteilt sich in die Praktizierenden der Laien-Gemeinschaft und die ordinierten der Monchs- bzw. Nonnenorden.
Siddhartha Gautama Die Lebensdaten Siddhartha Gautamas gelten traditionell als Ausgangspunkt fur die Chronologie der sudasiatischen Geschichte, sie sind jedoch umstritten. Die herkommliche Datierung (563–483 v. Chr.) wird heute kaum noch vertreten. Die neuere Forschung geht davon aus, dass Siddhartha nicht 563 v. Chr. geboren wurde, sondern mehrere Jahrzehnte, vielleicht ein Jahrhundert spater. Die gegenwartig vorherrschenden Ansatze fur die Datierung des Todes schwanken zwischen ca. 420 und ca. 368 v. Chr.
Nach der Uberlieferung wurde Siddhartha in Lumbini im nordindischen Furstentum Kapilavastu, heute ein Teil Nepals, als Sohn des Herrscherhauses von Shakya geboren. Daher tragt er den Beinamen Shakyamuni, „Weiser aus dem Hause Shakya“.
Im Alter von 29 Jahren wurde ihm bewusst, dass Reichtum und Luxus nicht die Grundlage fur Gluck sind. Er erkannte, dass Leid wie Altern, Krankheit, Tod und Schmerz untrennbar mit dem Leben verbunden ist, und brach auf, um verschiedene Religionslehren und Philosophien zu erkunden, um die wahre Natur menschlichen Glucks zu finden. Sechs Jahre der Askese, des Studiums und danach der Meditation fuhrten ihn schließlich auf den Weg der Mitte. Unter einer Pappelfeige in Bodhgaya im heutigen Nordindien hatte er das Erlebnis des Erwachens (Bodhi). Wenig spater hielt er in Isipatana, dem heutigen Sarnath, seine erste Lehrrede und setzte damit das „Rad der Lehre“ (Dharmachakra) in Bewegung.
Danach verbrachte er als ein Buddha den Rest seines Lebens mit der Unterweisung und Weitergabe der Lehre, des Dharma, an die von ihm begrundete Gemeinschaft. Diese Vierfache Gemeinschaft bestand aus den Monchen (Bhikkhu) und Nonnen (Bhikkhuni) des buddhistischen Monchtums sowie aus mannlichen Laien (Upasaka) und weiblichen Laien (Upasika). Mit seinem (angeblichen) Todesjahr im Alter von 80 Jahren beginnt die buddhistische Zeitrechnung.
Geschichte und Verbreitung des Buddhismus = Die ersten drei Konzile =
Drei Monate nach dem Tod des Buddha traten seine Schuler in Rajagarha zum ersten Konzil (sangiti) zusammen, um den Dhamma (die Lehre) und den Vinaya (die Monchsregeln) zu besprechen und gemaß den Unterweisungen des Buddha festzuhalten. Die weitere Uberlieferung erfolgte mundlich. Etwa 100 Jahre spater fand in Vesali das zweite Konzil statt. Diskutiert wurden nun vor allem die Regeln der Monchsgemeinschaft, da es bis dahin bereits zur Bildung verschiedener Gruppierungen mit unterschiedlichen Auslegungen der ursprunglichen Regeln gekommen war.
Wahrend des zweiten Konzils und den folgenden Zusammenkunften kam es zur Bildung von bis zu 18 verschiedenen Schulen (Nikaya-Schulen), die sich auf unterschiedliche Weise auf die ursprunglichen Lehren des Buddha beriefen. Daneben entstand auch die Mahasanghika, die fur Anpassungen der Regeln an die veranderten Umstande eintrat und als fruher Vorlaufer des Mahayana betrachtet werden kann. Die ersten beiden Konzile sind von allen buddhistischen Schulen anerkannt. Die anderen Konzilien werden nur von einem Teil der Schulen akzeptiert. Die Historizitat der Konzile stuft der Sinologe Helwig Schmidt-Glintzer allerdings als unwahrscheinlich ein.
Im 3. Jahrhundert v. Chr. trat in Pataliputra (heute Patna), unter der Schirmherrschaft des Konigs Ashoka und dem Vorsitz des Monchs Moggaliputta Tissa, das 3. Konzil zusammen. Ziel der Versammlung war es, sich wieder auf eine einheitliche buddhistische Lehre zu einigen. Insbesondere Haretiker sollten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und falsche Lehren widerlegt werden. Im Verlauf des Konzils wurde zu diesem Zweck das Buch Kathavatthu verfasst, das die philosophischen und scholastischen Abhandlungen zusammenfasste. Dieser Text wurde zum Kernstuck des Abhidhammapitaka, einer philosophischen Textsammlung. Zusammen mit dem Suttapitaka, den niedergeschriebenen Lehrreden des Buddha, und dem Vinayapitaka, der Sammlung der Ordensregeln, bildet es das in Pali verfasste Tipitaka (Sanskrit: Tripitaka, deutsch: „Dreikorb“, auch Pali-Kanon), die alteste große Zusammenfassung buddhistischen Schriftgutes.
Nur diese Schriften wurden vom Konzil als authentische Grundlagen der buddhistischen Lehre anerkannt, was die Spaltung der Monchsgemeinschaft besiegelte. Wahrend der Theravada, die Lehre der Alteren, sich auf die unveranderte Ubernahme der ursprunglichen Lehren und Regeln einigte, legte die Mahasanghika keinen festgelegten Kanon von Schriften fest und nahm auch Schriften auf, deren Herkunft vom Buddha nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte.
= Ausbreitung in Sudasien und Ostasien =
In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich die Lehre in Sud- und Ostasien. Wahrend der Regierungszeit des Konigs Asoka (3. Jahrhundert v. Chr.) verbreitete sich der Buddhismus uber ganz Indien und weit daruber hinaus. Auch Teile von Afghanistan gehorten zu seinem Reich. Im Grenzgebiet zu Pakistan entstand dort, beeinflusst von griechischen Bildhauern, die mit Alexander dem Großen ins Land gekommen waren, in Gandhara die graeco-buddhistische Kultur, eine Mischung von indischen und hellenistischen Einflussen. In deren Tradition entstanden unter anderem die Buddha-Statuen von Bamiyan.
Asoka schickte Gesandte in viele Reiche jener Zeit. So verbreitete sich die Lehre allmahlich uber die Grenzen jener Region, in welcher der Buddha gelebt und gelehrt hatte, hinaus. Im Westen reisten Asokas Gesandte bis in den Nahen Osten, Agypten, zu den griechischen Inseln und nach Makedonien. Uber Sri Lanka gelangte die Buddha-Lehre in den folgenden Jahrhunderten zum malayischen Archipel (Indonesien, Borobudur) und nach Sudostasien, also Kambodscha (Funan, Angkor), Thailand, Myanmar (Pegu) und Laos. Im Norden und Nordosten wurde der Buddhismus im Hochland des Himalaya (Tibet) sowie in China, Korea und in Japan bekannt.
= Zuruckdrangung in Indien =
Wahrend der Buddhismus so weitere Verbreitung fand, verschwand er aus den meisten Gegenden Indiens ab dem 12. Jahrhundert. Die Grunde werden zum einen in der gegenseitigen Durchdringung von Buddhismus und Hinduismus gesehen, zum anderen in der moslemischen Invasion Indiens, in deren Verlauf viele Monche getotet und Kloster zerstort wurden. Auch die heute noch bekannten letzten Hochburgen des Buddhismus auf dem indischen Subkontinent (Sindh, Bengalen) gehorten zu den islamisierten Gebieten. Auf dem malayischen Archipel (Malaysia, Indonesien) sind heute (mit Ausnahme Balis) nur noch Ruinen zu sehen, die zeigen, dass hier einstmals buddhistische Kulturen gebluht hatten.
= Weiterentwicklung =
Eine vielfaltige Weiterentwicklung der Lehre war durch die Worte des Buddha vorbestimmt: Als Lehre, die ausdrucklich in Zweifel gezogen werden darf, hat der Buddhismus sich teilweise mit anderen Religionen vermischt, die auch Vorstellungen von Gottheiten kennen oder die die Gebote der Enthaltsamkeit weniger streng oder gar nicht handhabten.
Der Theravada („die Lehre der Altesten“) halt sich an die Lehre des Buddha, wie sie auf dem Konzil von Patna festgelegt wurde. Er ist vor allem in den Landern Sud- und Sudostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) weit verbreitet. Der Mahayana („das große Fahrzeug“) durchmischte sich mehr mit den ursprunglichen Religionen und Philosophien der Kulturen, in denen der Buddhismus einzog. So kamen z. B. in China Elemente des Daoismus hinzu, wodurch schließlich die Auspragung des Chan-Buddhismus und spater in Japan Zen entstand.
Insbesondere der Kolonialismus des 19. Jahrhunderts hat in vielen Landern Asiens zu einer Renaissance des Buddhismus gefuhrt. Die Schaffung einer internationalen buddhistischen Flagge 1885 ist dafur ein symbolischer Ausdruck. Besonders den Initiativen von Thailand und Sri Lanka ist die 1950 erfolgte Grundung der World Fellowship of Buddhists (WFB) zu verdanken.
= Heutige Verbreitung in Asien =
Heute leben weltweit naherungsweise 450 Millionen Buddhisten. Diese Zahl ist jedoch eher als Anhaltspunkt aufzufassen, da es starke Schwankungen zwischen einzelnen Statistiken gibt. Die Lander mit der starksten Verbreitung des Buddhismus sind China, Bhutan, Japan, Kambodscha, Laos, die Mongolei, Myanmar, Sri Lanka, Sudkorea, Taiwan, Thailand und Vietnam.
In Indien betragt der Anteil an der Bevolkerung heute weniger als ein Prozent. Allerdings erwacht jedoch wieder ein intellektuelles Interesse an der buddhistischen Lehre in der gebildeten Schicht. Auch unter den Dalit („Unberuhrbaren“) gibt es, initiiert durch Bhimrao Ramji Ambedkar, den „Vater der indischen Verfassung“, seit 1956 eine Bewegung, die in der Konversion zum Buddhismus einen Weg sieht, der Unterdruckung durch das Kastensystem zu entkommen.
= Situation in anderen Erdteilen =
Seit dem 19. und insbesondere seit dem 20. Jahrhundert wachst auch in den industrialisierten Staaten Europas, den USA und Australien die Tendenz, sich dem Buddhismus als Weltreligion zuzuwenden. Im Unterschied zu den asiatischen Landern gibt es im Westen die Situation, dass die zahlreichen und oft sehr unterschiedlichen Auspragungen der verschiedenen Lehrrichtungen nebeneinander in Erscheinung treten.
Organisationen wie die 1975 gegrundete EBU (Europaische Buddhistische Union) haben sich zum Ziel gesetzt, diese Gruppen miteinander zu vernetzen und sie in einen Diskurs mit einzubeziehen, der einen langerfristigen Prozess zur Inkulturation und somit Herausbildung eines europaischen Buddhismus begunstigen soll. Ein weiteres Ziel ist die Integration in die europaische Gesellschaft, damit die buddhistischen Vereinigungen ihr spirituelles, humanitares, kulturelles und soziales Engagement ohne Hindernisse ausuben konnen.
In vielen Landern Europas wurde der Buddhismus gegen Ende des 20. Jahrhunderts offentlich und staatlich als Religion anerkannt. In Europa erhielt der Buddhismus zuerst in Osterreich die volle staatliche Anerkennung (1983). In Deutschland und der Schweiz haben die buddhistischen Religionsgemeinschaften keinen offentlich-rechtlichen Status.
Siehe auch:
Buddhismus im Westen
Buddhismus in Europa
Buddhismus in Deutschland
Buddhismus in Osterreich
Buddhismus in der Schweiz
Die Lehren des Buddhismus In seiner ursprunglichen Form, die aus der vorliegenden altesten Uberlieferung nur eingeschrankt rekonstruierbar ist, und durch seine vielfaltige Fortentwicklung ahnelt der Buddhismus teils einer in der Praxis angewandten Denktradition oder Philosophie.
Der Buddha selbst sah sich weder als Gott noch als Uberbringer der Lehre eines Gottes. Er stellte klar, dass er die Lehre, Dhamma (Pali) bzw. Dharma (Sanskrit), nicht aufgrund gottlicher Offenbarung erhalten, sondern vielmehr durch eigene meditative Schau (Kontemplation) ein Verstandnis der Natur des eigenen Geistes und der Natur aller Dinge gewonnen habe. Diese Erkenntnis sei jedem zuganglich, der seiner Lehre und Methodik folge. Dabei sei die von ihm aufgezeigte Lehre nicht dogmatisch zu befolgen. Im Gegenteil warnte er vor blinder Autoritatsglaubigkeit und hob die Selbstverantwortung des Menschen hervor. Er verwies auch auf die Vergeblichkeit von Bemuhungen, die Welt mit Hilfe von Begriffen und Sprache zu erfassen, und mahnte gegenuber dem geschriebenen Wort oder feststehenden Lehren eine Skepsis an, die in anderen Religionen in dieser Radikalitat kaum anzutreffen ist.
Von den monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) unterscheidet der Buddhismus sich grundlegend. So kennt die buddhistische Lehre weder einen allmachtigen Gott noch eine ewige Seele. Das, und auch die Nichtbeachtung des Kastensystems, unterscheidet ihn auch von Hinduismus und Brahmanismus, mit denen er andererseits die Karma-Lehre teilt. In deren Umfeld entstanden, wird er mitunter als eine Reformbewegung zu den vedischen Glaubenssystemen Indiens betrachtet. Mit dieser antiritualistischen und antitheistischen Haltung ist die ursprungliche Lehre des Siddhartha Gautama sehr wahrscheinlich die alteste hermeneutische Religion der Welt.
= Dharma =
Dharma (Sanskrit) bzw. Dhamma (Pali) bezeichnet im Buddhismus im Wesentlichen zweierlei:
Die Lehre Buddhas (im Theravada die des Buddha, im Mahayana und Vajrayana auch zusammen mit den Lehren der Bodhisattvas und großen verwirklichten Meister). Basis des Dharma sind die Vier edlen Wahrheiten. Es bildet eines der Drei Juwelen, der so genannten „Zufluchtsobjekte“, bestehend aus dem Lehrer, der Lehre und der Gemeinschaft der Monche (Buddha, Dharma und Sangha). Es ist auch Teil der Zehn Betrachtungen (Anussati).
Die Gesamtheit aller weltlichen Phanomene, der Natur an sich und der ihr zu Grunde liegenden Gesetzmaßigkeiten (siehe Abschnitt Das bedingte Entstehen).
Kern der Lehre des Buddha sind die von ihm benannten Vier Edlen Wahrheiten, aus der vierten der Wahrheiten folgt als Weg aus dem Leiden der Achtfache Pfad.
Im Zentrum der „Vier edlen Wahrheiten“ steht das Leiden (dukkha), seine Ursachen und der Weg, es zum Verloschen zu bringen. Der Achtfache Pfad ist dreigeteilt, die Hauptgruppen sind: die Einsicht in die Lehre, ihre ethischen Grundlagen und die Schwerpunkte des geistigen Trainings (Meditation/Achtsamkeit).
= Das bedingte Entstehen =
Die „bedingte Entstehung“, auch „Entstehen in Abhangigkeit“ bzw. „Konditionalnexus“ (Pali: Paticcasamuppada, Sanskrit: Pratityasamutpada), ist eines der zentralen Konzepte des Buddhismus. Es beschreibt in einer Kette von 12 miteinander verwobenen Elementen die Seinsweise aller Phanomene in ihrer dynamischen Entwicklung und gegenseitigen Bedingtheit. Die Essenz dieser Lehre kann in dem Satz zusammengefasst werden: „Dieses ist, weil jenes ist“.
= Ursache und Wirkung: Karma =
Kamma (Pali) bzw. Karma (Sanskrit) bedeutet „Tat, Wirken“ und bezeichnet das sinnliche Begehren und das Anhaften an die Erscheinungen der Welt (Gier, Hass, Ich-Sucht), die Taten, die dadurch entstehen, und die Wirkungen von Handlungen und Gedanken in moralischer Hinsicht, insbesondere die Ruckwirkungen auf den Akteur selbst. Es entspricht in etwa dem Prinzip von Ursache und Wirkung. Karma bezieht sich auf alles Tun und Handeln sowie alle Ebenen des Denkens und Fuhlens. All das erzeugt entweder gutes oder schlechtes Karma oder kann karmisch gesehen neutral sein.
Gutes wie schlechtes Karma erzeugt die Folge der Wiedergeburten, das Samsara. Hochstes Ziel des Buddhismus ist es, diesem Kreislauf zu entkommen, indem kein Karma mehr erzeugt wird – Handlungen hinterlassen dann keine Spuren mehr in der Welt. Im Buddhismus wird dies als Eingang ins Nirwana bezeichnet.
Da dieses Ziel in der Geschichte des Buddhismus oft als unerreichbar in einem Leben galt, ging es, besonders bei den Laien, mehr um das Anhaufen guten Karmas als um das Erreichen des Nirwana in diesem Leben. Gekoppelt daran ist der Glaube, dass das erworbene Verdienst (durch gute Taten, zeitweiligen Beitritt in den Sangha, Spenden an Monche, Kopieren von Sutras und vieles mehr) auch rituell an andere weitergegeben werden konne, selbst an Verstorbene oder ganze Nationen.
= Der Kreislauf des Lebens: Samsara =
Der den wichtigen indischen Religionen gemeinsame Begriff Samsara, „bestandiges Wandern“, bezeichnet den fortlaufenden Kreislauf des Lebens aus Tod und Geburt, Werden und Vergehen. Das Ziel der buddhistischen Praxis ist, diesen Kreislauf zu verlassen. Samsara umfasst alle Ebenen der Existenz, sowohl jene, die wir als Menschen kennen, wie auch alle anderen, von den Hollenwesen (Niraya Wesen) bis zu den Gottern (Devas). Alle Wesen sind im Kreislauf des Lebens gefangen, daran gebunden durch Karma: ihre Taten, Gedanken und Emotionen, durch Wunsche und Begierden. Erst das Erkennen und Uberwinden dieser karmischen Krafte ermoglicht ein Verlassen des Kreislaufs. Im Mahayana entstand daruber hinaus die Theorie der Identitat von Samsara und Nirwana (in westlich-philosophischen Begriffen also Immanenz statt Transzendenz).
= Nicht-Selbst und Wiedergeburt =
Die Astika-Schulen der indischen Philosophie lehrten das „Selbst“ (p. atta, skt. atman), vergleichbar mit dem Begriff einer personlichen Seele. Der Buddha verneinte die Existenz von atta als personliche und bestandige Einheit. Im Gegensatz dazu sprach er von dem „Nicht-Selbst“ (p. anatta, skt. anatman). Die Vorstellung von einem bestandigen Selbst ist Teil der Tauschung uber die Beschaffenheit der Welt. Gemaß der Lehre des Buddhas besteht die Personlichkeit mit all ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen in der Welt aus den Funf Gruppen, (p. khandha, skt. skandhas): Korper, Empfindungen, Wahrnehmungen, Geistesregungen und Bewusstsein. Das Selbst ist aus buddhistischer Sicht keine konstante Einheit, sondern ein von bestandigem Werden, Wandeln und Vergehen gekennzeichneter Vorgang.
Vor diesem Hintergrund hat das zur Zeit des Buddha bereits existierende Konzept der Wiedergeburt, punabbhava, (p.; puna ‚wieder‘, bhava ‚werden‘) im Buddhismus eine Neudeutung erfahren, denn die traditionelle vedische Reinkarnationslehre basierte auf der Vorstellung einer Seelenwanderung. Wiedergeburt bedeutet im Buddhismus aber nicht individuelle Fortdauer eines dauerhaften Wesenskernes, auch nicht Weiterwandern eines Bewusstseins nach dem Tode. Vielmehr sind es unpersonliche karmische Impulse, die von einer Existenz ausstrahlend eine spatere Existenzform mitpragen.
= Das Erwachen (Bodhi) =
Bodhi ist der Vorgang des „Erwachens“, oft ungenau mit dem unbuddhistischen Begriff „Erleuchtung“ wiedergegeben. Voraussetzungen sind das vollstandige Begreifen der „Vier edlen Wahrheiten“, die Uberwindung aller an das Dasein bindenden Bedurfnisse und Tauschungen und somit das Vergehen aller karmischen Krafte. Durch Bodhi wird der Kreislauf des Lebens und des Leidens (Samsara) verlassen und Nirwana erlangt.
Die buddhistische Tradition kennt drei Arten von Bodhi:
Pacceka-Bodhi wird durch eigene Bemuhungen, ohne die Hilfe von Lehrern, erreicht. Ein derart Erwachter wird als ein Pratyeka-Buddha bezeichnet.
Savaka-Bodhi bezeichnet das Erwachen jener, die mit Hilfe von Lehrern Bodhi erlangen. Ein so Erwachter wird als Arhat bezeichnet.
Samma-Sambodhi wird von einem Samma-Sambuddha („Vollkommen Erwachter“) erlangt. Ein solcher „Vollkommen Erwachter“ gilt als die perfekte, mitfuhlendste und allwissende Form eines Buddha. Der historische Buddha Shakyamuni aus dem Geschlecht von Shakya wird als ein solcher Samma-Sambuddha bezeichnet.
= Verloschen: Nirwana =
Nirwana (Sanskrit) bzw. Nibbana (Pali) bezeichnet die hochste Verwirklichungsstufe des Bewusstseins, in der jede Ich-Anhaftung und alle Vorstellungen/Konzepte erloschen sind. Nirwana kann mit Worten nicht beschrieben, es kann nur erlebt und erfahren werden als Folge intensiver meditativer Ubung und anhaltender Achtsamkeitspraxis. Es ist weder ein Ort – also nicht vergleichbar mit Paradies-Vorstellungen anderer Religionen – noch eine Art Himmel und auch keine Seligkeit in einem Jenseits. Nirwana ist auch kein nihilistisches Konzept, kein „Nichts“, wie westliche Interpreten in den Anfangen der Buddhismusrezeption glaubten, sondern beschreibt die vom Bewusstsein erfahrbare Dimension des Letztendlichen. Der Buddha selbst lebte und unterrichtete noch 45 Jahre, nachdem er Nirwana erreicht hatte. Das endgultige Aufgehen oder „Verloschen“ im Nirwana nach dem Tod wird als Parinirvana bezeichnet.
= Meditation und Achtsamkeit =
Weder das rein intellektuelle Erfassen der Buddha-Lehre noch das Befolgen ihrer ethischen Richtlinien allein reicht fur eine erfolgreiche Praxis aus. Im Zentrum des Buddha-Dharma stehen daher Meditation und Achtsamkeitspraxis. Von der Atembeobachtung uber die Liebende-Gute-Meditation (metta), Mantra-Rezitationen, Gehmeditation, Visualisierungen bis hin zu thematisch ausgerichteten Kontemplationen haben die regionalen buddhistischen Schulen eine Vielzahl von Meditationsformen entwickelt. Ziele der Meditation sind vor allem die Sammlung und Beruhigung des Geistes (samatha), das Trainieren klar-bewusster Wahrnehmung, des „tiefen Sehens“ (vipassana), das Kultivieren von Mitgefuhl mit allen Wesen, die Schulung der Achtsamkeit sowie die schrittweise Auflosung der leidvollen Ich-Verhaftung.
Achtsamkeit (auch Bewusstheit, Vergegenwartigung) ist die Ubung, ganz im Hier und Jetzt zu verweilen, alles Gegenwartige klarbewusst und nicht wertend wahrzunehmen. Diese Hinwendung zum momentanen Augenblick erfordert volle Wachheit, ganze Prasenz und eine nicht nachlassende Aufmerksamkeit fur alle im Moment auftauchenden korperlichen und geistigen Phanomene.
Buddhistische Schulen Es gibt drei Hauptrichtungen des Buddhismus: Hinayana („Kleines Fahrzeug“), aus dessen Tradition heute nur noch die Form des Theravada („Lehre der Alteren“) existiert, Mahayana („Großes Fahrzeug“) und Vajrayana (im Westen meist als Tibetischer Buddhismus bekannt oder irrefuhrenderweise als „Lamaismus“ bezeichnet). In allen drei Fahrzeugen sind die monastischen Orden Haupttrager der Lehre und fur deren Weitergabe an die folgenden Generationen verantwortlich. Ublicherweise gilt auch der Vajrayana als Teil des großen Fahrzeugs. Der Begriff Hinayana wurde und wird von den Anhangern der ihm zugehorigen Schulen abgelehnt, da er dem Mahayana entstammt.
= Theravada =
Theravada bedeutet wortlich „Lehre der Ordens-Alteren“ und geht auf diejenigen Monche zuruck, welche die Lehrreden noch direkt vom Buddha gehort haben, z. B. Ananda, Kassapa, Upali. Der Theravada-Buddhismus ist die einzige noch bestehende Schule der verschiedenen Richtungen des Hinayana. Seine Tradition bezieht sich in ihrer Praxis und Lehre ausschließlich auf die altesten erhaltenen Schriften der buddhistischen Uberlieferung, die im Tipitaka (Pali) (auch Tripitaka (Sanskrit) oder Pali-Kanon), zusammengefasst sind. Dieser „Dreikorb“ (Pitaka: Korb) besteht aus folgenden Teilen:
Die Regeln fur die Gemeinschaft (Sangha) der buddhistischen Monche und Nonnen – Vinaya, siehe auch: Vinayapitaka
Die Lehrreden des Buddha – Sutta, siehe auch: Suttapitaka
Eine philosophische Systematisierung der Lehren des Buddha – Abhidhamma, siehe auch: Abhidhammapitaka
Die Betonung liegt im Theravada auf dem Befreiungsweg des Einzelnen aus eigener Kraft nach dem Arhat-Ideal und der Aufrechterhaltung und Forderung des Sangha. Theravada ist vor allem in den Landern Sud- und Sudostasiens (Sri Lanka, Myanmar, Thailand, Laos und Kambodscha) verbreitet.
= Hinayana =
Der Hinayana-Buddhismus (Sanskrit, n., हीनयान, hinayana, „kleines Fahrzeug“) bezeichnet einen der beiden großen Hauptstrome des Buddhismus. Hinayana ist alter als die andere Hauptrichtung, der Mahayana. Im Hinayana strebt ein Mensch nach dem Erwachen, um selbst nicht mehr leiden zu mussen. Hinayana bezieht sich also nur auf eine Person, die danach strebt, vollkommen zu sein. In diesem Aspekt unterscheidet er sich vom Mahayana, in dem versucht wird, auch andere Lebewesen zum Erwachen zu fuhren.
= Mahayana =
Der Mahayana-Buddhismus (Sanskrit, n., महायान, mahayana, „großes Fahrzeug“) geht im Kern auf die Mahasanghika („große Gemeinde“) zuruck, eine Tradition, die sich in der Folge des zweiten buddhistischen Konzils (etwa 100 Jahre nach dem Tod des Buddha) entwickelt hatte. Der Mahayana verwendet neben dem Tripitaka auch eine Reihe ursprunglich in Sanskrit abgefasster Schriften („Sutras“), die zusammen den Sanskrit-Kanon bilden. Zu den bedeutendsten Texten gehoren das Diamant-Sutra, das Herz-Sutra, das Lotos-Sutra und die Sutras vom reinen Land. Ein Teil dieser Schriften ist heute nur noch in chinesischen oder tibetischen Ubersetzungen erhalten.
Im Unterschied zur Theravada-Tradition, in der das Erreichen von Bodhi durch eigenes Bemuhen im Vordergrund steht, nimmt im Mahayana das Bodhisattva-Ideal eine zentrale Rolle ein. Bodhisattvas sind Wesen, die als Menschen bereits Bodhi erfuhren, jedoch auf das Eingehen in das Parinirvana verzichteten, um stattdessen allen anderen Menschen, letztlich allen Wesen, zu helfen, ebenfalls dieses Ziel zu erreichen.
Bedeutende Schulen des Mahayana sind beispielsweise die des Zen-Buddhismus, des Nichiren-Buddhismus und des Amitabha-Buddhismus.
= Vajrayana =
Vajrayana („Diamantfahrzeug“) ist eigentlich ein Teil des Mahayana. Im Westen ist er meist falschlicherweise nur als Tibetischer Buddhismus oder als Lamaismus bekannt, tatsachlich ist er jedoch eine Sammelbezeichnung fur verschiedene Schulen, die außer in Tibet auch in Japan, China und der Mongolei (geschichtlich auch in Indien und Sudostasien) verbreitet sind.
Er beruht auf den philosophischen Grundlagen des Mahayana, erganzt diese aber um tantrische Techniken, die den Pfad zum Erwachen deutlich beschleunigen sollen. Zu diesen Techniken gehoren neben der Meditation unter anderem Visualisierung (geistige Projektion), das Rezitieren von Mantras und weitere tantrische Ubungen, zu denen Rituale, Einweihungen und Guruyoga (Einswerden mit dem Geist des Lehrers) gehoren.
Diese Seite des Mahayana legt besonderen Wert auf geheime Rituale, Schriften und Praktiken, welche die Praktizierenden nur schrittweise erlernen. Daher wird Vajrayana innerhalb des Mahayana auch „esoterische Lehre“ genannt, in Abgrenzung von „exoterischen Lehren“, also offentlich zuganglichen Praktiken wie dem Nenbutsu des Amitabha-Buddhismus.
Der tibetische Buddhismus legt besonderen Wert auf direkte Ubertragung von Unterweisungen von Lehrer zu Schuler. Eine wichtige Autoritat des tibetischen Buddhismus ist der Dalai Lama.
Die vier Hauptschulen des Tibetischen Buddhismus sind:
Nyingma („Die Alten“): Die alteste tibetische Schule, zuruckgehend auf Padmasambhava (8. Jahrhundert).
Kagyu („Linie der mundlichen Uberlieferung“): Gegrundet von Marpa und dessen Schuler Milarepa (11. Jahrhundert).
Sakya („Graue Erde“): Nach dem von Khon Konchog Gyalpo gegrundeten Kloster benannt (11. Jahrhundert).
Gelug („Die Tugendhaften“): Gegrundet von Tsongkhapa (14. Jahrhundert).
Der Tibetische Buddhismus ist heute in Tibet, Bhutan, Nepal, Indien (Ladakh, Sikkim), der Mongolei und Teilen Russlands (Burjatien, Kalmuckien, Tuwa, Republik Altai) verbreitet.
Etwa im 9. Jahrhundert verbreitete sich der Vajrayana auch in China. Als eigene Schule hielt er sich nicht, hatte aber Einfluss auf andere Lehrtraditionen dort. Erst in der Qing-Zeit wurde der Vajrayana der Mandschu unter Forderung der tibetischen Richtungen wieder eine staatliche Religion.
Er wurde noch im gleichen Jahrhundert seiner Einfuhrung in China nach Japan ubertragen. Dort wird Vajrayana in der Shingon-Schule gelehrt. Mikkyo (jap. Ubersetzung von Mizong) hatte aber Einfluss auf Tendai und alle spateren Hauptrichtungen des japanischen Buddhismus.
Buddhistische Feste und Feiertage Buddhistische Zeremonien, Feste und Feiertage werden auf unterschiedliche Art und Weise zelebriert. Einige werden in Form einer Puja gefeiert, was im Christentum etwa einer Andacht – erganzt durch eine Verdienstubertragung – entsprechen wurde. Andere Feste sind um zentrale Straßenprozessionen herum organisiert. Diese konnen dann auch Volksfest-Charakter mit allen dazugehorigen Elementen wie Verkaufsstanden und Feuerwerk annehmen. In Japan zum Beispiel werden sie dann Matsuris genannt. Die Termine fur die Feste richteten sich ursprunglich hauptsachlich nach dem Lunisolarkalender. Heute sind dagegen einige auf ein festes Datum im Sonnenkalender festgelegt.
Die „universellen“ Feiertage sind fett hervorgehoben. Damit sind Feiertage gemeint, die nicht nur in einem bestimmten Land oder einer bestimmten Schule des Buddhismus gefeiert werden, sondern die von grundlegender Bedeutung fur die buddhistische Praxis sind (vergleichbar etwa dem christlichen Ostern oder Weihnachten).
Siehe auch Buddhistische Literatur
Buddhistische Philosophie
Buddhistische Wirtschaftslehre
Liste der buddhistischen Tempel und Kloster
Kloster#Buddhistische Tradition
Literatur Nachschlagewerke
Robert E. Buswell: Encyclopedia of Buddhism. Macmillan Reference, 2003, ISBN 0-02-865910-4.
Robert E. Buswell und Donald S. Lopez (Hrsg.): The Princeton Dictionary of Buddhism, New Jersey: Princeton University Press 2014.
Oliver Freiberger, Christoph Kleine: Buddhismus: Handbuch und kritische Einfuhrung, Gottingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2. verb. Aufl. 2015.
Damien Keown (Hrsg.): Encyclopedia of Buddhism. Routledge, London u. a. 2009, ISBN 978-0-415-55624-8.
Tomohiro Matsuda (Hrsg.): A Dictionary of Buddhist Terms and Concepts. 3. Auflage. Nichiren Shoshu International Center, Tokio 1988, ISBN 4-88872-014-2.
Klaus-Josef Notz (Hrsg.); Lexikon des Buddhismus Grundbegriffe – Traditionen – Praxis, Digitale Bibliothek Band 48, Directmedia Publishing, Berlin 2004, ISBN 3-89853-448-0.
Nyanatiloka: Buddhist Dictionary – Manual of Buddhist Terms and Doctrines. Buddhist Publication Society, Kandy/Sri Lanka 1988, ISBN 955-24-0019-8 (archivierte Kopie [Memento vom 8. Oktober 2012 im Internet Archive; PDF; 1,6 MB]).
Sutra Translation Committee of the United States and Canada: The Seeker’s Glossary of Buddhism. (Memento vom 30. April 2013 im Internet Archive; PDF; 4,7 MB) 2. Auflage. The Corporate Body of the Buddha Educational Foundation/Buddha Dharma Education Association, Taipei 1998.
Biographisches
Helwig Schmidt-Glintzer: Die Reden des Buddha. dtv C. H. Beck, Munchen 2005, ISBN 3-423-34242-0.
Hans W. Schumann: Der historische Buddha – Leben und Lehre des Gotama. Hugendubel, Kreuzlingen/Munchen 2004, ISBN 3-89631-439-4. (Diederichs Gelbe Reihe).
Einfuhrungen und Grundgedanken
Michael von Bruck: Einfuhrung in den Buddhismus. Verlag der Weltreligionen, Frankfurt/Leipzig 2007, ISBN 978-3-458-71001-1.
Hansjorg Pfister: Philosophische Einfuhrung in den fruhen Buddhismus. Verlag Reith & Pfister, Botzingen 2004, ISBN 3-9805629-9-9.
Verena Reichle: Die Grundgedanken des Buddhismus. 11. Auflage, Fischer, Frankfurt 2003, ISBN 3-596-12146-9.
Almut-Barbara Renger: Buddhismus. 100 Seiten. Reclam, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-15-020438-2.
Geschichte und Lehre
Heinz Bechert, Richard Gombrich: Der Buddhismus: Geschichte und Gegenwart. 2. Auflage. Beck, Munchen 2002, ISBN 3-406-42138-5.
Edward Conze: Der Buddhismus: Wesen und Entwicklung. 10. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 1995, ISBN 3-17-013505-8.
Wilhelm K. Essler, Ulrich Mamat: Die Philosophie des Buddhismus. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2005, ISBN 3-534-17211-6.
Oliver Freiberger, Christoph Kleine: Buddhismus. Handbuch und kritische Einfuhrung. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2011, ISBN 978-3-525-50004-0.
Donald S. Lopez: Buddhism: A Journey through History. Yale University Press, New Haven 2025, ISBN 978-0-300-23426-8.
Lambert Schmithausen: Buddhismus und Glaubenskriege. In: Peter Herrmann (Hrsg.): Glaubenskriege der Vergangenheit und Gegenwart. Referate, gehalten auf dem Symposium der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 1996, ISBN 3-525-86272-5.
Hans W. Schumann: Handbuch Buddhismus: Die zentralen Lehren – Ursprung und Gegenwart. Diederichs, Munchen 2000, ISBN 3-7205-2153-2.
Volker Zotz: Geschichte der buddhistischen Philosophie. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996, ISBN 3-499-55537-9.
Geschichte des Buddhismus. In: Geo Epoche. Nr. 26, 05/2007, ISSN 1861-6097, ISBN 978-3-570-19738-7.
Indien
Heinz Bechert: Der Buddhismus I: Der indische Buddhismus und seine Verzweigungen. Kohlhammer, Stuttgart 2000, ISBN 3-17-015333-1.
Edward Conze: Buddhistisches Denken. Drei Phasen buddhistischer Philosophie in Indien. Insel, Frankfurt am Main/Leipzig 1988. (2. Auflage. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-518-38272-1) (Insel, Frankfurt am Main 2007, ISBN 978-3-458-34948-8) (Conzes Hauptwerk in der Nachkriegszeit)
Sukumar Dutt: Buddhist Monks and Monasteries in India. Their History and their Contribution to Indian Culture. Allen & Unwin, London, Erstdruck 1962.
Neudruck: Motilal Banarsidass, Delhi, Indien 1988, ISBN 81-208-0498-8.
Interkulturelle und naturwissenschaftliche Aspekte
Christian Thomas Kohl: Buddhismus und Quantenphysik – Schlussfolgerungen uber die Wirklichkeit. 3. Auflage. Windpferd-Verlag, Oberstdorf 2013, ISBN 978-3-86410-033-8.
Marco S. Torini: Apophatische Theologie und gottliches Nichts. Uber Traditionen negativer Begrifflichkeit in der abendlandischen und buddhistischen Mystik. In: Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Ubersetzbarkeit religioser Phanomene. De Gruyter, Berlin u. a. 1994, S. 493–520.
Rezeption des Buddhismus in der westlichen Welt
Roger-Pol Droit: L’oubli de l'Inde, une amnesie philosophique. Presses universitaires de France, Paris 1989. (Neuauflage Le Seuil, „Points“ series, Paris 2004)
Roger-Pol Droit: Le culte du neant, les philosophes et le Bouddha. Le Seuil, Paris, 1997. (Neuauflage Reihe „Points“, Paris, 2004)
Volker Zotz: Auf den gluckseligen Inseln. Buddhismus in der deutschen Kultur. Theseus, 2000, ISBN 3-89620-151-4.
Weblinks Literatur von und uber Buddhismus im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Hajime Nakamura: Buddhism im Dictionary of the History of Ideas
Linkkatalog zum Thema Buddhismus bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Charles Muller (Chefredakteur): Digital Dictionary of Buddhism (englisch)
Internet Sacred Text Archive: Buddhism (englisch)
Online Netzwerk der DBU (Deutsche Buddhistische Union)
Axel Michaels: Kommentierte Bibliographie zum Buddhismus, Heidelberg, 5. Auflage 2001.
Buddhismus-Dossier – Weltreligionen bei wdr.de
Zugang zur Einsicht deutsche Spiegelseite von www.accesstoinsight.org
Yasuhiro Sueki: Bibliographical Sources for Buddhist Studies from the Viewpoint of Buddhist Philology. Version 1.4, 2014 International College for Postgraduate Buddhist Studies
Dhammawiki Wiki, in englischer Sprache, zum Thema Buddhismus
Nuamata Zentrum fur Buddhismuskunde der Universitat Hamburg mit Videos und Texten zum Thema Buddhismus
Thomas Oberlies: Veda-Schuler, Bettelasketen und Monche. (PDF; 127 kB)
Schema und Stammbaum der buddhistischen Schulen in Beziehung zur Zeit. (Bild)
Einzelnachweise
|
Der Buddhismus ist eine der großen Weltreligionen. Im Gegensatz zu anderen großen Religionen ist der Buddhismus keine theistische Religion, und daher hat er auch nicht die Verehrung eines allmachtigen Gottes als sein Zentrum (wie es etwa im Christentum der Fall ist). Vielmehr grunden sich die meisten buddhistischen Lehren auf umfangreiche philosophisch-logische Uberlegungen in Verbindung mit Leitlinien der Lebensfuhrung, wie es auch im chinesischen Daoismus und Konfuzianismus der Fall ist. Zudem ist die Praxis der Meditation und daraus herruhrendes Erfahrungswissen ein wichtiges Element im Buddhismus.
Wie andere Religionen umfasst auch der Buddhismus ein weites Spektrum an Erscheinungsformen, die sowohl philosophische Lehre beinhalten als auch Klosterwesen, kirchen- oder vereinsartige Religionsgemeinschaften und einfache Volksfrommigkeit. Sie werden im Fall des Buddhismus aber durch keine zentrale Autoritat oder Lehrinstanz, die Dogmen verkundet, zusammengehalten.
Gemeinsam ist allen Buddhisten, dass sie sich auf die Lehren des Siddhartha Gautama berufen, der in Nordindien lebte, nach den heute in der Forschung vorherrschenden Datierungsansatzen im 6. und moglicherweise noch im fruhen 5. Jahrhundert v. Chr. Er wird als der „historische Buddha“ bezeichnet, um ihn von den mythischen Buddha-Gestalten zu unterscheiden, die nicht historisch bezeugt sind. „Buddha“ bedeutet wortlich „der Erwachte“ und ist ein Ehrentitel, der sich auf ein Erlebnis bezieht, das als Bodhi („Erwachen“) bezeichnet wird. Gemeint ist damit nach der buddhistischen Lehre eine fundamentale und befreiende Einsicht in die Grundtatsachen allen Lebens, aus der sich die Uberwindung des leidhaften Daseins ergibt. Diese Erkenntnis nach dem Vorbild des historischen Buddha durch Befolgung seiner Lehren zu erlangen, ist das Ziel der buddhistischen Praxis – wobei von den beiden Extremen der selbstzerstorerischen Askese und des ungezugelten Hedonismus, aber auch generell von Radikalismus abgeraten wird, vielmehr soll ein Mittlerer Weg eingeschlagen werden. In diesem Zusammenhang stellen die Aussagen des Religionsgrunders Buddha in der Uberlieferung die zentrale Autoritat dar, und es gibt einen historisch gewachsenen Kanon an Texten, mit dem im Rahmen von Buddhistischen Konzilien die Grundlinien der Religion bestimmt worden sind (siehe Buddhistischer Kanon). Gleichwohl handelt es sich nicht um Dogmen im Sinne einer Offenbarungsreligion, deren Autoritat sich auf den Glauben an eine gottlich inspirierte heilige Schrift stutzt. Dementsprechend wird der Buddha im Buddhismus verehrt, aber nicht in einem engeren Sinne angebetet.
Der Buddhismus hat weltweit je nach Quelle und Zahlweise zwischen 230 und 500 Millionen Anhanger – und ist damit die viertgroßte Religion der Erde (nach Christentum, Islam und Hinduismus). Der Buddhismus stammt aus Indien und ist heute am meisten in Sud-, Sudost- und Ostasien verbreitet. Etwa die Halfte aller Buddhisten lebt in China. Er hat seit dem 19. Jahrhundert aber auch begonnen, in der westlichen Welt Fuß zu fassen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Buddhismus"
}
|
c-13945
|
Barenklauen (auch Barentatzen, Ochsenmauler oder Kuhmauler genannt) sind typische Schuhe der fruhen Neuzeit (16. Jahrhundert).
Die Barenklauen sind aus den Entenschnabeln hervorgegangen, diese wiederum aus den spitzen Schnabelschuhen.
Sie haben breite Sohlen, sind an der Seite und hinten kaum einen Fingerbreit hoch und haben auf der Vorderseite einen mehrmals geschlitzten und unterpufften Sack.
|
Barenklauen (auch Barentatzen, Ochsenmauler oder Kuhmauler genannt) sind typische Schuhe der fruhen Neuzeit (16. Jahrhundert).
Die Barenklauen sind aus den Entenschnabeln hervorgegangen, diese wiederum aus den spitzen Schnabelschuhen.
Sie haben breite Sohlen, sind an der Seite und hinten kaum einen Fingerbreit hoch und haben auf der Vorderseite einen mehrmals geschlitzten und unterpufften Sack.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bärenklauen"
}
|
c-13946
|
Das 16. Jahrhundert begann am 1. Januar 1501 und endete am 31. Dezember 1600. Es dauerte wegen der gregorianischen Kalenderreform von 1582 nach dem julianisch-gregorianischen Kalender nur 36.515 Tage.
Die Weltbevolkerung zu Beginn dieses Jahrhunderts wird im Mittel auf 440 Millionen Menschen geschatzt, wahrend sie zum Ende des Jahrhunderts schatzungsweise auf 560 Millionen Menschen anstieg. Der globale Austausch von Gutern und Ideen erreichte eine nie zuvor gekannte Intensitat und Qualitat. Die iberischen Reiche etablierten ein weltumspannendes Handelsnetz, in das sie Amerika integrierten. Amerikanische Guter gelangten sowohl nach Europa als auch nach Asien und Afrika und erweiterten das dortige Lebensmittelangebot. Umgekehrt gelangten zahlreiche Kulturpflanzen und vor allem Nutztiere von Europa nach Amerika. Einerseits ging die indigene Bevolkerung durch die von Europaern mitgebrachten Epidemien stark zuruck, anderseits gab es eine starke Einwanderung aus Afrika und Europa. Die lateinische Christenheit Europas spaltete sich im Zuge der Reformation. Der eng mit der Reformation verknupfte starke Anstieg gedruckter Werke vergroßerte die Bildung breiter europaischer Bevolkerungsschichten.
Wahrend das am Rande Europas gelegene Russische Zarenreich seine Expansion nach Sibirien begann, expandierte das Osmanische Reich rund um das Mittelmeer und wandelte sich zu einer Großmacht mit mehrheitlich muslimischer Bevolkerung. Weiter ostlich entstanden mit dem iranischen Safawidenreich und dem indischen Mogulreich zwei weitere große islamische Großmachte. Wie im christlichen Europa wurde auch fur die islamischen Schießpulver-Reiche die konfessionelle Ausrichtung als Merkmal zur gegenseitigen Abgrenzung immer wichtiger. Auf den sudostasiatischen Inseln wurde der Islam zur vorherrschenden Religion. Chinas wirtschaftlicher Aufschwung ging mit einer Reduzierung der Standesunterschiede einher. In der zweiten Jahrhunderthalfte wurde das in viele Herrschaften zersplitterte Japan durch mehrere Feldherren geeint. Nach ihrer gescheiterten Invasion Koreas ließen die Japaner ein zerstortes Land zuruck.
Europa Das Europa des 16. Jahrhunderts wird der Epoche der fruhen Neuzeit zugerechnet. Der Kontinent gliederte sich in zahlreiche christlich gepragte Territorialstaaten, von denen Frankreich, England, Spanien und Polen-Litauen die Großten waren. Die Territorien wurden von Monarchen regiert, die ihre Herrschaft an ihre Nachkommen vererbten. In diesem Jahrhundert stieg die Dynastie der Habsburger zur machtigsten Dynastie Europas auf. Auch wenn sie Kaiser des zentraleuropaischen Heiligen Romischen Reiches Deutscher Nation waren, war ihre Macht außerhalb des von ihnen direkt regierten Osterreich beschrankt. Das in Osteuropa gelegene russisch-orthodox gepragte Russische Zarenreich eroberte nicht nur europaische Nachbarterritorien, sondern begann seine Expansion nach Sibirien. Sudosteuropa wurde vom muslimischen Osmanischen Reich beherrscht.
Uber die iberischen Reiche nahm die Einbindung Europas in den globalen Handel stark zu, was nicht nur das europaische Warenangebot, sondern auch das Wissen uber die Welt deutlich vergroßerte. Humanismus und Renaissance, die vorher ihren Schwerpunkt in Italien hatten, etablierten sich in den Landern nordlich der Alpen. Sie fuhrten zum Aufschwung der Wissenschaften und zu einer starkeren Versachlichung der Herrschaft.
Die Reformation veranderte nicht nur die religiosen Vorstellungen von Teilen der europaischen Bevolkerung, sondern fuhrte auch zu einer Veranderung der politischen Verhaltnisse. Diese Veranderungen mundeten in mehrere gewaltsame Konflikte.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Temperaturen in Europa im Mittel nur geringfugig kuhler als die Durchschnittstemperatur im 20. Jahrhundert. Jedoch gingen die Temperaturen nach dem Jahr 1540, dem warmsten und trockensten Jahr des Jahrhunderts, im Trend nach unten. In dieser Zeit, in der es Schwankungen und Zwischenphasen gab, mehrten sich ab 1560 extreme Kalteperioden, wobei der Winter des Jahres 1573 der kalteste Winter des Jahrhunderts war.
= Zentral- und Sudeuropa =
Der großte Teil Zentraleuropas war Teil des Heiligen Romischen Reiches, Sacrum Imperium Romanum. Dieses gliederte sich in zahlreiche Herrschaften und reichsfreie Stadte. Insbesondere die großeren Furstentumer bauten ihre autonome Herrschaft zu quasi souveranen Reichen aus. Am machtigsten waren die Kurfurstentumer, deren Regenten den Kaiser wahlen durften. Er sowie die Reichsorgane konnten nur beschrankt Macht uber die Fursten und Reichsstande ausuben. Mit der Reformation wurde die Mehrheit des Reiches evangelisch. Die evangelischen Fursten zogen die Besitztumer von Kirche und Monchsorden in ihrem Herrschaftsgebiet zu ihren Gunsten ein und bauten so die Zentralherrschaft in ihren Territorien aus. Insbesondere Kaiser Karl V. (von 1530 bis 1556 Kaiser) versuchte, durch den Schmalkaldischen Krieg den katholischen Glauben wiedereinzufuhren und nach seinem Sieg die kaiserliche Zentralherrschaft zu starken. Auch wenn er Zwischenerfolge erzielte, scheiterte er letztendlich mit seinen Anliegen. Der Augsburger Religionsfriede des Jahres 1555 sicherte den evangelischen Fursten ihre Besitzstande zu, bot jedoch auch Anknupfungspunkte fur die Gegenreformation. Die Bauern wurden durch die Ausdehnung der furstlichen Rechte und Herrschaftsbefugnisse zunehmend bedrangt. Angeregt durch die Freiheitsversprechen einiger Reformatoren brachen Bauernaufstande aus, die zu Bauernkriegen eskalierten. Bei der militarischen Niederschlagung der Aufstande verloren viele Bauern ihr Leben. Die Fursten schrankten ebenfalls die Macht der kleinadeligen Ritter ein, die ihre wirtschaftliche Grundlage und angestammte Lebensweise in Gefahr sahen. Der Aufstand der Ritter wurde wie der Aufstand der Bauern durch die Fursten niedergeworfen.
Auf Reichsebene gab es Institutionen, wie den Reichstag und den Reichsgerichtshof, die jedoch nur einen geringen Einfluss auf die einzelnen Territorien hatten. Dennoch gelang es mit der Constitutio Criminalis Carolina, einem Strafgesetzbuch, das Strafrecht im Reich zu reformieren und einheitlicher zu gestalten.
Kaiser Karl V. war sowohl Regent des Reiches als auch Spaniens. Dessen Ressourcen und die seiner Kolonien nutzte er fur zahlreiche Kriege in Europa so stark, dass Spanien in diesem Jahrhundert, trotz starkem Silberimport aus Sudamerika, mehrfach in den Staatsbankrott geriet. Philipp II. fuhrte die Politik seines Vaters fort, auch wenn er nicht mehr uber die osterreichischen Erblande mit ihrem Kaisertitel gebot. Ihm gelang ein vorubergehender Sieg gegen die Osmanen im Kampf um die Vorherrschaft im Mittelmeer. Ferner konnte er seine Machtstellung in Italien, ganz Suditalien gehorte zu seinem Herrschaftsbereich, festigen. Durch einen Erbfall erlangte er zum Jahrhundertende zusatzlich die Herrschaft uber Portugal. Hingegen konnte er den Abfall eines Teils der Niederlande nicht verhindern und seinen Einfluss auf England nicht aufrechterhalten.
Karl und Philipp sicherten ihre Macht im Innern durch eine Allianz mit der Kirche. Mit koniglicher Ruckendeckung gingen die katholischen Inquisitoren mit den Mitteln des Inquisitionsverfahrens gewaltsam gegen jegliche Abweichung vom katholischen Glauben in Spanien vor. Ihr massives Vorgehen gegen konvertierte Juden und Muslime forderte deren Massenauswanderung. Weiterhin sicherte der Aufbau einer Burokratie und Diplomatie, die Ansatze eines modernen Staates hatte, die monarchische Macht. Die koniglichen Finanzschwierigkeiten hinderten Spanien nicht, wirtschaftlich wie kulturell ein goldenes Zeitalter zu erleben. Doch die Krisen des folgenden Jahrhunderts kundigten sich mit der Inflation durch den Silberimport bereits an.
Der Norden der Italienischen Halbinsel war ein Ort standiger Auseinandersetzungen zwischen den osterreichischen Habsburgern, Frankreich, den italienischen Kleinstaaten und dem Kirchenstaat. Im Laufe des Jahrhunderts konnten die Habsburger Frankreich aus Italien weitgehend verdrangen. Die verschiedenen Kleinstaaten hielten ihre Stellungen.
= Westeuropa =
England wurde im 16. Jahrhundert von der Tudor-Dynastie regiert. Heinrich VIII. loste sich im Jahr 1534 von der romisch-katholischen Kirche und grundete die anglikanische Kirche, dessen Oberhaupt der Monarch war. Nach der Trennung von Rom loste er die Kloster seines Reiches auf, konfiszierte ihren Landbesitz und verkaufte diesen an Kleinadelige und reiche Bauern zu sehr gunstigen Preisen. Diese Profiteure der englischen Reformation waren eine wichtige Machtbasis, auf die die Krone die Durchsetzung der Reformation stutzte. Aber erst Elisabeth I. setzte das anglikanische Bekenntnis in England mit massiven Repressionsmaßnahmen flachendeckend durch. Hingegen blieb die irische Bevolkerung, deren Konige die Tudors in Personalunion waren, katholisch. In der zweiten Jahrhunderthalfte besiedelten zahlreiche Englander anglikanischen Bekenntnisses die irische Insel. Die von Elisabeth unterstutzte Piraterie gegen Spanien und der religiose Gegensatz fuhrten zu mehreren Seekriegen beider Lander, die die Englander gewannen.
Auch in den Spanischen Niederlanden fand die Reformation, hier die calvinistische Auslegung, großen Anhang. Ihre Anhanger wurden jedoch von den herrschenden spanischen Habsburgern unterdruckt. Mit dem Bildersturm von 1566 begann der Niederlandische Freiheitskampf, der als bedeutende fruhburgerliche Revolution des 16. Jahrhunderts einen wichtigen Schritt vom Ubergang vom Feudalismus zum Fruhkapitalismus in Westeuropa bedeutete. Nach zahlreichen Auseinandersetzungen erklarte sich der nordliche Teil als Republik der Sieben Vereinigten Provinzen im Jahr 1581 fur unabhangig.
Vor der Auseinandersetzung mit Spanien waren England und die Spanischen Niederlande Teil eines Handelsnetzwerkes, das uber die Hafenstadt Antwerpen mit dem iberischen Welthandel verbunden war. Uber dieses Netzwerk exportierten sie ihre Waren, beide hatten eine bedeutende Textilproduktion, in die ganze Welt. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit Spanien zerbrach dieses Handelsnetzwerk und beide Lander begannen ihren Aufstieg zu Welthandelsmachten, die den iberischen Welthandel im folgenden Jahrhundert stark zuruckdrangten.
Nach den Ruckschlagen des Hundertjahrigen Krieges erholte sich Frankreich. Die Konige an der Spitze des Staates versuchten ihre Macht gegenuber Adel und Burgertum auszubauen. Dabei half ihnen das Konkordat von Bologna, mit dem sie die Amter der einflussreichen Kirche besetzen konnten. Die kleine aber einflussreiche Gruppe von Adeligen und Burgern die Mitte des Jahrhunderts zur calvinistischen Konfession ubertraten, sahen die Monarchen als Gefahr ihrer Macht. Die religiosen Gegensatze wurden in der zweiten Jahrhunderthalfte in einer Reihe von Burgerkriegen, den Hugenottenkriegen, ausgetragen. Diese wurden mit dem Edikt von Nantes beendet, das den Calvinisten umfangreiche religiose Rechte einraumte. Außenpolitisch versuchten die Konige ihre Macht gegenuber den Habsburgern zu behaupten, wozu sie Bundnisse uber religiose Grenzen hinweg mit den deutschen evangelischen Fursten, den Osmanen und dem anglikanischen England abschlossen. Es gelang ihnen, die Grenzen Frankreichs nicht nur zu halten, sondern zu erweitern.
= Nord- und Osteuropa =
Ostlich des Heiligen Romischen Reiches lag die von den Jagiellonen regierte Polnisch-Litauische Union. Sie vereinte das Konigreich Polen und das Großfurstentum Litauen unter einer Krone. Durch die Union von Lublin im Jahr 1569 wurden beide Lander zu einem einheitlichen Reich zusammengefasst. Wie in beiden Teilreichen zuvor, konnte eine Adelsversammlung, der Reichstag, den Konig wahlen. Da die Jagiellonen-Dynastie bis 1569 der Garant fur die Union war, wurden bis dahin nur Konige aus dieser Dynastie gewahlt. Nachdem der letzte Konig der Dynastie ohne mannlichen Erben gestorben war, gingen die Adeligen zur freien Konigswahl uber. Da der Adel unter dem Konig der einzige Stand mit Herrschaftsrechten war, wird von einer Adelsrepublik gesprochen.
Auch in Polen fanden Luther und Calvin vor allem beim deutschsprachigen Burgertum und beim Adel Anhanger. Die katholische Kirche setzte die Beschlusse des Konzils von Trient schnell um und stellte in Polen eine große Kircheneinheit unter dem Papst den anderen Konfessionen gegenuber. Gewaltsame Konflikte zwischen den Konfessionen wurden durch die ab 1573 vom Konig beschworene Glaubenstoleranz vermieden. Die nordlich von Polen gelegenen Gebiete des Deutschen-Ordens unterstellten sich in diesem Jahrhundert der Lehnshoheit des polnischen Konigs. Der Ordensmeister wechselte zur evangelischen Konfession und grundete das Herzogtum Preußen als weltlich regiertes Gebiet unter polnischer Lehenshoheit. Livland, das dem heutigen Estland und Lettland entsprach, war ein Gebiet mit deutscher Oberschicht und baltischer Bauernschaft. Polen beendete die zeitweise Besetzung großer Teile Livlands durch das russische Zarenreich und wurde seinerseits zum Lehnsherr des Gebietes. Im Jahr 1600 geriet es mit Schweden in Konflikt uber Livland, der in einen jahrzehntelangen Krieg mundete.
Schweden hatte sich zuvor in einem Burgerkrieg aus der Kalmarer Union mit Danemark gelost. Unter dem ersten Wasa Konig wurde es lutherisch. Den Konfessionswechsel nutzte der schwedische Konig, um die Guter der Kloster zugunsten der Krone zu sakularisieren. Damit baute der Monarch, dem nun 70 % der Steuereinnahmen direkt zustanden, seine Macht gegenuber dem Adel aus.
Im 16. Jahrhundert expandierte das Großfurstentum Moskau und spatere russische Zarenreich durch stetige Eroberungszuge um ein Vielfaches seiner ursprunglichen Große. Insbesondere bei der Expansion nach Westen geriet das Reich in standige Kriege mit Polen-Litauen und spater mit Schweden. Der erhoffte Durchbruch zur Ostsee gelang nicht. Im Suden und Osten eroberten russische Truppen und die in ihrem Auftrag handelnden Kosaken die Nachfolgereiche der Goldenen Horde. Am weitreichendsten war die Eroberung des Khanates Sibir, das ostlich des Urals lag. Mit ihr begann die russische Eroberung Sibiriens.
Das Großfurstentum Moskau wurde von den autokratischen Herrschern der Rurikiden-Dynastie, die sich seit Iwan dem Schrecklichen Zaren nannten, regiert. Mit diesem Titel sahen sich die Regenten als Beschutzer der orthodoxen Kirche, die ihre Herrschaft legitimierte und stutzte. Wie ihre Vorganger fuhrten die Zaren Maßnahmen zur Zentralisierung des Reiches, wie die Vereinheitlichung von Gesetzen und der Wahrung, durch. Die Bedeutung des Erbadels wurde durch den Aufbau eines Dienstadels verringert. Durch die Opritschnina-Politik, bei der Iwan der Schreckliche hunderte tatsachliche oder vermeintliche Gegner durch seine Leibgarde ermorden ließ, verkleinerte er den Erbadel und starkte seine autoritare Macht. Durch den verlorenen Livlandischen Krieg und die Unterdruckungsmaßnahmen war das Reich zum Jahrhundertende in einer sehr schlechten wirtschaftlichen und politischen Verfassung.
= Herrschaft und Gesellschaft =
Europas Gesellschaft war eine Standegesellschaft, die in sehr begrenzten Fallen einen Auf- oder Abstieg ermoglichte. Das gesellschaftliche Klima in England erlaubte eine großere Durchlassigkeit zwischen Adel und vermogendem Burgerstand. Der Stand, in dem man mit Ausnahme des Klerikerstandes hineingeboren wurde, bestimmte Rechte und Pflichten der Menschen. Der fuhrende Stand war der Adelsstand, der Herrschaftsrechte, steuerliche und rechtliche Privilegien genoss. Typische Aufgaben dieses Standes waren die Ausubung von Herrschaft, Verwaltung des Landbesitzes und die Kriegsfuhrung. Der Klerikerstand in romisch-katholischen Landern war der einzige Stand, den man wahlte. Auch hier gab es große Unterschiede zwischen den Dorfpfarrern, die meist aus einfachen Verhaltnissen stammten, und den meist dem Adel entstammenden Bischofen und Abten. Der weit uberwiegende Teil der Bevolkerung gehorte dem Dritten Stand an, der oft in den stadtischen Burgerstand und den Bauernstand untergliedert wird. Zahlreiche Differenzierungen innerhalb dieser Stande wirkten sich auf Rechte und Pflichten aus. Allgemein bestimmte der Stand die Berufswahl und die Auswahlmoglichkeiten eines Ehepartners. Der Vermogensbesitz spielte ebenfalls eine Rolle. Er qualifizierte fur die Besetzung von offentlichen Amtern. Die Standeordnung wurde von den Menschen im 16. Jahrhundert als gottgegeben und notwendig fur das Funktionieren der Gesellschaft akzeptiert.
Der Regierungs- und Verwaltungsapparat sowie die Kriegsfuhrung, die in diesem Jahrhundert durch immer großere Soldnerheere und eine gesteigerte Investition in Schusswaffen gepragt war, wurden immer teurer. Hingegen war die Macht der Regenten, diese Geldmittel aufzubringen, begrenzt. Zwar war ihre Mittelerhebung nicht mehr wie im Mittelalter auf Regalien und die eigenen Guter beschrankt, aber die Abgabenerhebung war haufig von lokalen Standen abhangig. Obwohl die meisten Herrscher ihre Verwaltung rationaler organisierten, konnten nur die Fursten relativ kleiner Furstentumer, wie die einzelnen Furstentumer des Heiligen Romischen Reiches und in Skandinavien, dadurch den Herrschaftsdurchgriff auf die unteren Ebenen ausbauen. In großeren Reichen, wie in England, Frankreich und Polen-Litauen, standen Standeversammlungen, wie das englische Parlament und die franzosischen Generalstande, den Monarchen gegenuber. Diese Standeversammlungen konnten in den Verhandlungen mit den Monarchen fur sich mehr Rechte gewinnen. In den Reichen an den sudlichen Ostseestranden bauten die Adeligen ihre Herrschaftsgewalt gegenuber den Bauern hingegen stark aus.
Wenn auch die Bevolkerung in diesem Jahrhundert insgesamt wuchs, so wurde das Wachstum durch die hohe Kindersterblichkeit, ein gegenuber dem Mittelalter relativ hohes Heiratsalter und restriktive Ehegesetze begrenzt. Nach uberstandener Kindheit hatten die Erwachsenen eine Lebenserwartung von 55 bis 72 Jahren.
= Wirtschaft =
Die Landwirtschaft war der starkste Wirtschaftszweig, in dem 90 % der Menschen arbeiteten. Ihr Wirtschaften war stark von der Subsistenzwirtschaft gepragt, so dass nur ein Teil der Produkte in den Handel kam. Die Entwicklung des vorherigen Jahrhunderts fortsetzend nahm der Nah- und Fernhandel und damit die Bedeutung der Geldwirtschaft weiter zu. Die Veranderung der innereuropaischen Handelsnetzwerke knupfte zunehmend an den Uberseehandel Westeuropas an. Das stark stadtisch ausgerichtete Handwerk war vorherrschend in Zunften organisiert, die den Marktzugang, die Qualitaten und die Preise regulierten. Außerhalb der Zunfte entwickelten sich im Textilgewerbe als auch im Bergwerkswesen proto-kapitalistische Strukturen. Im Textilgewerbe etablierte sich das Verlagswesen. Reiche Handler aus den Stadten stellten den Heimwerkern auf dem Land die Rohstoffe, die diese fur sie in kleinen arbeitsteiligen Schritten weiterverarbeiteten und dann wieder an sie verkauften. Wohlhabende Fernhandler, wie die Fugger, nahmen zunehmend Bankgeschafte in großem Umfang auf. So finanzierten sie die Habsburger Monarchie, von der sie im Gegenzug Kapital in der Form von Landereien und lukrativen Schurfrechten bekamen. Im florierenden Bergbau wurden Kapitalgeber, die das eigentliche Geschaft nicht mehr betrieben, immer bedeutsamer.
Im Laufe des 16. Jahrhunderts kam es zunehmend zur Aufhebung des Zinsverbotes durch weltliche Autoritaten. Dies fuhrte zu einer Ausdehnung des Bankwesens.
= Kirche und Religion =
Zu Beginn des Jahrhunderts war der großte Teil der Europaer Anhanger der romisch-katholischen Kirche, die sich von den russisch-orthodoxen Christen und der christlichen Mehrheit des muslimisch beherrschten Balkans abgrenzte. Bei der sehr religiosen Bevolkerung spielte die Sorge um das Seelenheil nach dem Tod eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Einziger Vermittler war die Kirche, die die steigende Nachfrage nach kauflichen Heilsprodukten durch die Glaubigen mit einem immer differenzierten Angebot befriedigte. Korruption und Kauf kirchlicher Amter waren besonders in den Landern verbreitet, in denen Monarchen nur einen geringen Einfluss auf die Amterbesetzung hatten. Immer großere Ausmaße nahm der kirchliche Ablasshandel ein, den Papste, Pralaten, aber auch Regenten als Geldeinnahmequelle benutzten.
Die Kritik an den kirchlichen Missstanden wuchs mit der Kommerzialisierung der Religion. Martin Luthers Reformforderungen erlangten durch die Ausweitung des Buchdrucks europaweit eine große Wirkung. Seine Reformideen hatten eine breite Unterstutzung der Stande des Heiligen Romischen Reiches, auf die der Kaiser angewiesen war. Die Auseinandersetzungen zwischen Reformbefurwortern und -gegnern eskalierte und mundete schließlich in einer Spaltung der Kirche. Andere Reformatoren, wie Johannes Calvin, hatten von Luther abweichende Ansichten, so dass sich die reformatorische Bewegung wiederum spaltete. Die Reaktion der romisch-katholischen Kirche war das Konzil von Trient, das die Kirche in einigen Bereichen reformierte, jedoch auch klar von den anderen Konfessionen abgrenzte. Ein neuer katholischer Mannerorden, die Jesuiten, war Trager der Gegenreformation. Durch die Argumente der Jesuiten und politischen Druck kehrten einige Gebiete zum katholischen Glauben zuruck. In der folgenden Konfessionalisierung wurden die jeweiligen Bekenntnisse gescharft. Das Verhalten der Bevolkerung wurde durch Sozialdisziplinierung auf das jeweilige Bekenntnis ausgerichtet.
Die reformatorischen Bewegungen wurden im Laufe des Jahrhunderts immer zahlreicher, konnten sich aber nur halten, wenn sie von der Obrigkeit gestutzt wurden. Unabhangige Gruppen wie die Wiedertaufer und die Puritaner wurden unterdruckt oder zerschlagen. Aufgrund des hohen Stellenwertes der Religion im Leben der Menschen wurden ihre kulturellen Vorstellungen stark von der Konfession beeinflusst. Im Gegensatz zu den Katholiken verzichteten die Evangelischen auf die Ausschmuckung ihrer Kirchen. Im Zuge der Reformation wurden zahlreiche Kunstwerke in Kirchen zerstort.
Gleichermaßen in katholischen wie evangelischen Gegenden durchzogen Europa am Anfang und Ende des Jahrhunderts Wellen der Hexenverfolgung. Die Verfolgung ging im Laufe des Jahrhunderts zunehmend von staatlichen Stellen aus, die zum Teil auf Forderungen aus dem Volk reagierten. Durch eine auch nach damaligen Maßstaben unfaire Prozessordnung konnten die Angeklagten, die mehrheitlich Frauen waren, sehr selten einer Verurteilung zum Tode entgehen. Unter Folter wurden die Angeklagten zur Nennung vermeintlicher Mittater gezwungen, so dass den Prozessen ganze Gruppen der Bevolkerung zum Opfer fielen.
= Kunst, Kultur, Wissenschaft und Technik =
In diesem Jahrhundert etablierten sich Humanismus und Renaissance auch nordlich der Alpen. Konzentrierte sich die Wissenschaft vorher auf die Interpretation anerkannter Autoritaten, so wurden fur die Wissenschaft in vielen Teilen Europas Experiment und Anschauung zunehmend wichtiger. Die starke Verbreitung des Buchdrucks ermoglichte einen in Intensitat und Geschwindigkeit vorher nie gekannten Austausch von Ideen zwischen europaischen Gelehrten und Universitaten. Dies forderte insbesondere Weiterentwicklungen in Medizin, Kartografie, Astronomie und Metallurgie. Nikolaus Kopernikus legte mit der Proklamation eines heliozentrischen Weltbildes die Grundlagen fur eine Wende in der Astronomie.
Schon im 15. Jahrhundert wurden die Land- und Seekarten realitatsnaher. Dies steigerte sich in diesem Jahrhundert bis zum vorlaufigen Hohepunkt, der Weltkarte Mercators von 1569 mit der von ihm entwickelten Mercator-Projektion. Zuvor bildeten Waldseemuller und Ringmann im Jahr 1507 erstmals die „Neue Welt“ auf einer Weltkarte ab und tauften sie nach dem Entdecker Amerigo Vespucci Amerika. Noch weitere Erkenntnisse, insbesondere uber den Pazifischen Ozean, brachte die erste Weltumsegelung von Juan Sebastian Elcano auf einer mit Ferdinand Magellan begonnenen Reise. Unter den weiteren Weltumseglern dieses Jahrhunderts war ebenfalls der englische Pirat Francis Drake.
Die Bildung der Bevolkerung stieg stark an. Lese- und Schreibkenntnisse breiteten sich mit der hohen Verfugbarkeit von gedruckten Texten weiter aus. Die Bibelubersetzung durch Martin Luther trug zur großeren Vereinheitlichung der deutschen Sprache bei, zeitverzogert auch in den katholischen Landesteilen. Freiberufliche Lehrer verbreiteten das Rechnen mit arabischen Zahlen, der Beruhmteste von ihnen war Adam Ries.
Die Offnung und Neueinrichtung von Postrouten fur den privaten Postverkehr ermoglichten einen schnelleren Austausch. Organisierte Reiterstafetten beforderten die Post schnell auf festgelegten Routen. Mit den Fortschritten in der Zeitmessung, im Jahr 1510 wurde die Taschenuhr erfunden, wurde das Leben der stadtischen Menschen zunehmend durch die genaue Zeiteinteilung bestimmt. Durch den neu eingefuhrten Gregorianischen Kalender wurde das Jahr neu berechnet.
Die Kunst der Renaissance erlangte in Italien ihren Hohepunkt und etablierte sich auch nordlich der Alpen. Anknupfend an das vorherige Jahrhundert wurden in Italien zahlreiche Bauten im Renaissancestil errichtet. Der großte Renaissancebau war der Petersdom, der als großte Kirche der Welt jedoch erst im 17. Jahrhundert fertiggestellt wurde. In diesem Jahrhundert wurden erstmals auch nordlich der Alpen Gebaude im Renaissancestil errichtet, wo er teilweise mit Elementen der Spatgotik gemischt wurde. Die Schlosser der Loire, die Munchner Residenz und die Schloss- und Klosteranlage El Escorial in Spanien stehen beispielhaft fur die neue Architektur. Genauso wie die Bauten war die Bildhauerei der Renaissance gepragt von ihren antiken Vorbildern und der Sicht auf den Menschen als Individuum. Nach den Anfangen im 15. Jahrhundert wurden immer mehr Skulpturen geschaffen, die unabhangig von einem Bauwerk im Raum standen und den oft nackten Korper von Menschen detailgetreu abbildeten. An die Techniken des vorherigen Jahrhunderts anknupfend schufen Maler einzigartige Bilder, wie die Mona Lisa und die Bemalung der Sixtinischen Kapelle. Im Gegensatz zum Mittelalter wurde der Kunstler als Individuum von der Gesellschaft anerkannt, gefeiert und von Herrschern und Wohlhabenden fur deren Selbstdarstellung gut bezahlt.
Die Kleidung der Menschen wurde von ihrem Stand und Einkommen bestimmt. Adelige und vermogende Manner trugen italienische Renaissance-Mode, eine Schaube und daruber ein Wams. Ihre Frauen trugen eine fußlange Schaube und ein Kleid mit geschlitzten Armeln. In der zweiten Jahrhunderthalfte orientierte sich die Oberschicht in einigen Teilen Europas an der spanischen Mode. Manner und Frauen trugen hohe Halskrausen und ein Korsett. Die hofische Frau trug einen Reifrock.
Afrika Die nordafrikanischen Reiche an der Kuste des Mittelmeeres, mit Ausnahme des westlichen Maghrebs, wurden am Anfang dieses Jahrhunderts vom Osmanischen Reich erobert. Die Eroberung schloss viele spanische Stutzpunkte an der Kuste mit ein. Prinzipiell gliederten die Osmanen die Gebiete in ihre zentralstaatlichen Strukturen ein. Einzelne lokale Herrscher konnten sich jedoch Freiraume erhalten. In Agypten verloren die bisher herrschenden Mamluken ihre Regierungsmacht, die durch einen osmanischen Vizekonig ersetzt wurde. Die bisher von ihnen beherrschte Levante sowie die Cyrenaika trennten die Osmanen administrativ ab, so dass das Gebiet der osmanischen Provinz Agypten ungefahr dem der heutigen Arabischen Republik Agypten entsprach. Agypten bekam auf oberster Ebene die osmanische Verwaltungsstruktur und osmanisches Recht wurde eingefuhrt. Einige Mamluken retteten einen Teil ihrer Macht, indem sie osmanische Provinzgouverneure wurden. Genauso behielten die Oberhaupter der Beduinenstamme Oberagyptens ihre Selbstbestimmung.
Der Maghreb war Kriegsschauplatz der Mittelmeermachte Osmanisches Reich, Spanien und Portugal. Er war Basis zahlreicher muslimischer Kaperfahrer, Korsaren, die sich aktiv in die maritimen Auseinandersetzungen auf Seiten der Osmanen einmischten und dabei zahlreiche Christen versklavten und nach Nordafrika verschleppten. Im Ringen der Machte konnte einzig Marokko seine Unabhangigkeit behaupten, auch wenn es mehrere portugiesische und spanische Stutzpunkte an seinen Kusten dulden musste. Gestarkt durch die Losegeldzahlungen fur die Mitglieder einer gescheiterten portugiesischen Expeditionsarmee unternahm die herrschende Saadier-Dynastie einen Expansionsversuch bis zum Nigerbogen. Durch die erfolgreiche Militaroperation wurde die dortige Regionalmacht, das Songhaireich, zerstort. Der Krieg fuhrte jedoch zu starken Ruckgangen des Transsaharahandels mit Marokko, so dass der Kriegszug letztendlich Marokko schadete und sich seine Armeen zuruckzogen. Zuvor expandierte das Songhaireich zu seiner großten Ausdehnung. Die großen Handelsstadte im Nigerbogen, wie Timbuktu, wurden zu den bedeutendsten Statten islamischer Gelehrsamkeit in Afrika. Mit dem Untergang des Songhaireiches verloren diese Handelsstadte ihre wissenschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung.
Die westafrikanischen Reiche waren durch ein weitverzweigtes jahrhundertealtes Handelsnetz verbunden. An dieses Handelsnetz knupften die Portugiesen mit ihren afrikanischen Hafen an und verbanden es mit anderen Teilen Afrikas und der ubrigen Welt. Der innerafrikanische Handel orientierte sich zunehmend auf die Atlantikkuste hin. Wahrend Gold, Salz und Sklaven exportiert wurden, wurden Textilien importiert. Pflanzen, wie Maniok, Bananen und Mais, die aus anderen Weltgegenden nach Afrika importiert wurden, wurden Teil der afrikanischen Landwirtschaft und anderten die Ernahrung der Afrikaner.
Im westlichen Zentralafrika ging das Konigreich Kongo eine Allianz mit Portugal ein. Der Adel nahm schon im vorherigen Jahrhundert den christlichen Glauben an, behielt jedoch Elemente seines traditionellen Glaubens bei. Anfang des Jahrhunderts dehnte Konig Afonso I. sein Konigreich stark aus. Die Fuhrungstitel und die Korrespondenzsprache waren Portugiesisch. Der Konig organisierte sein Reich zentralistisch uber die Hauptstadt Sao Salvador. Auch wenn die Landwirtschaft der zentrale Wirtschaftszweig war, so dominierten Sklaven den Export und die Portugiesen waren die ausschließlichen Abnehmer. Durch regelmaßige Sklavenjagden in Nachbarterritorien befriedigte der Konig die portugiesische Nachfrage. Regelmaßig versuchten Portugiesische Handler die Hauptstadt zu umgehen, was zu Spannungen zwischen den Kongolesen und den Portugiesen fuhrte. Die Jaga-Invasion der Jahre 1568 bis 1570 konnte nur mit portugiesischer Hilfe abgewehrt werden. Die Invasion und die folgenden Zugestandnisse an die Portugiesen schwachten das Konigreich. Im Jahr 1575 grundeten die Portugiesen den Stutzpunkt Luanda sudlich des Kongo. Von diesem betrieben sie in Eigenregie Sklavenjagden auf die Nachbargebiete, um ihre steigende Nachfrage nach Sklaven zu befriedigen. In Westafrika hingegen nutzten die Portugiesen existierende afrikanische Netzwerke von Versklavung und Sklavenhandel. Insgesamt wurde nur ein Viertel der afrikanischen Sklaven nach Sudamerika verschifft, die anderen Sklaven wurden in der portugiesischen Kolonie Sao Tome eingesetzt oder innerhalb von Afrika und in den Nahen Osten verkauft.
Auf der Schiffsroute nach Indien grundeten die Portugiesen auch Niederlassungen an der Ostkuste Afrikas und drangten die muslimischen Stadtstaaten, die von dort uber Jahrhunderte den Handel mit Asien betrieben hatten, zuruck. Schwerpunkt des portugiesischen Engagements in Ostafrika war das Gebiet des heutigen Mosambiks.
Asien = Osmanisches Reich =
War das Osmanische Reich in den vorherigen Jahrhunderten vorwiegend ein europaisches Reich mit einem sehr hohen Anteil von Christen, so expandiere es zu Beginn dieses Jahrhunderts in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Der nun uberwiegend muslimischen Bevolkerung der Großmacht am Mittelmeer prasentieren sich die Sultane als Kalifen und Beschutzer der heiligen muslimischen Statten in Mekka und Medina.
Um die Gebiete im Nahen Osten konkurrierten die Osmanen mit den expansiven Safawiden, gegen die sie im Laufe des Jahrhunderts zahlreiche Kriege fuhrten. Nachdem sie Agypten von den Mamluken erobert hatten, dehnten sie ihre Herrschaft an der nordafrikanischen Kuste bis an die Grenzen Marokkos aus. Ihre Expansion fuhrte zu einem Krieg mit den Habsburgern und Venedig um die Vorherrschaft im Mittelmeer. In dieser Auseinandersetzung unterstutzten sie Korsaren, muslimische Seerauber, die auf ihren Raubzugen zahlreiche christliche Europaer versklavten und nach Nordafrika verkauften. Dadurch, dass der Sherif von Mekka sich unter ihren Schutz stellte, erlangten die Osmanen einen hohen Prestigegewinn. Kurz nach der Eroberung Agyptens expandierte das osmanische Reich auf dem Balkan und eroberte große Teile Ungarns, scheiterte jedoch bei dem Versuch, Wien zu erobern.
Das Osmanische Reich war vom Grundsatz her ein zentralistisches Reich, an dessen Spitze die Sultane mit ihrer uneingeschrankten Macht standen. Als Kalifen waren sie auch die oberste religiose Autoritat des Reiches. Die Sultane stammten alle aus der Familie der Osmanen, wobei es nach dem Tod eines Sultans oft blutige Nachfolgekampfe zwischen seinen Sohnen gab. Ihre Macht delegierten die Sultane an verschiedene Amtsinhaber, wobei die Großwesire die Spitze der Regierung bildeten. Diese standen dem obersten Beratungsgremium, dem Diwan, vor. In den Provinzen des Reiches ubten Paschas die Herrschaft stellvertretend fur den Sultan relativ eigenstandig aus. Bei der Besetzung der nicht erblichen Stellen, spielte die erwartete Leistungsfahigkeit eine viel bedeutendere Rolle als die Herkunft. Die Elite des Reiches, die Askeri, genoss umfangreiche rechtliche Privilegien. Auf lokaler Ebene gab es zahlreiche Selbstverwaltungseinheiten, deren Mitglieder religios-ethnische oder berufliche Gemeinsamkeiten zusammenhielten. Diese Einheiten hatten weitreichende Freiheiten zur Selbstorganisation und die Herrschaft des Sultans reichte selten unmittelbar auf die lokale Ebene durch.
Große Bedeutung kam der Militareinheit der Janitscharen zu, einer stehenden Militareinheit, die dem Sultan personlich zugeordnet war. Sie fungierte nicht nur als Elitetruppe in Kriegen, sondern auch als Ordnungsmacht innerhalb des Reiches. Die Mitglieder dieser Truppe wurden als Jungen ihren meist christlichen Eltern weggenommen, mussten zum Islam konvertieren und kaserniert eine strenge Ausbildung durchlaufen. Diese im Sold des Sultans stehende Infanterie gewann im Laufe des Jahrhunderts stetig mehr Macht und drangte die Kavallerieeinheiten zuruck. Deren Anfuhrer waren Inhaber nicht erblicher Lehen, die ihre Einheiten aus deren Einkunften finanzieren mussten.
Im Reich gab es neben der Scharia ein einheitliches Recht des Sultans, dessen Ubereinstimmung mit der Scharia vor dem Erlass bestatigt wurde. Dem untergeordnet wurde in den verschiedenen Reichsteilen lokales Recht angewendet. Auch die Steuererhebung wurde zentral organisiert. Mitte des Jahrhunderts wurde Turkisch als Amtssprache eingefuhrt.
Im 16. Jahrhundert florierten Landwirtschaft, die den großten Teil der Wirtschaft ausmachte, Handwerk und Handel. Bis auf die großen Stadte regulierte die Zentralmacht die Wirtschaft wenig. Nach der Eroberung Agyptens etablierte sich mit dem Kaffeehandel das Kaffeehaus als neuer Ort der Geselligkeit und Unterhaltung. Die Eliten forderten Wissenschaft, Dichtung, Musik und Malerei, die verstarkt Szenen des Hoflebens und des Alltags darstellte. Der Hofarchitekt Sinans schuf zahlreiche Bauwerke, darunter beruhmte Moscheekomplexe wie Shehzade, Suleymaniye und Selimiye.
= West- und Zentralasien =
In den vorherigen Jahrhunderten hatten die Safawiden, die fuhrende Familie des Suffiordens Safawiyya, sich in Anatolien eine Machtbasis aufgebaut. Zu Beginn des Jahrhunderts eroberte das Familienoberhaupt Ismail I. mit Hilfe turkmenischer nomadischer Kizilbasch-Stamme große Gebiete des Iraks, Irans und Chorasans. Fortwahrende Auseinandersetzungen mit den rivalisierenden Osmanen fuhrten unter seinem Nachfolger zum Verlust Anatoliens und des Iraks, der am Ende des Jahrhunderts durch Schah Abbas l. zuruckerobert wurde. Das Jahrhundert hindurch fuhrten die Safawiden fortwahrend militarische Auseinandersetzungen mit den Osmanen im Westen und den Usbeken im Osten, die nur von kurzen Friedensperioden unterbrochen wurden.
Ismail I. konvertierte zum Zwolf-Schia-Islam. Er und seine Nachfolger setzten diese Konfession in ihrem Herrschaftsgebiet als Staatsreligion durch. Das sunnitische Bekenntnis und vielfaltige Formen des islamischen Volksglaubens wurden mit Zwangsmaßnahmen zuruckgedrangt. Schiitische Gelehrte aus dem Sudirak und Sudlibanon lehrten die orthodoxe Schia, die bis heute als Staatsreligion Iran pragt.
Ismail und seine Nachfolger waren als Schah sowohl politisches als auch religioses Oberhaupt. Zunachst hatten die nomadischen Kizilbasch-Stamme als Provinzgouverneure großes politisches Gewicht. Sie hatten das Recht auf die Steuereinnahmen der Provinz, von denen sie die Militarausgaben bestreiten mussten. Die Verwaltungsaufgaben erledigte die indigene sesshafte iranische Bevolkerung. In der zweiten Jahrhunderthalfte bauten die Schahs eine Armee aus Militarsklaven auf, die im Gegensatz zu den Kizilbasch stark von ihnen abhangig waren. Schah Abbas I. gelang es dadurch den Einfluss der Kizilbasch zu seinen Gunsten zuruckzudrangen. Ferner wandelte er große Flachen in Krongut um und schenkte andere Teile den Stiftungen der religiosen schiitischen Heiligtumer. Die religiose Fuhrerschaft der Schahs wurde im Laufe des Jahrhunderts zunehmend von schiitischen Religionsgelehrten in Zweifel gezogen. Es bildete sich ein schiitischer Klerikerstand heraus, der gesichert durch eigene Einkunfte zunehmend unabhangiger von den weltlichen Herrschern wurde. Gefordert von den Schahs wurde der Scheinkult in Iran immer popularer.
Zu Beginn des Jahrhunderts hatten sich die Nomaden am kasachischen Fluss Syrdarja unter dem Schaibaniden Mohammed Scheibani zusammengeschlossen und Transoxanien erobert, das bis dahin von den zerfallenden Reichen der Timuriden beherrscht wurde. Das von ihnen gegrundete Usbeken-Khanat blieb in Abgrenzung zu Iran sunnitisch. Zwar waren die Schaibaniden die obersten Khane, doch war das Gebiet unter den fuhrenden Clans aufgeteilt, die die hauptsachliche politische Macht ausubten. Mitte des Jahrhunderts kam es zu einem Burgerkrieg zwischen den Clans um die Aufteilung der Gebiete, aus dem Abdallah als neuer Khan hervorging.
Ebenso wie die Schaibaniden waren die in Mogolistan lebenden Nomaden mongolischer Abstammung. Sie eroberten das Tarimbecken und kontrollierten den Handel der durch es durchfuhrenden Seidenstraße. Im Kernland der Mongolen herrschte Altan Khan. Unter ihm fuhrten die Mongolen zahlreiche Raubzuge in China, das daraufhin seine Mauer verstarkte, durch. Erst als die Chinesen in einen Handelsvertrag mit den Mongolen einwilligten, horten die Raubzuge auf. Altan Khan ging eine Allianz mit den Anhangern der tibetisch buddhistischen Gelug-Schule ein. Er verhalf der Schule sich gegenuber ihren Widersachern in Tibet durchzusetzen und verlieh ihrem Oberhaupt den Titel Dalai Lama. Dieser missionierte die Mongolen zum tibetischen Buddhismus.
= Der indische Subkontinent =
Der indische Subkontinent des 16. Jahrhunderts kann in drei Zonen gegliedert werden. Im Norden lagen muslimische Reiche, die zumeist ihren Ursprung im Delhi-Sultanat hatten. Diese Reiche wurden im Laufe des Jahrhunderts vom Mogulreich erobert. In der Mitte lagen die Dekkan-Sultanate, die Nachfolgereiche des Bahmani-Sultanats. Im Suden erstreckte sich das Konigreich Vijayanagar.
Vertrieben von den Usbeken eroberte Babur, ein muslimischer Nachfahre Timurs, vom Hindukusch aus die indische nordliche Tiefebene. Da seine Herrschaft nur unzureichend verankert war, konnte der paschtunische Heerfuhrer Sher Khan Suri den Norden des indischen Subkontinents erobern. In Militar- und Verwaltungsstruktur legte er die Grundlagen, auf die das Mogulreich, das der Enkel Baburs, Akbar I., in der zweiten Jahrhundert errichten konnte, zuruckgriff. Akbar eroberte ganz Nordindien von Gujarat bis Bengalen, aber auch Kabul gehorte zu seinem Reich.
Der Erfolg der Mogul-Armee war die stimmige Kombination aus Feuerwaffen, Bogenschutzen und Kavallerie, gegen die Gegner kein Mittel fanden. Aber auch Diplomatie und Heiratsbundnisse gehorten zu Akbars Politik. Seine religiose Toleranz gegenuber der hinduistischen Mehrheit seiner Untertanen zeigte sich in der Abschaffung der besonderen Kopfsteuer fur Nicht-Muslime. Ferner zwang er seine Ehefrauen nicht zum Islam uberzutreten. Hindus stiegen in die hochsten Verwaltungsamter auf, wahrend viele militarische Fuhrungspositionen von Muslimen wahrgenommen wurden. Insgesamt wurden alle ethnischen Gruppen gleichmaßig berucksichtigt.
Akbar stand als absoluter Herrscher an der Spitze von Militar und Verwaltung. Dabei hatte jeder Amtstrager einen Rang in einem stark ausdifferenzierten Rangsystem. Je nach Rang erhielten wichtige Amtstrager, die der Herrscher alle personlich ernannte, Landzuteilungen, die ihnen zur Finanzierung ihrer Aufgaben dienten. Rotationsregeln verhinderten die Bildung einer Hausmacht. Die Abgaben wurden aufgrund statistischer Analysen der Leistungsfahigkeit der Provinzen erhoben. Durch verschiedene Maßnahmen gelang es dem Herrscher lokale Fursten in die zentralistischen Verwaltungsstrukturen des Staates einzubinden, so dass die Strukturen auch in den Provinzen relativ stark verankert waren.
Akbar etablierte einen Herrscherkult mit ihm als Herrscher von Gottes Gnaden, der sich stark von der traditionellen Auslegung des Islams unterschied. Seinen Herrschaftsanspruch inszenierte er mit prunkvollen Festen und Bauten. Mit seinem Herrscherkult rief Akbar heftigen Widerspruch muslimischer Geistlicher hervor, aus der eine islamische Erneuerungsbewegung im folgenden Jahrhundert hervorging.
Als sehr wichtige Quelle zur Finanzierung des zentralistischen Mogulreiches diente die in diesem Jahrhundert eingefuhrte Grundsteuer. Im von der Landwirtschaft gepragten Nordindien beschrankte sich die Geldwirtschaft im Wesentlichen auf den zur Erwirtschaftung der Grundsteuer notwendigen Handel. Die Marktorientierung der Landwirtschaft war deutlich geringer als in Europa und China. Dennoch benotigte die Geldwirtschaft des Mogulreiches eine steigende Menge von Gold und Silber, die Akbar hauptsachlich von den Portugiesen erwarb. Diese errangen im Laufe des Jahrhunderts durch den Einsatz ihrer stark bewaffneten Flotte eine Vormachtstellung zur See und bauten ein „Kolonialreich“ aus Festungen und Handelsniederlassungen an den indischen Kusten auf. Diese Erfolge konnten sie erzielen, weil die großen indischen Landmachte keine Neigung zeigten eine eigene Kriegsflotte aufzubauen.
Neben den Mogulen war das im Suden des Subkontinents gelegene Konigreich Vijayanagar die zweitgroßte Landmacht. Das Reich wurde von der hinduistischen Konigsdynastie der Tuluva regiert. Konig Krishna Deva Raya eroberte mehrere Nachbarreiche und fuhrte das Reich zu seiner letzten Blute. Seine Nachfolger provozierten einen Zusammenschluss der nordlich gelegenen Dekkan-Sultanate und verloren gegen diese in der Schlacht von Talikota im Jahr 1565. Von den anschließenden Zerstorungen durch die Sieger erholte sich das Konigreich, das formal noch bis zum 17. Jahrhundert fortbestand, nicht mehr. Die Militargouverneure der Provinzen ubernahmen die Herrschaft und grundeten die Nayak-Dynastien.
= China =
Im 16. Jahrhundert war China das zweitgroßte Reich der Welt (nach dem Osmanischen Reich), auch wenn es mit vier Millionen km² wesentlich kleiner war als die heutige Volksrepublik China. In Ostasien nahm es eine fuhrende wirtschaftliche und kulturelle Position ein. An der Spitze des Reiches standen die Kaiser der Ming-Dynastie, die ihre Herrschaft auf einen Beamtenapparat stutzten. Da die Kaiser sich oft auf ihre rituellen Aufgaben beschrankten, wurde das Reich von den Eunuchen des Hofes und den Spitzenbeamten regiert. Beide Gruppen standen oft in Konkurrenz zueinander. Die Beamten wurden durch ein mehrstufiges Prufungssystem ausgewahlt, das die neokonfuzianischen Schriften abprufte. Auf der untersten Ebene waren die Mittel der Beamten beschrankt, so dass sie sich fur die Regierungsfuhrung auf die lokale Gentry, eine Schicht reicher Kaufleute und Großgrundbesitzer, stutzten. Dieser gewahrten sie fur ihre Dienste Sonderprivilegien, die die Gentryfamilien zum Ausbau ihrer Macht nutzten.
Die chinesische Wirtschaft wuchs in diesem Jahrhundert stark und anderte ihre Struktur. Ein Motor des Wirtschaftsaufschwungs war die Fortsetzung des im vorherigen Jahrhundert begonnenen rapiden Bevolkerungswachstums, sodass in China um das Jahr 1600 150 bis 160 Millionen Menschen lebten. Ferner setzten sich die Strukturveranderungen der chinesischen Wirtschaft fort. Da die lokalen Oberschichten einerseits von den steigenden Arbeitsverpflichtungen der Bauern befreit waren, andererseits auch die Steuererhebung organisierte, nutzten sie ihre Macht aus und pressten den Kleinbauern immer mehr Land ab. Viele der nun abhangigen Bauern wanderten in die Stadte ab. Dies war der Nahrboden fur eine zunehmend arbeitsteilige Wirtschaft, eine immer großere Marktorientierung und die Zunahme des Binnenhandels. Ein ebenso gewichtiger Faktor fur den Wirtschaftsaufschwung war der zunehmende Außenhandel, der auf einer großen Nachfrage nach chinesischen Produkten aus Ostasien und in der zweiten Jahrhunderthalfte aus Europa fußte.
In der ersten Jahrhunderthalfte war China ein Teil des (ost-)asiatischen Handelsnetzwerks, das sich in den vorherigen Jahrhunderten entwickelt hatte. Ein Verbot des See- und Außenhandels konnte die chinesische Fuhrung zu keinem Zeitpunkt durchsetzen. Vielmehr fuhrten ihre Versuche zu einem Anstieg der Piraterie, da lokale Handler bei ihrem Schwarzhandel mit Piraten zusammenarbeiteten. Die chinesischen Waren wurden sehr oft mit Silber bezahlt, das in der ersten Jahrhunderthalfte vor allem aus Japan kam. In der zweiten Jahrhunderthalfte hoben die chinesischen Autoritaten das See- und Außenhandelsverbot auf. Gleichzeitig beteiligten sich die Europaer immer starker am Handel. Mit der Grundung der spanischen Kolonie Manila begann der ostasiatische Dreieckshandel mit Lateinamerika. Die Spanier importierten sudamerikanisches Silber uber Manila nach China. Im Gegenzug erhielten sie chinesische Textilien und Porzellan, das sie entweder direkt nach Europa verschafften oder in Asien gegen Gewurze eintauschten. Das Silber diente der wachsenden chinesischen Wirtschaft als Wahrung, da das staatliche Papiergeld kein Vertrauen genoss. Der Staat war in standiger Finanznot, da Steuern und Arbeitsleistungen auf immer weniger Menschen verteilt wurden und gleichzeitig die Ausgaben stiegen. Ferner waren die durch Arbeitsverpflichtung erbrachten Leistungen von geringer Qualitat. Reformen, die dazu fuhrten, dass immer mehr Steuern in Geld zu erbringen waren, beschleunigten die Marktorientierung der Landwirtschaft. Als besonders große Belastung fur den Staatshaushalt erwies sich die militarische Unterstutzung Koreas im Imjin-Krieg gegen Japan zum Ende des Jahrhunderts, welche als eine Ursache fur den Untergang der Ming im folgenden Jahrhundert gesehen wird.
Das 16. Jahrhundert markierte sozial und kulturell einen Umbruch. Insbesondere in der zweiten Jahrhunderthalfte erhohte sich die soziale Mobilitat, die Standesunterschiede verschwammen zunehmend. Ein starker Anstieg der Lese- und Schreibfahigkeit schaffte einen breiten Markt fur Literatur. Diese Nachfrage wurde durch ein steigendes Angebot an gedruckten Buchern befriedigt. Richtete sich das Literaturangebot in den vergangenen Jahrhunderten vor allem an eine Gelehrtenschicht, so nutzten zahlreiche Verleger die seit Jahrhunderten bekannten Techniken von Holztafeldruck und Papier, um die Nachfrage des breiten Volkes nach Gedrucktem zu befriedigen. So entstanden beliebte Volksromane, die bis heute in China rezipiert werden. Im Gegensatz zu den bisherigen Buchern, die in einer Gelehrtensprache verfasst wurden, wurden sie in der chinesischen Alltagssprache geschrieben. Die seit Jahrhunderten staatstragenden Lehren des Neokonfuzianismus wurden durch den Philosophen Wang Yangming neu interpretiert. Wang, dessen Denken vom Buddhismus beeinflusst war, lehrte, dass der Mensch die Wahrheit in sich selbst aus der inneren Intuition erkennen musse. War der Neokonfuzianismus bisher eine Weltanschauung der Eliten, so trugen die Anhanger Wangs seine Interpretation in breite Bevolkerungsschichten.
= Ostasien =
An der Spitze Koreas standen die Konige der Choson-Dynastie. Sie herrschten uber eine undurchlassige Standegesellschaft, bei der der Stand durch die Geburt bestimmt wurde. Zwar erfolgte die Amterbesetzung durch ein Prufungssystem, jedoch bestimmte die Standeszugehorigkeit den Zugang zu den Prufungen. Die Einschrankung der Bewegungsfreiheit der unteren Schichten, unter denen die große Gruppe der Sklaven die wenigsten Rechte hatte, wurde durch ein Erkennungsmarkensystem verstarkt. Die Oberschicht gliederte sich zunachst in zwei, dann in mehrere miteinander rivalisierende Gruppen, die abwechselnd die Gunst des Konigs erlangten. Gewann eine Gruppe die Oberhand, so fuhrte diese eine todliche Sauberungswelle unter den Anhangern der anderen Gruppe durch. Ideologisch als auch von der Struktur orientierte sich die koreanische Administration am neokonfuzianischen Modell Chinas.
Als Japan zum Ende des Jahrhunderts den Durchmarsch seiner Truppen erbat, um China anzugreifen, wies dies Korea als Alliierter Chinas ab. Danach verwusteten japanische Armeen Korea, dessen Streitmacht den Angreifern nicht gewachsen war. Nur mit Hilfe des chinesischen Verbundeten und einer technologisch uberlegenen Marine konnten die japanischen Invasoren zuruckgeschlagen werden. Als die Japaner nach dem Tod ihres Fuhrers Toyotomo Hideyoshi ihre Invasionsbemuhungen 1598 endgultig beendeten, war die Zerstorung der wirtschaftlichen Ressourcen und die Dezimierung der Bevolkerung durch den Imjin-Krieg so groß, dass das Land um fast ein Jahrhundert in seiner Entwicklung zuruckgeworfen wurde.
Zu Beginn des Jahrhunderts war Japan in die Herrschaftsbereiche zahlreicher Daimyos geteilt. Diese bauten im ganzen Land zahlreiche Burgen zur Absicherung ihrer Herrschaft und waren standig in Auseinandersetzungen verwickelt. Dabei trafen Massenheere aufeinander, in denen Bauern eine immer großere Rolle spielten. Diese Heere kampften mit Spießen, Bogen und im Laufe des Jahrhunderts auch mit Schusswaffen. Somit verloren die Samurai, berittene Bogenschutzen und Schwertkampfer, an Bedeutung. Mitte des Jahrhunderts begann sich ein Daimyo, Oda Nobunaga, durchzusetzen und leitete die Einigung Japans, die uber drei Herrscher bis zum Beginn des folgenden Jahrhunderts dauerte, ein. Durch Bundnisse und Kriege gewann Nobunaga ein immer großeres Territorium. Sein Nachfolger Toyotomo Hideyoshi setzte das Einigungswerk mit einem großeren Schwerpunkt auf Diplomatie fort. Am Ende des Jahrhunderts versuchte er Korea zu erobern, wurde jedoch von der mit Korea verbundeten chinesischen Armee besiegt.
Die zahlreichen militarischen Auseinandersetzungen hinderten jedoch japanische Kaufleute nicht daran, regen Handel mit China zu betreiben, wobei der Export von Silber sehr bedeutend war. Es bildeten sich Wirtschaftsstrukturen heraus, die die Basis des japanischen Wirtschaftsaufschwungs der folgenden Jahrhunderte waren.
In der Jahrhundertmitte kam der Handel mit den europaischen Nationen, besonders mit Portugal, hinzu. Diese brachten neben der Kenntnis von Feuerwaffen und nautischen Kenntnissen das Christentum nach Japan. Zunachst wurde das Christentum von einigen japanischen Daimyos gefordert, da es als Gegengewicht zu militanten buddhistischen Sekten dienen sollte. Der Erlass Hideyoshi die christlichen europaischen Missionare auszuweisen brachte eine Kehrtwende der Einstellung des wichtigsten japanischen Herrschers zum Ausdruck. Da dieser aber nicht durchgesetzt wurde, wuchs die christliche Gemeinde Japans zum Jahrhundertende auf 300.000 Mitglieder an. Dennoch blieben die Christen in Japan eine kleine Minderheit. Die Mehrheit hing verschiedenen buddhistischen Glaubensrichtungen an, die sich untereinander stark bekampften. Die starkste Richtung war der Zen-Buddhismus.
= Indischer Ozean und Sudostasien =
Der Indische Ozean des 16. Jahrhunderts war durchzogen von maritimen Handelsnetzen. Der weitgehend friedliche Handel wurde von mehreren Handlergruppen aus dem Nahen Osten, Indien, China und aus Sudostasien betrieben, wobei einzelne Abschnitte von einzelnen Gruppen dominiert wurden. Mit dem Bestreben den Zwischenhandel fur asiatische Luxuswaren, wie Gewurze, zu umgehen, drangen die Portugiesen zu Beginn des Jahrhunderts in dieses Handelsnetzwerk ein und veranderten es grundlegend. Durch die Eroberung zentraler Handelsemporien wie dem indischen Goa und Malakka auf der Malaiischen Halbinsel versuchten sie zu Beginn des Jahrhunderts, große Teile des Handels an sich zu binden und durch hohe Schutzzolle Einnahmen zu generieren. Waren sie anfangs erfolgreich, so wichen große meist muslimischen Handlergruppen auf alternative Routen aus. Im Zuge dieser Strukturveranderung gingen viele etablierte Reiche des sudostasiatischen Festlandes unter und neue Sultanate entstanden. Das bedeutendste Sultanat war Aceh im Norden Sumatras. Diese Sultanate stutzen auch die Ausbreitung des Islam, zu dem Missionare die meisten sudostasiatischen Inselbewohner bekehrten. Die Erfolge der christlichen Missionare blieben hingegen bis auf die Philippinen gering. Diese von den Spaniern kolonisierten und missionierten Inseln waren deren wichtigster Bruckenkopf nach Asien. Die Verknupfung des asiatischen Seehandels mit Amerika war ihr Verdienst und Privileg. Sie und vor allem die Portugiesen verbanden erstmals den maritimen asiatischen Handel direkt mit Europa. Im Laufe des Jahrhunderts minderten zunehmen private portugiesische Handler den Vorrang des staatlich organisierten portugiesischen Handels.
Auch die mehrheitlich buddhistischen Reiche des sudostasiatischen Festlandes profitierten mit ihren Hafen vom maritimen Handel. An ihren Konflikten beteiligte sich Portugal eher indirekt, wahrend sich einige unabhangige portugiesische Glucksritter direkt einmischten. Aus den Auseinandersetzungen der drei birmanischen Machtzentren Oberbirma, Niederbirma und Mon ging die Taungu-Dynastie als Sieger hervor. Sie eroberte zunachst große Teile des heutigen Myanmar und konnte im Jahr 1567 die Hauptstadt Ayutthaya des gleichnamigen thailandischen Reiches erobern, schaffte es aber nicht, die Stadt lange zu halten. Durch die andauernden Kriegszuge war das lose zusammengehaltene Herrschaftsgebiet der Taungu-Dynastie zum Ende des Jahrhunderts wirtschaftlich ausgelaugt und die Herrscher hatten mit Aufstanden zu kampfen. Ayutthaya konnte sich in wenigen Jahrzehnten wieder erholen und griff nun seinerseits Birma an. In den dadurch ausgelosten Machtkonflikten zerbrach das birmanische Reich.
Amerika Der amerikanische Kontinent erlebte in diesem Jahrhundert einen so radikalen und schnellen Wandel wie niemals zuvor in seiner Geschichte. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten zwei große Regionalreiche die Azteken in Mexiko und die Inka in Sudamerika ihre Blute erreicht. In den 20er und 30er Jahren wurden beide Reiche von Abenteurern, die in Lizenz der spanischen Krone agierten, erobert und zerstort. Neben den Schwachpunkten der beiden Reiche kamen den Spaniern auch die uberlegene Waffentechnik und der Einsatz von in Amerika nicht bekannten Pferden zugute. Entscheidend fur die Eroberung Amerikas war jedoch die Auswirkung der von den Europaern eingeschleppten Krankheiten. Pocken, Masern und Grippe, gegen die die Indigenen Amerikas keine Resistenzen hatten, verbreiteten sich uber die ausgedehnten Handelswege des Doppelkontinents und toteten bis zu 90 % der Bevolkerung, oft noch bevor die Europaer an ihren Wohnorten ankamen. Gleichzeitig anderte sich die Tierwelt des Kontinents durch die von den Europaern mitgebrachten Haustiere. Pferde und Schweine wilderten aus. Fur einige nomadische indigene Volker wurden die eingefangenen Wildpferde Teil ihrer Kultur. Die ausgewilderten Schweine mutierten zu Wildschweinen. Einerseits richteten sie erheblichen Schaden bei einigen landwirtschaftlichen Kulturen an, andererseits dienten sie den Indigenas als Fleischlieferanten.
= Eroberungen in Mittelamerika =
Seit dem 15. Jahrhundert eroberte die Stadtgemeinschaft Tenochtitlan, Texcoco und Tlacopan ein großes Aztekenreich, das mit den zusatzlichen Eroberungen in diesem Jahrhundert große Teile Mittelamerikas umfasste. Meist regierten sie die unterworfenen Gebiete nicht direkt, sondern etablierten loyale Herrscher und festigten ihre Herrschaft durch Ehebundnisse. Von den unterworfenen Volkern pressten sie hohe Tribute ab, die in die drei Hauptstadte flossen. Zur Blutezeit der Azteken wuchs ihre großte Stadt Tenochtitlan auf 300.000 Einwohner an. An der Spitze von Tenochtitlan stand ein Monarch, der aus dem Hochadel stammte. Dieser besaß große Vermogen und hatte bestimmte Vorrechte. Oft arbeiteten fur ihn abhangige Bauern. Die niedrigste Schicht bildeten die unfreien Sklaven, deren Status nicht erblich war. Die Verlierer dieses Systems waren die eroberten Stadtstaaten und die kleinen Nachbarn des Aztekenreiches. Sie sahen in der Zusammenarbeit mit dem Spanier Hernan Cortes und seinen Soldnern die einzige Moglichkeit, der Gewaltherrschaft der Azteken zu entkommen. Dieser nutzte die Unvorsichtigkeit des Aztekenkonigs Montezuma, um ihn gefangen zunehmen. Aufgrund der streng hierarchischen Struktur des Reiches konnte er damit das Reich zerstoren.
= Eroberung des Inka-Reiches =
Die Inka hatten insbesondere im letzten Jahrhundert zahlreiche Volker unterworfen und so ein Reich im Gebiet der sudamerikanischen Anden und der angrenzenden Gebiete begrundet. Die Gesellschaft der Inka war in viele Verwandtschaftsgruppen gegliedert, die nach einem hierarchischen System geordnet waren. Eroberte Volker wurden in diese Hierarchie auf niedriger Stufe eingebunden. Die Wirtschaft im Inkareich basierte vorwiegend auf Landwirtschaft, die im Gegensatz zu den Wirtschaften Asiens, Europas und Afrikas keine Nutztiere kannte. Auch das Handwerk war geringer ausgepragt als auf den anderen Kontinenten. Die Inka hatten ein staatlich gelenktes Handelssystem, bei dem uberschussige Handelsguter an zentralen staatlichen Stellen abgegeben und von dort aus verteilt wurden, errichtet. Zur Aufrechterhaltung dieses Handelssystems betrieben die Inka eine Burokratie, die einen umfassenden Zensus der Bevolkerung einschloss. Zur Forderung des Handels erweiterten die Inka ein Netz von Handelsstraßen, von denen die Langste uber 5.000 Kilometer lang war.
Als der Inka-Herrscher Huayna Capac im Jahr 1525 starb, loste der Erbfolgestreit seiner Sohne einen Burgerkrieg aus. Seinen Sieg im Streit um die Krone erkaufte sich Atahualpa mit einem zutiefst gespaltenen Land. Als kurz nach seinem Sieg im Jahr 1532 der Spanier Francisco Pizarro mit einer kleinen Armee das Inka-Reich erreichte, nutzte er die Spaltung des Landes und die Unvorsichtigkeit des Inka-Konigs aus und eroberte das Reich bis zum Jahr 1536.
= Herrschaft und Gesellschaft in den europaischen Kolonien =
Die spanische Herrschaft wurde zu Beginn des Jahrhunderts durch Konquistadoren, spanische Abenteurer in Lizenz der Krone, durchgefuhrt. Durch Vertrag trieben sie auf eigene Rechnung die Abgaben der Ureinwohner ein und konnten uber ihre Arbeitskraft verfugen. Insbesondere in dieser Phase kam es zu zahlreichen Gewaltexzessen gegenuber der indigenen Bevolkerung. Im Laufe des Jahrhunderts baute die spanische Krone zentralistische Verwaltungsstrukturen auf, an deren Spitze zwei Vizekonige, einer in Sud- und der andere in Mittelamerika, standen. Ziel der Krone war ein zentralistisches Herrschaftssystem mit absolutistischen Zugen. Die Verfugungsgewalt uber die Arbeitsleistung der Indios wurde Privatpersonen zunehmend, indirekt uber staatliche Stellen zur Verfugung gestellt, was die Gewaltanwendung gegenuber den Ureinwohnern verringerte. Zur Erschließung Amerikas gehorten zahlreiche Stadtgrundungen, die oft planmaßig nach einem Schachbrettmuster angelegt wurden. Es etablierte sich eine ethnisch geschichtete Gesellschaft. Dessen oberste Schicht waren die eingewanderten Europaer, den zweiten Rang nahmen die indigene Fuhrungsschicht und Menschen gemischte ethnischer Herkunft ein, die dritte Schicht bildeten die einfachen Indigenas und die unterste Schicht die afrikanischen Sklaven. Im Laufe des Jahrhunderts ging die Zahl der indigenen Amerikaner durch Krankheiten, Gewalttaten, Hunger und Geburtenruckgange stark zuruck. Gleichzeitig wanderten zahlreiche Spanier und andere Europaer nach Amerika ein. Die nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven konzentrierten sich in einigen Orten, wo ihre Arbeitskraft benotigt wurde.
Wahrend des Jahrhunderts wurde ein großer Teil der Bevolkerung im spanischen Einflussbereich zum Christentum bekehrt. Dies geschah teils gewaltsam, teils durch Uberzeugung. Eine tragende Rolle in der Mission spielten die christlichen Monchsorden, die teilweise als Anwalte der indigenen Bevolkerung gegen die spanische Obrigkeit auftraten. Oft geschah die Annahme des Christentums nur oberflachlich und die alten religiosen Elemente wurden dort integriert. Insgesamt trug die Kirche mit dem Aufbau eigener Strukturen erheblich zur Neustrukturierung Amerikas bei.
In vielen Regionen Amerikas, insbesondere in Nordamerika und den kustenfernen Regionen Sudamerikas waren die Europaer, wenn uberhaupt durch einzelne Abenteurer prasent. Wahrend die Versuche Englands und Frankreichs Kolonien in Nordamerika einzurichten in diesem Jahrhundert scheiterten, gelang es den Spaniern, mit St. Augustine im nordamerikanischen Florida eine Siedlung zu errichten, die bis heute Bestand hat.
= Wirtschaft im iberischen Amerika =
Die Kolonialherren richteten die Wirtschaft auf den Export nach Europa aus. Portugal, dem laut Vertrag von Tordesillas die Ostkuste Sudamerikas zugesprochen wurde, richtete ab den 40er Jahren dort Zuckerrohrplantagen ein. Den mit importierten afrikanischen Sklaven und versklavten Ureinwohnern hergestellten Zucker exportierten sie mit Erfolg nach Europa. Ihre Plantagen sicherten sie mit militarischen Stutzpunkten ab.
Die Spanier waren weniger erfolgreich mit ihren Zuckerrohrplantagen, so dass ihr Hauptexportartikel, Metalle, insbesondere Silber und Gold waren. In wenigen Bergwerken, insbesondere in Potosi in Bolivien, gewannen sie in der zweiten Jahrhunderthalfte große Mengen Silber und exportierten es unter der Kontrolle der Krone nach Europa. Durch die Beschaftigung von europaischen Bergbauspezialisten wurde der Abbau immer effektiver. Da die Zwangsverpflichtung von Arbeitskraften nicht ausreichte, importierten sie zahlreiche afrikanische Sklaven als Arbeitskrafte fur den Bergbau.
Neben dem Silberexport und dem Export aus Plantagen war die Wirtschaft Amerikas von der Landwirtschaft dominiert, wobei der Selbstversorgungsanteil hoch war. Das Handelsnetz richtete sich zunehmend auf die Versorgung des Bergbaus neu aus. In Sudamerika blieb es in indigener Hand, wahrend in Mittelamerika die spanischen Einwanderer eine immer bedeutendere Rolle einnahmen.
Literatur Peter Feldbauer, Jean-Paul Lehners (Hrsg.): Die Welt im 16. Jahrhundert. Mandelbaum Verlag, Wien 2008, ISBN 978-3-85476-266-9.
Marina Munkler: Anbruch der neuen Zeit. Das dramatische 16. Jahrhundert. Rowohlt, Berlin 2024.
Weblinks Auflistung und Beschreibung der Ereignisse von 1500 bis 1599 (private Seite)
Anmerkungen
|
Das 16. Jahrhundert begann am 1. Januar 1501 und endete am 31. Dezember 1600. Es dauerte wegen der gregorianischen Kalenderreform von 1582 nach dem julianisch-gregorianischen Kalender nur 36.515 Tage.
Die Weltbevolkerung zu Beginn dieses Jahrhunderts wird im Mittel auf 440 Millionen Menschen geschatzt, wahrend sie zum Ende des Jahrhunderts schatzungsweise auf 560 Millionen Menschen anstieg. Der globale Austausch von Gutern und Ideen erreichte eine nie zuvor gekannte Intensitat und Qualitat. Die iberischen Reiche etablierten ein weltumspannendes Handelsnetz, in das sie Amerika integrierten. Amerikanische Guter gelangten sowohl nach Europa als auch nach Asien und Afrika und erweiterten das dortige Lebensmittelangebot. Umgekehrt gelangten zahlreiche Kulturpflanzen und vor allem Nutztiere von Europa nach Amerika. Einerseits ging die indigene Bevolkerung durch die von Europaern mitgebrachten Epidemien stark zuruck, anderseits gab es eine starke Einwanderung aus Afrika und Europa. Die lateinische Christenheit Europas spaltete sich im Zuge der Reformation. Der eng mit der Reformation verknupfte starke Anstieg gedruckter Werke vergroßerte die Bildung breiter europaischer Bevolkerungsschichten.
Wahrend das am Rande Europas gelegene Russische Zarenreich seine Expansion nach Sibirien begann, expandierte das Osmanische Reich rund um das Mittelmeer und wandelte sich zu einer Großmacht mit mehrheitlich muslimischer Bevolkerung. Weiter ostlich entstanden mit dem iranischen Safawidenreich und dem indischen Mogulreich zwei weitere große islamische Großmachte. Wie im christlichen Europa wurde auch fur die islamischen Schießpulver-Reiche die konfessionelle Ausrichtung als Merkmal zur gegenseitigen Abgrenzung immer wichtiger. Auf den sudostasiatischen Inseln wurde der Islam zur vorherrschenden Religion. Chinas wirtschaftlicher Aufschwung ging mit einer Reduzierung der Standesunterschiede einher. In der zweiten Jahrhunderthalfte wurde das in viele Herrschaften zersplitterte Japan durch mehrere Feldherren geeint. Nach ihrer gescheiterten Invasion Koreas ließen die Japaner ein zerstortes Land zuruck.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/16._Jahrhundert"
}
|
c-13947
|
Die Lartigue-Einschienenbahn war eine von dem franzosischen Ingenieur Charles Lartigue um 1875 entwickelte, fruhe Einschienenbahn.
Das Prinzip Lartigue soll seinerzeit aus der Beobachtung von lasttragenden Kamelen auf die Idee gekommen sein, eine Bahn mit dem gleichen Lasttransport-Prinzip zu entwerfen. Das Einschienen-Prinzip mit hangenden Lasten hatte speziell in unebenem und unbefestigtem Gelande Vorteile gegenuber dem Zweischienen-Prinzip.
Die Wagen hatten Behalter, die beiderseits von Fahrgestellen befestigt waren, deren Rader auf einer einzelnen Schiene liefen. Die Schiene war auf fortlaufend hintereinander angeordneten A-formigen Stutzen gelagert. An den Stutzen befanden sich zusatzliche seitliche Fuhrungsschienen.
Die Dampflokomotive dieser Bahn hatte beiderseits der auf der Schiene laufenden drei Treibrader je einen Dampfkessel mit eigenem Schornstein. Die zwei Dampfzylinder des Antriebs befanden sich zwischen den Kesseln und den Treibradern. An der Entwicklung der Lokomotive war auch der bekannte Dampflokomotivkonstrukteur Anatole Mallet beteiligt.
Geschichte Eine erste Bahn nach diesem Prinzip baute Lartigue in Algerien uber eine Strecke von etwa 42 km zum Transport von Espartogras durch die Wuste von Oran nach Damesne.
1886 baute Lartigue in der Hoffnung auf Lizenznehmer fur seine Patente einen Streckenabschnitt seiner Bahn auf einer Ausstellung in London auf. Da zur gleichen Zeit ein Antrag der Bevolkerung in der irischen Grafschaft Kerry fur eine Eisenbahnlinie zwischen Listowel und Ballybunion vorlag, soll sich daraus die Entscheidung fur den Bau der Bahn nach Lartigues Idee ergeben haben. Die Listowel and Ballybunion Railway wurde am 1. Marz 1888 eroffnet und hatte eine Streckenlange von zehn Meilen (etwa 16 Kilometer). Die Schienenanlage hatte Weichen und auch eine Drehscheibe fur die Umkehr der Lokomotive. Die Listowel and Ballybunion Railway war 36 Jahre in Betrieb, bis sie 1924 wegen der erheblichen Schaden aus dem irischen Burgerkrieg (1921–1923) und aus wirtschaftlichen Uberlegungen geschlossen wurde.
In Frankreich wurde 1895 eine Lartigue-Bahn fur den Personenverkehr zwischen Feurs und Panissieres gebaut. Die gedeckten Wagen dieser Einschienenbahn hatten auf dem Dach weitere offene und freistehende Sitzplatze, zu denen eine Treppe an der Stirnseite hinauffuhrte. Spater wurden Drahtkafige auf dem Dach der Fahrzeuge zum Schutz der Passagiere installiert. Es kam aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten und insbesondere von technischen Problemen zu keiner Betriebsaufnahme. Die Betriebsgesellschaft wurde am 10. April 1899 liquidiert. Die Gesamtheit des rollenden Materials und der Trasse wurde an einen Lyoner Schrotthandler fur 53.000 Francs verkauft.
Eine der letzten auf dem Lartigue-Prinzip basierenden Bahnen war die 1924 fur die Sierra Salt Corporation gebaute Minenbahn fur den Magnesium-Abbau in Kalifornien. Die Fracht wurde von den Crystal Hills zur Verladestation Trona befordert. Die Linie fuhrte uber das raue Gelande des Salinas-Tales. Die Bahn bewahrte sich zwei Jahre lang, bis der Magnesium-Abbau auf modernere Methoden umgestellt wurde.
In den Ostpyrenaen wurde eine Erzbahn der Ria-Minen nach diesem Prinzip errichtet, die nach Vorschlag von Werner von Siemens elektrisch angetrieben wurde. In Guatemala und Peru wurden Probestrecken gebaut. In Russland gab es Versuche mit einer Pferdebahn. Planungen, eine Lartigue-Bahn in Paris zu bauen, wurden nicht ausgefuhrt.
Gegenwart 2000 wurde in Listowel mit dem Neuaufbau einer kurzen Strecke der Listowel and Ballybunion Railway nach alten Vorlagen begonnen. Seit 2003 ist die Strecke in Betrieb, die Nachbildung der seinerzeitigen Dampflokomotive wird dabei von einem Dieselmotor im Gehause des Tenders angetrieben. Das Gelande umfasst auch ein Museum und einen Park mit Relikten der historischen Listowel and Ballybunion Railway.
Siehe auch Addis-Einschienenbahn
Aldershot-Schmalspurschwebebahn
Caillet-Einschienenbahn
Ewing-Einschienenbahn
Larmanjat-Einschienenbahn
Lo-Presti-Einschienenbahn
Wiesenburg-Einschienenbahn
Weblinks Website der Listowel - Ballybunion Railway (englisch)
Lartigue Monorail Locomotives (historische Bilder, englisch)
The Lartigue Monorail, County Kerry (1921) Video, nachcoloriert
Einzelnachweise
|
Die Lartigue-Einschienenbahn war eine von dem franzosischen Ingenieur Charles Lartigue um 1875 entwickelte, fruhe Einschienenbahn.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Lartigue-Einschienenbahn"
}
|
c-13948
|
Irland ([ˈɪʁlant], irisch Eire [ˈeːrʲə] , englisch Ireland), auch als Republik Irland bekannt, ist ein Inselstaat in Westeuropa. Die offizielle Bezeichnung des Landes lautet Irland. Der Staat umfasst etwa funf Sechstel der gleichnamigen Insel sowie eine Vielzahl kleinerer Inseln, welche ihr – uberwiegend im Westen des Landes – vorgelagert sind. Die Republik Irland grenzt im Norden an Nordirland und damit an das Vereinigte Konigreich. Im Osten liegt die Irische See, im Westen und Suden ist das Land vom Atlantik umgeben. Hauptstadt und großte Stadt Irlands ist Dublin, gelegen im ostlichen Teil des Landes. In der Metropolregion Dublin lebt etwa ein Drittel der funf Millionen Einwohner. Der großte Teil der Bevolkerung bekennt sich zum romisch-katholischen Glauben.
Das lange Zeit verarmte und daher von Auswanderung betroffene Irland hat sich inzwischen zu einer hochmodernen, in manchen Gegenden multikulturellen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. 2021 hatte Irland im weltweiten Vergleich das vierthochste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (kaufkraftbereinigt) und das zweithochste in Europa. 2019 wurde das Land von elf Millionen auslandischen Touristen besucht. Irland ist Mitglied der Europaischen Union.
Geographie = Physische Geographie =
Im Landesinneren der Insel finden sich uberwiegend Ebenen, die außen von hugeligem Gebiet eingeschlossen sind.
Der Fluss Shannon, der von Norden nach Suden verlauft, ist mit etwa 370 km der langste der Insel. In den Ebenen liegen zahlreiche Seen, welche die Landschaft maßgeblich pragen. Lough Corrib ist der großte See Irlands und nach Lough Neagh, der zu Nordirland gehort, der zweitgroßte der irischen Insel.
Der hochste Berg ist mit 1039 m der Carrantuohill (andere Namen Carrauntoohil, Carrantual, Carntuohil). Er liegt im Sudwesten der Insel in den Macgillycuddy’s Reeks.
Uber das Land verteilt wurden seit den 1980er Jahren acht Nationalparks eingerichtet.
= Stadte =
Im Jahr 2023 lebten 65 Prozent der Einwohner Irlands in Stadten.
Bevolkerung = Demografie =
Irland hatte 2023 5,3 Millionen Einwohner. Das jahrliche Bevolkerungswachstum betrug + 2,6 %. Zum Bevolkerungswachstum trug ein Geburtenuberschuss (Geburtenziffer: 11,2 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 6,9 pro 1000 Einwohner) bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2022 statistisch bei 1,7, die der Europaischen Union betrug 1,5. Die Lebenserwartung der Einwohner Irlands ab der Geburt lag 2022 bei 83,1 Jahren. Der Median des Alters der Bevolkerung lag im Jahr 2021 bei 37,6 Jahren. Im Jahr 2023 waren 19,2 Prozent der Bevolkerung unter 15 Jahre, wahrend der Anteil der uber 64-Jahrigen 15,5 Prozent der Bevolkerung betrug.
Die Einwohnerzahl Irlands ging Mitte des 19. Jahrhunderts drastisch zuruck. Missernten, Hungersnote, Auswanderung und Repressalien durch die britische Herrschaft ließen die Einwohnerzahl von rund 6,5 Millionen (einschließlich der Bevolkerung der nordlichen auch zum Vereinigten Konigreich gehorenden Landesteile) im Jahr 1841 schrumpfen. Zur Unabhangigkeit der Republik im Jahr 1921 betrug die Bevolkerung ausschließlich des dichter bevolkerten Nordirlands ca. drei Millionen. Die Anzahl der Menschen irischer Abstammung im Ausland wird auf uber 40 Millionen geschatzt, in etwa sechsmal so hoch wie Irlands heutige Einwohnerzahl (incl. des zu UK gehorenden Teils des Provinz Ulster). Viele Iren wanderten aus, vor allem in das Vereinigte Konigreich und die USA. Die Unabhangigkeit vom Vereinigten Konigreich ab Beginn der 1920er Jahre fuhrte zwar zu allmahlichen Verbesserungen der Lebensumstande, die Bevolkerung schrumpfte aber weiterhin, wenn auch nicht mehr ganz so stark. Der Tiefpunkt war mit rund 2,82 Millionen Einwohnern in den 1960er Jahren erreicht. Seither hat sich die Bevolkerungszahl wieder nach oben entwickelt und mit rund funf Millionen Einwohnern (uber sechs Millionen einschließlich Nordirlands) den Stand von Mitte des 19. Jahrhunderts uberschritten.
2016 nahm die Bevolkerung Irlands allein durch Geburtenuberschusse um etwa ein Prozent zu. Das Medianalter der Bevolkerung betrug 36,6 Jahre, der geringste Wert in einem EU-Land. Derzeit gab es in Irland viele Menschen im Familiengrundungsalter und vergleichsweise wenige Menschen im Rentenalter. Dies ist eine Folge davon, dass die Geburtenrate noch bis in die 1970er Jahre bei knapp vier Kindern je Frau lag, deutlich hoher als uberall sonst in der westlichen Welt. Diese geburtenstarken Jahrgange tragen zur wirtschaftlichen Prosperitat bei. Nach den 1970ern sank die Geburtenrate zwar, aber nie deutlich unter die Nettoreproduktionsrate.
= Sprachen =
Es gibt zwei Amtssprachen: Englisch und Irisch; Letztere wird auf Deutsch auch Irisch-Galisch genannt.
Die Bevolkerung spricht uberwiegend Englisch, auch wenn eine Starkung der keltischen Sprache Irisch, die auch die ursprungliche Sprache der Iren ist, angestrebt wird.
Als Muttersprache wird Irisch nur von einer Minderheit gesprochen, vor allem in der sogenannten Gaeltacht.
= Religionen =
Die Bevolkerung der Republik Irland bekannte sich bei der Volkszahlung 2022 zu 69,1 % zum romisch-katholischen Glauben, 2,5 % gehorten der anglikanischen Gemeinschaft an (zumeist der Church of Ireland), 2,0 % den orthodoxen Kirchen und orientalisch-orthodoxen Kirchen und 2,2 % anderen christlichen Konfessionen. Zu den kleineren christlichen Konfessionen gehoren die methodistische und die evangelisch-lutherische Kirchen. Mit 1591 Mitgliedern (Stand 2005) sind die Quaker zwar eine vergleichsweise kleine Gemeinschaft, aber sie ist nach der im Vereinigten Konigreich die zweitgroßte in Europa. Die presbyterianische Kirche ist vor allem unter den Nachfahren der schottischen Ansiedler stark verwurzelt. Deshalb ist sie am starksten in Nordirland verbreitet. 1,6 % der Einwohner gaben bei der Volkszahlung 2022 an, Muslime zu sein.
Eine reprasentative Umfrage im Auftrag der Europaischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass fur 36 Prozent der Menschen in Irland Religion wichtig ist, fur 21 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und fur 43 Prozent ist sie unwichtig. Laut einer Umfrage des Worldwide Independent Network und der Gallup International Association, die zwischen 2011 und 2012 durchgefuhrt wurde, bezeichneten sich zehn Prozent der befragten Iren als „uberzeugter Atheist“, 44 Prozent nannten sich „nicht-religios“ und 47 Prozent gaben an, eine religiose Person zu sein. Zwischen 2005 und 2011/12 fiel der Anteil der Iren, die sich als religios bezeichnen, um 22 Prozentpunkte (von 69 Prozent auf 47 Prozent).
Die Romisch-katholische Kirche auf der Insel Irland besteht aus vier Kirchenprovinzen mit den Erzbistumern Armagh, Dublin, Tuam und Cashel und deren Suffragandiozesen. Der katholische Primas von ganz Irland ist der Erzbischof von Armagh. Die anglikanische Church of Ireland teilt sich in die beiden Kirchenprovinzen Armagh und Dublin und deren Diozesen. Sitz des anglikanischen Primas von ganz Irland ist ebenfalls Armagh.
= Bildung =
Der Bildungsetat Irlands betrug 2017 etwa 9,5 Milliarden Euro. Fur die nachsten Jahre soll das Budget nur geringfugig steigen. Um im laufenden und den kommenden Jahren die steigende Anzahl an Schulern mit ausreichend Lehrern zu versorgen, sollten im Jahr 2017 rund 2400 zusatzliche Lehrer eingestellt werden.
Das irische Bildungssystem ist dreistufig angelegt: primary school (Grundschule), secondary school (Weiterfuhrende Schule) und higher – „third level“ – education.
Die zum großen Teil unter Tragerschaft der katholischen Kirche stehenden offentlichen Primarschulen sind schulgeldfrei. Privatschulen, deren Zahl in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen hat, erheben zum Teil betrachtliche Schulgebuhren. Allerdings werden die dort beschaftigten Lehrkrafte vom irischen Staat bezahlt. Eine Initiative der Regierung, sukzessive Schulen aus der Tragerschaft der katholischen Kirche herauszulosen und ihre Umwandlung in nicht- oder multikonfessionelle Einrichtungen zu betreiben, kommt nur schleppend voran. Gleichzeitig wachst der offentliche Druck von Eltern, die große Schwierigkeiten haben, fur nicht katholisch getaufte Kinder in zumutbarer Entfernung eine Schule zu finden.
Die Ergebnisse der zentralen staatlichen Abschlussprufung („leaving certificate“) entscheiden uber den Zugang zu den Hochschulen des Landes. 2015 bestritten 56.587 Schuler die Abschlussprufung. Von diesen bewarben sich 47.654 um Studienplatze. Der von der OECD zwischen 2000 und 2009 festgestellte starke Leistungsabfall in den schulischen Grundfertigkeiten konnte zwischenzeitlich gestoppt werden. Die letzte PISA-Studie zeigt fur Irland wieder einen leichten Aufwartstrend. Irland befindet sich im Vergleich zu den europaischen Partnerlandern im Mittelfeld. Ursachlich hierfur ist die Vergabe von Bonuspunkten fur Mathematik und naturwissenschaftliche Facher. Im PISA-Ranking von 2015 erreichen Irlands Schuler Platz 17 von 72 Landern in Mathematik, Platz 19 in Naturwissenschaften und Platz 5 beim Leseverstandnis. Irische Schuler gehorten damit zu den besseren unter allen teilnehmenden Landern.
Zu den Hauptzielen der Regierung gehort eine umfassende Reform des irischen Bildungssystems. Hierzu sollen zunachst die Anforderungen fur das „junior certificate“ (Sekundarschulabschluss I) und das „leaving certificate“ (Sekundarschulabschluss II) geandert werden. Ein weiterer Schritt auf diesem Wege ist die Reform des Zulassungssystems fur die Universitaten. Es wurde ein neues Punktesystem fur die Vergabe von Studienplatzen eingerichtet. Es soll fur den Abschlussjahrgang 2017 erstmalige Anwendung finden. Anreize fur Schuler, die sich bei der Facherwahl fur das Ansammeln benotigter Punktzahlen in eher leichteren Facher entschieden, anstatt ihren Neigungen nachzugehen und auf beruflich benotigte Qualifikationen zu achten, sollen damit aufgehoben werden.
Traditionell haben Gewerkschaften einen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung und die Fortentwicklung des Schulsystems. Allein die Primar- und Sekundarschullehrer sind in drei, Universitatsprofessoren und Dozenten in zwei verschiedenen Gewerkschaften organisiert. Die Reform des „junior certificate“ wird von einer großen Lehrergewerkschaft abgelehnt. Die Gewerkschaftsmitglieder boykottieren die Umsetzung von 2016. Sie wenden sich vor allem gegen den fur Irland neuen Ansatz, dass Lehrer ihre eigenen Schuler prufungsrelevant bewerten sollen.
= Gesundheit =
Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2022 6,1 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2020 praktizierten in Irland 34,8 Arztinnen und Arzte je 10.000 Einwohner. Die Sterblichkeit bei unter 5-jahrigen betrug 2022 3,1 pro 1000 Lebendgeburten. Die Lebenserwartung der Einwohner Irlands ab der Geburt lag 2022 bei 83,1 Jahren (Frauen: 84,9, Manner: 81,3). Die Lebenserwartung stieg von 76,5 Jahren im Jahr 2000 bis 2022 um 9 %.
Landesname Der amtlich verwendete deutsche Name ist Irland. Die offizielle Eigenbezeichnung lautet irisch Eire bzw. englisch Ireland. Haufig wird zur Unterscheidung von Nordirland auch der Begriff Republik Irland verwendet (irisch Poblacht na hEireann, engl. Republic of Ireland).
Poeten und irische Nationalisten des 19. Jahrhunderts verwendeten Erin im Englischen als romantischen Namen fur Irland. Oft wurde Erin’s Isle verwendet. So tragt auch die weibliche Personifikation Irlands den Namen Erin (neben Hibernia). Erin ist die hiberno-englische Derivation des irischen Wortes Eirinn. Eirinn ist der Dativ des irischen Wortes fur Irland, Eire; der Dativ wird verwendet mit Prapositionen wie „go hEirinn“ – „nach Irland“, „in Eirinn“ – „in Irland“ oder „o Eirinn“ – „aus Irland“. Die Gestalt der Erin ist ferner auf dem Wappen Montserrats dargestellt; viele Einwohner dieses britischen Uberseegebietes kamen aus Irland.
Geschichte Die Geschichte Irlands beginnt mit der Besiedlung etwa 7000 v. Chr. Keltische Einwanderer brachten etwa ab 300 v. Chr., am Ubergang von der Bronzezeit zur Eisenzeit, keltische Sprache und Kultur auf die Insel.
Im Romischen Reich war die Insel Irland unter dem Namen Hibernia bekannt. Im Laufe der Geschichte gab es eine Reihe von Konigreichen und Furstentumern in Irland. Der Christianisierung Anfang des 5. Jahrhunderts durch Sklaven aus der bis etwa 410 romischen Provinz Britannien, unter ihnen auch der heutige Nationalheilige Patrick von Irland, folgte die erste irische Blutezeit, in der unzahlige Klostersiedlungen, u. a. mit den beruhmten Rundturmen, entstanden; diese wurde ab etwa 800 durch die Beutezuge der Wikinger unterbrochen bzw. beendet.
Es folgte im Jahre 1169 die Eroberung durch die Normannen, die eine fortgesetzte Dominanz Englands uber Irland einlautete. Anglonormannen konfiszierten den Landbesitz der Iren und vertrieben sie in den weniger fruchtbaren Westen der Insel. Ab etwa 1600 wurden von der englischen Krone im Nordosten der Insel anglikanische und presbyterianische Siedler aus England und Schottland angesiedelt. Diese sogenannte Plantation war die Wurzel eines Jahrhunderte schwelenden ethno-religiosen Konflikts, besonders schwer und fortdauernd in Nordirland, dem Siedlungsschwerpunkt.
Die Politik der britischen Großgrundbesitzer in Irland fuhrte zusammen mit der Kartoffelfaule zur Hungersnot von 1845 bis 1849. Bis zu 1,5 Millionen Iren verhungerten, und viele wanderten in die USA aus. Britische Behorden verschleppten bewusst Maßnahmen zur Eindammung der Hungersnot. Diese spielt eine bedeutende Rolle in der historischen Entwicklung anti-britischer Ressentiments. Die Vorwurfe der irischen Bevolkerung reichen hierbei von verantwortungsloser Untatigkeit bis hin zu systematischem Volkermord. Diese strittige historische Debatte kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Besonders zulasten der britischen Kolonialherren geht hierbei das Argument, dass Irland wahrend der gesamten Hungersnot durchgehend Nettoexporteur von Lebensmitteln blieb und kein Exportstopp verhangt wurde, um die Lebensmittelpreise in Irland zu drucken. Des Weiteren werden die uberwiegend um 1700 erlassenen Penal Laws als Vorbedingung fur die Entwicklung der prekaren Lage der Iren angesehen. Diese die katholische irische Bevolkerung diskriminierenden Gesetze umfassten unter anderem: Das Verbot der Ausubung offentlicher Amter, die Vorenthaltung des aktiven Wahlrechts, die Verwehrung des Zugangs zu hoherer Bildung, die Untersagung des dauerhaften Erwerbs oder der Pacht von Grundbesitz und eine Einschrankung des Vermogenserwerbs.
Nach dem Ersten Weltkrieg fuhrte ein blutiger Burgerkrieg zwischen 1919 und 1921 in Richtung politische Unabhangigkeit fur einen großen Teil der Insel; der Dominion-Status am 6. Dezember 1921 gewahrte eine großere innenpolitische Eigenstandigkeit und ermoglichte die Grundung des Irischen Freistaats 1922, dem Vorganger der heutigen Republik Irland. Sechs Grafschaften in der Provinz Ulster blieben allerdings nach dem Abkommen Bestandteil des Vereinigten Konigreichs. Der seit ungefahr 1600 latent bestehende Konflikt setzte sich wegen der Teilung fort und uberschattete die irisch-britische und innerirische Politik bis in die 2000er Jahre als Nordirlandkonflikt.
Auch als Irland am 18. April 1949 nach uber drei Jahrhunderten britischer Herrschaft aus dem Commonwealth of Nations ausschied, verblieben die sechs nordirischen Grafschaften im Vereinigten Konigreich. Jedoch zeichnet sich seit dem Karfreitagsabkommen aus dem Jahr 1998 und dem dort festgelegten Verzicht der Republik Irland auf die Forderung nach einer Wiedervereinigung mit Nordirland eine deutliche Entspannung ab. Zwar besteht nach wie vor die Moglichkeit einer Vereinigung der beiden Gebiete, diese kann aber nur durch einen Mehrheitsbeschluss der nordirischen Bevolkerung herbeigefuhrt werden.
Politik = Politisches System =
Gemaß der irischen Verfassung von 1937 ist Irland eine parlamentarische Republik. Das Staatsoberhaupt, der Prasident, hat uberwiegend reprasentative Funktionen und wird fur sieben Jahre gewahlt, wobei eine Wiederwahl moglich ist.
Das Parlament (Oireachtas) besteht aus zwei Kammern und dem Prasidenten: Dabei bildet der Senat (Seanad Eireann) das Oberhaus und das Reprasentantenhaus (Dail Eireann) das Unterhaus. Der Senat besteht aus 60 Mitgliedern, von denen elf durch den Premierminister ernannt und 49 von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen gewahlt werden (Landwirtschaft und Arbeiterschaft je elf, Industrie und Handel neun, Offentliche Verwaltung sieben, Universitaten sechs und Kultur und Erziehung funf). Diese Wahlen finden innerhalb von 90 Tagen nach der Auflosung des Reprasentantenhauses statt.
Das Unterhaus besteht aus 158 Mitgliedern, wobei die Zahl der Mitglieder von der Einwohnerzahl Irlands abhangt. Auf je 20.000 bis 30.000 Einwohner kommt ein Abgeordneter. Die Mitglieder des Unterhauses werden nach der ubertragbaren Einzelstimmgebung (engl. Single Transferable Vote) in 40 Wahlkreisen gewahlt, in denen je zwischen drei und funf Mandate zu vergeben sind. Wahlen mussen innerhalb von 30 Tagen nach der Auflosung des Reprasentantenhauses stattfinden. Das Unterhaus wird fur hochstens funf Jahre gewahlt, eine fruhere Auflosung ist aber moglich.
Regierungschef ist der Premierminister (irisch Taoiseach, gesprochen [tiːʃəx]), der vom Parlament nominiert und vom Prasidenten ernannt wird. Ublicherweise ist er der Parteichef der starksten Parlamentspartei oder der großten Koalitionspartei.
Die Regierung (An Rialtas) besteht aus hochstens 15 Mitgliedern. Dabei durfen nicht mehr als zwei Minister aus dem Senat kommen, der Premier, der Stellvertreter des Premier und der Finanzminister mussen dem Reprasentantenhaus angehoren.
Eine Auswahl irischer Parteien:
Fianna Fail
Fine Gael
Sinn Fein
Green Party
Labour Party
Seit September 2020 reprasentiert Mairead McGuinness Irland als Kommissarin fur Finanzdienstleistungen, Finanzstabilitat und Kapitalmarkte in der Europaischen Kommission. Ihr Vorganger war Phil Hogan, zunachst als Kommissar fur Landwirtschaft und landliche Entwicklung in der „Kommission Juncker“ und seit 2019 als Kommissar fur Handel in der Kommission von der Leyen I.
= Politische Indizes =
= Aktuelle Politik =
Im Mai 2015 entschied Irland als weltweit erstes Land per Referendum positiv uber die Erlaubnis zur Schließung gleichgeschlechtlicher Ehen.
Irland hat zurzeit 17 Ministerien und 14 Minister (da die Zahl der Kabinettsminister laut Verfassung beschrankt ist, stehen einige zwei Ministerien vor). Die letzten Parlamentswahlen fanden im Februar 2020 statt. Die Fine Gael, die zuvor den Regierungschef gestellt hatte, verlor knapp funf Prozentpunkte und 15 Sitze und wurde mit 20,9 % und 35 Sitzen nur noch drittstarkste Partei. Auf die Fianna Fail entfielen 22,2 % der Stimmen und 37 Sitze, die Sinn Fein erhielt mit 24,5 % gleichfalls 37 Sitze. Unabhangige Kandidaten gewannen 20 Sitze, die Green Party 12 Sitze und kleinere Parteien und Gruppierungen insgesamt 18 Sitze.
In einer 2018 zeitgleich mit der Staatsprasidentenwahl stattfindenden Volksabstimmung votierten die Iren mit 64,85 % fur eine Entfernung der Blasphemieklausel aus der Verfassung.
Im Marz 2024 lehnte die irische Bevolkerung in einem Referendum zwei mogliche Anderungen an der Verfassung, welche die Definition der Familie und die Rolle der Frau betroffen hatten, mit deutlicher Mehrheit ab.
= Verwaltungsgliederung =
Irland besteht aus vier historischen Provinzen (Connacht, Leinster, Munster, Ulster), die wiederum in Grafschaften (Counties) aufgeteilt sind. Die Provinzen haben keine Bedeutung mehr fur die Verwaltung des Staates, spielen jedoch zum Beispiel im Sport noch eine Rolle.
Die Grafschaften wurden in der Folge der anglonormannischen Eroberung Irlands im 12. Jahrhundert gebildet und bestehen im Wesentlichen, abgesehen von einigen Aufteilungen und Fusionen, als lokale Verwaltungseinheiten fort.
1994 wurden jeweils mehrere Grafschaften zu insgesamt acht Regionen zusammengefasst, deren Verwaltung aber lediglich die Koordination offentlicher Dienste und die Verteilung der Gelder aus dem EU-Strukturfonds zur Aufgabe hat.
= Polizei =
Garda Siochana na hEireann, kurz auch Garda oder Gardai, bezeichnet die Nationalpolizei in der Republik Irland. Die Behorde untersteht einem von der irischen Regierung eingesetzten Polizeiprasidenten (Commissioner), das Hauptquartier befindet sich im Phoenix Park in Dublin. Die gebrauchlichste Kurzform im Sinne des Kollektivums „Die Polizei“ ist Garda, wie auch der einzelne Polizist heißt. Der Plural Polizisten = Gardai kommt ebenfalls haufig als Sammelbezeichnung vor.
Die Garda existiert seit 1922, ihre etwa 9000 uniformierten Mitglieder sind in der Regel unbewaffnet, auch um sich von der Vorgangereinheit, der Royal Irish Constabulary (RIC), zu unterscheiden. Daneben gibt es rund 1700 mit Handfeuerwaffen ausgestattete nicht uniformierte Garda Detectives, die unter anderem fur den Personenschutz verantwortlich sind, und die schwer bewaffnete Emergency Response Unit. Irland gliedert sich in sechs Polizeiregionen, darunter die Dublin Metropolitan Region, die jeweils von einem Regional Assistant Commissioner geleitet werden.
Kommunale Polizeikrafte gibt es seit der Zusammenlegung der Dubliner Polizei mit der Garda im Jahr 1925 nicht mehr. Die Airport Police auf dem Flughafen von Dublin, die Harbour Police und die Railway Police, die auf dem Gelande von Bahnhofen Dienst tut, sind keine klassischen Polizeikrafte, sondern eher als Sicherheitsdienste zu bezeichnen. Verhaftungen werden auch hier nur von der Garda vorgenommen.
= Militar =
Die Irish Defence Forces (IDF, Irisch: Oglaigh na hEireann) sind die Streitkrafte der Republik Irland. Sie bestehen aus den Teilstreitkraften
Heer (Irish Army, irisch: Arm na hEireann) mit:
dem Defence Forces Headquarters
1st Brigade in den „Collison Barracks“ in Cork
2nd Brigade in den „Cathal Brugha Barracks“ in Rathmines (Dublin)
Defence Forces Training Center im „Curragh Camp“ im County Kildare
Das Heer besteht aus folgenden Waffengattungen:
Infanterie
Artillerie
Kavallerie, d. h. Panzer- und mechanisierte Krafte, die aus Tradition als „Kavallerie“ bezeichnet werden
Communications and Services (CIS)
Pioniere
Logistik
Sanitatsdienst
Transport
Militarpolizei
Marine (Naval Service, irisch: Seirbhis Chabhlaigh na hEireann), ausgerustet mit acht Patrouillenbooten in drei Großenklassen.
Luftwaffe (Irish Air Corps, irisch: Aerchor na hEireann), ausgerustet mit zehn Dreh- und 15 Starrfluglern, darunter ein Learjet als einziges Strahlflugzeug. Die Aufgaben der Luftwaffe bestehen hauptsachlich in Uberwachungstatigkeiten, der Unterstutzung des Heeres und dem Transport von Menschen und Material.
In der irischen Armee dienten 2019 knapp 8.700 Manner und Frauen, davon rund 7.300 im Heer. Zusatzlich zur Berufsarmee gibt es noch die Reserve Defence Force, die aus der Army Reserve (Irisch: Cultaca an Airm) und der Naval Service Reserve (NSR, Cultaca na Seirbhise Cabhlaigh) besteht.
Irland gab 2021 0,3 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts fur seine Streitkrafte aus.
Irland gehort der 2023 gegrundeten Allianz der Vier Westeuropaischen Partner an, die eine verstarkte Zusammenarbeit mit der NATO anstrebt.
= Außenpolitik =
Seit 1973 ist Irland Mitglied der EU (Europaische Union, damals noch EG). Seine Außenpolitik wird gepragt durch eine pro-europaische Grundeinstellung, das Eintreten fur Abrustung, die Belange der Entwicklungslander, Menschenrechte und starke Vereinte Nationen (Mitglied seit 1955). Die Mitgliedschaft in der Europaischen Union wirkte sich fur Irland nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht vorteilhaft aus. So durften die Fortschritte im Nordirland-Friedensprozess durch die damalige gemeinsame EU-Mitgliedschaft Irlands und des Vereinigten Konigreichs begunstigt worden sein. Erhebliche Veranderungen etwa in der Sozialgesetzgebung gehen auf die EU-Zugehorigkeit zuruck. Als kleines Land, das seine Unabhangigkeit von London erst 1922 erlangte, ist Irland auf die Wahrung seiner Eigenstandigkeit bedacht. Gleichwohl war das Vereinigte Konigreich, bis zu seinem EU-Austritt, der mit Abstand engste Partner Irlands innerhalb der EU. Der Austritt des Vereinigten Konigreiches aus der EU nach dem Brexit-Votum am 23. Juni 2016 beunruhigt die Regierung Irlands sowohl unter wirtschaftlichen als auch politischen Gesichtspunkten. Die Irische Regierung hatte sich vorher offentlich und gegenuber britischem Publikum klar fur einen Verbleib des Vereinigten Konigreiches in der EU ausgesprochen. 2021 trat das Protokoll zu Nordirland in Kraft, welches den Status von Nordirland nach dem Brexit regelt und den freien Verkehr von Personen und Waren garantierte. Aufgrund der Grenze mit Nordirland und den engen wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Kontakten bleiben die britisch-irischen Beziehungen eine Prioritat der irischen Außenpolitik.
Die Beziehungen zu den USA sind traditionell von besonderer Bedeutung (die USA sind zweitwichtigster Handels- und wichtigster Investitionspartner, uber 40 Mio. US-Amerikaner geben eine irische Abstammung an); politisch wie wirtschaftlich besteht ein enges Verhaltnis. Traditionell wird der irische Premierminister zum irischen Nationalfeiertag (Saint Patrick’s Day am 17. Marz) vom US-Prasidenten in das Weiße Haus eingeladen.
Wirtschaft Irland war bis in die 1990er Jahre im Vergleich zu anderen Staaten der EG ein wirtschaftlich wenig entwickeltes Land. Insbesondere aus den USA kam es auf der Suche nach einem Standort fur den Export in den europaischen Wirtschaftsraum zu Investitionen in Irland. Es kam auch zu großerer Immigration nach Irland, insbesondere aus Osteuropa. Das inflationsbereinigte Pro-Kopf-BIP in Irland stieg auf einen der hochsten Werte in der EU. Allerdings war das BIP kunstlich erhoht, z. B. werden Gewinne von den Unternehmen teils nur buchhalterisch nach Irland verschoben und fließen nur vorgeblich ins Land. Der Grund dafur sind die geringen Steuersatze: die Unternehmenssteuer betrug fruher 10 % und stieg auf 12,5 %. Dies ist noch immer einer der geringsten Werte innerhalb der EU. Das Bruttonationaleinkommen stieg weniger stark an, unter anderem nahm jedoch die Arbeitslosigkeit tatsachlich ab (2000–2007 betrug sie rund funf Prozent) und durch den 2000 eingefuhrten gesetzlichen Mindestlohn liegt das monatliche Einkommen bei erwachsenen Vollzeitangestellten nicht unter 1183 Euro. Irland wurde wegen seiner wirtschaftlichen Entwicklung oft als „Keltischer Tiger“ bezeichnet.
Allerdings wurde Irland von der Weltfinanzkrise 2007–2008 besonders hart getroffen, weil der wachsende Wohlstand auch auf einer Immobilienblase beruhte, die schließlich „platzte“. Außerdem ist die irische Wirtschaft sehr stark von auslandischen Direktinvestitionen abhangig. Die sehr laxe Regulierung des Finanzsektors zog zwar viele auslandische Banken an, Irlands Gesamtwirtschaft ist dafur aber im Ausland sehr stark verschuldet. Die Summe der ausstehenden Kredite, Derivate und Hypothekendarlehen irischer Banken ubersteigt das Bruttoinlandsprodukt beinahe um das Vierfache. Durch die nun fallenden Immobilienpreise sind viele irische Haushalte uberschuldet.
In den Jahren 2008 und 2009 befand sich Irland in einer Rezession. Die konservative irische Regierung unter Brian Cowen beschloss, gegen die massiv ansteigenden Staatsschulden eine Austeritatspolitik durchzufuhren. Im Jahr 2014 uberwand Irland die Krise. Das BIP wuchs 2014 um 8,6 %, im Jahr 2015 sogar um 24,4 %. Damit wies Irland fur zwei Jahre das großte Wirtschaftswachstum Europas auf.
Das Bruttoinlandsprodukt Irlands betrug im Jahr 2023 552 Mrd. USD. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf betrug im selben Jahr 103.466 USD. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfahigkeit eines Landes misst, belegt Irland Platz 24 von 141 Landern (Stand 2019). Der Index fur wirtschaftliche Freiheit 2024 des Landes war der 3 hochste von 176 Landern. Irland zahlt zu den liberalsten Volkswirtschaften der Welt.
Das Land fuhrt eine Wertpapierborse – die Euronext Dublin – mit dem Leitindex der Volkswirtschaft, dem ISEQ Overall Index.
Die Arbeitslosenquote betrug im Juni 2018 auf 5,1 % und lag damit unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 13,6 %. 2015 arbeiteten 5 % aller Arbeitskrafte in der Landwirtschaft, 11 % in der Industrie und 84 % im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschaftigten wird fur 2017 auf 2,23 Millionen geschatzt; davon sind 44,9 % Frauen.
Irland stand, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, auf Rang 32 weltweit beim nationalen Gesamtvermogen. Der Gesamtbesitz an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 853 Milliarden US-Dollar. Je erwachsene Person betragt es 248.466 Dollar im Durchschnitt und 84.592 Dollar im Median (in Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Beim durchschnittlichen Vermogen gehort Irland damit zu den wohlhabendsten Landern der Welt. Hohere Durchschnittsvermogen als in Deutschland sind vor allem mit dem großeren Anteil an Immobilienbesitzern zu erklaren.
Insgesamt war 41,5 % des gesamten Vermogens der Bevolkerung finanzielles Vermogen und 58,5 % nicht-finanzielles Vermogen. Der Gini-Koeffizient bei der Vermogensverteilung lag 2017 bei 81,3 was auf eine hohe Vermogensungleichheit hindeutet. Die obersten 10 % der irischen Bevolkerung besaßen 65,8 % des Vermogens und die obersten 1 % besaßen 33,1 % des Vermogens. Insgesamt 33,1 % der Bevolkerung hatten ein privates Vermogen von weniger als 10.000 Dollar und 3,6 % hatten ein Vermogen von mehr als 1 Million Dollar. Mitte 2022 lebten in Irland 9 Milliardare.
= Auslandische Unternehmen in Irland und Außenhandel =
Einen nicht unerheblichen Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung Irlands haben auslandische Unternehmen. Der Anteil auslandischer Unternehmen an der irischen Wertschopfung erreichte 1995 23,8 %. Allein im Sektor Informations- und Kommunikationstechnologie lagen die Exporte im Jahr 2003 uber 21 Milliarden € und erzielten damit einen Anteil von 26 % der Exporte. Viele ab 1989 zugewanderte weltweit agierende Unternehmen wie z. B. IBM, Intel, Hewlett Packard, Symantec, Dell und Microsoft beschaftigten 2003 mehr als ein Prozent der Bevolkerung. In den letzten Jahren wanderten diese Unternehmen aber teils wieder weiter.
Heftige Kritik an irischen Praktiken der Unternehmensbesteuerung („Double Irish“) hat dazu gefuhrt, dass die Regierung beschlossen hat, diese in Einklang mit Vorgaben von OECD und EU zu bringen. Die Bewahrung seines Korperschaftssteuersatzes von 12,5 % bleibt fur Irland, dessen Wirtschaft exportorientiert und von auslandischen Investoren abhangig ist, allerdings ein vorrangiges Ziel. Die Entscheidung der EU-Kommission im Fall Apple am 30. August 2016 (Irland habe dem US-Multi Apple unzulassige Steuervergunstigungen in Hohe von 13 Mrd. € gewahrt) hat neuen Druck aufgebaut.
Das Land ist, vor allem wegen seiner offenen Grenze zu Nordirland, kein Mitglied des Schengen-Raums.
Viele europaische Finanzunternehmen haben in den vergangenen Jahren eine Dependance in Irland installiert. Im Jahr 2007 befanden sich unter den 35 großten Banken Irlands insgesamt 15 Niederlassungen deutscher Banken.
Entwicklung des Außenhandels (GTAI)
Haupthandelspartner Irlands (2020), Quelle: GTAI
= Staatshaushalt =
Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von 80,8 Milliarden Dollar. Dem standen Einnahmen von 78,1 Milliarden Dollar gegenuber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Hohe von 2,7 Milliarden Dollar beziehungsweise 0,9 % des BIPs.
Die Staatsverschuldung betrug 2016 200,6 Milliarden Euro oder 75,4 % des BIP. Irische Staatsanleihen werden von der Ratingagentur S&P Global Ratings mit der Note A+ bewertet (Stand: Dezember 2018).
Irland, das aufgrund der Bankenkrise binnen vier Jahren seine Staatsschulden von unter 25 % bis Ende 2010 vervierfacht hatte, beantragte Hilfen aus dem EU-Rettungsschirm. Am 28. November 2010 einigten sich die Finanzminister der Eurozone auf ein 85 Milliarden Euro-Hilfspaket, das von der EU und vom Internationalen Wahrungsfonds zur Verfugung gestellt werden sollen. Seitdem hat sich die Lage der offentlichen Finanzen weitestgehend stabilisiert und Irland konnte seine Staatsschulden durch Einsparungen und wirtschaftliches Wachstum von 119,5 % (2013) auf 75,4 % (2016) der Wirtschaftsleistung senken.
2020 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche:
Gesundheit: 7,1 %
Bildung: 3,1 %
Militar: 0,3 %
Infrastruktur Irland verfugt uber eine moderne und leistungsfahige Infrastruktur. Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird, belegte Irland 2023 den 26. Platz unter 139 Landern.
= Energie =
2022 deckte Irland 13,1 Prozent seines jahrlichen Energiebedarfs durch erneuerbare Energien, was es im gleichen Jahr zum EU-Mitgliedsstaat mit dem geringsten Anteil am Gesamtverbrauch machte. 2023 verbrauchten die Rechenzentren des Landes erstmalig mehr Energie als die Gesamtheit der irischen Haushalte.
= Feuerwehr =
In der Feuerwehr in Irland waren im Jahr 2019 uber 2.000 Berufs- und rund 2.100 Teilzeit-Feuerwehrleute organisiert, die in 219 Feuerwachen und Feuerwehrhausern, in denen 300 Loschfahrzeuge und 46 Drehleitern bzw. Teleskopmasten bereitstehen, tatig sind. Die irischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 120.024 Einsatzen alarmiert, dabei waren 20.756 Brande zu loschen. Es wurden 16 Tote von den Feuerwehren bei Branden geborgen. Die nationale Feuerwehrorganisation Chief Fire Officers’ Association reprasentiert die irische Feuerwehr im Weltfeuerwehrverband CTIF.
= Seehafen =
Wichtige Seehafen fur den Fahrverkehr befinden sich in Dublin, von wo aus Verbindungen nach Großbritannien und Cherbourg in Frankreich bestehen, und in Rosslare Harbour, von wo aus ebenfalls Großbritannien sowie Roscoff und Cherbourg in Frankreich erreichbar sind.
= Flugverkehr =
In Irland registrierte Fluglinien transportierten im Jahr 2017 weltweit uber 153 Millionen Personen. Die mit weitem Abstand großte Airline des Landes ist Ryanair, die inzwischen zweitgroßte Fluggesellschaft Europas.
Irland hat internationale Flughafen in Dublin, im County Donegal in Carrickfinn, im County Kerry in Farranfore, im County Clare in Shannon sowie in Cork und Knock, die u. a. von Austrian Airlines, der Lufthansa, Swiss, TUIfly und den einheimischen Fluggesellschaften Aer Lingus und Ryanair angeflogen werden. Nach dem Streichen der staatlichen Subventionen wird der Flughafen von Galway seit Oktober 2011 nicht mehr von Linienmaschinen angeflogen. Bis 2021 existierte außerdem eine Inlandsfluglinie, die Stobart Air. Daneben gibt es noch zahlreiche lokale Flughafen.
= Schienenverkehr =
Weiterhin existiert ein recht dunnes Eisenbahnnetz in 1600 mm Spurweite, das aber ausgebaut wird. Wichtigste Bahngesellschaft ist die staatliche Iarnrod Eireann.
= Busverkehr =
Bus Eireann ist die nationale Busgesellschaft, die eine große Zahl von Verbindungen anbietet. Vergleichbar mit den amerikanischen Greyhound-Bussen verbinden zahlreiche Uberlandbusse die einzelnen Regionen.
Von den zentralen Haltepunkten, die jedoch nicht immer zwingend im Zentrum der angefahrenen Stadte liegen, fahren lokale Buslinien auch in entferntere Gegenden. Die Fahrplane sind jedoch genau zu studieren, da einige Verbindungen doch recht selten fahren, je nach Wochentag und Lage der jeweiligen Ortschaft nur ein- oder zweimal taglich.
= Straßensystem =
Das gesamte asphaltierte Straßennetz umfasste 2014 etwa 96.036 km.
Ein PKW darf mit einem EU-Fuhrerschein gelenkt werden, wobei zu beachten ist, dass in Irland (wie im benachbarten Nordirland und auf der britischen Insel) Linksverkehr herrscht.
Die Straßen in der Republik sind bedingt durch die geringe Bevolkerungsdichte meist schlechter als auf dem europaischen Festland. Radreiseverkehr profitiert von der geringen Verkehrsdichte am Land. Straßen werden in Irland einer von vier Klassen zugeordnet.
Motorway (Kurzel M)
Ein Motorway (irisch Motarbhealach) entspricht in etwa einer vierspurigen deutschen Autobahn mit Mittelstreifen und befestigten Seitenstreifen als Nothaltespuren (hard shoulders). Sie fuhren sternformig aus dem Großraum Dublin nach Waterford, Cork, Limerick, Galway und zur Grenze nach Nordirland bei Dundalk (und weiter in Richtung Belfast). Auch die Ringstraße, die Dublin westlich umschließt, ist als Motorway (M50) klassifiziert. Alle Motorways sind Teil einer oder bilden eine National Road. Die zulassige Hochstgeschwindigkeit auf Motorways betragt 120 km/h. Einige Abschnitte von Motorways, beispielsweise der M4, sind gebuhrenpflichtig; die Maut betragt zwischen 1,80 und 3 Euro fur PKW und bis zu 1,40 Euro fur Motorrader (Stand: 08/2008). Die Beschilderung fur Richtungs- und Entfernungsinformationen auf Motorways ist in blau gehalten. Irland hat in Westeuropa im Verhaltnis zur Bevolkerung die geringste Dichte an Autobahnen.
National Road (Kurzel N)
National Roads entsprechen in ihrer Funktion den deutschen Bundesstraßen. Die zulassige Hochstgeschwindigkeit ist 100 km/h. Es wird unterschieden in National primary roads – N1 bis N11, die von Dublin aus facherformig ins Land fuhren und N12 bis N33, welche die großeren Stadte miteinander verbinden – sowie National secondary roads (mit Nummern hoher als 50). Viele der National primary roads sind inzwischen gut, einige zum Teil vierstreifig ausgebaut, oder verfugen zumindest uber einen breiten Seitenstreifen. Einige der besser ausgebauten Strecken entsprechen der Spezifikation der Motorways, werden aber (noch) nicht als solcher klassifiziert, um auch langsamerem Verkehr wie beispielsweise Landmaschinen die Benutzung zu ermoglichen. National secondary roads entsprechen in ihrem Standard oft nur Regional Roads oder sind wenig besser. Im Laufe des Jahres 2025 wird auf diesen Straßen die zulassige Hochstgeschwindigkeit auf 80 km/h reduziert. Die Beschilderung fur Richtungs- und Entfernungsinformationen auf National Roads ist in grun gehalten.
Regional Road (Kurzel R)
Regional roads sind nachrangige landliche Fahrbahnen zum Teil ohne Markierungslinien. Da sie besonders durch landliche Gegenden fuhren, werden sie oft von Schafen, Kuhen, Pferden oder Wildtieren uberquert oder begangen. Zulassige Hochstgeschwindigkeit auf Regional roads ist 60 km/h (vor dem 7. Februar 2025: 80 km/h). Die Beschilderung fur Richtungsangaben auf Landstraßen ist Schwarz auf Weiß gehalten und haufig mangelhaft. Ortsangaben finden sich in einigen landlichen Gegenden Irlands, vor allem in Gaeltachten, vorwiegend in irischer Sprache.
Local Road (Kurzel L) und andere Straßen
Local roads sind kleine Verbindungsstraßen oder -wege zwischen kleinen Ortschaften, die nicht unbedingt asphaltiert sein mussen („Landstraßen“). Sie sind oft von Mauern oder hohen Hecken begrenzt und sehr schmal, zumeist einspurig und mit direktem Gegenverkehr. Auch hier gilt generell eine zulassige Hochstgeschwindigkeit von 60 km/h.
Innerhalb von Stadt- und Ortszentren sowie Wohngebieten wird ab Mitte 2025 eine zulassige Hochstgeschwindigkeit erlassen.
Gelegentlich findet man, vor allem in landlichen Gegenden, noch alte Straßenbeschilderungen mit den uberholten Typbezeichnungen „T“ (fur „trunk road“ = Fernstraße, entspricht weitgehend der jetzigen National Road) und „L“ (fur „link road“ = Verbindungsstraße, entspricht der jetzigen Regional Road).
Ausbesserungsarbeiten
Seit Ende der 1990er Jahre baut die irische Regierung das Straßennetz durch Investitionsprogramme im Umfang mehrerer Milliarden Euro aus. Seitdem finden kontinuierlich Ausbesserungsarbeiten an einem Großteil des Straßennetzes statt. Zum Einsatz kommen dabei jedoch nicht Asphalt oder Beton, sondern zumeist Rollsplitt, der durch die Nutzung der Straße allmahlich in einen weicheren bituminosen Untergrund eingepresst wird. Irische Straßen erscheinen dadurch rau und uneben.
Umstellung auf das metrische Maßsystem im Straßenverkehr
Anfang 2005 stellte die Republik Irland vom angloamerikanischen Maßsystem auf das metrische System um, seitdem werden Geschwindigkeiten in km/h statt in mph und Entfernungen in Kilometern und nicht mehr in Meilen gemessen. Jedoch ist die Entfernung auf vielen alteren Verkehrsschildern noch in Meilen angegeben, wobei dann die Maßeinheit fehlt. Auf den neuen Schildern steht das Kurzel km. Auch alte Tachometer in Kraftfahrzeugen zeigen noch mph statt km/h an.
= Grenzkontrolle =
Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland finden nicht statt. Aus diesem Grund ist die Republik Irland dem Schengen-Raum bislang noch nicht beigetreten, da man dies mit Rucksicht auf die offene Grenze zu Nordirland nur zusammen mit dem Vereinigten Konigreich tun konnte.
Kultur Das kulturelle Leben spielt sich hauptsachlich in den wenigen großen Zentren (Dublin, Cork, Galway und Limerick) ab. Das Leben außerhalb dieser Stadte (unter anderem in den Midlands) ist in dem sehr dunn besiedelten Land beschaulich und großtenteils von Landwirtschaft und Fischerei gepragt. Dennoch gibt es auch dort zum Teil verstarkten Aufbau von Tourismus, vor allem in der Region um den Fluss Shannon.
Die Forderung von Kunst erfolgt hauptsachlich uber den Arts Council, einem von der Regierung ernannten Gremium mit der Aufgabe, irische Kunst zu entwickeln, zu fordern und zu bewerben. Fur 2016 standen ihm 60,1 Millionen Euro an staatlichen Mitteln zur Verfugung. Hiermit wurde der Kunstetat im Vergleich zum Vorjahr leicht erhoht, er verbleibt jedoch weit unter dem Budget von 83 Millionen Euro, das ihm 2007 und somit vor der Wirtschaftskrise zur Verfugung stand. Hinzu kommen Mittel zur Forderung von Filmprojekten. Die Regierung hofft, internationale Filmstudios in Irland ansiedeln zu konnen. Besondere Forderung erhielten 2016 die Gedenkfeierlichkeiten zum 100-jahrigen Jubilaum des Osteraufstandes von 1916.
= Wahrzeichen =
Kleeblatt (Shamrock)
Rundturme
Keltenkreuz
Leprechaun
Harfe
= Musik =
Die irische Musik ist vor allem bekannt durch die typischen Instrumente wie die Fiddle (Geige), deren Spiel sich durch den wilden irischen Stil auszeichnet, die Flote, vor allem die Tin Whistle, und die Harfe, die das alteste irische Instrument ist. Lange Zeit waren die instrumentale und die vokale Musik getrennt; erst im 18. Jahrhundert wurden beide zusammengebracht. Obwohl die Volksmusik vieler Lander vor allem bei der Jugend an Popularitat verlor, ist die traditionelle irische Musik weiterhin beliebt.
Ein besonderes Element der irischen Musik ist das Tanzen. Stepptanz, Set Dance und Formationstanz sind in Irland sehr beliebt und haben eine lange Tradition.
Mit sieben Siegen sind Irland und Schweden die erfolgreichsten Lander beim Eurovision Song Contest (Stand 2023).
= Dichtung =
Neben Balladen, in denen umfangreiche Dichtung mit Musik verbunden ist, sind zwei kurze in Irland entstandene Gedichtformen weit uber die Landesgrenzen hinaus bekannt, der Limerick und der Irische Segen.
= Literatur =
Irland hat eine große Zahl bedeutender Schriftsteller hervorgebracht, darunter die Literaturnobelpreis-Trager William Butler Yeats, George Bernard Shaw, Samuel Beckett und Seamus Heaney. Weitere bekannte irische Schriftsteller sind Jonathan Swift, Oscar Wilde, James Joyce, Brian O’Nolan und Bram Stoker.
= Bibliothekswesen =
Die erste offentliche Bibliothek des Landes war die 1701 von Erzbischof Narcissus Marsh (1638–1713) erbaute Dubliner Marsh’s Library, sie ist zugleich eine der altesten der Britischen Inseln. 1947 wurde mit dem Public Library Act der Bibliotheksrat An Chomhairle Leabharlanna ins Leben gerufen. Damit wurde das Bibliothekswesen revolutioniert und die Leabharlann Naisiunta na hEireann erfullt die Funktion einer Nationalbibliothek. An Chomhairle Leabharlanna, zunachst gegrundet, um die Versorgung und Entwicklung von Bibliotheksdienstleistungen zu gewahrleisten, bekam 2001 zusatzliche Aufgaben. Diese Aufgaben sind im Wesentlichen, die Hauptbibliotheken zu beraten und ihnen zu helfen, Empfehlungen und Gutachten fur die Ministerien zu erstellen und die Kooperation zwischen den offentlichen und den wissenschaftlichen Bibliotheken zu unterstutzen und zu erleichtern. Außerdem ist An Chomhairle Leabharlanna in viele Aktivitaten und Programme, die die Bibliotheken fordern, integriert. (Zum Vergleich: in Deutschland gibt es weder ein Bibliotheksgesetz noch – seit der Schließung des Deutschen Bibliotheksinstituts (DBI) im Jahre 2000 – eine zentrale Beratungs- und Entwicklungsagentur)
In Irland gibt es 32 Hauptbibliotheken. Davon werden 27 von den Landkreisen getragen und vier von den Stadten Cork, Dublin, Limerick und Waterford. Eine Bibliothek liegt dabei zwischen zwei Countys und wird deshalb von beiden unterstutzt. Die Strategien und Methoden der Bibliotheken variieren von Stadt zu Stadt, denn die Hauptbibliotheken handeln unabhangig voneinander.
Zu den 32 Hauptbibliotheken kommen weitere 345 Zweigbibliotheken hinzu. Dazu zahlen auch Bibliotheken von Krankenhausern, Schulen, Gefangnissen und so genannte Kommunikationszentren. Auch die 29 Fahrbibliotheken sind hier mit einberechnet, welche entlegene oder bevolkerungsarme Landstriche mit Buchern und anderen Medien versorgen.
Zu den Angeboten der Bibliotheken gehoren im Allgemeinen Sachliteratur und Belletristik, Service und Programme fur Kinder und Jugendliche, Referenzmedien, Informationen zur Weiterbildung und allgemeine, lokale Informationen. Außerdem wird in jeder Bibliothek ein offentlicher Zugang zum Internet angeboten. Alle Hauptbibliotheken bieten zusatzlich in der Bibliothek Opacs an, welche den Nutzern zur Verfugung stehen. Das heißt, dass alle Bibliotheken ein elektronisches Verwaltungssystem besitzen. Einige Kataloge sind auch uber das Internet abrufbar.
In den offentlichen Bibliotheken gibt es etwa 12,5 Millionen Medieneinheiten. Dazu gehoren Bucher, Manuskripte, Bilder, Loseblattsammlungen, CDs, CD-ROMs, DVDs, Kassetten, Videos und vieles mehr. Im Gegensatz zu Deutschland wird in irischen offentlichen Bibliotheken pro Einwohner weniger ausgeliehen. In Deutschland sind es 4,1 Medieneinheiten pro Einwohner, in Irland 3,4. Die offentlichen Bibliotheken werden dennoch von etwa 21 % der Bevolkerung genutzt. 2002 gab es 809.158 Leser mit einem Bibliotheksausweis.
Mit den Sachkosten liegen die irischen Bibliotheken jedoch hoher als deutsche Bibliotheken. In Irland werden 2,10 € pro Einwohner und in Deutschland 1,10 € pro Einwohner ausgegeben.
Finanziert werden die Bibliotheken hauptsachlich uber Steuern. Ungefahr zehn Prozent werden uber Mitgliedsbeitrage, Nutzergebuhren und Bußgelder finanziert.
Außerdem unterstutzt das Department of the Environment and Local Government die Bibliotheken seit 1998 mit 34 Millionen €, die fur den Bau und das Mieten von Gebauden verwendet werden. Aber auch die Automatisierung von Arbeitsablaufen und der Bestandsaufbau wird mit diesen Geldern gefordert.
= Medien und Telekommunikation =
In Irland spielen Radio und Printmedien eine vergleichsweise große Rolle. Die Berichterstattung ist weitgehend frei von staatlichen und kirchlichen Einflussen. Es dominieren nationale Themen bzw. Themen aus dem englischsprachigen Ausland. Vor allem international interessierte Iren greifen haufig auf Medien des Vereinigten Konigreich zuruck.
Horfunk
Nach Angaben der offentlich-rechtlichen Horfunkanstalt RTE horen 83 % der irischen Bevolkerung taglich Radio. Der großte Sender RTE verbreitet sieben englischsprachige und ein irischsprachiges Programm uber UKW, LW und online. Daneben bieten auch die privaten Anbieter Newstalk 106 und Today FM landesweite Horfunkprogramme an. Es gibt daruber hinaus noch eine großere Anzahl ortlicher Horfunksender.
Fernsehen
Neben den staatlichen Anbietern RTE One, RTE2 und TG4 (irischsprachig) gibt es mehrere private irische Sender, der großte davon Virgin Media One. Daneben werden britische Sender viel gesehen, v. a. BBC Northern Ireland.
Zeitungen
Nach Angaben des irischen Zeitungsverbandes lesen 83 % der 4,6 Millionen Iren regelmaßig Zeitung. Von den großen politischen Tageszeitungen kommt nach Angaben des Audit Bureau of Circulations der Irish Independent im ersten Halbjahr 2016 auf eine Auflage von 102.537, The Irish Times auf 72.011 Printexemplare sowie 9.875 in der digitalen Version und der Herald auf 40.847 Exemplare. Die Regenbogenpresse dominieren der Irish Daily Star (Anteilseigner sind zu 50 % das Medienunternehmen Independent News & Media und die anderen 50 % besitzt das Medienunternehmen Northern & Shell, den Herausgeber des Daily Star im Vereinigten Konigreich) mit 46.524 Exemplaren und die Irish Sun (Ableger der UK Sun) mit 59.813 Exemplaren. Beachtlich ist die Auflage der Wochenzeitungen Sunday Independent mit 199.210 und Sunday World mit 162.938 Exemplaren. Die Irish Times hat als einzige irische Zeitung einen Deutschlandkorrespondenten und widmet aktuellen Entwicklungen in Deutschland regelmaßig Aufmerksamkeit.
Internet und Soziale Medien
Im Jahr 2020 nutzten 92 Prozent der Einwohner Irlands das Internet. Das junge Durchschnittsalter in Irland von 35 Jahren schlagt sich auch in der Nutzung sozialer Medien nieder. 60 % der Bevolkerung sind Mitglied bei Facebook, 72 % davon taglich aktiv. 26 % der Iren nutzen Twitter, davon 35 % taglich.
= Irische Renaissance =
= Sport =
Die beliebtesten Sportarten Irlands sind die beiden traditionellen Ballsportarten Gaelic Football und Hurling. Sowohl Gaelic Football als auch Hurling sind reine Amateursportarten unter Zustandigkeit der Gaelic Athletic Association (GAA). Die Spiele um die jahrlich ausgetragenen All-Ireland Senior Football Championship bzw. All-Ireland Senior Hurling Championship locken viele Fans in die großten Stadien des Landes. Austragungsort der Finalspiele dieser beiden Meisterschaften ist der Croke Park in Dublin, der zugleich Hauptsitz der GAA ist. Neben diesen beiden Wettbewerben der County-Auswahlteams gibt es auch Wettbewerbe auf Vereinsebene. Die Atmosphare bei den Spielen ist meist friedlich. Trotz großer Rivalitat zwischen den einzelnen Countys sind Ausschreitungen die Ausnahme. An offentlichen, meist katholischen Schulen waren lange Zeit nur Hurling und Gaelic Football erlaubt.
Fast ebenso popular wie die zuvor genannten irischen Nationalsportarten sind die als „englisch“ bezeichneten Rugby und Fußball. Die Rugby-Nationalmannschaft gehort weltweit zu den Spitzenmannschaften. Sie nimmt an den vierjahrlich stattfindenden Weltmeisterschaften und am jahrlichen Sechs-Nationen-Turnier der besten Teams Europas teil. Das besondere an der irischen Nationalmannschaft ist, dass sie seit ihrer Grundung 1874 die gesamte Insel und damit sowohl die Republik Irland als auch Nordirland reprasentiert. Die Auswahlen der vier irischen Provinzen Ulster, Munster, Leinster und Connacht spielen in der Celtic League, der hochsten professionellen Liga mit Mannschaften aus Irland, Wales und Schottland. Daneben gibt es nationale irische Meisterschaften. Nationalstadion ist das Aviva Stadium in Dublin. Es werden aber auch Landerspiele im Ravenhill Stadium in Belfast ausgetragen. Irland war einer der Gastgeber der Weltmeisterschaften 1991 und 1999. Als großte Ehre fur irische Spieler gilt es, alle paar Jahre mit den British and Irish Lions auf Tour in die Sudhemisphare zu gehen, um gegen die All Blacks aus Neuseeland, die Springboks aus Sudafrika oder die Wallabies aus Australien anzutreten. Wie die Manner nimmt die irische Frauen-Nationalmannschaft an jahrlichen Six Nations teil und qualifiziert sich regelmaßig fur Weltmeisterschaften. Zudem war Irland Ausrichter der Frauen-Weltmeisterschaft 2017.
Die Fußballbegeisterung wurde geschurt, als Jack Charlton Anfang der 1980er Jahre Teamchef der irischen Fußballnationalmannschaft wurde. Da der Fußballsport in Irland damals noch unterentwickelt war, bestand Charltons erste Amtshandlung darin, einen Ahnenforscher anzustellen, der ihm helfen sollte, in England nach Fußballprofis mit irischen Wurzeln zu suchen, um sie in die irische Nationalmannschaft berufen zu konnen. Nach der ersten EM Teilnahme 1988 und dem uberraschenden 1:0-Sieg gegen England wurde die Nationalmannschaft (trotz des Ausscheidens in der Vorrunde) von 250.000 Fans in Dublin empfangen. Das Team erreichte 1990 uberraschend das Viertelfinale der Weltmeisterschaft in Italien und qualifizierte sich zudem fur die WM 1994 in den USA sowie fur die WM 2002 in Japan und Sudkorea, die EM 2012 in Polen und der Ukraine sowie fur die EM 2016 in Frankreich. Bei diesen Turnieren schied das Team jedoch meist fruh aus. In der ewigen WM-Tabelle steht Irland auf Platz 39, in der ewigen EM-Tabelle auf Platz 25. Die nationale Fußballliga heißt League of Ireland. Sie besteht aus zwei Leistungsklassen und wird im Halb-Profibetrieb gespielt. Die Premier League besteht aus zwolf Vereinen, die First Division aus zehn. Die Liga wird vom irischen Fußballverband FAI organisiert. Auch der Nordirische Traditionsclub Derry City nimmt an den Wettbewerben der FAI teil.
Das ebenfalls als „englisch“ empfundene Cricket war einst eine Randsportart in Irland, die Erfolge der irischen Nationalmannschaft bei den Cricket World Cups 2007, 2011 und 2015 fuhrten jedoch zu einer zunehmenden Beliebtheit dieser Sportart in Irland. Dabei ist besonders der Sieg uber England beim 2011-Turnier erwahnenswert. Am 22. Juni 2017 wurde Irland zusammen mit Afghanistan Teststatus zuerkannt, was zur Teilnahme an der angesehensten Stufe des Crickets berechtigt. Wie im Rugby und Hockey ist die irische Cricket-Nationalmannschaft eine gesamtirische Mannschaft und vertritt beide Landesteile gleichermaßen. Irland war Co-Gastgeber beim Cricket World Cup 1999 und auch der Men’s T20 World Cup 2030 soll zusammen mit England und Schottland ausgetragen werden.
Im Nordwesten des Landes wird Road Bowling, eine Form des Boßelns beziehungsweise Klootschießens, als Volkssport betrieben. Dieses wurde wohl durch niederlandische Soldaten 1689 nach Irland gebracht, von wo es weiter nach Schottland diffundierte.
Special Olympics Irland wurde 1978 gegrundet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil.
Siehe auch Literatur Brian Lalor (Hrsg.): The Encyclopaedia of Ireland. Gill & Macmillan, Dublin 2003, ISBN 0-7171-3000-2 (englisch).
Michael Maurer: Geschichte Irlands. Reclam, Ditzingen 2021, ISBN 978-3-15-019134-7.
Andreas Pittler: Geschichte Irlands. PapyRossa Verlag, Koln 2022, ISBN 978-3-89438-799-0.
Jurgen Sorges: Baedeker Reisefuhrer Irland. Baedeker, Ostfildern 2023, ISBN 978-3-8297-1817-2.
Weblinks Literatur von und uber Irland im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Landerinformationen des deutschen Auswartigen Amtes zu Irland
Einzelnachweise
|
Irland ([ˈɪʁlant], irisch Eire [ˈeːrʲə] , englisch Ireland), auch als Republik Irland bekannt, ist ein Inselstaat in Westeuropa. Die offizielle Bezeichnung des Landes lautet Irland. Der Staat umfasst etwa funf Sechstel der gleichnamigen Insel sowie eine Vielzahl kleinerer Inseln, welche ihr – uberwiegend im Westen des Landes – vorgelagert sind. Die Republik Irland grenzt im Norden an Nordirland und damit an das Vereinigte Konigreich. Im Osten liegt die Irische See, im Westen und Suden ist das Land vom Atlantik umgeben. Hauptstadt und großte Stadt Irlands ist Dublin, gelegen im ostlichen Teil des Landes. In der Metropolregion Dublin lebt etwa ein Drittel der funf Millionen Einwohner. Der großte Teil der Bevolkerung bekennt sich zum romisch-katholischen Glauben.
Das lange Zeit verarmte und daher von Auswanderung betroffene Irland hat sich inzwischen zu einer hochmodernen, in manchen Gegenden multikulturellen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gewandelt. 2021 hatte Irland im weltweiten Vergleich das vierthochste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (kaufkraftbereinigt) und das zweithochste in Europa. 2019 wurde das Land von elf Millionen auslandischen Touristen besucht. Irland ist Mitglied der Europaischen Union.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Irland"
}
|
c-13949
|
Die Dampflokomotive (kurz Dampflok, als Metapher auch Dampfross oder Stahlross) ist eine Bauform der Lokomotive, die mit Wasserdampf angetrieben wird. Neben der weit verbreiteten Regelbauart mit Dampferzeuger und Kolbendampfmaschine mit Kurbeltrieb-Fahrwerk gibt es Sonderbauarten wie feuerlose Lokomotiven, elektrische Dampflokomotiven, Zahnraddampflokomotiven, solche mit Einzelachs- oder Turbinenantrieb, Kondens- und Hochdrucklokomotiven.
Dampflokomotiven waren die ersten selbstfahrenden, maschinell angetriebenen Schienenfahrzeuge und dominierten den Schienenverkehr von seiner Entstehung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dampflokomotiven waren auch Trager der nunmehr einsetzenden rasanten Entwicklung der Transporttechnik sowie des nationalen wie des internationalen Handels. Die Dampflokomotive ist ein Symbol fur das Industriezeitalter: Ohne die erst durch sie ermoglichten Transportleistungen riesiger Mengen von Rohstoffen, Energietragern (Kohle) und Waren auf dem Landweg ware die etwa Mitte des 19. Jahrhunderts voranschreitende Industrialisierung nicht moglich gewesen. Mit dem Aufkommen modernerer Antriebstechnologien wurden die Dampflokomotiven wegen ihres vergleichsweise schlechten Wirkungsgrades und wegen des hohen Bedienungs-, Wartungs- und Reparaturaufwandes nach und nach von Diesel- und Elektrotriebfahrzeugen abgelost. Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist der Neubau von Dampflokomotiven eine Ausnahme.
Technik Dampflokomotiven wurden in einer unuberschaubaren Vielzahl verschiedener Typen und Varianten gebaut. Nachfolgend wird hauptsachlich die europaische Regelbauart des 20. Jahrhunderts mit klassischem Rohrkessel und Kolbendampfmaschine beschrieben. Davon abweichende Ausfuhrungen sind im Artikel Dampflokomotive (Bauart) zu finden.
= Konstruktiver Gesamtaufbau =
Dampflokomotiven der Regelbauart bestehen hauptsachlich aus dem Dampfkessel, in dem mittels Heizenergie des Brennstoffes aus Wasser Dampf erzeugt wird, einer Kolbendampfmaschine, die die Druckenergie des Dampfes in mechanische Bewegungsenergie umwandelt, dem Fahrgestell mit Rahmen und Radsatzen und einem Fuhrerstand zur Bedienung der Maschine. Die erforderlichen Brennstoff- und Wasservorrate werden entweder auf der Lokomotive selbst (Tenderlokomotive) oder in einem fest mit ihr gekuppelten Fahrzeug, dem Tender, mitgefuhrt (Schlepptenderlokomotive).
Auf dem oder am Lokomotivrahmen sind der Dampfkessel mit der darin eingebauten Feuerbuchse, die Dampfmaschine und der Fuhrerstand montiert. Dieser Rahmen wird vom Treibradsatz, den uber Kuppelstangen verbundenen Kuppelradsatzen und oft zusatzlichen antriebslosen Laufradsatzen getragen. Die Kolbendampfmaschine hat in der Regel zwei, aber auch drei und vier Zylinder, die seitlich außen am und/oder innerhalb des Rahmens angebracht sind. Die oszillierenden Bewegungen der Kolbenstangen werden mittels der Treibstangen auf die Kurbelzapfen der Radsatze ubertragen und so in eine Drehbewegung umgewandelt.
= Dampferzeugung und Energieumwandlung =
In Dampflokomotiven wird thermische Energie in kinetische Energie umgewandelt. Meist handelt es sich bei diesen um ein offenes System, bei dem der Dampf nach der Arbeitsleistung in den Dampfzylindern als Abdampf in die Atmosphare entlassen wird. Bei Auspuffmaschinen wird er zuvor noch zur Feueranfachung durch ein Blasrohr geleitet. Bei Kondensationslokomotiven wird dagegen der Abdampf zu einem Kondenstender geleitet, dort wieder verflussigt und als Kesselspeisewasser erneut verfugbar.
Befeuerung Dampflokomotiven beziehen ihre Primarenergie aus der Verbrennung der mitgefuhrten Brennstoffe. In den meisten Fallen sind dies Kohle oder Schwerol, aber auch Holz, Kohlenstaub, Torf und Mineralol. Der damit beheizte Kessel erzeugt aus Wasser den Dampf fur die Dampfmaschine. Ublicherweise haben Dampflokomotiven eine Rostfeuerung mit flachem Feuerbett. Kohlenstaub, Schwer- oder Mineralol benotigen keine Rostanlage, sondern werden in einem speziellen Feuerkasten mit geeigneten Brennern verheizt. Schwerol muss mit Warmetauschern vorgewarmt werden und wird im Brenner mit einem Heißdampfstrahl zerstaubt und verbrannt. Kohlenstaub wird mit Druckluft eingetragen oder durch den im vollstandig geschlossenen Feuerkasten anstehenden Unterdruck eingesaugt. Eine Sonderform stellen elektrisch beheizte Dampflokomotiven dar, die besonders in der Schweiz zu Rangierzwecken verwendet wurden.
Die Frischluftzufuhr fur die Verbrennung erfolgt durch regelbare Luftklappen am Aschkasten, in dem bei Verbrennung fester Brennstoffe auch die Verbrennungsruckstande gesammelt werden. Zur besseren Luftversorgung bei vollem Aschkasten sind an neuzeitlichen Reko-Lokomotiven am Rahmen aufgehangte Aschkasten der Bauart Stuhren verbaut, die eine Luftzufuhr unabhangig von dessen Fullungsgrad direkt unter die Rostlage ermoglichen. Bei anderen Feuerungsarten wird die erforderliche Luft durch spezielle Taschen, Schlitze oder durch die Brenner (Kohlenstaubfeuerung) selbst eingetragen.
Zur Feueranfachung und vollstandigen Verbrennung ist das schon von Trevithick entwickelte, in der Rauchkammer angebrachte Blasrohr unentbehrlich. Der Maschinenabdampf wird durch eine Duse, den Blasrohrkopf, in den Schornstein geleitet. Der Abdampfstrahl fullt dabei den Querschnitt des Schornsteins vollstandig aus und reißt nach dem Injektorprinzip Rauch- und Pyrolysegase mit. Dadurch entsteht in der Rauchkammer ein Unterdruck, der sich durch die Rauch- und Heizrohre bis in die Feuerbuchse fortpflanzt. Die durch den Aschkasten und die Rostlage nachstromende Frischluft sorgt fur die notige Feueranfachung. Dabei ist vorteilhaft, dass sich dieses System selbst regelt, weil bei hoherem Dampfverbrauch mehr Abdampf ausgeblasen wird und damit auch ein hoherer Unterdruck entsteht. Weil der Abdampf aus der Dampfmaschine nur wahrend der Fahrt zur Verfugung steht, ist fur die Feueranfachung bei Stillstand oder Leerlauffahrten zusatzlich ein Hilfsblaser eingebaut. Dieser besteht aus einem zentrisch um den Blasrohrkopf gelegten Rohrring mit feinen Bohrungen und wird bei Bedarf mit Nassdampf direkt aus dem Kessel versorgt. Vor Einfuhrung des Hilfsblasers wurden Dampflokomotiven bei langeren Stillstandszeiten abgekuppelt und hin- und herbewegt, um den erwunschten Kesseldruck aufrechtzuerhalten. Zur optimalen Feueranfachung und vollstandigen, wirtschaftlichen Verbrennung sind eine absolut luftdichte Rauchkammer und dichte Rohrdurchfuhrungen erforderlich.
Damit bei angestrengter Fahrt keine großeren Glutteile oder Verbrennungsruckstande durch den Schornstein ins Freie gelangen konnen, wird in die Rauchkammer ein Funkenfanger eingebaut. Dieser besteht aus einem Drahtgeflecht, welches das in die Rauchkammer ragende Schornsteinunterteil und den Blasrohrkopf vollstandig umschließt. Ein zur Rohrwand hin pendelnd aufgehangtes Prallblech sorgt fur die Selbstreinigung der Vorrichtung.
Sonderbauformen der Dampflokomotiven, die nicht mit diesem System ausgerustet sind (Turbinen- und Kondenslokomotiven), haben zur Feueranfachung besonders regelbare Saugzuggeblase. Zur Erhohung des thermischen Wirkungsgrades von Dampflokomotiven hat der Osterreicher Adolph Giesl-Gieslingen 1951 mit dem nach ihm benannten Giesl-Ejektor die klassische Saugzuganlage erheblich verbessert. Ergebnis waren Brennstoffeinsparungen von acht bis zwolf Prozent.
Dampfkessel Fur die Erzeugung des erforderlichen Wasserdampfes unter den beim Eisenbahnbetrieb standig wechselnden Betriebsbedingungen eignet sich am besten ein Großraumwasserkessel mit vielen Heizrohren. Ein solcher Kessel hat eine große Verdampfungsoberflache und ist unempfindlich gegen unregelmaßige Dampfentnahmen und die damit verbundenen Druck- und Wasserstandsschwankungen. Der klassische Dampflokomotivkessel besteht aus dem Stehkessel mit der vollstandig von einem Wassermantel umgebenen Feuerbuchse, dem meist aus mehreren Kesselschussen bestehenden Langkessel und der Rauchkammer mit eingebauter Saugzuganlage und Schornstein zur Feueranfachung. Bei diesem Konstruktionsprinzip handelt es sich um den sogenannten Stephensonschen Rohrenkessel.
In der Feuerbuchse wird die bei der Verbrennung erzeugte Warme direkt an die Feuerbuchswande und das dahinter umlaufende Kesselwasser abgegeben. Man spricht hier von der Strahlungsheizflache. Die entstehenden heißen Rauchgase durchstromen dann die im Langkessel eingebauten Heizrohre und geben dabei die Warme an die Rohrwandungen ab. Die Summe der Flache der Rohrwandungen bildet die Rohrheizflache. Bei Heißdampflokomotiven sind zusatzlich zu den Heizrohren noch Rauchrohre mit wesentlich großerem Durchmesser eingebaut. In diese Rauchrohre sind die Uberhitzerelemente eingeschoben, in denen der im Kessel erzeugte Dampf getrocknet und weiter erhitzt wird. Der nunmehr im Lokomotivbetrieb bis zu 400 Grad Celsius warme Heißdampf sorgt wegen seines besseren Kondensations- und Expansionsverhaltens fur einen hoheren Wirkungsgrad der Lokomotivdampfmaschinen.
Zur Entnahme moglichst trockenen Dampfes und zur Vermeidung des Uberreißens von Kesselwasser befinden sich auf dem Scheitel des Langkessels ein oder zwei Dampfdome. In einem Dampfdom ist meist der fur die Regulierung der Dampfzufuhr der Maschine zustandige Nassdampfregler eingebaut. Der erzeugte Nassdampf mit einer vom Kesseluberdruck abhangigen Temperatur von 170 bis 210 Grad Celsius ist eine Mischung aus Dampf und feinsten Wassertropfen.
Deutsche Dampflokomotiven arbeiten in der Regel mit Kesseluberdrucken von 12 bis 16 bar. Die Herstellung von Mitteldrucklokomotiven mit 20 bis 25 bar und Hochdrucklokomotiven mit bis zu 400 Bar Kesseldruck waren wegen seinerzeit nicht beherrschbarer Werkstoffeigenschaften meist auf wenige Exemplare beschrankt. Viele solcher Maschinen wurden spater zu Normaldrucklokomotiven umgebaut. Der Kesseldruck wird durch mindestens zwei Kesselsicherheitsventile verschiedener Bauformen begrenzt, die bei Uberschreiten des zulassigen Maximaldruckes Dampf in die freie Umgebung kontrolliert abblasen.
Moderne Dampflokomotiven haben einen effizienteren Verbrennungskammerkessel. Sonderbauarten wie der Flammrohrkessel, der Brotankessel oder der Wellrohrkessel konnten sich nicht durchsetzen.
= Kolbendampfmaschine der Dampflokomotive =
Zylinder und Kolben Bei Lokomotiven mit Nassdampfregler passiert der im Dampfdom entnommene Dampf zunachst das Reglerventil und gelangt von dort in die Nassdampfkammer des Dampfsammelkastens in der Rauchkammer. Von hier wird er in die Uberhitzerrohre geleitet und dort auf Temperaturen von etwa 370 Grad Celsius erhitzt. Der uberhitzte Dampf gelangt dann in die Heißdampfkammer des Dampfsammelkastens und von dort in das Haupteinstromrohr der Dampfmaschine. Wird anstelle des Nassdampfreglers ein Heißdampfregler verwendet, so gelangt der uberhitzte Dampf von der Heißdampfkammer des Dampfsammelkastens uber das Heißdampfreglerventil zum Haupteinstromrohr der Dampfmaschine. In den Zylindern der Kolbendampfmaschine dehnt sich der Dampf aus und bewegt dabei die Kolben. So wird die im Dampf gespeicherte Warmeenergie in mechanische Energie umgewandelt.
Lokomotivdampfmaschinen sind wegen der erforderlichen Umsteuerbarkeit und weil eine Lokomotive aus jeder Stellung mit der vollen Zugkraft anfahren konnen muss, doppeltwirkend. Die Kolben in den Zylindern der Dampfmaschine werden abwechselnd von vorn und von hinten mit Dampf beaufschlagt. Die hin- und hergehende Bewegung der Kolben wird uber die Treibstangen auf die Treibrader ubertragen und damit in eine rotierende Bewegung umgewandelt.
Damit die Dampflokomotive auch bei Totpunktlage einer Kurbelstellung anfahren kann, sind die Kurbelzapfen der gegenuberliegenden Rader einer Achse gegeneinander versetzt. Der Versatzwinkel betragt bei Zwei- und Vierzylindermaschinen eine Vierteldrehung bzw. 90°, bei Dreizylindermaschinen in der Regel eine Dritteldrehung bzw. 120°.
Die Dampfzylinder sind in der Regel waagerecht oder mit leichter Neigung parallel zur Langsachse der Lokomotive angeordnet. Unterschieden wird zwischen Innenzylindern, die innerhalb des Lokomotivrahmens liegen, und Außenzylindern, die außerhalb des Rahmens montiert sind. Innenzylinder erfordern gekropfte Treibachsen. Bei Lokomotiven mit mehr als zwei Zylindern werden beide Bauarten kombiniert, so dass Dreizylinder- und Vierzylinderlokomotiven zusatzlich zu zwei Außenzylindern einen bzw. zwei Innenzylinder aufweisen. Außenzylinder sind aufgrund der leichteren Zuganglichkeit wartungsfreundlicher und ersparen bei Zweizylinderlokomotiven die aufwandigen gekropften Treibachsen. Innenzylinder reduzieren wiederum aufgrund ihrer Lage das Moment der hin- und hergehenden Massen und sorgen damit fur einen ruhigeren Lauf der Lokomotive. Sie bieten zudem Vorteile fur die Stabilitat des Rahmens.
Bei den meisten europaischen und nordamerikanischen Bahngesellschaften wurden seit spatestens der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts Zweizylinderlokomotiven mit Außenzylindern bevorzugt. In Europa wurden vor allem bei besonders leistungsfahigen Guterzug- und Schnellzuglokomotiven auch drei- und vierzylindrige Antriebe verwendet; in Nordamerika waren aufgrund des großzugigeren Lichtraumprofils auch große Zylinderdurchmesser kein Problem, so dass mehrzylindrige Lokomotiven in den USA und Kanada eine seltene Ausnahme blieben. Im britischen Lokomotivbau wurden dagegen Innenzylinder auch bei Zweizylinderlokomotiven noch bis Ende der 1930er Jahre in großerem Umfang eingesetzt.
Steuerung Das Steuersystem besteht aus Schwinge, Gegenkurbel, Schieberschubstange, Voreilhebel, Kreuzkopf, Steuerzylinder mit Kolbenschieber, Dampfzylinder und Steuerstange.
Die Anpassung der Leistung und damit des Dampfverbrauches an die wechselnden Betriebsbedingungen wird mit einer zusatzlichen Steuerung realisiert. Deren Hauptbestandteile sind die an den Arbeitszylinder angesetzten Schieberzylinder mit Schieberkolben. Sie steuern Seite und Menge des Dampfeintritts in den Arbeitszylinder. Kolbenschieber-Steuerungen haben im Gegensatz zu Flachschieber-Steuerungen eine innere Einstromung.
Im Betrieb eilen die Steuerschieber der Arbeitskolbenbewegung jeweils wechselnd voraus. Der Schieber offnet den Zylinder, Dampf stromt ein. Nach etwa einem Drittel des Kolbenweges sperrt der Schieber den Einstrom ab. Die im Dampf vorhandene Energie treibt den Kolben durch Expansion weiter bis zu seinem Totpunkt. Die fortlaufende, wechselnde Schieberbewegung wird durch ein Steuergestange bewirkt, das an das Antriebsgestange angeschlossen ist. Durch variables Einstellen der Steuerung lasst sich z. B. eine hohe Anfahrzugkraft durch lange Dampffullung uber den Kolbenweg erreichen. Durch Verminderung der Fullzeiten bei hoher Geschwindigkeit wird der Dampfverbrauch pro Kolbenhub auf das notwendige Maß reduziert. Da die Dampfdehnung jetzt starker ausgenutzt wird, verbessert sich die Energieeffizienz.
Der Triebfahrzeugfuhrer stellt die Steuerung vom Fuhrerstand aus mit einer Handkurbel oder mit einem Steuerungshebel, welcher in der jeweiligen Stellung durch Rastungen gesichert ist, ein, wodurch an der Schwinge der Angelpunkt des Steuerungsgestanges und damit der Arbeitsweg des Schiebers verstellt wird. Insbesondere bei neueren und Gelenklokomotiven wird die Umsteuerung mit Druckluft betatigt. Das zweite Steuerelement neben der Schieberverstellung ist das Reglerventil auf dem Fuhrerstand, das den Dampfdruck zu den Zylindern einstellt.
Die Steuerung hat damit zwei Endpunkte der Einstellung: zum einen die voll ausgelegte Steuerung mit einem Dampfdruck, bei dem die Rader der Lokomotive gerade noch nicht durchdrehen, was beim Anfahren wichtig ist. Zum anderen die minimal ausgelegte Steuerung mit vollem Dampfdruck, um mit der maximal moglichen Expansion in den Zylindern das wirtschaftliche Optimum zu erzielen.
Dazwischen liegen zahlreiche Betriebszustande, wobei es auf die Erfahrung und das Fingerspitzengefuhl des Lokfuhrers ankommt, mit der Steuerungseinstellung den Punkt der optimalen Energieausnutzung zu finden.
Durch Umsteuern der Fullreihenfolge kann die Fahrtrichtung umgekehrt werden; eine wahrend der Fahrt gegenlaufig eingestellte Dampf-Fuhrung kann zur Bremsung genutzt werden (Gegendampfbremse).
= Fahrwerk =
Radsatze, Einachs- und Zweiachsantrieb Eisenbahnfahrzeuge haben nur in den seltensten Fallen lose auf den Achsen laufende Rader. Fast immer sind hier auf einer Radsatzwelle (falschlicherweise auch Achswelle genannt) die beiden Radkorper verdrehsicher montiert. Im klassischen Dampflokomotivbau wurden die Radkorper vorwiegend als Radsterne (Speichenrader) ausgebildet. Auf die Radsterne werden Radreifen mit dem eigentlichen Laufprofil (Spurkranz, Laufflache) aufgeschrumpft. Diese komplette Einheit, bei Wagen auch noch mit Achslagern komplettiert, nennt man Radsatz. Bei der Dampflokomotive unterscheidet man zwischen Treib-, Kuppel- und Laufradsatzen. Treib- und Kuppelradsatze sind angetriebene Radsatze. Wahrend der Treibradsatz zur Aufnahme der von den Treibstangen ubertragenen Krafte besonders massiv ausgebildet und fest im Lokomotivrahmen gelagert wird, konnen Kuppelradsatze leichter und im Rahmen seitenbeweglich ausgefuhrt werden. Die von der Dampfmaschine erzeugte lineare Bewegung wird am Treibradsatz als Element des Kurbeltriebes in eine Drehbewegung umgewandelt. Dabei erfolgt der Kraftfluss von den Treibstangen auf die Treibzapfen oder die als Kurbelwelle ausgebildete Radsatzwelle und uber Kuppelstangen auf die Kuppelzapfen eventuell vorhandener Kuppelradsatze. Als Sonderbauform wurden bei einigen langsamfahrenden mehrachsigen Lokomotivtypen zur Verbesserung der Bogenlaufigkeit die seitenbeweglichen außeren Kuppelradsatze durch Zahnradgetriebe angetrieben. Der sogenannte Luttermoller-Achsantrieb bewahrte sich wegen seines komplizierten Aufbaus und der hohen Reparaturanfalligkeit jedoch nur bedingt.
Wahrend die Dampflokomotiven der Anfangszeit noch mit einem oder zwei gekuppelten Radsatzen auskamen, musste der mit der Weiterentwicklung der Maschinen einhergehende Zuwachs an Große und Masse der Lokomotiven durch Einbau weiterer Kuppel- oder Laufradsatze entgegnet werden. Nur so war eine gleichmaßige Verteilung der Fahrzeugmasse, abhangig von der zulassigen Achslast, auf die Fahrbahn moglich. Die Große der Treib- und Kuppelradsatze war durch das Lichtraumprofil und den konstruktiven Aufbau der Lokomotive begrenzt. Ein weiteres Kriterium war die theoretisch maximal mogliche Kolbengeschwindigkeit von 7 bis 9 m/s und die dadurch erreichte Drehzahl der Treibradsatze. Bis dahin meinte man, den erforderlichen Massenausgleich des Kurbeltriebes noch zu beherrschen. Erfahrungsgemaß galten Drehzahlen bis 400 min−1 fur Radsatze in herkommlichen Triebwerken, bei denen die Kraftubertragung durch Treib- und Kuppelstangen erfolgte, als beherrschbar. Daruber erwarteten die Ingenieure massive Probleme mit dem Massenausgleich und der Schmierung insbesondere der unter Dampf bewegten Teile. Die maximale Obergrenze mit 2300 mm Laufkreisdurchmesser galt an neuzeitlichen Dampflokomotiven in Deutschland mit den Lokomotiven der Baureihen 05 und 61 als erreicht. Die dreizylindrige 61 002 ist in umgebauter Form als 18 201, seit 1970 02 0201, erhalten.
Dampflokomotiven mit zwei Dampfzylindern werden in aller Regel uber einen Treibradsatz angetrieben (traditionell als Einachsantrieb benannt). Bei Lokomotiven mit drei (Drilling) oder vier Zylindern (Vierling) ist neben dem Antrieb auf einen Treibradsatz (bei Verbundlokomotiven als Einachsantrieb Bauart von Borries bezeichnet) auch ein Antrieb auf zwei Treibradsatzen (Zweiachsantrieb, bei Verbundmaschinen auch Zweiachsantrieb Bauart de Glehn genannt) verbreitet.
Zur Erreichung einer hoheren Zugkraft haben leistungsstarke Guterzuglokomotiven viele Kuppelradsatze mit relativ kleinen Radern. Moglich wurde das durch den osterreichischen Konstrukteur Karl Golsdorf. Er wies nach, dass ein zwangfreier Lauf durch seitenverschiebbare Kuppelradsatze moglich ist. Der erste von ihm entwickelte Funfkuppler war die erfolgreiche kkStB-Reihe 180. Ebenso wie die maximale Radsatzlast ist aber auch die Anzahl der kuppelbaren Radsatze in einem starren Rahmen begrenzt. Praktisch ausgefuhrt wurden Maschinen mit sechs in einem Rahmen gelagerten Kuppelradsatzen, beispielsweise in Deutschland die wurttembergische Reihe K, der spateren Baureihe 59 der Deutschen Reichsbahn. Die Bulgarische Staatsbahn hatte zwei Baureihen mit den Achsfolgen F bzw. 1’F2’ im Einsatz, auch auf Java liefen Sechskuppler. Nur einmal wurde mit der SZD-Baureihe АА 20 ein allerdings erfolgloser Versuch mit einem Siebenkuppler unternommen. Mit mehrteiligen Rahmen und anderen Sonderlosungen wurde versucht, so viele Kuppelradsatze wie moglich unterzubringen. Die bekanntesten Gelenklokomotivbauarten sind die Bauarten Mallet, Meyer sowie Garratt und Fairlie.
Leistungsfahige Kessel erreichen Langen und Massen, die nicht alleine von den Kuppelradsatzen getragen werden konnen. Außerdem sind die Laufeigenschaften von Maschinen mit zu großen uberhangenden Massen bei hoheren Geschwindigkeiten nicht mehr zufriedenstellend. Aufgefallen ist das schon sehr fruh bei den Stephensonschen Longboiler-Maschinen. Man begann deshalb damit, die Lokomotiven mit zusatzlichen, nicht angetriebenen Laufradsatzen auszurusten. Damit ließen sich die uberhangenden Massen von Rauchkammer und Zylinderblocken sowie vom Stehkessel wirkungsvoll reduzieren. Hintere Laufradsatze ermoglichen es außerdem, Feuerbuchse und Aschkasten hinter den Kuppelradsatzen anzuordnen und so großer und leistungsfahiger auszubilden. Zur Verbesserung des Bogenlaufes wurden die Laufradsatze sehr bald seitenverschiebbar und spater in verschiedenen Bauformen radial einstellbar. Ruckstelleinrichtungen verbessern die Fuhrung des Fahrzeuges im Bogen, besonders, wenn die Fuhrungskrafte auf mehrere Radsatze verteilt werden. Deshalb wurden besonders fur schnellfahrende Maschinen ein fuhrendes Laufdrehgestell verwendet, oder man verband einen radial einstellbaren Laufradsatz mit dem ersten, seitenverschiebbaren Kuppelradsatz in einem Krauss-Helmholtz-Lenkgestell. Wegen des notigen Platzes fur den Aschkasten sind die hinteren Laufradsatze von Schlepptenderlokomotiven meist deichsellose „Adamsachsen“ oder außengelagerte Delta-Schleppgestelle. Bei Tenderlokomotiven sind identische Laufeigenschaften in beiden Richtungen in der Regel wichtiger, deshalb verfugen diese haufig uber ein symmetrisches Laufwerk. Das Lenkgestell unter dem Aschkasten nimmt man in diesem Fall in Kauf.
Massenausgleich Die hin- und hergehenden Massen der Kolben sowie auch der Kolben-, Treib- und Kuppelstangen verursachen bei der Umsetzung in die Drehbewegung erhebliche Unwuchten, die zu einem unruhigen Lauf der Lokomotive fuhren. Die Kolbenbewegungen einer zweizylindrigen Maschine gleichen sich dabei nicht gegenseitig aus, weil sie nicht um eine halbe, sondern um eine Viertelperiode versetzt arbeiten. Mit Ausgleichsgewichten an den Radern konnen diese Krafte teilweise, jedoch nicht vollstandig ausgeglichen werden.
Die durch die umlaufenden Massen der Kuppelstangen und Kurbelzapfen allein entstehende Unwucht kann durch Ausgleichsgewichte vollstandig ausgeglichen werden, so dass das Problem z. B. bei alteren Elektrolokomotiven mit Stangenantrieb und einem ansonsten rundlaufenden Motor nicht auftritt. Zum Ausgleich der hin- und hergehenden Massen einer Kolbendampfmaschine mussen die Ausgleichsgewichte jedoch vergroßert werden, was wiederum zu einer neuerlichen Unwucht der Rader fuhrt. Dadurch konnen die Schienen punktuell starker verschleißen, zudem kann bei hohen Drehzahlen sogar ein Verlust des Rad-Schiene-Kontakts auftreten, das sogenannte Springen der Rader. Als praxistauglicher Kompromiss bei der Auslegung hat sich herausgebildet, nur etwa 30 bis 50 % der hin- und hergehenden Massen auszugleichen. Bei niedrigen Geschwindigkeiten und geringem Komfortanspruch, wie etwa beim Guterverkehr wurde teilweise auch ganz darauf verzichtet.
Erheblich wichtiger war jedoch ein moglichst weitgehender Massenausgleich bei schnellfahrenden Lokomotiven. Hier konnte das Problem bereits durch Konstruktionen mit mehr als zwei Zylindern verringert werden. Fast alle Schnellfahrlokomotiven hatten deshalb Triebwerke mit drei oder vier Zylindern.
= Hilfsaggregate =
Druckluft fur die Bremsen Die Bremsen von Dampflokomotiven bestehen zumeist aus Klotzbremsen an den Kuppelradern, bei schnellfahrenden Maschinen auch an den Laufradsatzen, die zunachst von Hand, spater mit Dampf und ab etwa 1900 hauptsachlich mit Druckluft betrieben wurden. Zur Drucklufterzeugung erhielten Dampflokomotiven eine dampfbetriebene Luftpumpe sowie verschiedene Haupt- und Hilfsluftbehalter fur die Druckluftbevorratung.
Dampf fur die Zugheizung Zur komfortablen Beheizung von Reisezugwagen rustete man diese in der weiteren Entwicklung mit Dampfheizeinrichtungen aus. Den dazu erforderlichen Heizdampf erhielten die einzelnen Heizungsanlagen von der Lokomotive uber eine durch alle Wagen gehende Heizleitung.
Auf der Lokomotive wird dazu Nassdampf mittels Anstellventil direkt aus dem Kessel entnommen und uber einen vom Fuhrerstand aus bedienbaren Dreiwegehahn oder ein Umschaltventil (auf Einheitslokomotiven) zu dem jeweils vorderen oder hinteren Heizanschluss der Lokomotive geleitet. Ein Sicherheitsventil (4,5 bis 5 bar) und ein Druckmesser vervollstandigen die triebfahrzeugseitige Dampfheizungsanlage.
Elektrische Stromversorgung Mit der Einfuhrung der elektrischen Beleuchtung und spater von Zusatzeinrichtungen wie der Zugbeeinflussung wurde es erforderlich, eine dauerhafte und betriebssichere Elektroenergieversorgung zu gewahrleisten. Bei ersten Versuchen benutzte man kleine, auf dem Tender aufgestellte Kolbendampfmaschinen, deren Regelung jedoch vom Heizer zu viel Aufmerksamkeit forderte. Praxistauglich wurde die Stromversorgung erst durch die Einfuhrung von fliehkraftgeregelten Turbogeneratoren. Wegen der freizugigen Einsetzbarkeit von Lokomotiven und Wagen setzte sich bei Regelspur-Reisezugwagen die Versorgung uber Achsgeneratoren durch. Deshalb sind regelspurige deutsche Dampflokomotiven nur mit Generatoren mit 0,5 Kilowatt fur die Eigenversorgung ausgerustet. Die fur die punktformige Zugbeeinflussung erforderlichen Wechselspannungen mit Frequenzen von 500, 1000 und 2000 Hertz wurden anfanglich durch aufgesetzte Zusatzwicklungen erzeugt. Bei geschlossenen Netzen, beispielsweise den Schmalspurbahnen in Sachsen, werden wesentlich großere Turbogeneratoren mit einer Leistung von 10 kW eingesetzt. Diese versorgen den gesamten Wagenzug.
= Versorgung mit Betriebsstoffen =
Wasserversorgung Im Fahrbetrieb wird der im Kessel aus dem Speisewasser erzeugte Dampf nach Arbeitsleistung in den Zylindern uber das Blasrohr und den Schornstein in die Umgebung ausgestoßen. Ein geringer Teil des Dampfes wird durch den Betrieb der Hilfsmaschinen wie beispielsweise der Luftpumpe oder des Turbogenerators bzw. durch Dampfverluste infolge geoffneter Zylinderentwasserungsventile oder abblasender Sicherheitsventile verbraucht. Der Wasserstand im Kessel muss daher je nach Belastung in Intervallen oder auch standig durch Nachspeisen erganzt werden. Die zum Nachspeisen erforderlichen Wasservorrate werden in Wasserbehaltern im Rahmen, seitlich des Kessels oder im Schlepptender mitgefuhrt, die an Wasserstationen aufgefullt wurden. Insbesondere bei britischen Tenderlokomotiven gab es auch den Langkessel umschließende »Satteltanks«.
Fur lange unterbrechungsfreie Fahrten wie etwa die des Flying Scotsman von London nach Edinburgh oder die der New York Central Railroad wurden Schopfrohre verwendet, welche wahrend der Fahrt in spezielle Troge in Gleismitte abgesenkt wurden. Der durch die Fahrgeschwindigkeit entstehende Staudruck druckte das Wasser uber die Rohre in den Wasserkasten des Tenders.
Fur die Fahrt uber weite, wasserarme Strecken etwa in Argentinien, in der Sowjetunion und spater auch in Sudafrika wurden ab den 1930er Jahren Kondenstender entwickelt, bei denen ein großer Teil des Abdampfes nach Kondensation wieder zur Kesselspeisung genutzt werden konnte. In Deutschland wurden viele Lokomotiven der Baureihe 52 zum Einsatz in wasserarmen Gebieten der besetzten Sowjetunion mit dieser Technik gebaut. Die Kondensationstechnik fuhrte zwar zu einer Wasserersparnis von uber 90 %, war wegen des hohen Unterhaltungsaufwands in Gebieten mit ausreichenden Wasserreserven jedoch nicht wirtschaftlich. Weil der Abdampf bei Kondenslokomotiven nicht fur die Feueranfachung mittels Blasrohr zur Verfugung stand, war ein besonderes Saugzuggeblase in der Rauchkammer erforderlich. Ein im Krieg positiver Nebeneffekt war, dass Lokomotiven mit Kondensationseinrichtung, insbesondere bei kalter Witterung, wegen der geringeren Abdampffahne von Tieffliegern weniger gut entdeckt werden konnten.
Da der Kessel wahrend des Betriebs unter Druck steht, muss das Nachspeisen mit Wasser mittels spezieller Pumpen erfolgen. In der Fruhzeit geschah dies meist mit Plunger- oder Fahrpumpen. Diese wurden uber eine Exzenterwelle oder eine Kurbelwelle wahrend der Fahrt der Lokomotive betrieben. Der Vorteil dieser Methode ist, dass sich die Fordermenge annahernd proportional zum zuruckgelegten Weg verhalt. Die Anpassung der Fordermenge geschah durch eine regelbare Umgehungsleitung. Bei langerem Stillstand oder bei langeren Fahrten bei starker Steigung (erhohter Dampfbedarf) musste die Lokomotive vom Zug abkuppeln und auf einem freien Gleis hin- und herfahren, bis der Wasserstand wieder die gewunschte Hohe erreicht hatte.
Moderne Dampflokomotiven mussen zwei unabhangig voneinander arbeitende Speiseeinrichtungen haben, um den aus Sicherheitsgrunden erforderlichen minimalen Wasserstand im Kessel zu gewahrleisten. Fur die Auffullung des unter Druck stehenden Kessels werden Kolbenspeisepumpen und Injektorpumpen verwendet. Bei Kolbenpumpen treibt ein Dampfkolben einen kleinen Wasserkolben an, der das Wasser in den Kessel druckt. Bei der Injektor- oder Dampfstrahlpumpe reißt ein Dampfstrahl Wasser in der Injektorkammer mit, erwarmt es und druckt es in den Kesselraum.
Nachteilig bei Kolbenpumpen ist das Speisen des Kessels mit kaltem Wasser ohne Vorwarmung. Am Speisewassereintritt in den Kessel kam es durch die Temperaturdifferenz zu großen Warmespannungen im Material. Ab etwa 1900 wurde das kalte Speisewasser des Tenders durch Vorwarmer (damals Oberflachenvorwarmer, spater Mischvorwarmer) geleitet und vom Abdampf auf etwa 80 bis 90 Grad Celsius vorgewarmt. Weil das Kaltspeisen vermieden werden muss und Vorwarmer wegen ihrer Abhangigkeit vom Abdampf nur wahrend der Fahrt funktionieren, muss eine der beiden Kesselspeisevorrichtungen eine Dampfstrahlpumpe sein. In einigen Landern, beispielsweise in der ehemaligen UdSSR und in Polen, verzichtete man weitgehend auf Kolbenspeisepumpen und rustete fast alle Lokomotiven nur mit Strahlpumpen aus.
Der korrekte Wasserstand im Dampfkessel wird ebenfalls mit zwei unabhangig voneinander arbeitenden Schauglasern sowie Probierhahnen vom Heizer der Lokomotive kontrolliert. Ein zu niedriger Wasserstand kann zu einem Kesselzerknall fuhren, ein zu hoher Wasserstand birgt die Gefahr des Mitreißens von flussigem Wasser mit anschließenden schweren Schaden am Uberhitzer und in den Zylindern. Besonders im Zylinder verursacht schon die kleinste Menge Wasser einen Wasserschlag: Der Freiraum zwischen dem Kolben im Totpunkt und dem Zylinderboden ist so gering, dass der sich bewegende Kolben durch das nicht komprimierbare Wasser im Zylinder den Zylinderdeckel regelrecht absprengt.
Um die Betriebssicherheit und die Wirtschaftlichkeit der Dampflokomotive zu gewahrleisten, wird das Kesselspeisewasser aufbereitet. Insbesondere wird der Kesselsteinbildung vorgebeugt, indem die Kesselsteinbildner durch chemische Zusatze im Kessel zu Boden sinken (ausfallen) und dort eine schlammartige Schicht bilden (Innere Speisewasseraufbereitung). Durch das Abschlammventil kann dieser Bodensatz regelmaßig, auch wahrend der Fahrt durch den Heizer, ausgeschwemmt werden. Zusatzlich wird der Kessel in großeren Abstanden ausgewaschen.
Brennstoffversorgung Die verwendeten Brennstoffe (uberwiegend Kohle, teils auch Kohlenstaub, Holz, Torf oder verschiedene Ole) werden, ebenso wie der Wasservorrat, in Behaltern auf der Lokomotive oder im Schlepptender mitgefuhrt. In der Regel wurden Kohle und andere feste Brennstoffe vom Lokomotivheizer manuell oder mit einer Schaufel dem Vorratsbehalter entnommen und durch das Feuerloch in die Feuerbuchse befordert.
Einzelne Lokomotivbauarten wurden zur Entlastung des Bedienpersonals auch mit einer maschinellen Beschickung der Feuerung, dem sogenannten Stoker ausgerustet. Die Stokeranlagen bestanden meist aus Forderschnecken, die den Brennstoff vom Kohlenbehalter durch Rohrleitungen in die Feuerbuchse beforderten. Die Forderschnecken wurden von einer Dampfmaschine angetrieben und waren dem Brennstoffbedarf angepasst fein regel- und umsteuerbar.
Bei Olfeuerung wird der vorgewarmte Brennstoff durch einen oder mehrere Brenner (je nach Bauart unterschiedlicher Anordnung und Ausfuhrung) mittels regelbarem Dampfstrahl in den Feuerkasten eingeblasen.
Anders funktionieren Kohlenstaublokomotiven, bei denen der feingemahlene Kohlenstaub durch den im allseitig abgedichteten Feuerkasten herrschenden Unterdruck eingesaugt oder mittels Druckluft eingeblasen wird. Gelegentlich wurde bei Speicherdampflokomotiven in Eisenwerken eine rotgluhende Roheisen-Bramme in der Lokomotive deponiert. Mit dieser Heizwarme konnte die Lokomotive etwa zwei Stunden fahren.
Beim gegenwartigen Betrieb von Dampfloks steht man vor dem Problem, „dass die fur die Dampflok typische Kohle auf dem Markt nicht mehr angeboten wird […] weil es kaum noch Abnehmer gibt und die Hauptabnehmer von Kohle (Montanindustrie, Kraftwerke) ganz andere Anforderungen an die Kohle stellen“. Der Verband deutscher Museums- und Touristikbahnen hat eine Ubersicht der moglichen Brennstoffe mit ihren Vor- und Nachteilen sowie Kosten erstellt. Fur Kohlebrennstoff wird „polnische Kohle, Nuss 1“ empfohlen, von anderen derzeit verfugbaren Sorten wird abgeraten.
= Fuhrung der Lokomotive =
In der Regel befindet sich das Fuhrerhaus einer Dampflokomotive hinten auf dem Rahmen hinter der Feuerbuchse. Von dort wird sie in der Regel von zwei Personen gesteuert. Der Lokfuhrer hat seinen festen (Sitz-)Platz auf der Seite, auf der sich Steuerung, Regler, Fuhrerbremsventil und Zusatzeinrichtungen wie die Zugbeeinflussungsanlage befinden. In Kontinentaleuropa ist dies ublicherweise rechts, auf den britischen Inseln war dies meist die linke Seite. Er beobachtet von dort die Strecke und die Signale und steuert den Lauf der Lokomotive und des Zuges. Der Heizer uberwacht und betreibt vor allem die Feuerung und Dampferzeugung (Brennstoff- und Wassernachschub, Druckerzeugung) durch das Einbringen von Brennstoff in die Feuerbuchse. Der Heizer unterstutzt den Lokfuhrer bei der Signalbeobachtung durch Meldungen und Bestatigungen. Der Sitz fur den Heizer liegt auf der dem Lokomotivfuhrer gegenuberliegenden Seite des Fuhrerhauses.
Anfanglich standen Lokomotivfuhrer und Heizer auf einer ungeschutzten Plattform hinter der Feuerbuchse. Mit zunehmenden Geschwindigkeiten wurde es unerlasslich, einen Windschutz und zumindest ein kurzes Dach anzubauen. Die Einfuhrung des geschlossenen Fuhrerhauses geht auf den Eisenbahnpionier Max Maria von Weber zuruck, der die Strapazen des Lokomotivfuhrers und des Heizers vor allem in der winterlichen Jahreszeit aus eigener Anschauung kannte und in seinem literarischen Werk beschrieb. Sitzplatze wurden jedoch auch dann noch als „unerhorter Komfort“ und als der Aufmerksamkeit zur Streckenbeobachtung abtraglich angesehen.
Zur Bildung von Wendezugen wurde mit Signalvorrichtungen zwischen Steuerwagen und schiebender Lokomotive experimentiert, die in ihrer Funktionsweise an die Maschinentelegrafen aus der Seefahrt erinnern. Erfolgreich wurde dies 1936 bei den Stromlinienzugen der Lubeck-Buchener Eisenbahn praktiziert. Dies erforderte jedoch eine feste Zugzusammenstellung, die die freizugige Verwendung der Lokomotiven einschrankte und deshalb nicht weiter verfolgt wurde.
= Standards, Entwicklungsgrenzen, Sonderbauformen =
Standard-Entwicklungen Die verbreitetste und einfachste Bauform der Dampflokomotive hatte vorn ein bis zwei Laufradsatze und darauf folgend drei bis funf miteinander gekuppelte Treibradsatze sowie eventuell noch einen Laufradsatz unter dem Fuhrerhaus. Die Dampfmaschine bestand aus einem Kessel mit Nassdampf- oder Heißdampferzeugung und zwei doppelt wirkenden Zylindern mit einfacher Dampfdehnung.
In den 1920er-Jahren entstanden in Deutschland die ELNA-Dampflokomotiven. Die Abkurzung ELNA steht fur Engerer Lokomotiv-Normen-Ausschuss. Die Lokomotiven sollten durch Vereinheitlichung wirtschaftlicher produziert und betrieben werden konnen.
Unter dem Namen Einheitslokomotiven wurden ab 1925 fur die Deutsche Reichsbahn, unter Leitung des damaligen Bauartdezernenten beim Reichsbahn-Zentralamt, Richard Paul Wagner, Dampflokomotiven entwickelt und gebaut. Man hatte sich entschlossen, bewahrte Landerbahnlokomotiven durch Neuentwicklungen zu ersetzen. Hauptgrunde waren Normung und die Verwendung einheitlicher Bauteile. Genormt wurden nicht nur Bauteile wie Radsatze, Lager, Pumpen, Rauchrohre, Zylinderblocke und Armaturen, sondern auch Materialien wie Kesselbleche und Rahmenmaterialien. Damit wurden viele Teile auch baureihenubergreifend austauschbar, was die Lagerhaltung vereinfachte und den Unterhalt gunstiger machte. Die erste Einheitslokomotive war die DR-Baureihe 01 als 2’C1’ h2. Beide deutschen Nachkriegsstaatsbahnverwaltungen bauten auf diesen Standardisierungen auf; allerdings entstanden die Neubaulokomotiven der Nachkriegszeit nach neueren Baugrundsatzen, insbesondere in Schweißtechnik und teils unter Verwendung der von Richard Paul Wagner vor dem Krieg vehement abgelehnten und verhinderten Verbrennungskammerkessel.
Allgemeine Grenzen = Baugroßen =
Die Leistung der Dampflokomotive wird bestimmt durch Kolbendurchmesser und Hub, Dampfdruck, Zylinderzahl, Anzahl der Treibradsatze und deren Raddurchmesser. Alle diese Parameter sind jedoch nur begrenzt veranderbar.
Der Raddurchmesser ist wegen der nur begrenzt beherrschbaren Kolbengeschwindigkeiten und damit zusammenhangend Triebwerksdrehzahlen entscheidend fur die mogliche Hochstgeschwindigkeit. Er kann jedoch nicht beliebig gesteigert werden, ohne die Große des Kessels und damit die Zugkraft zu beeintrachtigen oder die Fahrzeugumgrenzungslinie zu uberschreiten. Die hin- und hergehenden Massen im Kurbeltrieb konnen insbesondere bei Zweizylindertriebwerken nicht vollstandig ausgeglichen werden, das fuhrt vor allem bei hoheren Geschwindigkeiten zu einem unruhigen Lauf. Zudem verringern große Treibraddurchmesser wegen der ungunstigereren Hebelverhaltnisse die Anfahrzugkraft und die mogliche Beschleunigung.
Die meisten moderneren Dampflokomotiven haben Kessel mit 16 bis 20 bar Betriebsdruck. Dampferzeuger mit hoherem Dampfdruck (bis zu 60 bar) erforderten langfristig aufwandigere Instandhaltungsarbeiten, deshalb konnten sie sich fur den Einsatz auf Lokomotiven nicht durchsetzen.
Baulich bedingt lasst sich die Zylinderzahl bei Standard-Typen nur auf maximal vier steigern. Dabei gibt es Drillings- und Vierlingsmaschinen mit einfacher Dampfdehnung, bei denen alle Zylinder Kesseldampf erhalten, und Verbundmaschinen mit Hochdruck- und nachgeordneten Niederdruckzylindern. Mit dem Verbundprinzip wird die thermische Energie des Dampfes besser ausgenutzt, zudem ermoglichen Drei- und insbesondere Vierzylindertriebwerke einen deutlich besseren Masseausgleich.
Da damit jedoch die Instandhaltungskosten stiegen, haben sich letztlich Lokomotiven mit zwei oder drei Zylindern und nur einer Expansionsstufe durchgesetzt. Vor allem Eisenbahnen in den USA, England und Norddeutschland, wo Kohle relativ gunstig und leicht verfugbar war, verzichteten auf den hoheren Wirkungsgrad. Umgekehrt verfuhren Frankreich, die Schweiz und die suddeutschen Eisenbahnen, die bis zum Ende der Dampftraktion bzw. bis zum Ende ihrer Eigenstandigkeit Verbundlokomotiven beschafften. Auch die DB modernisierte noch in der Phase des einsetzenden Traktionswandels dreißig ursprunglich bayerische Vierzylinderverbundlokomotiven zur Baureihe 18.6.
= Leistungen =
Unter den mitteleuropaischen Bedingungen entstanden Lokomotiven, die in Versuchsfahrten Spitzengeschwindigkeiten uber 200 km/h erreichten (Deutsche-Reichsbahn-Lok 05 002 und die britische LNER-Lok Mallard). Mit Verbundmaschinen wurden indizierte Leistungen bis zu 5300 PS (4000 kW) erreicht (SNCF 242 A1, Frankreich). Bezogen auf das Leistungsgewicht (Masse pro Leistung) galt die ebenso wie die 242 A1 von Andre Chapelon umgebaute 240 P der franzosischen SNCF als leistungsfahigste Lokomotive.
Die weltweit großten Dampflokomotiven waren die Mallet- und Triplex-Lokomotiven amerikanischer Bahnen. Unter Rahmen und Tender hatten diese Lokomotiven bis zu drei eigenstandige Zweizylindertriebwerke. Praktisch alle großen und modernen US-amerikanischen Dampflokomotiven lagen bei Leistungen von 5000 bis 8000 PS (4000 bis 6000 kW), was durch vergleichsweise große Abmessungen und Massen ermoglicht wurde.
Die Lokomotiven der Klasse S-1b („Niagara“) der New York Central beforderten im taglichen Betrieb Zuge mit 22 Pullman-Schnellzugwagen von uber 1600 t Masse in der Ebene mit 161 km/h. Bei Versuchsfahrten wurden mit dieser Last sogar 193 km/h erreicht. Heutige IC- und EC-Zuge sind demgegenuber nur etwa halb so schwer. Die Baureihe S-1b halt auch den Rekord der monatlichen Laufleistungen fur Dampflokomotiven. Mit Zugen wie den oben erwahnten, die auf der 1485 Kilometer langen Strecke von Harmon, N.Y. nach Chicago ohne Lokwechsel fuhren, wurden uber 44.000 Kilometer erreicht.
Fur die Maschine der Klasse S1 der Pennsylvania Railroad wurde ubrigens 193,2 km/h bzw. 120 mph als regulare, betriebsmaßige Hochstgeschwindigkeit angegeben, wobei jedoch das Ziel, Zuge mit 1000 Tonnen Masse mit 100 mph bzw. 161 km/h zu befordern, nicht erreicht wurde.
Der sehr personalintensive Unterhalt der Dampflokomotiven (Bedienung der Lokomotive durch zwei Mann, Auswaschpersonal und weitere), die sehr intensive und aufwendige Prufung und Unterhaltung der Lokomotive (zweitagliches bis maximal wochentliches Auswaschen der Kessel), die gesetzlich vorgeschriebenen Untersuchungen der Dampfkessel wegen der Gefahr der Kesselexplosionen und die parallel einhergehende Weiterentwicklung der elektrischen und Diesellokomotiven fuhrten in den 1970er Jahren bei fast allen Bahnen der Welt zur Ausmusterung der Dampflokomotiven. Aber auch der geringe Wirkungsgrad, der meist bei etwa acht bis zehn Prozent lag, und die Verschmutzungen durch Kohlenruß fuhrten dazu, dass die Dampflokomotiven immer mehr von der Bildflache verschwanden. Allerdings waren die konstruktiven Moglichkeiten der Dampflokomotive zu dieser Zeit noch nicht vollstandig ausgereizt worden.
Sonderentwicklungen Hohere Anforderungen, gunstige oder ungunstigere Bedingungen, haben zu Sonderbauformen von Dampflokomotiven gefuhrt. Hier sind vor allem die zu Beginn in Frankreich und Deutschland sehr verbreiteten Crampton-Lokomotiven, die spater erscheinenden Mallet- und Garratt-Lokomotiven sowie Antriebs-Varianten zu nennen. Eine umfangreiche Ubersicht ist unter Dampflokomotive (Bauart) aufgelistet.
Betrieb Das Erscheinungsbild eines Dampflokbetriebs ist gepragt durch charakteristische Bauten wie Lokomotivschuppen, Wasserturme und Bekohlungsanlagen. Typisch ist auch der großraumige Freischnitt der Streckengleise, um die Brandgefahr durch Funkenflug zu mindern.
Geschichtlicher Uberblick Die Dampflokomotive war die ursprungliche und lange Zeit vorherrschende Lokomotivbauart. Sie war das erste Zugmittel, das großere Leistung mit kompakter Bauform vereinen konnte und so die erfolgreiche Verbreitung des Eisenbahn-Systems bewirkte.
= Vorlaufer-Entwicklungen =
Die Entwicklung der Dampflokomotive stutzte sich auf mehrere Vorlaufer-Entwicklungen. Die erste Stufe war die von Thomas Newcomen erfundene Dampfmaschine, bei der ein Schwungrad den Zylinder nach jedem Arbeitshub in die Ausgangslage zuruckbrachte. Der nachste Schritt erfolgte, als James Watt den Dampf wechselweise auf beide Seiten des Kolbens wirken ließ. Bis dahin arbeiteten die Dampfmaschinen mit nur geringem Uberdruck gegenuber dem atmospharischen Umgebungsdruck. Als Richard Trevithick eine Dampfmaschine entwickelte, die mit einem drei- bis viermal hoheren als dem atmospharischen Druck arbeitete, wurde es moglich, eine leistungsfahige Arbeitsmaschine zu bauen, die hinreichend kompakt war, um auf ein Fahrzeug zu passen. Dies fuhrten erstmals Nicholas Cugnot 1769 sowie 1801 und 1803 auch Richard Trevithick durch, die jeweils einen Straßen-Dampfwagen bauten. Damit wurde mit Hilfe der Dampfmaschine eine raumlich unbegrenzte Fahrbewegung moglich, und es war dann nur noch ein kurzer Schritt, die bereits in den Bergwerken bestehenden dampfbetriebenen Seilzuganlagen durch einen auf die Schienen gestellten Dampfwagen zu ersetzen.
= Erste Dampflokomotiven auf Schienen =
1804 baute dann Richard Trevithick die erste auf Schienen fahrende Dampflokomotive. Sie erwies sich als funktionsfahig, doch die fur ihre Masse nicht ausgelegten gusseisernen Schienen brachen unter dieser Lokomotive.
Um diese Zeit gab es in englischen Bergwerksanlagen in Cornwall und um das nordostenglische Kohlenrevier um Newcastle upon Tyne mehrfache Entwicklungsversuche zu Dampflokomotiven, u. a. von Timothy Hackworth ab 1808, John Blenkinsop 1812, William Hedley 1813, George Stephenson 1814 und anderen. Im Jahr 1825 wurde die von Edward Pease initiierte Eisenbahnstrecke zwischen Stockton und Darlington, England, mit einer Lokomotive von George Stephenson eroffnet und gleichzeitig der erste Passagier-Transport mit einem lokomotiv-gezogenen Zug durchgefuhrt.
Fur die geplante Bahn zwischen Liverpool und Manchester wurde im Oktober 1829 das beruhmte Rennen von Rainhill durchgefuhrt, bei dem die bestgeeignete Lokomotive ermittelt werden sollte. Von den funf teilnehmenden „echten“ Lokomotiven gewann The Rocket von Robert Stephenson das Rennen, die auf der 50 km langen Strecke eine Hochstgeschwindigkeit von 48 km/h erreichte und – das war das Entscheidende – als einzige das Rennen ohne Ausfall uberstand. Die gleichfalls im Wettbewerb befindliche „Sans Pareil“ von Timothy Hackworth hatte Zylinder, die in der Werkstatt von Robert Stephenson gegossen waren, und von denen einer kurz nach dem Start zum Rennen explodierte – ein damals eher „regularer“ Ausfall. Am 15. September 1830 wurde die Bahn zwischen Liverpool und Manchester eroffnet, wobei sowohl die siegreiche „Rocket“ als auch die „Sans Pareil“ in den Betrieb ubernommen wurden. Das feierliche Ereignis wurde von einer Tragodie, dem Eisenbahnunfall von Parkside uberschattet: William Huskisson, Unterhausabgeordneter und ehemaliger britischer Kriegsminister, wollte den Wagen von Premierminister Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington bei einem Zwischenstopp in Parkside besteigen und wurde dabei von einem entgegenkommenden Zug mit der „Rocket“ an der Spitze erfasst. Stephenson brachte ihn mit einer Lokomotive nach Manchester, wo Huskisson starb.
In den USA fuhrte Oberst John Stevens 1826 eine dampfbetriebene Lokomobile auf einer ringformigen Fahrspur in Hoboken, New Jersey vor. 1830 baute Peter Cooper mit der Tom Thumb die erste Dampflokomotive in Amerika fur eine offentliche Eisenbahn und mit der DeWitt Clinton nahm am 24. September 1831 die erste fahrplanmaßig eingesetzte US-Lokomotive zwischen Albany und Schenectady mit rund 50 km/h ihren Dienst auf. Nicht unerwahnt sollte auch die in England hergestellte und nach Amerika gelieferte John Bull bleiben. Auch sie wurde 1831 in Dienst gestellt, 1866 ausgemustert und zuletzt 1981, mittlerweile 150 Jahre alt, nochmals unter Dampf genommen. Sie ist eine der letzten original uberlieferten Maschinen der Dampflokfruhzeit.
Die erste Bahnlinie auf dem europaischen Kontinent mit Dampfbetrieb war seit 1831 die Bahnstrecke Saint-Etienne–Lyon in Frankreich. Belgien, dessen erste Dampfeisenbahn am 5. Mai 1835 zwischen Brussel und Mechelen eroffnet wurde, hatte bis Mitte des 19. Jahrhunderts das dichteste Eisenbahnnetz auf dem Kontinent.
In Deutschland bzw. dem Deutschen Bund fuhr als erste Dampflokomotive im Juni 1816 eine Maschine Blenkinsop'scher Bauart, die von Johann Friedrich Krigar in der Koniglichen Eisengießerei zu Berlin gebaut wurde, auf einem Rundkurs im Hof der Fabrik. Es handelte sich um die erste auf dem europaischen Festland gebaute Lokomotive und um den ersten dampfgefuhrten Personenverkehr, da Schaulustige gegen Entgelt in angehangten Wagen mitfahren konnten. Sie ist auf einer Neujahrsplakette der Kgl. Eisengießerei von 1816 dargestellt. Nach dem gleichen System wurde 1817 eine weitere Lokomotive gebaut. Sie sollten in Grubenbahnen in Konigshutte (Oberschlesien) und in Luisenthal (Saar) eingesetzt werden, konnten aber beide nach Zerlegung, Transport und Wiederzusammenbau nicht in einen betriebsfahigen Zustand gebracht werden. Am 7. Dezember 1835 fuhr erstmals zwischen Nurnberg und Furth auf der Ludwigseisenbahn die Lokomotive Der Adler. Sie war bereits die 118. Maschine aus der Lokomotivenfabrik Robert Stephensons und stand mit der Typbezeichnung „Patentee“ unter Patentschutz.
Im Kaisertum Osterreich fuhr 1837 die erste Dampfeisenbahn auf der Nordbahn zwischen Wien-Floridsdorf und Deutsch-Wagram. Die dienstalteste Dampflokomotive der Welt fahrt ebenfalls in Osterreich: Die GKB 671 aus dem Jahre 1860 wurde nie ausgemustert und wird immer noch fur Sonderfahrten verwendet.
1838 entstand die dritte in Deutschland gebaute Dampflokomotive Saxonia bei der Maschinenbauanstalt Ubigau bei Dresden, entworfen von Prof. Johann Andreas Schubert. Als erste eigenstandig konstruierte Lokomotive in Deutschland gilt die 1844 gebaute Beuth von August Borsig. Die Maschinenfabrik Georg Egestorff (spater Hanomag) lieferte 1846 die erste Dampflokomotive „Ernst August“ an die Koniglich Hannoverschen Staatseisenbahnen. Henschel & Sohn in Cassel (damalige Schreibweise) baute 1848 seine erste Lokomotive Drache fur die Friedrich-Wilhelms-Nordbahn. Ebenfalls 1848 erbaute Richard Hartmann aus Chemnitz seine Gluck auf.
Die erste Eisenbahnstrecke uber Schweizer Landesgebiet war die 1844 eroffnete Strecke Strasbourg–Basel. Drei Jahre spater, 1847, wurde als erste Schweizer Eisenbahnstrecke die Spanisch Brotli Bahn von Zurich nach Baden eroffnet.
= Weitere Entwicklungsschritte =
Erste Versuche, Erfolge und Irrwege Die damals trotz der Pionierleistungen der Maschinenbauer vielfach immer noch unverstandenen Zusammenhange zwischen Mechanik, Thermodynamik und Kraftubertragung fuhrten bei Verbesserungsversuchen zu Konstruktionen, die oft eine bestimmte Eigenschaft verstarkten, dabei aber den Gesamtzusammenhang von Warmeerzeugung, Kesselleistung, Radanordnung und Gewichtsverteilung aus dem Blick verloren.
Der folgende Uberblick beschaftigt sich mehr mit den Entwicklungen, die zur letztlich erfolgreich verbreiteten Standardbauweise fuhrten. Die erheblich davon abweichenden Konstruktionen sind in Dampflokomotive (Bauart) aufgefuhrt.
Die erste Maschine von Trevithick hatte zwei Radsatze, die beide von einem riesigen Zahnrad angetrieben wurden. Nach dem deutschen Achsfolge-Bezeichnungs- bzw. Zahlsystem war dies eine „B“- Lokomotive. Auch Stephensons spatere „Locomotion“ war mit zwei angetriebenen Achsen eine „B“-Type, im Gegensatz zu Trevithick versah Stephenson die Rader jedoch mit Kurbelzapfen, die mit Kuppelstangen verbunden wurden. Dies wurde dann der am weitesten verbreitete Mehrfach-Radsatz-Antrieb, der erstmals ermoglichte, die Lokomotiven abzufedern und spater auch bei den ersten Elektro- und Diesellokomotiven verwendet wurde. Zusammen mit den stehenden Zylindern erforderte die Einfuhrung der Federung jedoch eine Vergroßerung der schadlichen Raume.
Stephensons 1829 gebaute „Rocket“ war demgegenuber teilweise ein Entwicklungsruckschritt, da sie nur eine angetriebene Achse vorn und dahinter einen kleineren Laufradsatz hatte (Achsfolge A1). Ihr Vorteil waren die um etwa 45° geneigten Zylinder. Durch diese Anordnung verringerte sich der zum Ausgleich des Federwegs notige schadliche Raum in den Zylindern und damit der Dampfverbrauch gegenuber der seinerzeit ublichen senkrechten Zylinderanordnung. Bei einem spateren Umbau wurden die Zylinder noch weiter abgesenkt. Die einzige Treibachse ermoglichte zwar ohne große konstruktive Schwierigkeiten großere Treibrader fur hohere Geschwindigkeiten, minderte aber das fur die Zugkraft wichtige Reibungsgewicht des Antriebs. Die gleiche konstruktive Unzulanglichkeit wurde 15 Jahre spater mit Lokomotiven der Bauart Crampton sogar noch weitergetrieben. Die „Cramptons“ hatten noch großere Treibrader, die aus Platzgrunden hinter dem tiefliegenden schweren Kessel unter dem Fuhrerstand angebracht waren. Die tiefe Kessellage sollte einen ruhigen Lauf bewirken. Damit hatten die Cramptons Schwierigkeiten beim Anfahren, denn die gering belastete Treibachse neigte zum Schleudern. Hatte eine Lokomotive der Bauart Crampton den Zug erst einmal in Fahrt gebracht, konnte sie mit ihrem langen und damit leistungsfahigen Kessel, der ohne schadliche Uberhange auf bis zu drei voranlaufenden Achsen lagerte, betrachtliche Geschwindigkeiten entwickeln.
Timothy Hackworth begriff schon fruher den Zusammenhang zwischen Reibungsgewicht und Zugkraft und baute bereits 1827 die „Royal George“ als Dreikuppler (Achsfolge C). Guterzuglokomotiven mit drei gekuppelten Radsatzen blieben jahrzehntelang Standard.
Die 1835 von Robert Stephenson nach Deutschland gelieferte Maschine, die als „Der Adler“ die erste auf deutschen Gleisen war, hatte mit je einem Laufradsatz vor und hinter dem mittig unter dem Kessel angebrachten Treibradsatz (Achsfolge 1A1) nur bescheidene Zugkraft und Hochstgeschwindigkeit. Diese einfache Konstruktion erwies sich vermutlich als zuverlassig im Betrieb, denn Dampflokomotiven mit nur einem Treibradsatz wurden fur verschiedene deutsche Landerbahnen noch bis in die spaten 1860er-Jahre gebaut; so blieb vor allem die bayerische Staatsbahn der „1A1“ lange Zeit treu.
Amerika ubernimmt die Pionierrolle von England Eine Besonderheit US-amerikanischer Bahnen waren lange Strecken und ein mit geringer Sorgfalt verlegter, leichter Oberbau, die zu einem unruhigen Lauf der Lokomotiven mit der von England ubernommenen Bauweise des steifen zweiachsigen Laufwerks fuhrten. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen, wurde bereits 1836 von Henry Roe Campbell eine Lokomotive mit der Achsfolge 2’B (amerikanische Whyte-Notation 4-4-0), also mit einem fuhrenden, zweiachsigen Laufdrehgestell und zwei gekuppelten Achsen entwickelt und patentiert. Diese Bauweise erzielte mit der großeren gefuhrten Lange und den kleinen uberhangenden Massen eine gute Laufruhe auch auf mangelhaftem Oberbau und durch die radiale Einstellbarkeit des Laufdrehgestells einen ebenso guten Bogenlauf. Bis 1884 hatten 60 Prozent aller US-Dampflokomotiven die Achsfolge 2’B n2 und wurden als „American Standard“ oder kurz „American“ bekannt. Als die Zuggewichte großer und die Geschwindigkeiten hoher wurden, wurde die bewahrte „American“ einfach in allen Bauteilen vergroßert und verstarkt, um den erhohten Anforderungen zu genugen.
Von der „New York Central-4-4-0“ Nummer 999 mit ihren 2,15 m hohen Treibradern wird berichtet, dass sie am 10. Mai 1893 mit dem aus vier Wagen bestehenden „Empire State Express“ zwischen Batavia und Buffalo, New York, eine Geschwindigkeit von 112,5 mph (= 181 km/h) erreichte. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den USA Variationen der „American“ etwa 25.000 mal gebaut. In Europa wurde diese Bauart mit mehr oder weniger langem Zeitverzug ubernommen. Vorher baute man dort zunachst Reisezuglokomotiven mit Achsfolgen 1B und 1’B, meist mit die Laufeigenschaften nachteilig beeinflussenden uberhangenden Zylindern.
Das Ende der „American“-Ara kam in den 1880er Jahren mit der zunehmenden Verbreitung der um 1869 von George Westinghouse erfundenen Druckluftbremse (US-Patent 1872). Anstelle der handgebremsten Zuge ermoglichten diese leistungsfahigen Bremsen langere und schwerere Zuge, fur die es nicht mehr ausreichte, die 2’B einfach großer zu bauen. Dies fuhrte zu Lokomotiven mit drei- und vierfach gekuppelten Radsatzen.
In Europa wurde anfangs fur schnellere Lokomotiven bevorzugt eine tiefe und stabile Kessellage angestrebt, die jedoch ungunstig war fur die Anordnung weiterer großer Kuppelradsatze. Wesentliche Impulse zur Uberwindung dieser Angst vor dem hohen Schwerpunkt kamen aus den USA. So entstanden bald auch hier neue Lokomotiven mit immer hoherer Kessellage, die den Einsatz von mehreren Kuppelradsatzen erlaubten. Der deutsche Ingenieur Ludwig Low von und zu Steinfurth schrieb 1924 in seinem Standardwerk zum Kraftwagen, dass man aus dem Lokomotivbau lernen musse:
Ein weiterer Entwicklungsschritt war die Einfuhrung des Verbundmaschinen-Prinzips im Dampflokomotivbau, nachdem dieses sich bereits auf Dampfschiffen bewahrt hatte. Hierbei wird das Ausdehnungsbestreben des Dampfes nach dem Auslass aus einer ersten Arbeitsstufe noch einmal in einer zweiten Stufe in einem Niederdruckzylinder genutzt. Der Schweizer Anatole Mallet meldete hierzu 1874 ein Patent fur die Verwendung auf Lokomotiven an.
Das Prinzip wurde zunachst auf Lokomotiven mit zwei separaten Lauf- und Triebwerken („Malletlokomotiven“) durch Hintereinanderschaltung der Zylinderpaare genutzt. Spater wurde das Verbundprinzip auch auf Einrahmenlokomotiven angewendet, zunachst bei Lokomotiven mit zwei Zylindern. Diese fielen durch sichtbar unterschiedliche Zylinderdurchmesser auf. Danach ging man besonders im Schnellzugdienst zu Vierzylinder-Verbundlokomotiven uber. Bei diesen Lokomotiven war die erste Treibachse als Kropfachse und damit Kurbelwelle ausgebildet und wurde von zwei innerhalb des Rahmens liegenden Hochdruckzylindern angetrieben. Außen am Rahmen lagen die großeren Niederdruckzylinder, die in der ublichen Weise auf die Kurbelzapfen des zweiten Treibradsatzes arbeiteten (Zweiachsantrieb Bauart De-Glehn). Der meist vorhandene dritte Treibradsatz war mit den beiden vorderen durch die ublichen außenliegenden Kuppelstangen verbunden. August von Borries konstruierte dagegen Lokomotiven mit dem nach ihm benannten Einachsantrieb, bei dem alle vier Zylinder auf einen Treibradsatz wirken. Der hoheren Belastung der Kropfachswelle steht ein einfacherer Massenausgleich entgegen, außerdem lassen sich Hoch- und Niederdruckzylinder einfacher in einer Ebene anordnen, wodurch die Dampfwege verkurzt werden. Verbundlokomotiven benotigten eine besondere Anfahrvorrichtung. Durch diese erhalten auch der bzw. die Niederdruckzylinder beim Anfahren Frischdampf, die Maschine arbeitet mit einfacher Dampfdehnung. Ist die Maschine in Fahrt, wird auf Verbundwirkung umgeschaltet.
Mit großeren Lokomotiven ergab sich das Problem des Bogenlaufes von Starrrahmenlokomotiven. Im Jahre 1884 ließ sich wiederum Anatole Mallet die heute unter seinem Namen bekannte kurvengangige Lokomotivbauart mit zwei Triebwerken, von denen eines drehbar oder seitlich verschiebbar gelagert ist, patentieren. In der Folge wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts fur viele deutsche Landerbahnen insgesamt etwa 150 Malletlokomotiven gebaut. Das Malletprinzip wurde jedoch erst in den USA zu seiner hochsten Blute gefuhrt. Wurde die Bauart Mallet in Europa uberwiegend bei kleineren Lokomotiven verwandt, so nutzte man sie dort auch bei sehr großen Lokomotiven, allerdings vielfach nur mit einfacher Dampfdehnung, also ohne Verbundwirkung der Triebwerksgruppen. Hiermit vermied man den Schwachpunkt der Mallets mit Verbundtriebwerk in Form getrennter Hoch- und Niederdrucktriebwerksgruppen, namlich das wechselweise Schleudern beider Triebwerksgruppen.
Zur Verbesserung der Bogenlaufigkeit fuhrte man teilweise auch die Spurkranze der außeren Treibradsatze in geschwachter Starke aus, um das Zwangen der Lokomotive in Gleisbogen zu mindern. Geschwachte Spurkranze an den Endradsatzen fuhren allerdings die Maschine kaum im Gleis, die geringe gefuhrte Lange bewirkt einen unruhigen Lauf. Auch spurkranzlose Treibradachsen wurden zur Verbesserung des Bogenlaufes genutzt. Nach Voruntersuchungen von von Helmholtz wandte der Osterreicher Karl Golsdorf bei großen Starrrahmenlokomotiven erstmals seitenverschiebbare Kuppelachsen an. Damit war das Problem der Bogenlaufigkeit großer leistungsfahiger Starrrahmenlokomotiven, zum Teil im Zusammenwirken mit Spurkranzschwachung und einzelnen spurkranzlosen Radsatzen, prinzipiell gelost.
Die letzte fehlende Komponente fur die moderne Dampflokomotive war die Entwicklung des Uberhitzers, der es ermoglichte, die Dampftemperatur so weit zu erhohen, dass wahrend der Expansion im Zylinder keine Verluste durch Kondensierung entstanden. Hier tat der deutsche Ingenieur und Maschinenbauer Wilhelm Schmidt den entscheidenden Schritt mit der Erfindung des Uberhitzers, mit dem sich der Heißdampf mit Temperaturen von 350 °C betriebsmaßig im Dampfmaschinenkessel herstellen ließ. Damit konnte der thermische Wirkungsgrad der Dampfmaschine um die Halfte verbessert werden. Damit wurden 1897 fur die preußischen Staatsbahnen die ersten zwei Lokomotiven (eine S 3 und eine P 4) mit Flammrohruberhitzer geliefert.
= Hohepunkte der Entwicklung =
Eine weitere markante und erfolgreiche Entwicklung war die „Pacific“-Dampfloktype mit der Achsfolge 2’C1’ bzw. der amerikanischen Bezeichnung 4-6-2. Sie entstand wiederum in den USA und wurde besonders verbreitet, als sich die Zugmassen um 1910 durch Wagen in Stahlbauart erhohten und von den 2’B- und 2’B1-Typen nicht mehr bewaltigt werden konnten.
Nachdem 1901 von Baldwin in den USA erstmals eine Lokomotive mit der Achsfolge 2’C1’ nach Neuseeland geliefert worden war, wurde 1902 von Brooks, einer spateren Tochter der ALCO eine Lokomotive mit derselben Achsfolge an die Missouri-Pacific-Eisenbahn ausgeliefert, von der fortan der Kennname „Pacific“ herruhrte. Begunstigend fur die Entwicklung und Verbreitung der „Pacific“ war auch, dass gleichzeitig die Anwendung des Heißdampfprinzips mit Uberhitzer einsetzte, was mit dieser Type zusammen mit der großeren Feuerbuchse und dem langeren Kessel zu einer sprunghaften Leistungssteigerung fuhrte, die lange Zeit weitere Entwicklungen vor allem bei Schnellzuglokomotiven erubrigte. Es wird gesagt, dass von Lokomotiven mit der „Pacific“-Achsfolge alleine in Nordamerika mehr als 10.000 Stuck gebaut wurden.
In den spaten 1930er und den 1940er Jahren werden technische Hohepunkte der Dampftraktion erreicht mit sowohl den starksten und großten und den schnellsten je gebauten Maschinen, den riesigen US-amerikanischen Gelenklokomotiven und Schnellfahrdampflokomotiven wie etwa der deutschen Baureihe 05 oder der englischen A4, die bei Versuchsfahrten jeweils knapp uber 200 km/h erreichten. Wobei man hier der »Mallard« den Geschwindigkeits-Weltrekord zurechnet, obwohl diese mit einem Siebenwagenzug auf einer Gefallstrecke 202 km/h erreichte und dabei beschadigt wurde; die deutsche 05 002 erreichte mit vier Wagen 200,4 km/h auf ebener Strecke ohne Schaden, wonach ihr eigentlich der Titel der schnellsten Dampflokomotive zustehen musste, wenn man beide unter selben Kriterien getestet hatte.
Moderne US-amerikanische Guterzugdampflokomotiven hatten Dauerleistungen von bis zu 8000 PSi (6000 kW, C&O-Klasse H-8, PRR-Klasse Q2), Schnellzuglokomotiven kamen auf bis zu 6700 PSi (5000 kW, NYC-Klasse S-1, „Niagara“). Sie waren extrem robust gebaut, da bei den hohen Zuglasten (fahrplanmaßig 10.000 bis 15.500 Tonnen im schweren Guterzugdienst, 1000 bis 1800 Tonnen im schweren Schnellzugdienst) der „flat out-“ („volle Pulle“)-Betrieb an der Tagesordnung war. Da eine Schnellzuglokomotive bis zu 2840 km vor dem Zug blieb (ATSF-Klasse 2900, auf der Strecke Kansas City – Amarillo – Los Angeles), waren Zuverlassigkeit und leichte Wartbarkeit oberstes Gebot.
Die meistgebauten Lokomotiven in Deutschland waren die Baureihe 55.25-58 und die Kriegslokomotiven der deutschen Baureihe 52. Die Baureihe 55.25-58, preußische G8.1 wurde in 4995 Exemplaren gebaut und war damit die meistgebaute Landerbahndampflok, gefolgt von der Personenzuglokomotive P 8 mit der Achsfolge 2’C h2, die seit 1906 von der Berliner Maschinenbau AG und den Linke-Hofmann Werken in Breslau in etwa 3800 Exemplaren gebaut wurde, wovon etwa 500 Stuck ins Ausland geliefert wurden. Die meisten dieser Lokomotiven wurden in den Jahren 1919 bis 1924 fertiggestellt.
Die deutsche Baureihe 52 war eine erheblich vereinfachte Version der Guterzuglok-Baureihe 50 mit der Achsfolge 1’E h2, von der zwischen 1942 und 1945 etwa 6500 Stuck fur den erhohten Transportbedarf im Zweiten Weltkrieg gebaut wurden. Die Baureihen 50 und 52 zusammen erreichten eine Stuckzahl von etwa 10 000. Neben den Preußischen Staatseisenbahnen waren es nur noch die Eisenbahnen der Sowjetunion, die verschiedene Lokbaureihen in Stuckzahlen von uber 3000 bauen ließen.
In der Schweiz wurde mit der C 5/6 2978 ungewohnlich fruh, namlich im Jahr 1917, die letzte Dampflokomotive der SBB-Geschichte ausgeliefert. Die fortschreitende Elektrifizierung verhalf den Elektrolokomotiven zum Siegeszug.
Die damals modernste Dampflokomotive der Welt ging Anfang der 1980er Jahre in Sudafrika in Betrieb. Eine Hochleistungsdampflokomotive der SAR-Klasse 25NC, die 25NC 3450, gebaut 1953 von Henschel & Sohn in Kassel, wurde fur ein besonderes Versuchsprogramm ausgewahlt und in wesentlichen Komponenten stark verandert. Im Jahr 1981 bekam sie in den Salt-River-Werkstatten in Kapstadt eine Lempor-Saugzuganlage mit zwei Kaminen, zwischen denen der Vorwarmer angebracht war. Die Feuerbuchse wurde auf das Gas Producer Combustion System (GPCS) des argentinischen Ingenieurs Livio Dante Porta umgebaut. Dampfleitungen wurden zur Reduzierung von Stromungsverlusten optimiert. Verantwortlich fur den gesamten Umbau war der Ingenieur David Wardale. Die Lokomotive erhielt die neue Reihenbezeichnung 26, ihre Betriebsnummer behielt sie bei. Zwei Jahre dauerten dann die anschließenden Versuche. Ergebnis: drastische Kohle- und Wasserersparnis gegenuber der Baureihe 25NC sowie etwa 40 % Leistungssteigerung. Als Spitzenleistung bei Versuchsfahrten wurden bei 75 km/h ca. 4500 PS und bei 100 km/h knapp 5000 PS gemessen. Die Dauerleistung der Maschine liegt bei uber 3000 PS. Nach Ende der zweijahrigen Versuchsphase kam die Lokomotive in den regularen Reise- und Guterzugdienst, und zwar in roter Farbgebung, was ihr bald, nicht zuletzt wegen ihrer – fur eine Schmalspurlokomotive – enormen Kraftentwicklung den Namen Red Devil (Roter Teufel) einbrachte.
= Geschwindigkeitsentwicklung =
Vor allem aus den USA, wo die gegenuber Europa um ca. 50 % hoheren zulassigen Achslasten den Bau leistungsfahiger und robuster Lokomotiven begunstigten, sind vereinzelt Geschwindigkeiten bekannt geworden, die uber die in der Tabelle genannten Rekorde hinausgingen, jedoch mangels einer offiziellen Bestatigung nicht anerkannt wurden. Dies ist auch darin begrundet, dass in den USA eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf 120 mph (193 km/h) bestand und die Bahngesellschaften im nachgewiesenen Vergehensfall mit hohen Geldstrafen oder gar Konzessionsverlust zu rechnen hatten.
Die wahrscheinlich mit Abstand schnellste Dampflokomotive war die Klasse S1 No. 6100 der Pennsylvania Railroad, eine 3’BB3’ h4-Duplex-Lokomotive, die im Jahr 1946 227,2 km/h (141,2 mph) erreicht haben soll. Wahrend sich Fachleute einig daruber sind, dass die Lokomotive die behauptete Geschwindigkeit durchaus erreichen konnte, so gibt es keinen Beleg fur eine solche Fahrt. Etliche angegebene Details wie das Datum oder die Vorgehensweise der Kontrollbehorde ICC lassen diesen Bericht unglaubwurdig erscheinen. Ahnliche Berichte, allerdings aus amerikanischen Quellen, sprechen von derartigen Geschwindigkeiten im Zusammenhang mit den T1-Lokomotiven. Keine dieser Lokomotiven wurde mit einem Messwagen ausgefahren.
Auch wenn eine Messung mit Stoppuhren (dabei wird der Zeitabstand zwischen dem Passieren von zwei Punkten mit bekannter Entfernung, beispielsweise Meilen- bzw. Kilometersteine, gemessen) nicht sehr genau ist, erscheint diese Geschwindigkeit angesichts einer auf dem Prufstand gemessenen Leistung der S1 von ca. 8000 PSi (6000 kW) durchaus realistisch. Das Gleiche gilt fur die der Klasse A der Chicago, Milwaukee, St. Paul & Pacific Railroad nachgesagten Geschwindigkeiten von bis zu 209 km/h, obwohl die mit einem Messwagen ermittelte Hochstgeschwindigkeit dieser modernsten und großten je gebauten Atlantic-Lokomotive (Achsfolge 2’B1’) nur bei 181 km/h lag.
Andere inoffizielle Rekorde erscheinen dagegen weniger glaubhaft. So soll im Jahr 1901 eine 2’C-Lokomotive der Savannah, Florida & Western Railway mit einem Treibraddurchmesser von nur 1854 mm eine Geschwindigkeit von 120 mph (193 km/h) erreicht haben. Auch die 127,1 mph (205 km/h), die eine Atlantic-Lokomotive der PRR-Klasse E2 im Jahr 1905 erreicht haben soll, erscheinen unglaubwurdig. Dennoch wurde dieser Wert von der PRR veroffentlicht und gilt in den USA manchmal als hochste Geschwindigkeit, die je eine Dampflokomotive erreichte.
= Ende der Dampflokomotiv-Ara in Europa und den USA =
In den USA wurden seit den 1940er Jahren zunehmend Diesellokomotiven eingesetzt, die sich durch Kuppeln mehrerer Einheiten flexibler an wechselnde Anforderungen von Zuggroße und Streckenverlauf anpassen ließen. Zudem waren die Diesellokomotiven schneller einsatzbereit als Dampflokomotiven, bei denen das Anheizen viele Stunden dauert. Allerdings wurden Dampflokomotiven in Betriebspausen in der Regel warm abgestellt. So zeichnete sich in den USA schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen mit den letzten Dampflokomotivlieferungen fur manche Eisenbahngesellschaft und mit dem Niedergang der großten Dampflokomotiv-Produzenten Baldwin, LIMA und ALCO in den 1950er und 1960er Jahren das Ende der Dampflokomotiv-Ara ab. Diesen Wandel der Antriebsart nennt man auch Traktionswandel.
In Deutschland behielten Dampflokomotiven weiterhin ihre zentrale Bedeutung fur die Eisenbahn, nachdem die Streckenelektrifizierung aus finanziellen Grunden, Widerstanden des Militars und infolge der Vernachlassigung der Eisenbahn durch die Nationalsozialisten ab Anfang der 1930er Jahre nur geringe Fortschritte gemacht hatte. Der Dieselmotor hatte sich bislang lediglich im Rangierdienst und bei Triebwagen bewahrt. Der Zweite Weltkrieg steigerte die Bedeutung der Eisenbahn und die Deutsche Reichsbahn erhielt wahrend des Krieges große Stuckzahlen neuer Kriegsdampflokomotiven geliefert. Nach dem Krieg setzte jedoch schnell die Abkehr von der Dampflokomotive ein. Zwar entwickelte die westdeutsche Deutsche Bundesbahn zunachst noch ein neues Programm fur Neubaulokomotiven, von den angedachten Baureihen wurden jedoch nur wenige tatsachlich und dann in uberwiegend geringer Stuckzahl beschafft. Entgegen den Erwartungen der Wehrmacht hatte sich zudem der elektrische Betrieb als vergleichsweise stabil und widerstandsfahig gegenuber den kriegsbedingten Unterbrechungen und Storungen gezeigt, so dass bald nach Kriegsende der elektrische Betrieb wieder weitgehend nutzbar war und seinen Wert bewiesen hatte. In den Westzonen begann daher bereits bald nach der Wahrungsreform 1948 die Elektrifizierung weiterer Strecken und die Entwicklung der neuen Einheitselektrolokomotiven sowie neuer Diesellokomotiven. In der sowjetischen Besatzungszone, spater der DDR, waren zunachst alle Einrichtungen fur den elektrischen Betrieb als Reparationsgut abgebaut und zusammen mit den noch vorhandenen Lokomotiven in die UdSSR abtransportiert worden. Erst 1955 konnte die Deutsche Reichsbahn (DR) unter Verwendung der von der Sowjetunion inzwischen zuruckgegebenen Lokomotiven und Ausrustungen der elektrische Betrieb wieder aufgenommen werden. Den durch elf Jahre Unterbrechung entstandenen Ruckstand bei der Elektrifizierung holte sie jedoch nie auf. Der Dampfbetrieb blieb daher noch lange unverzichtbar, neben einigen Baureihen von Neubaulokomotiven ertuchtigte die DR ihren Fuhrpark vor allem mittels der neubekesselten Reko-Lokomotiven. Durch die Verteuerung und Verknappung von flussigen Treibstoffen ab 1981 spielte der Dampflokomotivbetrieb, der bei der Deutschen Reichsbahn ursprunglich 1975 beendet werden sollte, bis weit in die 1980er Jahre eine wichtige Rolle. Aber auch in der Bundesrepublik waren die mit heimischer Stein- oder billiger Importkohle gefeuerten Dampflokomotiven lange unentbehrlich. Eine zeitgenossische Fernsehdokumentation wies 1958 nicht nur auf die hohen Brennstoff- und Wartungskosten hin, sondern auch darauf: „Dafur besitzen die Dampflokomotiven einen anderen jedoch etwas fragwurdigen Vorzug: Sie halten ewig. 30, 40 und 50 Jahre. Sie stehen dem technischen Fortschritt einer notwendigen Rationalisierung einfach dadurch im Wege, dass sie nicht kaputt gehen.“ Zu dieser Zeit wurden von 11.000 Lokomotiven der Bundesbahn noch 10.300 mit Dampf betrieben.
Im mittleren Europa waren Diesellokomotiven keine so große Konkurrenz fur die Dampflokomotiven wie in den USA. In den Alpenlandern Osterreich, der Schweiz sowie auch im deutschen Bayern waren die Dampflokomotiven schon in den 1960er Jahren weitgehend von elektrischen Lokomotiven verdrangt worden. Fur diese boten die Alpenlander mit ihrer Elektrizitatserzeugung aus Wasserkraftwerken gunstigere Einsatzbedingungen, und umgekehrt boten Elektrolokomotiven durch die Uberlastbarkeit ihrer Motoren Vorteile auf steigungsreichen Strecken. Daruber hinaus setzen Elektrolokomotiven der Lange von Tunneln im Gegensatz zu abgasausstoßenden Dampf- und Diesellokomotiven beinahe keine Grenzen. Die Schweiz als in beiden Weltkriegen neutrales – und damit von kriegfuhrenden Staaten umringtes – Land setzte auch aus Grunden der Versorgungssicherheit auf den Ersatz importierter Kohle durch heimische Wasserkraft. Mit zunehmender Elektrifizierung ging in Mitteleuropa der Dampflokomotivbetrieb auch auf Flachlandstrecken nach und nach zuruck.
Die Sowjetunion verkundete 1956, den Dampflokomotivbau einzustellen. Begrundet wurde dies mit der problematischen Wasserversorgung in bestimmten Regionen sowie mit dem Vorhandensein eigener Olvorkommen. Wahrend der Dampfbetrieb offiziell in den 1970er Jahren eingestellt wurde, wurden tausende Dampflokomotiven als strategische Reserve konserviert abgestellt (oder wie in der Oblast Kaliningrad bis etwa 1992 regelmaßig unter Dampf stehend, hier vor allem breit- und regelspurige TE, Ex-DR 52). Infolge von Problemen bei der Energieversorgung wurde der Dampfbetrieb bis etwa 1999 regional immer wieder kurzzeitig aufgenommen.
Als erste europaische Staatsbahngesellschaft beendeten die Niederlandischen Staatsbahnen den Dampflokomotivbetrieb Ende 1957, offiziell mit einer letzten Fahrt der Lokomotive 3737 am 7. Januar 1958. 1968 beendete British Railways den regularen Dampfbetrieb (mit Ausnahme der schmalspurigen Vale of Rheidol Railway), 1975 stellte auch die franzosische SNCF ihre letzten Dampflokomotiven ab.
1967 fuhr der letzte offizielle SBB-Dampfzug in der Schweiz. Einzig die Brienz-Rothorn-Bahn und die Dampfbahn Furka-Bergstrecke setzen heute weiterhin Dampflokomotiven im Regelbetrieb ein. Die Brienz-Rothorn-Bahn beschaffte ab 1992 auch neu konstruierte Lokomotiven der Reihe H 2/3.
Die Deutsche Bundesbahn stellte 1977 den Dampflokomotivbetrieb ein; letzte Einsatzbetriebswerke (Bw) waren: Bw Emden und Bw Rheine, Bw Emden mit den tatsachlich letzten Fahrten am 26. Oktober 1977 mit zwei Lokomotiven der Reihe 043, deren letzte, 043 903, 16.04 Uhr abgestellt wurde. Daraufhin gab es fur einige Zeit auf dem Netz der DB ein Dampflokverbot, das jedoch sukzessive gelockert und schließlich ganz abgeschafft wurde. Bei der Deutschen Reichsbahn endete ihr Einsatz auf Regelspur am 29. Oktober 1988 beim Bw Halberstadt mit einem Exemplar der Reihe 50.35. Als Heizlokomotive und im Plandampf wurden sie allerdings weit daruber hinaus, vereinzelt auch noch nach dem Jahr 2000 eingesetzt. Bis Anfang der 1990er Jahre gab es in Deutschland zudem noch Dampflokomotiven bei einigen Werksbahnen, zuletzt beim Eschweiler Bergwerksverein in Alsdorf und Siersdorf, Dampfspeicherlokomotiven werden auf einigen Werksbahnen, zum Beispiel fur den schweren Verschub von Kohlezugen im Grosskraftwerk Mannheim, bis heute eingesetzt. Durch den Zusammenschluss von DB und DR ubernahm die Deutsche Bahn AG noch einige schmalspurige Dampflokomotiven der sachsischen und mecklenburgischen Schmalspurbahnen. Diese Bahnen mitsamt den Fahrzeugen wurden jedoch sukzessive bis 2004 an verschiedene ortliche Betreiber verkauft, wodurch im Bestand der DB nur noch Museums-Dampflokomotiven verbleiben.
Die CSD beendeten den Dampflokomotivbetrieb im September 1981 mit einer Festveranstaltung in Liberec.
Bei den Osterreichischen Bundesbahnen waren Dampflokomotiven (auf einer Zahnradbahn) regular bis zum Jahr 2005 im Einsatz. Der regulare Einsatz von Dampflokomotiven auf Normalspurbahnen endete 1978. Als eiserne Reserve blieben Dampflokomotiven aber bis 1982 im Bestand der OBB. Der planmaßige Dampfbetrieb endete auf unkonventionelle Weise, namlich durch den Verkauf der letzten Strecke mit Dampflokomotivbetrieb – der Schafbergbahn – an die Salzburg AG.
Außerhalb Europas und der USA wurden die Dampflokomotiven noch langer betrieben und zumeist durch Diesellokomotiven ersetzt. In einigen Gebieten waren Dampflokomotiven auch nach 2010 noch im Einsatz, wie z. B. auf den Staatsbahnsystemen in Nordkorea, Myanmar und Simbabwe sowie auf Industrie- und Landwirtschaftsbahnen in Kuba, Indonesien, Bosnien-Herzegowina, Eswatini, Rumanien und der Volksrepublik China.
Gegenwart = Neubaudampflokomotiven =
Von Grund auf neue Lokomotiven Obwohl schon in den 1970er Jahren das Kapitel der Dampflokomotiven abgeschlossen schien, lieferte die Schweizer Maschinenfabrik SLM (heute DLM) 1992 drei Prototypen neuer leichtolgefeuerter Dampflokomotiven fur Zahnrad-Schmalspurbahnen an die Brienz-Rothorn-Bahn (BRB), die OBB und die Zahnradbahn Montreux–Glion–Rochers-de-Naye aus. Die Fahrzeuge werden dort eingesetzt, wo Dampflokomotiven dank der hoheren Attraktivitat fur Touristen bei mit Diesellokomotiven vergleichbaren Betriebskosten deutlich hohere Einnahmen versprechen. 1996 lieferte SLM funf weitere Exemplare aus, drei an die OBB zum Einsatz auf der Schafbergbahn und zwei an die BRB.
Die Transports Montreux–Vevey–Riviera verkaufte die 1992 fur Montreux–Glion–Rochers-de-Naye gekaufte Lokomotive im Sommer 2004 an die BRB, statt sie nur gelegentlich unter dem Fahrdraht auf den Rochers de Naye fahren zu lassen.
Bei den beiden Bergbahnen auf den Schafberg und auf das Brienzer Rothorn tragen heute je vier DLM-Maschinen die Hauptlast des Verkehrs. Die Dieseltriebwagen bzw. die Diesellokomotiven stehen nur noch als Reserve bereit. Die alten, teils uber 100-jahrigen kohlegefeuerten Lokomotiven werden noch fur Sonderfahrten eingesetzt, sind in Betrieb und Vorbereitung aber viel teurer als die neuen Triebfahrzeuge.
Nachbauten alter Lokomotiven Zwanzig Jahre nach dem Ende des Dampflokneubaus in Deutschland – 1988 wurde eine letzte Serie von Dampfspeicherlokomotiven fur Industriebetriebe der DDR in Meiningen gefertigt – entstanden im Jahr 2009 wieder zwei Neubauten im Dampflokwerk Meiningen. Es sind Nachbauten deutscher Schmalspurlokomotivtypen: Zum einen wurde fur die Baderbahn Molli eine vierte Lokomotive der DR-Baureihe 99.32 gebaut, zum anderen erhielt der Verein zur Forderung Sachsischer Schmalspurbahnen einen Nachbau einer sachsischen I K. Beide Lokomotiven wurden im Sommer 2009 fertiggestellt.
Im englischen Darlington hat der A1 Steam Locomotive Trust eine 2’C1’ h3-Dampflokomotive der LNER-Klasse A1 (Peppercorn) von Grund auf nachgebaut. Diese Lokomotive entstand nach den alten Planen aus den 1940er Jahren, aber mit heutigen Materialien und Methoden. Sie ging 2008 in Betrieb. Nach dem Erfolg des Nachbaus hat der Trust 2014 mit dem Nachbau einer Lokomotive der LNER-Klasse P2, der starksten je gebauten britischen Klasse von Schnellzuglokomotiven, begonnen. Auch andere britische Bahnbetriebe und Museumsbahnen wie z. B. die Ffestiniog Railway und die Bluebell Railway haben bereits historische Lokomotiven nachgebaut bzw. planen derartige Projekte.
= Einsatz von Dampflokomotiven im deutschsprachigen Raum =
Einen planmaßigen regelmaßigen, teils taglichen Betrieb mit Dampflokomotiven vor Zugen des offentlichen Verkehrs gibt es im deutschsprachigen Raum noch auf verschiedenen Schmalspurbahnen, die vor allem touristischen Zwecken dienen:
Achenseebahn (Tirol)
Brienz-Rothorn-Bahn (Berner Oberland)
Chiemseebahn (Bayern)
Fichtelbergbahn (Sachsen)
Harzer Schmalspurbahnen (Sachsen-Anhalt, Thuringen)
Loßnitzgrundbahn (Sachsen)
Baderbahn Molli (Mecklenburg-Vorpommern)
Rugensche Kleinbahn (Mecklenburg-Vorpommern)
Weißeritztalbahn (Sachsen)
Zittauer Schmalspurbahn (Sachsen)
Daruber hinaus setzen diverse Touristik- und Museumsbahnen im gesamten deutschsprachigen Raum mehr oder weniger regelmaßig Dampflokomotiven ein, teils auf eigenen Strecken, teils als Sonderfahrten auf den Netzen der staatlichen und privaten Eisenbahninfrastrukturunternehmen.
In Thuringen setzte zudem die DB Regio AG auf Bestellung des Landes seit 1998 saisonal planmaßige Dampfzuge ein. Die Zuge „Rodelblitz“ und „Elstertal“ verkehrten an mehreren Wochenenden in Thuringen und in die benachbarte Tschechische Republik. Das Land Thuringen stellte sein Nostalgieprogramm jedoch 2022 ein. Seitdem betreibt der im ehemaligen Bahnbetriebswerk Eisenach ansassige Museumsbahnverein IGE Werrabahn den „Rodelblitz“ in Eigenregie als Sonderfahrten.
In Deutschland sind rund 30 bis 40 betriebsfahige normalspurige Dampflokomotiven erhalten, die Zahl schwankt in Abhangigkeit von den regelmaßig erforderlichen Hauptuntersuchungen. Viele weitere Exemplare finden sich nicht betriebsfahig in Museen, als Denkmaler aufgestellt oder werden zurzeit betriebsfahig aufgearbeitet.
Die ehemals schnellste betriebsfahige Dampflokomotive der Welt, die 18 201 befindet sich seit 2019 im Eigentum der Wedler Franz Logistik. Die Lokomotive wurde sporadisch auch vor Sonderzugen eingesetzt. Nachdem sie im Mai 2018 Fristablauf hatte, ist sie nicht mehr einsetzbar. Eine erneute Aufarbeitung im Bahnwerk Neustrelitz ist in Arbeit.
= Dampflokomotiveinsatz außerhalb des deutschsprachigen Raums =
In Polen werden vom Bahnbetriebswerk Wolsztyn (Wollstein) drei Regelspur-Dampflokomotiven planmaßig fur touristische Zwecke eingesetzt, Stand: 2017
In Bosnien-Herzegowina werden noch Dampflokomotiven sowohl auf Schmal-, als auch auf Regelspur eingesetzt. Betreiber sind Werkbahnen diverser Kohleminen. Meist werden die dortigen Dampflokomotiven jedoch inzwischen ebenfalls nur noch auf Anfrage und gegen Bezahlung fur interessierte Eisenbahnfans eingesetzt.
In der Volksrepublik China hielten sich Dampflokomotiven im Streckeneinsatz bis ins 21. Jahrhundert. Hier erreichten vor allem die Einsatze der schweren Guterzuglokomotiven der CR-Baureihe QJ auf der erst 1995 fertiggestellten Jitong-Linie uber den Jipeng-Pass in Nordchina internationale Bekanntheit unter Eisenbahnfreunden. Grund fur diese lange dauernde Ara der Dampflokomotiven in China waren die gunstige Kohleversorgung, die einfache Instandhaltung, die ausreichende Arbeitskraft zum personalaufwandigen Betrieb der Dampflokomotiven sowie die noch vorhandene Infrastruktur. Zudem waren die vorhandenen Dampflokomotiven zumeist erst einige Jahre alt, die letzte Dampflokomotive der CR-Baureihe SY wurde im Oktober 1999 fertiggestellt (SY 1772). Der letzte planmaßige Personenzug mit Dampftraktion auf der Jitong-Bahn fuhr am 10. Dezember 2005, Anfang 2006 wurden dort auch die letzten Guterzuge von Dampflokomotivbespannung auf die Beforderung mit alteren Staatsbahndiesellokomotiven der Reihe DF4 umgestellt. Seitdem wurden regulare Dampflokomotiv-Fahrten lediglich in Rangier- und Zubringerdiensten in Tagebau-Steinkohlegruben oder kohleverarbeitenden Industriebetrieben, in seltenen Fallen auch fur den Personenverkehr durchgefuhrt. Im Januar 2024 endeten die letzten regularen Einsatze von Dampflokomotiven in China, bis dahin waren die letzten Lokomotiven der fruheren Staatsbahnbaureihe JS im Steinkohlentagebau von Sandaoling in der Provinz Xinjiang noch im Rangierbetrieb eingesetzt worden. Mit Ausnahme des noch vorhandenen Dampfbetriebs in Bosnien-Herzegowina endete damit, abgesehen von den weiterhin statt findenden Einsatzen auf Touristik- und Museumsbahnen, der letzte bekannte regulare Betrieb von Dampflokomotiven weltweit. Eventuell werden einzelne Dampflokomotiven noch in Nordkorea regular eingesetzt, hierzu liegen jedoch keine ausreichend sicheren Angaben vor.
Ahnlich wie in Deutschland, Osterreich und der Schweiz werden auch in diversen Landern weltweit Dampflokomotiven noch regelmaßig auf Touristik- und Museumsbahnen oder fur Sonderfahrten eingesetzt. Hierzu zahlen bspw. die Darjeeling Himalayan Railway und die Nilgiri Mountain Railway in Indien oder Zuge auf der Bahnstrecke Ingeniero Jacobacci–Esquel in Argentinien. Eine große Anzahl solcher Bahnen gibt es vor allem in Großbritannien, diverse der dortigen Bahnen verkehren in der Sommersaison auch taglich, wie etwa die Ffestiniog Railway in Wales oder die sudenglische Bluebell Railway und die schmalspurige Romney, Hythe and Dymchurch Railway. Auch in den USA weisen mit Bahnen wie der Strasburg Rail Road in Pennsylvania oder der schmalspurigen Cumbres and Toltec Scenic Railroad diverse Museums- und Touristikbahnen einen teils taglichen Betrieb auf.
Rezeption in Kunst und Kultur = Literatur =
Die kleine blaue Lokomotive (The Little Engine That Could, 1906/1910/1930)
Thomas, die Tenderlok (Thomas the Tank Engine, seit 1945) von Wilbert Vere Awdry
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivfuhrer (1960) von Michael Ende
= Modellbau =
Nachbildung von Dampflokomotiven im Modellbau
= Filme =
Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat (1895), die Bruder Lumiere
Der General (1926) mit Buster Keaton
Kamerad, hab' acht! (1928) Produktion: Hoesch AG, Eisen- und Stahlwerk Westfalenhutte, Dortmund (Deutschland, 1928)
Das Stahltier (1934) mit Aribert Mog, Regie: Willy Zielke
La Bete Humaine (1938) mit Jean Gabin
The Great Locomotive Chase (USA, 1956) Produktion: Walt Disney
Die kleine Lok Ivor (Fernsehserie, 1958–1963) (GB: Ivor the Engine)
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivfuhrer (1961/1962), Adaption durch die Augsburger Puppenkiste fur den Hessischen Rundfunk (HR), schwarz-weiß, aus je funf Teilen
Durchbruch Lok 234 (1963) mit Erik Schumann
Jim Knopf und Lukas der Lokomotivfuhrer (1977/1978), Adaption durch die Augsburger Puppenkiste fur den Hessischen Rundfunk (HR), farbig, aus je vier Teilen
Jim-Knopf-Zeichentrickserie (1999) mit 52 Folgen
= Bildende Kunst =
William Turner: Rain, steam and speed, the Great Western Railway (Regen, Dampf und Geschwindigkeit), 1844, Ol auf Leinwand
Adolph von Menzel: Die Berlin-Potsdamer Bahn, 1847, Ol auf Leinwand
Paul Friedrich Meyerheim: Zyklus Lebensgeschichte einer Lokomotive, 1872–1876, Ol auf Kupfer
Claude Monet: Ankunft eines Zuges im Gare Saint-Lazare, 1877, Ol auf Leinwand
Erich Heckel: Lokomotive, 1916, Aquarell
Hermann Pleuer: diverse Bilder, vor allem von Lokomotiven und Strecken der Koniglich Wurttembergischen Staats-Eisenbahnen
Vilem Kreibich: diverse Lokomotivgemalde, diverse Maltechniken
Wolf Vostell: La Tortuga, 1988, Großplastik
= Musik =
Hans Christian Lumbye: Kopenhagener Eisenbahn-Dampf-Galopp
Philipp Fahrbach der Altere: Locomotiv-Galopp, Op. 31, 1838
Wallace Saunders: The Ballad of Casey Jones, US-amerikanisches Lied, um 1900
Arthur Honegger: Pacific 231, sinfonischer Satz fur Orchester, 1924
Duke Ellington: Daybreak Express 1933
Jethro Tull: Locomotive Breath, Album Aqualung, 1971
= Gedichte und Balladen =
Gerrit Engelke: Lokomotive, Gedicht, 1921
Theodor Fontane: Die Bruck’ am Tay, Ballade, 1880.
Siehe auch Geschichte der Eisenbahn
Liste in Deutschland vorhandener Dampflokomotiven
Geschwindigkeitsweltrekorde fur Dampflokomotiven
Literatur Gunther Klebes: Die Dampflokomotiven auf der Eisenbahntechnischen Ausstellung in Seddin anlaßlich der Eisenbahntechnischen Tagung in Berlin in der Zeit vom 21. September bis 5. Oktober 1924. (Eisenbahnen und Museen Monographien und Mitteilungen Folge 13/14). Karlsruhe, Deutsche Gesellschaft fur Eisenbahngeschichte, 1975, ISBN 3-921700-13-2.
Rudolf Heym: Wie funktioniert sie eigentlich, die Dampflok? GeraMond, Munchen 2004, ISBN 3-7654-7255-7.
Dirk Endisch: So funktioniert die Dampflok. Transpress, Stuttgart 2003, ISBN 3-613-71221-0.
Siegfried Bufe: Abschied von der Dampflok. Eisenbahn-Kurier, Freiburg i. Brsg. 1978, 1985, ISBN 3-88255-500-9.
Erhard Born: 2 C 1. Franckh, Stuttgart 1965.
Erhard Born, Herrmann Maey: Die Regel-Dampflokomotiven der deutschen Reichsbahn und der deutschen Bundesbahn. Verkehrswissenschaftl. Lehrmittelges, Frankfurt am Main 1953.
Wolfgang Messerschmidt: Lokomotiven der Maschinenfabrik Esslingen 1841 bis 1966. Ein Kapitel internationalen Lokomotivbaues. A. Steiger, Solingen 1984, ISBN 3-921564-67-0.
Wolfgang Messerschmidt: Taschenbuch Deutsche Lokomotivfabriken. Ihre Geschichte, ihre Lokomotiven, ihre Konstrukteure. Kosmos, Stuttgart 1977, ISBN 3-440-04462-9.
Joe G. Collias: Big Boy und Co. Das Ende der Dampflok-Ara in den USA. Heel-Verlag, Konigswinter 1995, ISBN 3-89365-431-3.
Arnold Haas: Dampflokomotiven in Nordamerika. USA und Kanada. Franckh, Stuttgart 1978, ISBN 3-440-04493-9.
George H. Drury: Guide to North American Steam Locomotives. History and development of steam power since 1900. 3. Auflage. Railroad reference series. no. 8. Kalmbach Books, Waukesha 1993, 1999, ISBN 0-89024-206-2.
Leopold Niederstrasser: Leitfaden fur den Dampflokomotivdienst. ISBN 3-921700-26-4.
Autorenkollektiv: Die Dampflokomotive. Transpress, Berlin 1965, 1993, ISBN 3-344-70791-4.
Adolph Giesl-Gieslingen: Anatomie der Dampflokomotive international. Slezak, Wien 2004, ISBN 3-85416-194-8.
Karl-Ernst Maedel, Alfred B. Gottwaldt: Deutsche Dampflokomotiven – die Entwicklungsgeschichte. Transpress, Berlin 1994, ISBN 3-344-70912-7. (Sonderausgabe 1999 mit gleicher ISBN).
C. Hamilton Ellis: Die Welt der Eisenbahn. Die Geschichte der Lokomotiven, Wagen und Zuge aus aller Welt. Stuttgart: Franckh’sche Verlagshandlung, 1972, ISBN 3-440-03571-9 (abgesehen von einem kurzen Ausblick auf Lokomotiven mit Diesel-hydraulischem Antrieb ein Uberblick zur Entwicklung der Dampflokomotiven; wiss. Beratung durch Marie-Anne Asselberghs, Niederlande, Direktorin des Niederlandischen Eisenbahnmuseums in Utrecht sowie weitere internationale Eisenbahnexperten aus Schweden, Italien, USA, Japan und Deutschland)
Bundesbahndirektion Hannover: 1843–1983. 140 Jahre Eisenbahndirektion Hannover. Hannover o. J. (1983), S. 67–71.
Weblinks Aufbau und Technik der Dampflokomotive – Deutsche Gesellschaft fur Eisenbahngeschichte
Suche nach Dampflokomotiven. In: Deutsche Digitale Bibliothek
Literatur von und uber Dampflokomotiven im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Martin Igel: Handbuch des Dampflokomotivbaues. Krayn, Berlin 1923. (Digitalisiert auf den Seiten der TU Graz)
Building Steam Locomotives – 1930's Trains & Railways Educational Film – S88TV1 Youtube-Video (16:58) (englisch) – Tomorrow Always Comes, 19. Mai 2013
Einzelnachweise
|
Die Dampflokomotive (kurz Dampflok, als Metapher auch Dampfross oder Stahlross) ist eine Bauform der Lokomotive, die mit Wasserdampf angetrieben wird. Neben der weit verbreiteten Regelbauart mit Dampferzeuger und Kolbendampfmaschine mit Kurbeltrieb-Fahrwerk gibt es Sonderbauarten wie feuerlose Lokomotiven, elektrische Dampflokomotiven, Zahnraddampflokomotiven, solche mit Einzelachs- oder Turbinenantrieb, Kondens- und Hochdrucklokomotiven.
Dampflokomotiven waren die ersten selbstfahrenden, maschinell angetriebenen Schienenfahrzeuge und dominierten den Schienenverkehr von seiner Entstehung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dampflokomotiven waren auch Trager der nunmehr einsetzenden rasanten Entwicklung der Transporttechnik sowie des nationalen wie des internationalen Handels. Die Dampflokomotive ist ein Symbol fur das Industriezeitalter: Ohne die erst durch sie ermoglichten Transportleistungen riesiger Mengen von Rohstoffen, Energietragern (Kohle) und Waren auf dem Landweg ware die etwa Mitte des 19. Jahrhunderts voranschreitende Industrialisierung nicht moglich gewesen. Mit dem Aufkommen modernerer Antriebstechnologien wurden die Dampflokomotiven wegen ihres vergleichsweise schlechten Wirkungsgrades und wegen des hohen Bedienungs-, Wartungs- und Reparaturaufwandes nach und nach von Diesel- und Elektrotriebfahrzeugen abgelost. Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ist der Neubau von Dampflokomotiven eine Ausnahme.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Dampflokomotive"
}
|
c-13950
|
Die Lockwitztalbahn war eine Uberlandstraßenbahn im Lockwitztal bei Dresden zwischen Kreischa und Niedersedlitz. Die 9,2 km lange Strecke wurde in den Jahren 1905 und 1906 errichtet. 1977 wurde der Betrieb eingestellt.
Planung und Bau Die Planungen fur eine Schienenverbindung zwischen Kreischa und Niedersedlitz reichen bis 1895 zuruck. Zu diesem Zeitpunkt plante das Unternehmen Aktiengesellschaft Elektrizitatswerke O. L. Kummer & Co. von Oskar Ludwig Kummer in Niedersedlitz den Bau einer Bahn durch das Lockwitztal. Diese sollte Teil eines Netzes von Uberlandstraßenbahnen um Dresden sein und von Kreischa weiter bis Deuben fuhren. Trotz einer Genehmigung arbeitete Kummer jedoch zunachst an der Dresdner Vorortsbahn. Mitte 1901 ging das Unternehmen in Konkurs, damit waren auch die Plane zunachst begraben.
Da die Gemeinden des Lockwitztales aus wirtschaftlichen Grunden dennoch die Straßenbahn haben wollten, richteten sie sich 1903 mit einer Petition an die 2. Kammer des Landtages und forderten den Staat auf, die Umsetzung in die Hand zu nehmen. Schließlich sei mit der Genehmigung und einer Beihilfenzusage an Kummer die Notwendigkeit der Straßenbahn bestatigt worden. Nach Ablehnung der Petition schlossen sich am 15. November 1904 sieben Gemeinden zu einem Verband zusammen, um die rund 9,2 Kilometer lange Strecke zu realisieren. Mitglieder im Verband waren die Gemeinden Kreischa, Lockwitz, Sobrigau, Gombsen, Lungkwitz, Niedersedlitz und Saida/Wittgensdorf. Die Planung oblag dem Ingenieur Schwarz, der die Unterlagen von Kummer aus dessen Konkursmasse erwarb und weiterentwickelte. Die Ausfuhrung lag bei den Vereinigten Felten & Guilleaume-Lahmeyer Werken AG. Am 24. August 1905 begann der Bau der meterspurigen Strecke. Dabei wurden die Fahrdrahte und Profile so angelegt, dass auch aufgebockte Eisenbahnwagen verkehren konnen. Das Depot wurde in Kreischa angelegt und im Niedersedlitzer Bahnhof sollte die Wendeanlage der Dresdner Vorortsbahn mitgenutzt werden. Bei Eroffnung der Bahn am 2. Marz 1906 endete sie aber noch auf der Bahnhofstraße, 200 m vor dem Bahnhof, da der gemeinsame Endpunkt noch nicht eingerichtet war. Am 3. Marz 1906 begann der offentliche Betrieb.
Betrieb im Gemeindeverband Die Straßenbahn ubernahm neben dem Personentransport auch den Transport der Post entlang der Strecke, aus diesem Grund lag das Postamt in Kreischa direkt neben dem Straßenbahndepot. Die Preise lagen zu Beginn bei 35 Pf fur die gesamte Strecke, 10 Pf von Niedersedlitz bis Lockwitz, Oberer Gasthof. Am 16. Mai 1906 wurden Haltestellen eingefuhrt, da das Halten bei Bedarf den Betrieb zu sehr behinderte. In den ersten Jahren kam es außerdem haufig zu Problemen, durch Baumangel, Fehler an den Fahrzeugen oder Hochwasser und Frost. Zu starkem Verschleiß fuhrten auch die vielen Kurven im Tal. 1907 wurde die Wagenhalle in Kreischa fertiggestellt. Im gleichen Jahr eingefuhrte Verstarkerfahrten zwischen Niedersedlitz und Lockwitz entfielen im Jahr darauf wegen zu geringer Nachfrage wieder fast vollstandig. Auch die gemeinsame Nutzung des Niedersedlitzer Bahnhofsvorplatzes als Endpunkt mit der Dresdner Vorortsbahn dauerte nicht lang. Ab 1907 fuhr die Lockwitztalbahn nur noch bis zum Vorplatz auf der anderen Seite des Bahnhofes. Zunachst war der Betrieb der Bahn ein Verlustgeschaft, auch weil die Bahn kaum fur den Guterverkehr genutzt werden konnte. 1909 wurde zusammen mit dem Gemeindeverband auf dem Wilisch eine Bergwirtschaft eroffnet. Dies steigerte die Attraktivitat der Bahn und ließ die Fahrgastzahlen ansteigen. Da die Einnahmen dennoch nicht genugten, wurden 1912 die Fahrpreise erhoht. Bis 1913 war es gelungen, schwarze Zahlen zu schreiben.
Wahrend des Ersten Weltkriegs musste der Fahrplan aus Mangel an Personal eingeschrankt werden. Daher wurden nun erstmals Frauen eingestellt. Ab 1915 gab es vermehrt Gutertransporte, da der Transport mit Pferden wegfiel. Einige der Beiwagen wurden daher umgerustet. Zum Ende des Krieges und in den Jahren danach gab es bereits mehrere Preiserhohungen, da die Kosten weiter stiegen. Zudem musste die Bahn bereits durch verschiedene Fehlinvestitionen wie den Ankauf von Wagen aus Zittau, Kredite aufnehmen. Auch der im Krieg entstandene Guterverkehr konnte nicht weitergefuhrt werden. So kam die Bahn 1921 schließlich unter Zwangsverwaltung des Staates. Wegen der zusatzlichen finanziellen Belastungen durch die Inflation wurde 1923 auch eine Stilllegung in Betracht gezogen. 1924 verbesserte sich die Lage wieder und der Betrieb wurde an einen Zweckverband von Gemeinden und Staat ubergeben, die Zwangsverwaltung blieb jedoch bestehen. Im gleichen Jahr fiel, durch die Umspurung der Vorortsbahn und deren Aufgehen im stadtischen Netz, der gemeinsame Endpunkt in Niedersedlitz endgultig weg.
Fur den weiteren Betrieb waren weiterhin Darlehen notwendig geblieben, auch weil immer wieder Erneuerungen der Wagen und Umbauten der Strecke vorgenommen wurden. Nachdem man ein Darlehen der Dresdner Uberland-Verkehrsgesellschaft (DRUVEG) nicht zuruckzahlen konnte, wurde die DRUVEG am 1. Januar 1929 Eigentumerin der Bahn.
DRUVEG und Dresdner Verkehrsbetriebe Im Gegensatz zu den anderen Strecken der DRUVEG, die von der Dresdner Straßenbahn AG betrieben wurden, ubernahm dies im Fall der Lockwitztalbahn die DRUVEG selbst. Die Verleihungsurkunde datiert vom 22. November 1928. In der Folgezeit wurde die Strecke umfassend instand gesetzt und modernisiert, außerdem wurden Ubergangstickets fur die Nutzung der Dresdner Straßenbahnlinien eingefuhrt. Dies fuhrte zunachst zu einem wirtschaftlicheren Betrieb. Als 1933/34 jedoch die Buslinie D nach Lockwitz eingerichtet wurde, zunachst zum unteren Gasthof, dann bis Plan, sanken die Fahrgastzahlen. In der Folge wurde der Betrieb eingeschrankt und einige Ausweichen aufgegeben. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs stiegen die Fahrgastzahlen wieder, auch weil der Busverkehr reduziert werden musste. Dazu kamen jedoch Personalmangel und Einschrankungen durch die Verdunklung.
1941 ubernahm die Dresdner Straßenbahn AG die DRUVEG, sodass die Lockwitztalbahn ein Teil der Dresdner Straßenbahn wurde. Sie erhielt damals die Liniennummer 31, die sie bis zur Einstellung fuhrte. Mit dem Eigentumerwechsel wurde auch der cremefarbene Anstrich mit den drei rotbraunen Zierstreifen sowie der stadtische Tarif ubernommen. Nun verkehrte die Bahn im 30-Minuten-Takt, wofur eine neue Ausweiche gebaut werden musste. Am 14. Februar 1945 wurde die Bahnstrecke durch Bombenangriffe in Lockwitz beschadigt. Am 10. Marz waren die Schaden bereits wieder behoben und die ganze Strecke konnte bedient werden. Da der Gauleiter seinen Sitz nach den Luftangriffen auf Dresden nach Lockwitz hatte verlegen lassen, war die Bahn noch bis Kriegsende von Beschuss durch Flieger betroffen. Gleichwohl hatte die Weisung, den Betrieb ab 7. Mai 1945 gegen 17.00 Uhr einzustellen, den Einsatzbahnhof Kreischa nicht erreicht. So ruckten noch am 8. Mai die Wagen planmaßig aus und erst gegen 10.00 Uhr wurde der Betrieb eingestellt: Die „Linie 31“ war damit die letzte planmaßig verkehrende Linie im Netz der Dresdner Verkehrsbetriebe vor dessen kompletter Einstellung.
Einen Aufschwung erlebte die Bahn in der Nachkriegszeit. Aufgrund der ins Umland gezogenen Dresdner Bevolkerung erhohte sich der Verkehr in Richtung Dresden. Außerdem wurde die Strecke vermehrt fur den Guterverkehr genutzt. Der Materialmangel und die Zerstorungen in der Stadt machten jedoch die notigen Reparaturen schwierig. Nach 1950 wurden die Wagen der Linie 31 generaluberholt. Dabei wurde bei einem Teil der Triebwagen die Panoramaverglasung der Stadtspurwagen ubernommen, was die Ubersicht fur den Straßenbahnfahrer verbesserte. Ebenfalls erhielten die Triebwagen Schiebeturen. Weiterhin wurden von den Dresdner Verkehrsbetrieben kleine Beiwagen ubernommen und auf 1.000 mm Spurweite umgerustet. Außerdem wurde ein Arbeitstriebwagen und der Salzwagen reaktiviert und 1952 ein Triebwagen aus Bad Schandau (Kirnitzschtalbahn) angeschafft, um einen Viertelstundentakt anbieten zu konnen. 1956 belegte eine Diplomarbeit, dass die Lockwitztalbahn pro Tag von etwa 2.400 Fahrgasten genutzt wird, dazu kamen Ausflugler und Schulgruppen. Die Wirtschaftlichkeit gegenuber einer Buslinie war mit dieser Arbeit belegt worden.
Entsprechend sollte die Straßenbahn weiter betrieben werden und ab 1961 wurden an der Strecke mittlerweile dringend notwendige Erneuerungen durchgefuhrt. Ende der 1960er Jahre wurden aus Erfurt acht Triebwagen der dortigen Serie 82 bis 117 beschafft, die zwischen 1938 und 1944 gebaut worden waren. Bis auf den Triebwagen 9 (240 101) aus dem Jahr 1926 konnten danach alle Altbauwagen bis 1974 außer Dienst gestellt werden. Zu den Triebwagen wurden von den Dresdner Verkehrsbetrieben acht Werdauer Beiwagen aus dem Jahr 1948 aus dem Stadtnetz umgespurt. Die neuen Fahrzeuge der Lockwitztalbahn erhielten abweichend von der normalen Dresdner Farbgebung einen grunen Anstrich mit cremefarben abgesetzten Fenstern.
Wahrend der 1960er Jahre sanken die Fahrgastzahlen, vor allem wegen der Buslinien, die nun viele Orte oberhalb des Lockwitztales und Kreischa anfuhren. In den 1970er Jahren kam es durch den dichter werdenden Straßenverkehr immer wieder zu Konflikten mit Kraftfahrzeugen und der Ausfluglerverkehr ließ nach. So beschloss die Stadt bereits 1974 in ihrem Verkehrskonzept den Ersatz der Straßenbahn durch eine Buslinie. 1975 stellten die Verkehrsbetriebe fest, dass ein Weiterbetrieb nach den aktuellen Anforderungen etwa genauso teuer wie eine Umspurung auf Stadtspur und teurer als eine Umstellung auf Busverkehr ware. Außerdem galt ab dem 22. Januar 1976 in der DDR eine neue Betriebsordnung fur den Straßenbahnbetrieb. Diese enthielt neue Sicherheitsvorschriften, die bis dahin noch nicht umgesetzt waren. So beschlossen Rat der Stadt und Stadtverordnetenversammlung im Juni 1977 die Stilllegung, die nun auf großen Unmut in der betroffenen Bevolkerung stieß, obwohl durch den Busverkehr zumindest die Fahrtzeit von 30 auf 21 Minuten verkurzt werden konnte. Am 18. Dezember 1977 fand (8.57 Uhr ab Kreischa, 9.47 ab Niedersedlitz) die letzte Fahrt statt. Der Verkehr wurde parallel von der neu geschaffenen Buslinie 96 ubernommen. Seit der Buslinienanderung im Jahr 2009 verkehrt nun die Linie 86.
Nach der Stilllegung Nach der Stilllegung wurden drei Triebwagen nach Brandenburg abgegeben. Die anderen funf Erfurter Wagen fuhren danach auf der Kirnitzschtalbahn. Der Triebwagen 240 101 wurde in der Werkstatt des Betriebshofes Trachenberge aufgearbeitet und erhielt im Kirnitzschtal wieder seinen ursprunglichen rot-weißen Anstrich zuruck. Die Gleise wurden 1978 großtenteils demontiert. Es blieben allerdings in Kreischa und Niedersedlitz noch bis in die 1990er Jahre einzelne Gleisabschnitte liegen, in Lockwitz noch bis in die 2010er Jahre. Die Werkstatt in Kreischa wurde noch bis 1990 von den Dresdner Verkehrsbetrieben zur Reparatur von Verschleißteilen genutzt.
Nach der Wende grundete sich ein Verein, der sich das Ziel setzte, der Lockwitztalbahn ein Denkmal zu setzen. 1993 kam der Triebwagen 240 005 von der Kirnitzschtalbahn zuruck nach Kreischa. Von einem Traktor geschoben fuhr er in den liegengebliebenen Gleisen zwischen Haußmannsplatz und Parkgaststatte am Sanatorium vorbei. Dort wurde er als Denkmal aufgestellt und in den Originalzustand zuruckversetzt. Mit der Zeit kam die Idee, zwischen Hummelmuhle und Kreischa eine Museumsstraßenbahn aufzubauen. Dafur kam 1995 auch der Triebwagen 240 004 zuruck nach Kreischa. Mit der Zeit zerschlug sich dieser Traum allerdings. Der Verein wollte spater ein Straßenbahnmuseum im ehemaligen Depot der Lockwitztalbahn aufbauen, denn der Zustand der beiden Triebwagen, die im Freien standen, verschlechterte sich zusehends. Nachdem man im Depot Kreischa Gleise wieder instand gesetzt hatte, hatte der Umzug der beiden Triebwagen beginnen konnen, doch die Gemeinde verwehrte den beiden Triebwagen ihr neues Domizil mit der Begrundung, fur das dort gelagerte Winterstreu keinen weiteren Platz zu haben. Nachdem nun auch der Traum des Straßenbahnmuseums geplatzt war, gab der Verein auf.
Im Sommer 2007 wurden die beiden Triebwagen aus Kreischa abtransportiert. Der Triebwagen 240 005 gelangte in den Bestand des Straßenbahnmuseums Dresden, der Triebwagen 240 004 dient in seiner ursprunglichen Heimat in Erfurt als Ersatzteilspender fur die dortigen Sonderfahrzeuge. Letzterer wurde am 16. Oktober 2019 vom Modelleisenbahnclub Kreischa e. V. als Denkmal von Erfurt nach Kreischa zuruckgeholt.
Am 28. November 1960 wurde der 1908 von der Gottfried Lindner AG Ammendorf gebaute Postbeiwagen, der mit der Nummer 35 in Betrieb ging und ab 1948 die Nummer 3522 trug, ausgemustert. Das Fahrwerk und die Bremsen wurden verschrottet, der Wagenkasten mit seinem Stahlrahmen wurde privat verkauft und diente zunachst auf einem Grundstuck in Barenklause als Schuppen. Anfang der 1990er Jahre wurde er von einem Busfahrer der DVB AG dort entdeckt, von ihm fur 1 DM erworben und nunmehr auf sein Grundstuck nach Borthen verbracht. Dies geschah in der Absicht, den Postbeiwagen in seinen Originalzustand zu versetzen. Das gelang weitgehend: Mit Ausnahme des Deckanstrichs war die farbliche Herstellung bis 1999 erfolgt, auch der anschließende Erwerb von Radsatzen und Achslager erfolgte durch Eigeninitiative. Eine weitere Instandsetzung war jedoch nicht moglich und am 17. Juni 2012 erwarb das Straßenbahnmuseum Dresden den Wagen. Bis 2013 wurde der Anstrich komplettiert, die Plattformgitter nach historischen Fotografien nachgebaut und die beiden Achsen eingebaut. Er ist seitdem im rollfahigen Zustand in der Ausstellung des Museums zu sehen.
Betriebsstellen Literatur Helmut K. Mißbach: Sachsische Uberlandstraßenbahnen seit 1898. Transpress Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-613712-43-1.
Mario Schatz: Meterspurige Straßenbahnen in Dresden. Verlag Kenning, Nordhorn, 2007, ISBN 978-3-933613-76-9.
Weblinks Die Lockwitztalbahn bei bahninfo.net, Archivlink abgerufen am 24. Dezember 2022
Die Lockwitztalbahn im Stadtwiki Dresden
Die Lockwitztalbahn im Bimmelbahn-Forum
Eine Sammlung von Fotos der ehemaligen Lockwitztalbahn
Modelleisenbahnclub Kreischa e. V.
Einzelnachweise
|
Die Lockwitztalbahn war eine Uberlandstraßenbahn im Lockwitztal bei Dresden zwischen Kreischa und Niedersedlitz. Die 9,2 km lange Strecke wurde in den Jahren 1905 und 1906 errichtet. 1977 wurde der Betrieb eingestellt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Lockwitztalbahn"
}
|
c-13951
|
Die Ljungstromturbine ist eine spezielle Dampfturbine und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den schwedischen Brudern Birger (1872–1948) und Fredrik Ljungstrom (1875–1964) entwickelt. Die Maschine wird vom Dampf in radialer Richtung von innen nach außen durchstromt und besteht aus zwei Halften, welche sich gegeneinander drehen. Dadurch dient jede Laufschaufel der einen Turbinenhalfte gleichzeitig als Leitschaufel der anderen Halfte. Die unterschiedliche Drehrichtung der beiden Halften wird entweder durch ein nachgeschaltetes Getriebe kompensiert oder aber bei der Erzeugung von elektrischer Energie durch zwei getrennte Generatoren abgenommen. Die Ljungstromturbine lasst sich wahlweise auf einen Kondensator oder aber auch zur Speisung eines Fernwarmenetzes verwenden und ist dadurch flexibel einsetzbar. Sie wurde daher gerne in großen Industriebetrieben eingesetzt, die sowohl den Abdampf dieser Kraftmaschine fur die Kraft-Warme-Kopplung als auch ihre elektrische Energie nutzen konnten.
Prinzipbedingt liegt die maximale Leistung bei etwa 32 MW, da sich die beiden Turbinenhalften nicht beliebig groß bauen lassen. In Koppelung mit einer Parsons-Turbine lasst sich ihre Leistung auf 50 MW vergroßern. Da die aktuellen Dampfkraftwerke eine deutlich hohere Leistung haben, wird die Ljungstromturbine heute nicht mehr gebaut.
Die Ljungstromturbine ist auch unter dem Namen „Stal-Turbine“ bekannt. Stal steht hier fur Svenska Turbinfabriks Aktiebolaget Ljungstrom.
Die Erfinder Die Gebruder Ljungstrom waren sehr kreative und fur ihre Zeit typische Erfinderpersonlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Sie erfanden nicht nur den nach ihnen benannten Turbinentyp, sondern auch eine fruhe Form des Fahrrades.
Literatur Sigvard Strandh: Die Maschine: Geschichte, Elemente, Funktion. Ein enzyklopadisches Sachbuch. Herder Verlag, 1980. ISBN 3-451-18873-2 (Ljungstromturbine S. 133 bis 135, Svea-Fahrrad S. 220 und Abb. 221)
Weblinks Artikel in Schwedischer Sprache zur Ljungstromturbine
|
Die Ljungstromturbine ist eine spezielle Dampfturbine und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts von den schwedischen Brudern Birger (1872–1948) und Fredrik Ljungstrom (1875–1964) entwickelt. Die Maschine wird vom Dampf in radialer Richtung von innen nach außen durchstromt und besteht aus zwei Halften, welche sich gegeneinander drehen. Dadurch dient jede Laufschaufel der einen Turbinenhalfte gleichzeitig als Leitschaufel der anderen Halfte. Die unterschiedliche Drehrichtung der beiden Halften wird entweder durch ein nachgeschaltetes Getriebe kompensiert oder aber bei der Erzeugung von elektrischer Energie durch zwei getrennte Generatoren abgenommen. Die Ljungstromturbine lasst sich wahlweise auf einen Kondensator oder aber auch zur Speisung eines Fernwarmenetzes verwenden und ist dadurch flexibel einsetzbar. Sie wurde daher gerne in großen Industriebetrieben eingesetzt, die sowohl den Abdampf dieser Kraftmaschine fur die Kraft-Warme-Kopplung als auch ihre elektrische Energie nutzen konnten.
Prinzipbedingt liegt die maximale Leistung bei etwa 32 MW, da sich die beiden Turbinenhalften nicht beliebig groß bauen lassen. In Koppelung mit einer Parsons-Turbine lasst sich ihre Leistung auf 50 MW vergroßern. Da die aktuellen Dampfkraftwerke eine deutlich hohere Leistung haben, wird die Ljungstromturbine heute nicht mehr gebaut.
Die Ljungstromturbine ist auch unter dem Namen „Stal-Turbine“ bekannt. Stal steht hier fur Svenska Turbinfabriks Aktiebolaget Ljungstrom.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ljungströmturbine"
}
|
c-13952
|
Der Iztaccihuatl [istakˈsiwatɬ] (auch Ixtaccihuatl [iʃtakˈsiwatɬ], in neuer Nahuatl-Schreibweise Istaksiwatl, auch Iztactepetl bzw. Istaktepetl oder auch Mujer dormida ‚schlafende Frau‘) ist mit 5230 m der dritthochste Berg Mexikos nach dem Citlaltepetl und dem Popocatepetl.
Name Der Vulkan besitzt drei Gipfel, die von der Bevolkerung mit Kopf, Brust und Fußen einer schlafenden Frau assoziiert werden. Sein Name kommt aus dem Nahuatl und bedeutet auf Deutsch „Weiße Frau“. Gelegentlich wird fur den Berg auch die Kurzform Ixta verwendet.
Lage Er liegt ca. 70 km sudostlich der Hauptstadt Mexiko-Stadt und ist bei guten Sichtverhaltnissen von der Stadt aus sichtbar. Der Iztaccihuatl liegt 18 km nordlich vom Popocatepetl und ist von ihm durch den etwa 3700 m hohen Paso de Cortes getrennt.
Besteigung Die offizielle Erstbesteigung erfolgte 1889 durch James de Salis, jedoch haben archaologische Untersuchungen ergeben, dass der Berg bereits von den Azteken und noch fruheren Kulturen bestiegen worden sein muss. Der einfachste Anstieg beginnt im Suden des Berges und erfolgt uber die Scharte Portillo de los Pies. Im weiteren Verlauf wird der Vorgipfel Torre de San Agustin, 5020 m, uberschritten. Es folgt ein weiterer Nebengipfel, der Rodillas, 5100 m. Hier muss bereits mit Eis gerechnet werden. Uber den Sudgrat geht es dann weiter zum Hauptgipfel des Pecho, 5286 m. Der Zeitaufwand fur Auf- und Abstieg betragt etwa zwei Tage.
Die Legende von Popocatepetl und Iztaccihuatl In der Mythologie der Azteken war Iztaccihuatl eine Prinzessin, die sich in einen der Krieger ihres Vaters verliebte. Ihr Vater sandte den Krieger in einen Kriegszug in Oaxaca. Der Vater versprach dem Krieger seine Tochter, wenn er zuruckkehren wurde (was der Vater aber nicht glaubte). Der Tochter wurde erzahlt, ihr Geliebter sei tot, woraufhin sie vor Kummer starb. Als der Krieger aber zuruckkehrte, starb er wiederum, aus Kummer daruber, sie verloren zu haben. Die Gotter bedeckten die beiden mit Schnee und verwandelten sie in Berge. Der schneebedeckte Berg Iztaccihuatl wird deshalb auch „schlafende Frau“ (Mujer dormida) genannt, da er einer auf dem Rucken liegenden Frau ahnelt. Der Krieger wurde zum Vulkan Popocatepetl, der aus Zorn uber den Verlust der Geliebten Feuer speit.
Literatur Guadelupe Garcia Miranda, Mercedes Iturbe (Hrsg.): Los dos volcanes. Popocatepetl e Iztaccihuatl. Artes de Mexico, Mexiko-Stadt 2005, ISBN 970-683-117-7.
Weblinks Iztaccihuatl im Global Volcanism Program der Smithsonian Institution (englisch)
Einzelnachweise
|
Der Iztaccihuatl [istakˈsiwatɬ] (auch Ixtaccihuatl [iʃtakˈsiwatɬ], in neuer Nahuatl-Schreibweise Istaksiwatl, auch Iztactepetl bzw. Istaktepetl oder auch Mujer dormida ‚schlafende Frau‘) ist mit 5230 m der dritthochste Berg Mexikos nach dem Citlaltepetl und dem Popocatepetl.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Iztaccíhuatl"
}
|
c-13953
|
Mexiko (spanisch Mexico [ˈmexiko], in Spanien auch Mejico, Nahuatl Mexihco [meː'ʃiʔko]; amtlich Vereinigte Mexikanische Staaten, spanisch Estados Unidos Mexicanos) ist eine Bundesrepublik in Nordamerika. Sie umfasst 32 Gliedstaaten, namlich 31 Bundesstaaten und die Bundeshauptstadt Mexiko-Stadt. Im Norden grenzt Mexiko an die Vereinigten Staaten von Amerika, im Suden und Westen an den Pazifischen Ozean, im Sudosten an Guatemala, Belize und an das Karibische Meer, im Osten an den Golf von Mexiko. Mit einer Gesamtflache von fast zwei Millionen Quadratkilometern ist Mexiko der funftgroßte Staat auf dem amerikanischen Doppelkontinent, global liegt der Staat an vierzehnter Stelle. Weltweit liegt Mexiko mit einer Bevolkerungszahl von uber 130 Millionen Menschen auf Platz elf und ist der einwohnerreichste spanischsprachige Staat.
Geographie = Lage und Ausdehnung =
Der großte Teil Mexikos (88 %) ist allein dem nordamerikanischen Kontinent zugeordnet, wahrend der sudliche Teil bereits zur Landbrucke Zentralamerikas zahlt (die ebenfalls dem nordamerikanischen Kontinent zugerechnet wird). Der Staat ist mit einer Flache von 1.972.550 km² fast sechsmal so groß wie Deutschland, wobei 1.923.040 km² auf Land, 49.510 km² auf Wasser und uber 5000 km² auf unbewohnte Inseln entfallen. Hinsichtlich der Flache belegt Mexiko weltweit den 14. Platz.
Mexiko ist uber 3000 km lang und hat eine Breite von 200 km bis 2000 km. Im Nordwesten befindet sich die Halbinsel Niederkalifornien mit einer Lange von 1200 km. Im Osten ragt die Halbinsel Yucatan, die sich Mexiko mit Guatemala und Belize teilt, in den Golf von Mexiko.
Die Gesamtlange der Staatsgrenze betragt 4538 Kilometer, davon entfallen 3326 km auf die gemeinsame Grenze mit den USA im Norden des Staates. Weiterhin grenzt Mexiko im Sudosten an Guatemala mit 962 km und an Belize (250 km). Es besitzt 12.540 km Meereskuste, davon 8200 km am Pazifik und 3200 km am Atlantik. Ab der Kuste seewarts besitzt Mexiko bis 200 Seemeilen (370 km) exklusive Nutzungsrechte.
Mexiko hat vier Zeitzonen, siehe hierzu Zeitzonen in Mexiko.
Der hochste Punkt Mexikos ist mit 5636 Meter der auf der Grenze zwischen den Bundesstaaten Puebla und Veracruz liegende Vulkan Citlaltepetl. Der tiefste Punkt mit ca. zehn Metern unter dem Meeresspiegel ist die Laguna Salada im Municipio Mexicali im Bundesstaat Baja California.
= Klima =
Mexiko ist ein klimatisch vielgestaltiger Staat, der sowohl uber subtropisches und alpines Klima als auch uber Wustenklima verfugt. Es gehort somit in den Ubergangsbereich der sommerfeuchten außeren Tropen mit acht bis zehn humiden Monaten im Sudosten des Landes uber die ganzjahrig ariden Subtropen im Bereich des Wendekreises bis zum Winterregenklima Kaliforniens, das im außersten Westen (Baja California) gerade noch wirksam wird.
= Geologie =
Der großte Teil Mexikos besteht aus dem zu den amerikanischen Kordilleren gehorenden Hochland von Mexiko, das an markanten Bruchlinien im Osten und Westen herausgehoben wurde. Die Randgebirge sind sehr unterschiedlich gestaltet: Die Sierra Madre Oriental im Osten setzt sich aus parallel streichenden Faltenzugen und steil aufragenden Schichtrippen der Jura- und Kreideformation zusammen. Dagegen baut sich die Sierra Madre Occidental im Westen aus flach lagernden vulkanischen Decken des Tertiars auf. Beide erscheinen von den hugeligen Kustentieflandern aus als hohe Gebirgsmauern.
Das Hochland erreicht an der Grenze zu den USA 1200 m Meereshohe. An die Sierra Madre Occidental schließt sich sudlich die Cordillera Neovolcanica an, die aus vulkanischen Ablagerungen aus der Zeit des Pliozan bis Quartar besteht und nicht nur durch Riesenvulkane, sondern zusatzlich durch eine Vielzahl von vulkanischen Kegeln und Kratern gepragt ist. Sie bildet den Sudrand des Hochlandblocks, der in einer Bruchstufenzone rund 1000 m tief zur Senke des Rio Balsas abbricht. Im Suden befindet sich die Sierra Madre del Sur westlich der Sierra Madre de Chiapas. Nordostlich vorgelagert ist die Halbinsel Yucatan, deren großter Teil zu Mexiko gehort. Sie besteht aus einer Kalksteintafel, die seit dem Tertiar aus dem Meer herausgehoben wurde.
Die hochsten Erhebungen des Staates findet man am Transmexikanischen Vulkangurtel, auch Sierra Nevada genannt: den Citlaltepetl (5636 m), auch als Pico de Orizaba bezeichnet, den hochsten Berg in Mexiko, den derzeit aktiven Popocatepetl (5462 m), den Iztaccihuatl (5230 m) und den Nevado de Toluca (4690 m).
= Natur =
Mexiko beheimatet etwa 200.000 verschiedene Spezies, was zehn bis zwolf Prozent aller weltweit bekannten Arten ausmacht. Mit 707 bekannten Arten liegt Mexiko auf dem ersten Platz bei der Artenvielfalt der Reptilien, mit 438 Arten auf dem zweiten Platz in Bezug auf die Saugetiere und mit 290 bekannten Arten auf dem vierten Platz bei den Amphibien. Die Flora umfasst 26.000 verschiedene Spezies. Daruber hinaus liegt Mexiko bei der Vielfalt an Okosystemen weltweit an zweiter Stelle. Diese hohe Biodiversitat, doch vor allem die große Zahl von endemischen Arten, Gattungen und Familien macht Mexiko zu einem der Megadiversitatslander dieser Erde. Etwa 2500 Arten sind gesetzlich geschutzt.
Der großte Teil der Staatsflache wird aufgrund der besonders hohen Gefahrdungslage fur die naturliche Vielfalt international zu den Biodiversitats-Hotspots der Erde gezahlt: Das sind die mediterranen Hartlaubgebiete im Norden Niederkaliforniens und die subtropischen Bergwalder Nordmexikos (beide grenzubergreifend mit den USA) sowie samtliche tropische Okoregionen sudlich des nordlichen Wendekreises (Fortsetzung in allen Nachbarstaaten Mesoamerikas).
Es gibt 68 Nationalparks in Mexiko.
= Stadte =
Im Jahr 2023 lebten 82 Prozent der Einwohner Mexikos in Stadten. Die großten Stadte Mexikos, allesamt Millionenstadte, sind Mexiko-Stadt, Guadalajara, Monterrey, Ecatepec de Morelos, Puebla, Nezahualcoyotl, Juarez, Tijuana, Leon und Zapopan. Sie liegen uberwiegend im Staatsinneren, dagegen sind die Kustengebiete eher dunn besiedelt.
Zudem gibt es in Mexiko ein Gefalle zwischen Zentrum und Peripherie, in dem Mexiko-Stadt deutlich dominiert. Die Metropolregion umfasst 18 Prozent der Gesamtbevolkerung Mexikos. Daneben ist es das wirtschaftliche Zentrum, das etwa ein Drittel des Dienstleistungs- und Handelssektors und zwei Drittel der Vermogenswerte auf sich vereint. Zwei Drittel des Etats fur das hohere Schulwesen Mexikos und drei Viertel des Forschungsetats werden in Mexiko-Stadt investiert.
Liste der Stadte in Mexiko
Bevolkerung Mexiko hatte 2023 128,5 Millionen Einwohner. Das jahrliche Bevolkerungswachstum betrug + 0,7 %. Zum Bevolkerungswachstum trug ein Geburtenuberschuss (Geburtenziffer: 14,6 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 6,7 pro 1000 Einwohner) bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2022 statistisch bei 1,8, die der Region Lateinamerika und die Karibik betrug 1,8. Die Lebenserwartung der Einwohner Mexikos ab der Geburt lag 2022 bei 74,8 Jahren. Der Median des Alters der Bevolkerung lag im Jahr 2021 bei 29 Jahren. Im Jahr 2023 waren 24,0 Prozent der Bevolkerung unter 15 Jahre, wahrend der Anteil der uber 64-Jahrigen 8,6 Prozent der Bevolkerung betrug.
= Bevolkerungsstruktur =
Die Bevolkerung setzt sich zusammen aus 60 % Mestizen, etwa 30 % Nachkommen der europaischen Siedler (meist Spanier) und 10 % indigenen Volkern (nach anderen Angaben 13 % bzw. 7 %: unter anderem im zentralen Hochland Nahua – Nachkommen der Azteken – Otomi, Purepecha, Cora, Tarahumara und Huicholen; an der Nordwestkuste Mayo und Yaqui; an der Golfkuste Totonaken und Huaxteken; im sudlichen Bergland Zapoteken, Mixteken, Mazateken, Mixe und viele kleinere Ethnien; sowie in Yucatan und in den sudlichsten Staatsteilen die Maya.)
Etwa ein Prozent bilden Bevolkerungsgruppen anderer Abstammung (großtenteils aus Afrika). In Bezug auf die Bevolkerungsanzahl nimmt Mexiko den 10. Platz auf der Welt ein.
Der Bevolkerungsanteil der Mexikaner, die von Sklaven aus Subsahara-Afrika abstammen, ging in den letzten 200 Jahren in der Mestizenbevolkerung auf. Im Bundesstaat Veracruz und an der Westkuste sind heute noch einige „schwarze“ Mexikaner zu finden. Das einzige auf mexikanischem Boden gesprochene Kreol ist das Gullah. Es wird von den Angehorigen der schwarzen Seminolen in Nacimiento (in der Nahe von Muzquiz, Coahuila) gesprochen. In den Stadten gibt es eine christliche arabischstammige Bevolkerung (vor allem mit libanesischer Abstammung). 2015 wurde ihre Zahl auf ungefahr 1 Million geschatzt. Die christliche arabischstammige Bevolkerung in Mexiko gilt als wohlhabend und erfolgreich, so hatte der reichste Mann Mexikos, Carlos Slim Helu, libanesische Vorfahren.
Es gibt in Mexiko erhebliche und versteckte Diskriminierung gegenuber der indigenen Gemeinschaft. Innerhalb dieser ist die Kindersterblichkeit deutlich hoher und die Alphabetisierungsrate und der Lebensstandard sind deutlich niedriger als fur die allgemeine Bevolkerung, wahrend die Oberschicht Mexikos vor allem aus arabisch- oder europaischstammigen Mexikanern besteht. Der Aufstand der Zapatistas von 1994 speiste seine Unterstutzung vor allem aus indianischen Gemeinden, die gegen die Vernachlassigung und Diskriminierung der Zentralregierung aufbegehrten.
Im Jahre 2015 lebten 12,3 Millionen in Mexiko geborene Personen im Ausland, davon ein Großteil in den USA. Insgesamt gab es in den Vereinigten Staaten mehr als 30 Millionen Personen mit mexikanischer Abstammung (ohne illegale Einwohner). Mexiko hatte damit eine der großten Diasporagruppen weltweit. Ohne Auswanderung ware Mexikos heutige Bevolkerung um etwa ein Viertel großer. In Mexiko selbst waren knapp 0,9 % der Bevolkerung im Ausland geboren. Die meisten Migranten in Mexiko kamen aus zentralamerikanischen Landern, woher die Immigration nach Mexiko aufgrund der besseren wirtschaftlichen Moglichkeiten in den letzten Jahren anstieg.
= Sprachen =
Die Amtssprache Mexikos ist Spanisch, obwohl dies nicht gesetzlich festgeschrieben ist. Neben dem Spanischen sind in Mexiko auch 62 indigene Sprachen als offizielle Nationalsprachen anerkannt.
Das mexikanische Kulturministerium gliedert die in Mexiko gesprochenen Sprachen in elf Sprachfamilien, 68 linguistische Gruppen und 364 Dialekte ein. Die „Kommission fur die Entwicklung der indigenen Volker“ hat 2005 in einer Untersuchung festgestellt, dass rund sechs Millionen Burger eine indigene Sprache beherrschen.
Nach der Volkszahlung von 2010 sprechen 6,8 % der Bevolkerung indigene Sprachen (Volkszahlung 2020: 6,3 %); 15 % davon sprechen kein Spanisch. Weitere 1,5 % der Bevolkerung verstehen, sprechen aber keine indigenen Sprachen. Zu den Sprachen mit der großten Sprecherzahl gehoren Nahuatl (etwa 1,6 Millionen), Mayathan (etwa 800.000), Mixtekisch (etwa 500.000), Tzeltal (etwa 470.000), Zapotekisch (etwa 460.000) und Tzotzil (etwa 430.000). Es existieren insgesamt 16 indigene Sprachen mit mehr als 100.000 Sprechern in Mexiko, mehr als in jedem anderen Staat Amerikas. Den großten Anteil an Sprechern gibt es im Suden Mexikos in den Staaten Oaxaca, Yucatan und Chiapas.
Da in einigen indigenen Volkern nur noch altere Menschen die eigene Sprache beherrschen, kundigte der Leiter des „Instituts fur indigene Sprachen“ – Javier Lopez Sanchez – 2013 ein Aktionsprogramm an, um das Aussterben dieser Sprachen zu verhindern. Insbesondere gelten Awakatekisch, Ixil, zwei Varietaten des Otomi und funf des Zapotekisch als bedroht. Deshalb sollen Dolmetscher und Ubersetzer ausgebildet und ein linguistischer Sprachatlas geschaffen werden.
Neben dem Spanischen brachten Einwanderer auch andere Sprachen nach Mexiko, die jedoch nicht als Nationalsprachen betrachtet und auch nicht von offiziellen Statistiken erfasst werden. Dazu zahlen unter anderem Englisch, Franzosisch und Deutsch, aber auch Mandarin, Arabisch und Quechua. Einige Einwanderer bildeten geschlossene Sprachinseln, zum Beispiel die Mennoniten in Chihuahua, die Plautdietsch (einen Dialekt des Niederdeutschen) sprechen,
oder die Bewohner von Chipilo in Puebla, die sich die venetische Sprache und Kultur ihrer italienischen Vorfahren bewahrt haben.
= Religion =
82,7 % der Mexikaner sind Katholiken. Die Romisch-katholische Kirche in Mexiko besteht aus 18 Erzbistumern, darunter als großtes das Erzbistum Mexiko sowie aus 73 Bistumern und vier Territorialpralaturen.
Es gibt eine wachsende protestantische Minderheit von 7,5 %, die sich jedoch auf viele verschiedene Kirchen aufteilt. Die Anglikanische Gemeinschaft von Mexiko wird von der Anglikanischen Kirche von Mexiko vertreten und umfasst sechs Bistumer.
Die drittgroßte Religionsgemeinschaft Mexikos, mit mehr als 800.000 Angehorigen sind die Zeugen Jehovas. Sie sind in mehr als 13.000 Versammlungen organisiert, die Zusammenkunfte in Dutzenden von Sprachen abhalten. Sie unterstehen dem Zentralamerikanischen Zweigburo nahe Texcoco, ostlich von Mexiko-Stadt, das auch fur sieben weitere Lander verantwortlich ist.
3,5 % der Bevolkerung bezeichnen sich als keiner Religionsgemeinschaft zugehorig und 0,36 % entfallen auf andere Religionen, darunter auch auf den Islam und traditionelle mesoamerikanische Religionen (wie etwa der Huicholen), die haufig synkretistisch mit christlichen Elementen vermischt sind (wie etwa bei den Tarahumara).
= Soziales =
Fur den Bereich Soziales ist das Secretaria de Desarrollo Social (SEDESOL) zustandig, das politische Regierungssekretariat fur soziale Entwicklung in Mexiko, vergleichbar mit einem entsprechenden Staatsministerium (Sozialministerium).
Offentliche Fursorge Als erster Staat in der Geschichte nennt Mexiko ab 1943 den Begriff „Soziale Sicherheit“ in seiner Verfassung. Das mexikanische Institut fur soziale Sicherheit, Instituto Mexicano del Seguro Social (IMSS), bietet der Bevolkerung Kranken-, Renten- und Sozialversicherungen an.
Das Institut fur soziale Sicherheit und Sozialleistungen fur Staatsbedienstete, Instituto de Seguridad y Servicios Sociales de los Trabajadores del Estado (ISSSTE), kummert sich um Alte, Arbeitslose und Behinderte und bietet Sozialversicherungen fur Staatsbedienstete an. 1998 waren 55 bis 60 Prozent der Bevolkerung durch beide Institutionen abgesichert. Sie werden durch Beitrage von Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Regierung finanziert. In Mexiko gibt es allerdings kein Arbeitslosengeld.
1997 stellten die Ausgaben fur die soziale Sicherheit etwa 18,1 % der Budgetausgaben dar.
Gesundheit Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2021 6,1 % des Bruttoinlandsprodukts. Das zustandige Ministerium fur Gesundheit in Mexiko ist das Secretaria de Salud (SSA).Das Gesundheitswesen in Mexiko hat ein zweigliedriges System, bestehend aus der Krankenkasse des Instituto Mexicano del Seguro Social (IMSS) und des Instituto de Seguridad y Servicios Sociales de los Trabajadores del Estado (ISSSTE) einerseits und verschiedener privater Krankenversicherungen andererseits. Die medizinische Versorgung des Staates ist, bis auf Ausnahmen in entlegenen, landlichen Gegenden, sehr gut, in den Stadten sogar hervorragend.
Im Jahr 2019 praktizierten in Mexiko 24,7 Arztinnen und Arzte je 10.000 Einwohner. Die Ausbildung in der Medizin und in der Pflege findet uberwiegend an den offentlichen Hochschulen statt.
Die Sterblichkeit bei unter 5-jahrigen betrug 2022 12,8 pro 1000 Lebendgeburten. Die Lebenserwartung der Einwohner Mexikos ab der Geburt lag 2022 bei 74,8 Jahren (Frauen: 78,2, Manner: 71,5). Die Lebenserwartung stieg von 73,6 Jahren im Jahr 2000 bis 2022 um 2 %.
Ein großes Gesundheitsproblem war das hohe Ausmaß von Ubergewicht. Laut Daten der WHO waren im Jahr 2014 28,1 % der Bevolkerung stark ubergewichtig (adipos).
Armut Nach der Wirtschaftskrise 1994–1995 (Tequila-Krise) fielen rund 50 % der Bevolkerung in Armut. Der starke Anstieg der Exporte durch das NAFTA und andere Freihandelsabkommen sowie die Neuordnung der Staatsfinanzen unter Prasident Zedillo und spater unter Vicente Fox hatten signifikante Erfolge bei der Armutsbekampfung zur Folge. Gemaß der Weltbank nahm die Armut bis 2004 auf 17,6 % der Bevolkerung ab. Im Jahr 2014 betrug die Armutsquote um 3 %.
Im Jahr 2008 profitierte ein Viertel der Haushalte Mexikos von Finanztransfers durch das staatliche Oportunidades-Programm.
Laut der Nationalen Autonomen Universitat von Mexiko haben (Stand 2020) etwa zehn Prozent der Einwohner Mexikos (zwischen 12,5 und 15 Millionen Menschen) keinen eigenen Trinkwasserzugang. Vor allem landliche Gegenden, aber auch etwa 1,3 Millionen Menschen in Mexiko-Stadt haben keine Trinkwasserleitungen. Außerdem ist die Wasserversorgung auch fur die Bevolkerung mit Trinkwasserleitungen schlecht. In vielen Gegenden Mexikos fließt das Wasser nur einmal in der Woche oder seltener, oder es ist durch rissige Leitungen verunreinigt.
= Kriminalitat =
Die Kriminalitatsrate ist in Mexiko sehr hoch, durchzieht alle Teile der Gesellschaft und beschaftigt vor allem weite Teile der mannlichen Bevolkerung. Der bewaffnete Konflikt zwischen dem Staat und der mexikanischen Bevolkerung auf der einen und Drogenkartellen – die sich auch untereinander bekampfen – auf der anderen Seite wird außerhalb Mexikos als „Drogenkrieg“ bezeichnet. In einigen Landesteilen haben die Kartelle das Gewaltmonopol des Staates faktisch aufgehoben. Gleichzeitig sind die Kartelle mit insgesamt etwa 175.000 Mitglieder zusammengenommen der funftgroßte „Arbeitgeber“ Mexikos. Pro Woche werden laut einer Studie von 2023 rund 350 neue Mitglieder rekrutiert.
Im Jahr 2019 starben etwa 35.000 Menschen aufgrund des Krieges (oder der nicht davon unterscheidbaren Kriminalitat). Davon waren rund 3.800 Frauen (ca. 10 %) und 31.200 Manner (ca. 90 %). Im Jahr 2018, als ca. 33.000 infolge der Kriminalitat starben, befanden sich funf mexikanische Stadte, gemessen an der Mordrate, unter den 10 gefahrlichsten Stadten weltweit. Da in Mexiko nur etwa zwei bis sechs Prozent aller begangenen Straftaten aufgeklart werden, herrscht faktisch Straflosigkeit. Dies liegt auch daran, dass nur etwa 12 Prozent aller Straftaten angezeigt werden, weil die Polizeien in manchen Gegenden selbst von Kartellmitgliedern unterwandert sind bzw. mit der organisierten Kriminalitat zusammenarbeiten. Dies fuhrt dazu, dass bspw. im Bundesstaat Guerrero von 2014 bis 2018 die Waffen ortlicher Polizeien in mehr als einem Dutzend Orten (darunter in Acapulco) durch das Militar eingezogen und die Polizei entmachtet wurde. Die hohe Kriminalitat gepaart mit der Straflosigkeit fuhrt dazu, dass sich die Bevolkerung in manchen landlichen Gebieten in Burgerwehren (Autodefensas) organisiert, um auf lokaler Ebene ein wenig offentliche Ordnung zu wahren. Die Polizei ist den Organisationen meist personell und in der Ausstattung unterlegen.
Seit dem 9. Dezember 2005 ist in Mexiko die Todesstrafe offiziell abgeschafft.
Verschwindenlassen Eine Besonderheit der Gewaltkriminalitat in Mexiko ist die hohe Zahl an Personen, die durch Banden gekidnappt, ermordet und deren sterbliche Uberreste dann an schwer zuganglichen Orten beseitigt werden. Nach Regierungsdaten, die bis in das Jahr 1964 zuruckreichen, verschwanden bis zum Jahr 2022 mehr als 100.000 Personen in Mexiko, die ganz große Mehrheit davon seit dem Jahr 2007, als der damalige Prasident Felipe Calderon seinen „Krieg gegen die Drogen“ (guerra contra el narco) erklarte. Alleine in den Jahren 2020 bis 2022 stieg die Zahl der von den Behorden registrierten Verschwundenen um mehr als 27.000 Personen. Eine Studie von mexikanischen Investigativjournalisten aus dem Jahr 2019 ergab, dass in den Jahren 2006 bis 2016 in 24 Bundesstaaten fast 2000 geheime Statten mit menschlichen Uberresten entdeckt wurden. Die von den Journalisten dokumentierten Falle uberstiegen deutlich die offiziellen Zahlen der Regierung. Am starksten betroffen (mehr als 200 solche Statten) waren die Bundesstaaten Veracruz (332), Tamaulipas (280) und Guerrero (216), bzw. mit der hochsten Zahl an gefundenen Mordopfern die Bundesstaaten Durango (497), Chihuahua (391), Tamaulipas (336), Guerrero (325), Veracruz (222) und Jalisco (214). Einige besonders spektakulare Falle gelangten auch an die Weltoffentlichkeit. Am Abend des 26. September 2014 wurden bei der Massenentfuhrung in Iguala 43 Studenten des Lehrerseminars in Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero gekidnapped und tauchten nicht wieder auf. Spater wurden verkohlte Leichenreste auf einer Mullkippe bei Iguala einem der verschwundenen Studenten zugeordnet. Der Fundort wurde jedoch spater angezweifelt und die gesamte Aufarbeitung des Verbrechens entwickelte sich aufgrund verschiedener Pannen und Unzulanglichkeiten zu einem Behordenskandal. Im Marz 2017 wurde ein Massengrab mit 250 Schadeln in Veracruz entdeckt. Im September 2018 wurde ebenfalls im Bundesstaat Veracruz ein Massengrab mit 166 Opfern entdeckt. Im gleichen Monat sorgte ein durch die Behorden in einem Wohngebiet abgestellter Kuhltransporter mit mindestens 100 Leichen(teilen) von unidentifizierten Mordopfern in der Stadt Guadalajara fur Unmut bei Anwohnern. Die Behorden begrundeten das vorubergehende Abstellen mit der Uberfullung der ortlichen Leichenhallen. Ende Mai 2023 wurden in einer Schlucht nahe der Stadt Zapopan die Uberreste von mindestens 45 Menschen entdeckt.
Korruption Politische Korruption ist in Mexiko auf verschiedenen Ebenen verbreitet. Nach einer Studie von Transparency International wurden 2005 1,5 Mrd. Euro Schmiergelder gezahlt, wobei die Bestechungszahlungen von Unternehmen an Geschaftsleute und an ranghohe Politiker noch nicht berucksichtigt sind.
Seit 1990 ist das uberparteiliche Instituto Federal Electoral (IFE) fur die Vorbereitung und Abhaltung von Wahlen zustandig. Allerdings war Felipe Calderon, Prasident von 2006 bis 2012, mit dem Programmierer des IFEs uber seine Frau verwandt (die selber auch Miteigentumerin des IT-Unternehmens ist), was zur Spekulation fuhrte, dass die Zahlung der Wahlen 2006 (jedoch betrifft das auch andere Wahlen) nicht transparent abgelaufen ist.
Drogen Korruption von Polizei und Justiz sind zwar weit verbreitet, jedoch meist im Zusammenhang mit Drogenhandel. Mexiko ist der wichtigste Transitstaat fur den Handel mit Drogen von Sud- und Zentralamerika in die USA. Unter Staatsprasident Calderon gelangen der Polizei und dem Militar einige schwere Schlage gegen die Drogenkartelle. Das Auswartige Amt warnt Reisende dennoch vor den Gangs im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet, sowie in einigen Kustenstadten.
Gewalt gegen Frauen Laut UNO-Bericht 2017 ist Mexiko fur Frauen besonders gefahrlich. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Rate sexueller Gewalt gegen Frauen außerhalb von Beziehungen die hochste in der Welt ist.
= Bildung und Wissenschaft =
Das Secretaria de Educacion Publica (SEP) ist das mexikanische Bildungs- und Kultusministerium, zustandig fur die Bildung und Kultur. Das Ministerium entwickelt die Bildungsprogramme und liefert die Lehrmittel.
Wahrend der Kolonialzeit war die katholische Kirche fur die Bildung zustandig. Nach Mexikos Unabhangigkeit wurden erste Grundlagen des offentlichen Bildungssystems aufgebaut.
In Mexiko besteht Schulpflicht fur die Grund- (Primaria, 6 Jahre) und Mittelschule (Secundaria, 3 Jahre). Die Schulzeit in der Oberschule (Preparatoria) betragt ebenfalls 3 Jahre. Der Schulbesuch ist kostenlos. Typisch sind Schuluniformen. 2015 betrug die Alphabetisierungsrate 94,4 %, bei der jungeren Bevolkerung kam Analphabetismus kaum noch vor. In Mexiko stieg die mittlere Schulbesuchsdauer uber 25-Jahriger von 5,5 Jahren im Jahr 1990 auf 8,6 Jahre im Jahr 2015 an. Sie ist damit eine der hochsten in Lateinamerika. Im Jahr 2021 betrug die Bildungserwartung 14,9 Jahre. Die Regierung gibt 4 % des BIP fur Grund- und Weiterfuhrende Schulen, und etwa 1 % fur die Ausbildung an Universitaten aus.
Es gibt im Staat zahlreiche staatliche und nichtstaatliche Universitaten, zum Beispiel die Mexikanische Akademie der Wissenschaften oder die Nationale Autonome Universitat von Mexiko, die großte Universitat des Staates, die 1551 in Mexiko-Stadt gegrundet wurde. Im internationalen Bildungsranking der Times ist sie die beste spanischsprachige und lateinamerikanische Universitat. Andere bekannte Universitaten in Mexiko-Stadt sind: Staatliches Polytechnisches Institut (gegrundet 1937), El Colegio de Mexico, Universidad Autonoma Metropolitana (gegrundet 1974), Iberoamerikanische Universitat (gegrundet 1943), Autonomes Technologisches Institut (gegrundet 1946). Weitere wichtige Hochschulen in anderen Stadten sind: Tec de Monterrey (gegrundet 1943), Universitat in Guadalajara (gegrundet 1792), Autonome Universitat von Puebla (gegrundet 1937), Universidad Veracruzana (gegrundet 1944).
Die Anzahl der Studierenden in Mexiko hat sich zwischen dem Jahr 2000 und 2017 praktisch verdoppelt. Inzwischen gibt es in Mexiko 4,4 Mio. Studierende. An den insgesamt etwa 985 staatlichen Hochschulen sind zwei Drittel aller mexikanischen Studierenden eingeschrieben. Etwa ein Drittel der mexikanischen Studierenden besucht eine der etwa 2.600 privaten Hochschulen.
Zu den bekanntesten Forschungsinitiativen der letzten Jahre in Mexiko gehort der Bau des Großen Millimeterteleskopes (LMT), das zur Observation des durch kosmischen Staub gedeckten Teils des Universums dient. 1962 wurde die Staatliche Kosmische Kommission gegrundet, die aber spater wieder abberufen wurde. In den letzten Jahren sind Plane fur ihre Wiederberufung aufgetaucht.
Die Ausgaben fur Forschung und Entwicklung betragen nur etwa 0,5 % des BIP und sind damit in der OECD am niedrigsten, berucksichtigt man das Einkommensniveau und die Wachstumsraten, lag Mexiko von 1996 bis 2005 durchschnittlich bei rund zehn Prozent.
Der großte Teil der wissenschaftlichen Publikationen entfallt auf die Hauptstadt. 75 % der Dissertationen finden in Mexiko-Stadt statt.
Landesname Der Staat ist nach der Hauptstadt der Azteken, Mexico-Tenochtitlan (jetzt Mexiko-Stadt), benannt. Fur die Herkunft der Bezeichnung Mexico (me/ʃ/i'co) gibt es verschiedene, aber unbefriedigende Erklarungen. Wilhelm von Humboldt gab den Hinweis, dass Mexico vom Namen der aztekischen Kriegsgottin Mexitli abgeleitet wurde. Nach einer Erklarung stammt der Teil me von metl, was die Agavenpflanze (auch: Maguey) bezeichnet. Der Teil xi soll von xictli (Nabel) abgeleitet sein und zusammen mit dem im Nahuatl haufigen Ortssuffix co beziehungsweise ko die Bezeichnung „der Platz, wo der Nabel (der Mittelpunkt) der Maguey liegt“ ergeben. Diese Ableitung ist jedoch unmoglich, da in den ersten beiden Fallen die im Nahuatl bedeutungsunterscheidende Vokallange unterschiedlich ist. Stattdessen wird der Ortsname als regelmaßige Bildung von der in den Quellen gut belegten Volksbezeichnung me/ʃ/i'tin (Plural) abgeleitet, deren Etymologie jedoch wie bei ahnlichen Namen undurchsichtig ist.
Die Spanier schrieben den /ʃ/-Laut (deutsch: sch) der Nahuatl-Sprache wie damals bei ihnen ublich als x. Seither hat sich die Aussprache des Spanischen allerdings gewandelt, und das Graphem x wird /x/ (deutsch: ch (nach a, o, u)) ausgesprochen und nun j geschrieben. Da Mexico ein Eigenname ist, wurde die Schreibweise mit x beibehalten; daneben findet sich in spanischen Texten auch die Schreibweise Mejico. In Mexiko selbst wird meist Wert auf die Schreibung mit x gelegt, da sie als eigene, nicht koloniale Schreibung gilt. Die koniglich-spanische Akademie (Real Academia Espanola), die fur die Festlegung der spanischen Orthografie zustandig ist, lasst beide Schreibweisen zu.
Geschichte = Prakolumbische Geschichte =
Nach dem derzeitigen Forschungsstand liegt die erste Besiedlung (Tlapacoya) um etwa 20.000 bis 22.000 Jahre zuruck. Erste Spuren von Ackerbau finden sich ca. 1500 bis 900 v. Chr. Etwa 1500 v. Chr. wurde die Stadt Tlatilco im Tal von Mexiko besiedelt, die erst im 4. Jahrhundert wieder aufgegeben wurde. Tlatilco stand unter anderem unter dem kulturellen Einfluss der Olmeken. Komplexere Kulturen bildeten sich von 900 bis 300 v. Chr. Zwischen 100 und 900 n. Chr. bildeten sich die sogenannten mesoamerikanischen Zivilisationen heraus. Es entwickelten sich die Kulturen der Maya, Olmeken, Tolteken und Azteken. Um 1500 n. Chr. waren die Azteken das beherrschende Volk im Gebiet des heutigen Mexikos.
= Spanische Kolonialzeit =
In den Jahren 1517 und 1518 erreichten die ersten spanischen Expeditionen unter Francisco Hernandez de Cordoba und Juan de Grijalva die Halbinsel Yucatan. Die neu „entdeckten“ Hochkulturen und die reichlichen Goldgegenstande machten die tierra firme, das Festland, fur die Spanier interessant. In den Jahren 1519 bis 1521 gelang es Hernan Cortes, das sogenannte Azteken-Reich mit Hilfe zahlreicher indigener Verbundeter zu sturzen. Gleichzeitig eroberten Francisco de Montejo Yucatan und Pedro de Alvarado das heutige Guatemala, wo sie die letzten Maya-Stadte unterwarfen. Das heutige Mexiko wurde zum Vizekonigreich Neuspanien und wegen seines Gold- und Silberreichtums eine der wichtigsten Besitzungen der Spanier. In den folgenden drei Jahrhunderten verbreiteten die Spanier und ihre Missionare den katholischen Glauben und die Spanische Sprache.
= 19. Jahrhundert =
Begunstigt durch die Schwachung Spaniens wahrend der Napoleonischen Kriege auf der Iberischen Halbinsel wurde am 16. September 1810 die Unabhangigkeit von Spanien erklart, was einen langen Krieg nach sich zog, der am 27. September 1821 zur endgultigen Unabhangigkeit fuhrte.
Erstes Staatsoberhaupt der jungen Nation wurde Agustin de Iturbide, der den Staat ab 1822 als Kaiser regierte (Erstes Kaiserreich Mexiko). Bereits 1823 musste er nach einem Militaraufstand abdanken, und Mexiko wurde zur Republik. Im gleichen Jahr loste sich das Gebiet von Guatemala, woraus sich die spateren unabhangigen Staaten Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Costa Rica und Honduras bildeten, von Mexiko los und wurde zur Zentralamerikanischen Konfoderation.
1835 versuchten die Vereinigten Staaten von Amerika vergeblich, Mexiko die Gebiete um Texas und Kalifornien abzukaufen. 1836 riefen die in Texas lebenden Amerikaner die unabhangige Republik Texas aus. 1845 wurde Texas von den USA annektiert. Daruber hinaus beanspruchten die USA weitere mexikanische Gebiete bis hin zum Rio Grande. Dies fuhrte 1846 mit einer US-Invasion zum Mexikanisch-Amerikanischen Krieg. Nach der Niederlage Mexikos im Jahre 1848 trat der Staat mit Unterzeichnung des Vertrages von Guadalupe Hidalgo seine nordlichen Gebiete ab, darunter die spateren US-Bundesstaaten Kalifornien, New Mexico, Arizona, Nevada, Utah und Colorado.
1853 wurde mit dem Gadsden-Kauf das sudliche Gebiet der heutigen US-Bundesstaaten Arizona und New Mexico fur 10 Millionen US-Dollar durch die USA erworben, um eine gunstigere Route fur eine geplante Eisenbahnlinie nach Kalifornien, die jedoch nie gebaut wurde, zu ermoglichen.
Eine Schuldenkrise fuhrte im Winter 1861/62 dazu, dass Truppen aus Frankreich, dem Vereinigten Konigreich und Spanien an der Golfkuste des Staates landeten und Teile Mexikos besetzten. In den folgenden Jahren stand der Staat unter der Besetzung durch Frankreich, das in dieser Zeit den Habsburger Maximilian als Kaiser (10. April 1864) einsetzte (Zweites Kaiserreich Mexiko). Prasident Benito Juarez, der mit Hilfe der USA die Franzosen aus dem Land vertrieb, beendete endgultig die Ara des mexikanischen Kaiserreiches durch die Hinrichtung Maximilians am 19. Juni 1867 in Queretaro (Abdankung am 14. Mai 1867).
= 20. Jahrhundert =
1905 wurde die zu Frankreich gehorende Clipperton-Insel besetzt, um eigene Besitzanspruche zu untermauern. 1931 einigten sich beide Seiten, den italienischen Konig Viktor Emanuel III. als Vermittler einzusetzen, der die Insel Frankreich zusprach.
Die lange Diktatur Porfirio Diaz’ fuhrte 1910 zur Mexikanischen Revolution und 1911 zu seinem Rucktritt. Die revolutionaren Krafte besiegten die Armee, verloren sich aber in internen Streitereien, die den Staat 20 Jahre lang in standiger Unruhe hielten. Am Ende der Revolution kontrollierte die Partei der institutionellen Revolution (PRI) den Staat.
Im Ersten Weltkrieg suchte das Deutsche Kaiserreich 1917 ein Bundnis mit Mexiko gegen die USA; im Falle eines Sieges der Mittelmachte sollte es die 1848 verlorenen Gebiete zuruckerhalten. Ein geheimes Telegramm (Zimmermann-Depesche), mit dem der mexikanischen Regierung ein entsprechender Vorschlag unterbreitet werden sollte, wurde jedoch von den Briten abgefangen und trug zum Kriegseintritt der USA gegen das Deutsche Kaiserreich bei.
Wahrend der Revolution wurde 1917 die in großen Teilen bis heute gultige Verfassung verabschiedet. Ein Aufstand katholischer Bauernmilizen gegen antiklerikale Artikel der Verfassung weitete sich 1926 zur Guerra Cristera aus, die 1929 zu Vermittlungen unter US-amerikanischer Fuhrung fuhrte. Die mexikanische Regierung verzichtete auf die Umsetzung der Bestimmungen, die jedoch erst 1992 aus der Verfassung gestrichen wurden.
1931 trat Mexiko dem Volkerbund bei, der 1946 wieder aufgelost wurde. Der Staat erlangte wahrend des Faschismus fur Europaer große Bedeutung als Exilstaat. Im Spanischen Burgerkrieg unterstutzte der Staat gemeinsam mit Frankreich, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten die Republikaner gegen die Nationalisten unter Francisco Franco, die vom Deutschen Reich, Italien und Portugal unterstutzt wurden.
Mexiko war der einzige Staat (von 17 Mitgliedern des Volkerbundrates), der am 19. Marz 1938 den Anschluss Osterreichs durch Deutschland laut mit Protest belegte. Mexiko wies auf die Folgen fur den (Welt-)Frieden hin, wenn die Pflichten aus der Volkerbundsatzung und aus dem internationalen Recht nicht eingehalten werden. Aus Anerkennung fur diese Tat wurde 1956 in Wien der Erzherzog-Karl-Platz in Mexikoplatz umbenannt. Im Zweiten Weltkrieg blieb Mexiko bis 1941 neutral und erklarte nach der Versenkung der beiden Oltanker Potrero del Llano und Faja de Oro durch deutsche U-Boote den Achsenmachten den Krieg. Die mexikanische Kriegsbeteiligung blieb jedoch beschrankt; eine Ausnahme bildete die Escuadron Aereo de Pelea 201, die im Pazifikkrieg kampfte.
1945 wurde Mexiko Grundungsmitglied der Vereinten Nationen, des Internationalen Wahrungsfonds sowie der Weltbank und 1948 der Organisation Amerikanischer Staaten.
In einigen Bundesstaaten durften Frauen an Lokal- und Bundesstaatenwahlen fruher teilnehmen als auf nationaler Ebene. Yucatan und San Luis Potosi waren die ersten Staaten, die 1922 und 1923 das Wahlrecht auf Frauen ubertrugen. 1946 erhielten Frauen uberall das kommunale Wahlrecht. Als Adolfo Ruiz Cortines 1952 die Wahl zum Prasidenten gewonnen hatte, loste er seine Zusage ein, eine Abstimmung uber das aktive und passive Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene ins Parlament einzubringen. Am 22. Dezember 1952 wurde der Gesetzesvorschlag des Prasidenten vom Kongress einstimmig beschlossen und wenige Tage spater vom Senat mit einer Gegenstimme ebenfalls angenommen. Die Regelungen wurden am 6. Oktober 1953 in Kraft gesetzt und verkundet. 1954 konnten Frauen sich an Kongresswahlen beteiligen, am 6. Juli 1958 erstmals an Prasidentschaftswahlen.
Die Partei der Institutionalisierten Revolution kontrollierte den Staat Mexiko bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Wahrend der Regierungszeit der PRI bestand lange Zeit keine klare Trennung zwischen den Institutionen des Staates und jenen der „offiziellen Partei“, das heißt der PRI. So unterstand etwa die Organisation von Wahlen der PRI. Dies fuhrte zu zahlreichen Berichten uber Unregelmaßigkeiten bei den Wahlen wie beispielsweise Falschung von Wahllisten, mehrfacher Stimmabgabe, Stimmenkauf, Kontrollen der Stimmabgabe, Wahlurnenraub und unkorrekter Stimmenauszahlung. Zwischen den 1940er und 1970er Jahren erlebte Mexiko eine Phase starken wirtschaftlichen Wachstums und wachsenden Wohlstands (Mexikanisches Wunder).
Im November 1993 trat der Staat der APEC bei und am 1. Januar 1994 grundete Mexiko zusammen mit Kanada und den Vereinigten Staaten das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA). Am gleichen Tag brach der Chiapas-Konflikt aus, in dem die Zapatistas gegen Diskriminierung und die Auswirkungen der Globalisierung kampfen. Am 18. Mai 1994 wurde Mexiko der erste Lateinamerikanische Mitgliedstaat der OECD. Ende 1994/Anfang 1995 war der Staat von der Tequila-Krise betroffen, nachdem die Regierung den festen Wechselkurs des Peso gegenuber dem US-Dollar nicht mehr halten konnte. Nach Finanzhilfen durch die USA, des Internationalen Wahrungsfonds und der Weltbank konnte die Krise im Laufe des Jahres 1995 beendet werden. Am 1. Januar 1995 wurde Mexiko Grundungsmitglied der Welthandelsorganisation.
= Drogenkrieg =
Als Drogenkrieg in Mexiko werden seit einer entsprechenden Regierungserklarung des Prasidenten Felipe Calderon am 11. Dezember 2006 die bewaffneten Konflikte in Mexiko bezeichnet, die sowohl von Polizei- und Militareinheiten gegen die im Drogenhandel tatigen kriminellen Organisationen (sog. mexikanischen Drogenkartelle) als auch zwischen den Angehorigen der Drogenkartelle selbst ausgetragen werden.
Seit Mitte der 2000er-Jahre befindet sich Mexiko in einem Drogenkrieg, in dem bisher grob geschatzt 300.000 Menschen starben (Stand: 2020).
Politik Mexiko ist eine Wahldemokratie. Das einwandfreie Funktionieren der demokratischen Institutionen des Staates wird allerdings durch Korruption und die schlechte Sicherheitslage im Staat behindert.
= Foderale Gliederung =
Mexiko ist eine foderale Republik, die aus 31 Gliedstaaten und der Hauptstadt Mexiko-Stadt (bis 2016 ein Bundesdistrikt, span. Distrito Federal) besteht. Die Gliedstaaten sind in insgesamt uber 2400 Gemeinden (Municipios) aufgeteilt, Mexiko-Stadt in 16 Stadtbezirke (Alcaldias). Die Gliedstaaten werden von Gouverneuren regiert. In der mexikanischen Verfassung sind im Artikel 73 die Befugnisse des Kongresses geregelt. Artikel 124 bestimmt, dass alle nicht dem Kongress zugewiesenen Kompetenzen bei den Bundesstaaten liegen. In der Realitat wurde dieser Foderalismus aber uber lange Zeit nicht umgesetzt. Die Dominanz der zentralstaatlichen Exekutive wirkte auch in die Gliedstaaten und Munizipien hinein. Die foderalen Einheiten agierten nicht so sehr aus den ihnen zugewiesenen Rechten und Pflichten heraus, sondern waren in ein System der Aushandlung integriert. Seit 1980 nahm die Bundesebene infolge des Nationalen Systems fur fiskalische Koordination 95 Prozent der Steuern ein und gab Teile von ihnen an die untergeordneten Einheiten weiter. Zwar war diese Verteilung formal geregelt, in der Realitat gab es aber immer wieder Unstimmigkeiten. Die Zentralregierung hielt oftmals die foderalen Verfahren nicht ein, und uber ihm zustehende verfassungsmaßige Rechte konnte der Prasident sogar Gouverneure entlassen und einsetzen.
Wahlerfolge der Opposition auf Ebene der Bundesstaaten und die Reduzierung der Macht der PRI fuhrten in den 1990er Jahren zu einer Starkung des mexikanischen Foderalismus. Unter der Regierung von Carlos Salinas de Gortari wurden 1993 den Gliedstaaten weitere Kompetenzen ubertragen. So erhielten sie die Zustandigkeit fur Gesundheitsfursorge und die Primarerziehung. Diese Entwicklungen wurden auch von den nachfolgenden Prasidenten fortgefuhrt. Vicente Fox versuchte mit dem Programm fur einen authentischen Foderalismus 2002–2006 die Dezentralisierung voranzutreiben. Die lokalen Verwaltungen sollten professioneller werden und damit die Kommunen in ihrer Position gestarkt. Die unterschiedlichen foderalen Ebenen sollen zudem in gemeinsamen Kommissionen zusammenarbeiten.
= Verfassungsentwicklung =
Die Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten existiert seit 1917. Sie entstand infolge der mexikanischen Revolution und wurde von einer Verfassungsgebenden Versammlung erarbeitet. Die Verfassung stellte einen Kompromiss verschiedenster Interessengruppen dar, weshalb sie antiklerikale, nationale, antiimperialistische, republikanische, paternalistische und sozial-reformistische Elemente enthalt. Dazu kommen aber auch liberale Elemente wie die burgerlichen Freiheitsrechte, Rechtssicherheit, das allgemeine Wahlrecht (bis 1953 jedoch auf Manner beschrankt), Sozialstaatlichkeit und die Garantie des Privateigentums, wobei auch weitere Eigentumsformen als verfassungsgemaß anerkannt wurden. Artikel 27, der langste Artikel der mexikanischen Verfassung, schreibt dem Staat das Eigentum an Land und Wasser zu und versieht ihn mit dem Recht, die Bewirtschaftung an Privatpersonen und Kollektive zu ubertragen. Dieser Artikel sollte primar die Macht der Großgrundbesitzer limitieren. Ein ahnliches Ziel zeigt sich in Artikel 123, in dem Arbeitnehmerrechte festgeschrieben werden. Beide Artikel zusammen bildeten fur lange Zeit die ideologische Legitimationsbasis der postrevolutionaren Regierungen fur das revolutionare Projekt und politische Kontrolle.
Die in der Verfassung formal garantierten Rechte der Bevolkerung traten allerdings lange Zeit hinter die Realitat des mexikanischen politischen Systems zuruck. Im mexikanischen Korporatismus war die Moglichkeit der Einklagbarkeit der Rechte nicht besonders ausgepragt und an ihrer Stelle stand ein System von politischen Gefalligkeiten, Loyalitaten und Begunstigungen, die sich in Verhandlungen ausdifferenzierten. Die Durchsetzung der Verfassungsrechte war damit vor allem an die Mobilisierungsfahigkeiten verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen und ihre Bedeutung fur die Aufrechterhaltung der Regierung der Partido Revolucionario Institucional gebunden. Staatliche Institutionen und Gerichte sorgten lange Zeit weniger fur die Durchsetzungen der Rechte, sondern funktionalisierten diese im Rahmen der geltenden politischen Ordnung.
Die Verfassung Mexikos wurde seit ihrer Proklamation 1917 uber 150 Mal geandert. In den 1990er Jahren wurden die Artikel 27 und 123 im Zuge der okonomischen Neuausrichtung geandert. Zudem wurde das Verhaltnis von Staat und Kirche neu geordnet. Daneben gab es vor allem Reformen, welche die Menschenrechtssituation in Mexiko verbessern sollten. Unter der Prasidentschaft Carlos Salinas de Gortaris wurde der Artikel 102 erganzt, der die Befugnisse des Generalstaatsanwalts regelt. Der mexikanische Kongress und auch die Parlamente der Bundesstaaten sind verpflichtet, Organe zu schaffen, die die Einhaltung der in der Verfassung garantierten Menschenrechte uberwachen sollen, aber keine Befugnisse in Bezug auf Wahlen, Gerichtsverfahren und Arbeitsverhaltnisse haben. Unter Ernesto Zedillo Ponce de Leon wurde in der Verfassung zudem ein Recht auf offentliche Sicherheit verankert. Trotz dieser Anpassungen der Verfassung hat sich die Menschenrechtslage in Mexiko kaum verbessert, weshalb die gesellschaftliche, politische und kulturelle Einbettung der Verfassungsreformen noch fraglich ist.
= Staatsrecht =
Seit 1917 ist Mexiko eine prasidiale Bundesrepublik. Der Prasident ist Chef der Bundesregierung und zugleich oberster Reprasentant des Staates. Er wird direkt vom Volk fur eine einzige Amtszeit von sechs Jahren, das sogenannte sexenio, gewahlt. Eine Wiederwahl ist verboten (Art. 83 der Verfassung). Ein vorzeitiges Ende der Amtszeit tritt im Todesfall ein oder wenn der Prasident zurucktritt (Art. 86). Der Prasident hat umfassende Machtbefugnisse. Er besitzt das Initiativrecht bei Gesetzgebungsverfahren und ein Vetorecht bei Gesetzesinitiativen aus dem Kongress. Daruber hinaus ist der Prasident Oberbefehlshaber des mexikanischen Militars und ernennt dessen hochste Range, eine Reihe hoher Staatsbeamter und den Generalstaatsanwalt. Mit Zustimmung von Kongress und Ministerrat kann der mexikanische Prasident den Notstand verhangen. Er hat das Recht zur Initiative fur Kriegserklarungen, gibt die Richtlinien der Außenpolitik vor und unterzeichnet internationale Vertrage. Neben den verfassungsmaßigen Befugnissen pragten uber die lange Zeit der Herrschaft der Partido Revolucionario Institucional weitere informelle Regeln das Prasidentenamt. Der Prasident dominierte die Partei, er enthielt sich der Kritik an seinem Amtsvorganger und musste sich diesen Traditionen unterwerfen, da er sonst aus dem Zentrum der Macht ausgeschlossen werden konnte. Innerhalb der sechsjahrigen Amtszeit erreichte er im dritten und vierten Jahr die Hochphase seiner Macht und kummerte sich gegen Ende der Amtszeit um seine Nachfolge. Trotz der Wahl durch das Volk wurde die Nachfolge nicht transparent, sondern in einem informellen Prozess zwischen verschiedenen Fraktionen und Gruppierungen in der politischen Klasse Mexikos geregelt. Hohepunkt war der Akt der Bekanntgabe (destape), bei dem der Prasident seinen Nachfolger per Fingerzeig (dedazo) benannte.
Der Kongress der Union (Congreso de la Union) ist ein Zweikammerparlament. Das Abgeordnetenhaus (Camara de Diputados) umfasst 500 Mitglieder, der Senat (Senado) besteht aus 128 Senatoren. Die 500 Abgeordneten werden alle drei Jahre gewahlt. 300 von ihnen werden in einer Direktwahl (Personenwahl) bestimmt, 200 uber Listenplatze (Mehrheitswahl) gewahlt. Die Senatoren werden auf sechs Jahre gewahlt. In jedem der 32 Bundesstaaten werden drei Senatoren bestimmt, zwei von ihnen nach Mehrheitswahlrecht, der dritte Senatorenposten wird der jeweils starksten Oppositionspartei zugesprochen. Die 32 ubrigen Senatorenplatze werden national nach einem proportionalen Reprasentationssystems vergeben. Die Abgeordneten und Senatoren durfen seit einer Reform 2014 anders als der Prasident nach ihrer Amtszeit wiedergewahlt werden. Abgeordnete dabei fur bis zu vier und Senatoren fur maximal zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten. Die wichtigste Funktion des Abgeordnetenhauses ist die jahrliche Untersuchung, Diskussion und Verabschiedung des Bundeshaushalts, wobei eine Ablehnung nicht vorgesehen ist. Die wichtigste Befugnisse des Senats sind hingegen die Zustimmung zu internationalen Vertragen und die Autorisierung von Truppenentsendungen ins Ausland. Daruber hinaus hat der Kongress das Erlassen von Gesetzen und Dekreten, die okonomische, territoriale und politische Organisation des Staates, die Zustimmung zu Kriegserklarungen, Bildungsforderung und Arbeitsgesetzgebung als Aufgabenbereiche. Die 71 Jahre andauernde Herrschaft der Partido Revolucionario Institucional schlug sich in der Dominanz im Parlament nieder. So besetzte sie von 1970 bis 1988 durchschnittlich 78 Prozent der Kongresssitze. Die zunehmende Delegitimation des Systems und ab 1989 auch die zunehmend erfolgreiche Aktivitat der Oppositionsparteien in den Bundesstaaten mit ihren Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Senats fuhrten spatestens ab 1997 zum Ende der Dominanz der PRI und damit zu einer Starkung der Bedeutung des Parlaments.
Die Zentralregierung wirkte uber lange Zeit stark in die Bundesstaaten hinein, dieser Einfluss ist bis heute gegeben. Die Gouverneure werden direkt vom Volk gewahlt, waren aber in ihrem Handlungsspielraum stark durch ihren Kontakt zum Prasidenten limitiert und auf dessen Wohlwollen angewiesen. Dies liegt in den vielfaltigen Abhangigkeiten der Staaten von der Bundesregierung begrundet, da diese den Staaten und Gemeinden einen Teil der Steuereinnahmen zuweist. Daneben haben die Ministerien Vertretungen (Delegaciones) in den Bundesstaaten, Regierungsbezirken und Gemeinden. Uber diese werden Bundesmittel insbesondere fur Sozialfursorge und Entwicklungsprogramme vergeben. Insbesondere in armeren Bundesstaaten konnen diese Vertretungen mehr Mittel zur Verfugung haben als der Haushalt des Bundesstaates, sie konnten so teilweise mehr Macht entfalten als die Gouverneure und andere regionale und lokale Politiker. Die Prasidenten versuchten, ihren Einfluss so weiter auszudehnen. Besonders Carlos Salinas de Gortari, Prasident von 1988 bis 1994, tat dies mit seinem 'Nationalen Solidaritatsprogramm'.
Der Oberste Gerichtshof Mexikos, der Suprema Corte de Justicia de la Nacion, besteht aus elf Bundesrichtern (Ministros), die vom Prasidenten vorgeschlagen werden und vom Senat bestatigt werden. Ihre Amtszeit ist auf 15 Jahre begrenzt, der Prasident wird aus ihrer Mitte fur vier Jahre bestimmt und darf nicht direkt anschließend wiedergewahlt werden. In der 71 Jahre andauernden Herrschaft der PRI verlor die Judikative mehr und mehr an Einfluss. Erst mit der Verfassungsreform von 1995 erhielt der Suprema Corte de Justicia de la Nacion wieder die Kompetenz, uber die Verfassungsmaßigkeit der Politik zu urteilen. Seit dem Jahr 2000 muss der Generalstaatsanwalt vom Senat bestatigt werden.
= Wahlsystem =
Die Wahlen in Mexiko hatten wahrend der langen Zeit der Dominanz der PRI eher akklamatorischen Charakter, es gab keine Konkurrenz unter den Parteien und damit auch keinen Wahlkampf. Der Kandidat fuhrte im ganzen Staat eine Kampagne durch und schloss dabei Bundnisse mit den lokalen Parteivertretern. Seit 1946 organisierte die dem Innenministerium unterstellte Foderale Kommission der Wahluberprufung, spater in Foderale Wahlkommission umbenannt, die Wahlen. In dieser Kommission stellte die PRI immer die Mehrheit. 1988 zeigte sich das Gremium bei den Konflikten nach der Wahl als nicht handlungsfahig, und Prasident Salinas ubernahm die Entscheidung und setzte sie durch. Wahlsiege der Opposition waren Verhandlungsergebnisse der Parteien mit dem Prasidenten, nachdem die Wahl bereits stattgefunden hatte.
Seit dem Ende der 1970er-Jahre wurde das Wahlrecht von 1917 immer wieder reformiert. 1991 wurde das Instituto Federal Electoral gegrundet, das sich im Laufe der 1990er-Jahre als unabhangige Wahlbehorde etablierte, in der auch nichtstaatliche Organisationen und Wahlbeobachter sitzen. Es wurde zwar vom Staat gegrundet, konnte aber mehrere Prasidentschaftswechsel uberdauern und dabei an Unabhangigkeit und Einfluss gewinnen. Es erstellt und verwaltet die Wahlerverzeichnisse und falschungssichere Identifikationskarten und begleitet die Reformen des Wahlgesetzes. Das Instituto Federal Electoral stieß etwa Reformen an, die den Zugang zu Parteienfinanzierung und Medien fur alle Parteien erleichterten. Es uberwacht die Wahlen, die Auszahlung der Stimmen und verkundet die Wahlergebnisse. Zudem geht es gegen Wahlunregelmaßigkeiten vor. So setzte sich das Instituto Federal Electoral zusammen mit dem Bundeswahlgericht gegen Manipulationen alter PRI-Kreise bei den Gouverneurswahlen in Yucatan und Tabasco in den Jahren 2000 und 2001 durch. Das Instituto Federal Electoral wird von allen mexikanischen Parteien und auch international anerkannt.
= Politische Indizes =
= Parteienlandschaft =
Die Partido Revolucionario Institucional (PRI) war lange Zeit die dominierende Partei in Mexiko, die bis in die 1990er Jahre in Bund, Bundesstaaten und Gemeinden fast uneingeschrankt regierte und bis 2000 den Prasidenten stellte. Sie ging aus der 1929 gegrundeten Partido Nacional Revolucionario (PNR) hervor, die unter Plutarco Elias Calles noch territorial organisiert war und nicht sektoral inkorporiert. Als Gegensatz zu Calles mit seinem System regionaler Machteliten etablierte Lazaro Cardenas del Rio in der Partido de la Revolucion Mexicana (PRM) eine Gliederung in funktionale Sektoren. So wurden Bauern, stadtische Mittel- und Unterschichten und Arbeiter uber nationale Organisationen in die Partei eingegliedert. Zwischen 1938 und 1940 galt dies auch fur das Militar. Dennoch anderten auch diese Umbildungen unter Cardenas zunachst nichts an der Dominanz lokaler Machteliten. Dennoch traten nun neben die traditionellen Verbindungen der Caciques neue Netzwerke, die durch Gewerkschaften, Lehrerverbande und weitere nationale und soziale Organisationen gepragt wurden. 1946 wurde die PRI als korporative Partei gegrundet. Sie sorgte fur eine weitere Verschiebung der Machtverhaltnisse von den peripheren Eliten hin zur metropolitanen Modernisierungskoalition und diente uber lange Zeit als Verbindungsscharnier zwischen diesen beiden. Die PRI profitierte vom 1946 verabschiedeten Wahlgesetz, das parteilose Kandidaten beschrankte und von Parteien eine nationale Verankerung verlangte, was vom Innenministerium, das die Parteien zuließ, kontrolliert wurde. So nahm der Einfluss und die Macht der lokalen Caciques und der militarischen Caudillos ab, wahrend Akteure, die sich loyal zu den staatlichen Institutionen und Regierenden stellten, ihre Position starkten. Ab den 1970er-Jahren veranderte sich die Lage der PRI. Ihr fiel es zunehmend schwer, die Staatsbevolkerung, nationale und transnationale Migranten in die Parteistruktur zu integrieren. Selbes galt fur die Studentenbewegung von 1968 und die neuen sozialen Bewegungen der 1980er mit Akteuren wie Frauen, Migranten, Unterbeschaftigten, Jugendlichen und Intellektuellen.
Die Partido Accion Nacional (PAN) wurde im Gegensatz zur PRI 1939 als Oppositionspartei gegrundet. Sie entstand im katholischen Nordwesten Mexikos im Kontext der antiklerikalen Politik der PRI. Uber viele Jahre hinweg war die PAN die einzige zugelassene politische Kraft, die aus sich heraus lebensfahig war. In ihr sammelten sich verschiedene Stromungen wie etwa sozial orientierte, neoliberale und katholisch konservative. Die Neoliberalen in der PAN forcierten seit der Regierung von Carlos Salinas de Gortari Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre die Zusammenarbeit mit der PRI. Viele Mitglieder der PAN setzten sich fur die Durchsetzung von Freiheitsrechten ein. Ab dem Ende der 1980er Jahre begannen sie zusammen mit anderen Parteien verstarkt fur demokratische und ordentliche Wahlen sowie fur mehr Rechtssicherheit einzutreten. Auf regionaler und kommunaler Ebene konnte die PAN in dieser Seite Wahlsiege erringen, auf Bundesebene brauchte sie im Jahr 2000 die Unterstutzung der Partido Verde Ecologista de Mexico (PVEM) sowie weiter außer- und uberparteilicher Bundnisse, bekannt als Amigos de Fox, um Vicente Fox zum Gewinn der Prasidentschaftswahl zu fuhren. 2006 gewann die PAN mit Felipe Calderon erneut die Prasidentschaft, konnte seitdem auf Bundesebene aber keine Wahlen mehr gewinnen.
Neben den beiden großen Parteien gab und gibt es einige kleinere linke Parteien, die lange Zeit illegal arbeiten mussten. Die 1919 gegrundete Kommunistische Partei (Partido Comunista Mexicano, PCM) ist eine der altesten Parteien Mexikos. Bis zur Ermordung Leo Trotzkis im Jahr 1940 gab es Auseinandersetzungen zwischen Trotzkisten und Stalinisten. Die PCM war immer wieder verboten und konnte sich erst seit der Prasidentschaft Jose Lopez Portillos von 1976 bis 1982 frei betatigen und erhielt die Zulassung zu Wahlen. In den 1980er Jahren schloss sie sich mit weiteren kleinen linken Parteien zusammen, um bei Wahlen bessere Chancen zu haben und so langsam am Prozess der Demokratisierung mitzuwirken. 1989 ging diese Partei in der neu gegrundeten Partido de la Revolucion Democratica (PRD) auf, wo sie auf eine gemaßigtere, aus der PRI stammenden Basis traf, die den neuen wirtschaftlichen Regierungskurs nicht mittragen wollten.
Neben den drei großen Parteien gibt es noch weitere, kleinere wie die Partido Popular Socialista de Mexico, Partido Nueva Alianza, Partido del Trabajo, die Convergencia por la Democracia und das Movimiento Regeneracion Nacional.
= Außen- und Sicherheitspolitik =
Die Außenpolitik Mexikos wird von der historischen Erfahrung des 19. Jahrhunderts gepragt. Infolge der auslandischen Interventionen, vor allem nach der franzosischen Intervention in Mexiko und dann nach der mexikanischen Revolution bestimmte die Doctrina Juarez die mexikanische Außenpolitik. Sie war auf das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Lander und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ausgerichtet. Die mexikanische Politik beschrankte sich somit auf Einflussnahme in multilateralen Organisationen. In den 1970er Jahren veranderte sich diese Position, spatestens mit der Schuldenkrise von 1982 war sie hinfallig. Anstelle der Gleichsetzung von revolutionarem Staat mit nationaler Souveranitat trat unter der Regierung Jose Lopez Portillos nun das Verstandnis, diese liege in der internationalen Partizipation. Dies fuhrte in der Folge zu verschiedenen Schritten der internationalen Integration. 1986 trat Mexiko dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen bei und 1993 der Asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft. Mexiko trat 1994 der Organisation fur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung bei und zugleich aus der Gruppe der 77 aus. Zudem war der Staat 1995 eines der Grundungsmitglieder der Welthandelsorganisation.
Mexiko ist Mitglied der Vereinten Nationen. Seit den 1990er Jahren tritt Mexiko fur eine Reform des UN-Sicherheitsrats ein. Dabei positioniert es sich mit der Unterstutzung von Kanada, Italien, Pakistan, Sudkorea, Spanien, Argentinien, der Turkei und Malta, vereint unter dem Namen Uniting for Consensus, gegen den Vorschlag der G4-Staaten Deutschland, Brasilien, Indien und Japan, die standige Sitze im Sicherheitsrat beanspruchen. Mexiko richtet sich dabei vor allem gegen den Sitz Brasiliens, da es dadurch das Machtgefuge in Lateinamerika gefahrdet sieht. Daruber hinaus ist Mexiko Mitglied der Organisation Amerikanischer Staaten, der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten, der G8+5 und der G20 Wirtschaftsmachte
Außenpolitisch dominierend ist seit dem 19. Jahrhundert die Beziehung zu den Vereinigten Staaten. Diese Dominanz erhielt 1994 mit der Unterzeichnung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens eine neue wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Dimension. Mit diesem Abkommen wurde das neue neoliberale Wirtschaftsmodell extern institutionalisiert. In der Folge kam es zu einer weiteren Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den USA und Mexiko, die weit uber die zunehmende okonomische Integration hinausging. Zunehmend trat die Frage der Sicherheit der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko in den Fokus. Dabei geht es zum einen um die Frage der illegalen Immigration von Mexikanern in die Vereinigten Staaten und den Menschenhandel, zum anderen um die der Sicherheit im Zusammenhang mit dem Schmuggel von Waffen, Drogen und Geld im Kontext des mexikanischen Drogenkrieges. Infolge der Terroranschlage vom 11. September 2001 veranderte sich die Beziehung der beiden Staaten. Zum einen ruckte der Fokus der US-Politik nun auf andere Regionen, zum anderen waren die USA von der mexikanischen Ablehnung des Irakkrieges enttauscht. Hinzu kam in den USA 2003 die Verabschiedung der Gesetze Agricultural Jobs, Opportunity, Benefits and Security Act, Land Border Security and Immigration Improvement Act und Border Security and Immigration Reform Act, die eine bei weitem restriktivere Grenz- und Immigrationspolitik verfolgten als Vicente Fox und damit zu Irritationen fuhrten.
Seit den 1960er-Jahren gewannen die Beziehungen Mexikos zu anderen Staaten Lateinamerikas neben denen zu den Vereinigten Staaten zunehmend an Gewicht. Verstarkt beteiligte sich Mexiko an lateinamerikanischen Kooperationen wie der lateinamerikanischen Freihandelszone, die 1981 zur lateinamerikanischen Integrationsvereinigung wurde. Der Staat unterstutzte zudem diplomatisch, symbolisch und materiell die revolutionaren Bewegungen in Lateinamerika. Entgegen den Erwartungen der USA erhielt Mexiko zudem auch nach der Revolution die diplomatischen Beziehungen zu Kuba aufrecht. Gemeinsam mit Venezuela baute Mexiko weiterhin das lateinamerikanische Wirtschaftssystem auf, das Kuba, nicht aber die USA, miteinbezog. Mit dem Ruckbezug auf die Vereinigten Staaten in den 1980er Jahren ließ aber die lateinamerikanische Integration Mexikos nach. Die Idee mit Argentinien und Brasilien ein Schuldner-Kartell zu bilden und somit die Schuldenkrise zu uberwinden wurde in diesem Zusammenhang verworfen. In den 1990er Jahren schloss Mexiko zwar mit Chile, Kolumbien, Bolivien, Nicaragua und Venezuela Freihandelsabkommen, der Fokus der mexikanischen Außenpolitik wurde jedoch nicht wieder verstarkt auf Lateinamerika gelegt. Dennoch kam es zu einzelnen verstarkten Kooperationen. So wurde der Plan-Puebla-Panama ausgerufen und die Entwicklung der amerikanischen Freihandelszone forciert, wobei ersterer zeitweise nicht weiter verfolgt wurde und letztere bis heute nicht zustande gekommen ist. Zudem begann Mexiko damit verstarkt Kritik an der Menschenrechtslage auf Kuba zu uben, so dass trotz Annaherung an Argentinien, Brasilien und Uruguay keine Ruckbesinnung auf die Lateinamerikapolitik der 1960er und 1970er Jahre gab.
Mexiko war 1975 der dritte lateinamerikanische Staat nach Uruguay und Brasilien, das ein Wirtschafts- und Handelsabkommen mit der Europaischen Gemeinschaft abschloss. In den 1980er Jahren folgten weitere Abkommen und Vertrage, die die Zusammenarbeit etwa bei wissenschaftlichen und sozialpolitischen Fragen, sowie bei der Drogenbekampfung, Tourismusforderung, Kulturpolitik und Umweltpolitik forderten. Die Bedeutung Europas fur Prasident Fox wurde auch an der Zahl seiner 16 Auslandsreisen in diese Region deutlich. Auch wurden die europaisch-mexikanischen Beziehungen in seiner Amtszeit zunehmend institutionalisiert. Dennoch erfullte Europa fur Mexiko nicht die in es gesetzten Erwartungen, womit in der Außenpolitik zunehmend Asien und dabei vor allem die Volksrepublik China an Bedeutung gewannen.
Am 6. April 2024 brach Mexiko seine diplomatischen Beziehungen mit Ecuador ab, nachdem Polizeikrafte des Andenstaates in die mexikanische Botschaft eingedrungen waren und den ehemaligen Vizeprasidenten Jorge Glas festgenommen hatten, dem dort politisches Asyl gewahrt worden war. Er war von der ecuadorianischen Justiz wegen Korruption verurteilt worden und wurde per Haftbefehl gesucht.
= Militar =
Das mexikanische Militar untersteht dem Secretaria de la Defensa Nacional (SEDENA), das 1884 als Kriegs- und Marinesekretariat (Secretaria de Guerra y Marina) gegrundet wurde. 1937 wurde es in Secretaria de la Defensa umbenannt. Fur die Mexikanische Kriegsmarine, die Armada de Mexico, ist in Mexiko seither das Secretaria de Marina (SEMAR) zustandig. Die Streitkrafte stehen in der Tradition des Mexikanischen Unabhangigkeitskrieges. Sie haben den Ruf, sich politisch neutral zu verhalten und weniger fur Korruption anfallig zu sein als andere staatliche Institutionen und Behorden. Im Gegensatz zur Situation in vielen anderen lateinamerikanischen Staaten mischte sich das mexikanische Militar nicht in okonomische und politische Transformationen ein. Es agierte nie unabhangig, sondern engagierte sich nur auf Anordnung des Staatsprasidenten oder der Gouverneure.
Bis in die jungere Geschichte hinein war es nach den militarischen Auseinandersetzungen im 19. Jahrhundert vor allem infolge von Naturkatastrophen sichtbar. Es kam aber auch zu weiteren Einsatzen im Innern wie bei der Niederschlagung des Eisenbahnerstreiks 1959, der Niederschlagung der Studentenproteste 1968 und der Bekampfung der Guerilla in den 1970er Jahren. In den 1980er Jahren und spatestens in den 1990er Jahren kam es auch auf Druck der Vereinigten Staaten und dem steigenden Ausmaß der Drogenkriminalitat zu Einsatzen gegen die Kartelle. Dabei stellte sich heraus, dass das Militar den Drogenhandel nicht eindammen konnte, sondern vermehrt fur Korruption durch die Narcos anfallig wurde. Unter Prasident Calderon wird das Militar seit Anfang 2007 in dem den Drogenkartellen erklarten Krieg zur Bekampfung der Drogenmafia verstarkt eingesetzt. Im Zuge der Kooperation bei der Drogenbekampfung gelang es den Vereinigten Staaten ihren Einfluss auf das mexikanische Militar auszudehnen. So wurde Mexiko Teil des United States Northern Command und ist damit seit Oktober 2002 in das Area of responsibility der Vereinigten Staaten einbezogen. Die neue Einsatzsituation fuhrte zu Veranderungen des mexikanischen Militars. Es verliert immer weiter den Ruckbezug auf die mexikanische Revolution, nimmt immer mehr polizeiliche Aufgaben wahr, verstrickt sich zunehmend in Menschenrechtsverletzungen und ordnet sich immer weiter Sicherheitsinteressen der USA unter. Zum Teil durchlaufen mexikanische Soldaten auch die US-amerikanische Ausbildung.
Die mexikanischen Streitkrafte sind in die Armee, zu der auch die Luftwaffe gehort, und die Marine untergliedert. In Mexiko besteht Wehrpflicht (Servicio Militar Nacional). Alle mannlichen Einwohner uber 18 werden zum Militardienst verpflichtet, der zwolf Monate dauert. Mit 16 kann der Dienst freiwillig angetreten werden, auch Frauen konnen freiwillig dienen. Die Armee besteht aus 192.000 Soldaten, von denen 130.000 zum Heer, 37.000 zur Marine und 8000 zur Luftwaffe gehoren. Hinzu kommen 300.000 Reservisten und 25.000 Angehorige paramilitarischer Einheiten. Mexiko gab 2017 knapp 0,5 Prozent seiner Wirtschaftsleistung oder 5,8 Mrd. US-Dollar fur seine Streitkrafte aus.
= Rechtssystem =
Das Rechtssystem Mexikos leidet unter Vertrauensverlust der Bevolkerung und strukturellen Defiziten. Das mexikanische Rechtssystem war in das Herrschaftssystem der PRI eingebunden und wurde damit eher nicht als gesellschaftliche Regelinstanz wahrgenommen, sondern als Anrufungs- und Mobilisierungsinstanz verstanden. Dies fuhrt dazu, dass das System Legitimationsprobleme hat. 72 Prozent der Mexikaner halten es nicht fur zwingend geboten, sich an die Gesetze zu halten, 71 Prozent sehen die Menschenrechte in ihrem Staat nicht als gesichert an und 20 Prozent befurworten Selbstjustiz. Dies hangt auch damit zusammen, dass das mexikanische Rechtssystem als ein Projekt der Elite konstituiert wurde und damit von Beginn an nicht mit der Lebensrealitat der Bevolkerungsmehrheit ubereinstimmte. Hinzu kommt etwa die Verwicklung der Polizei in den Drogenhandel und die organisierte Kriminalitat und ihre Anfalligkeit fur Korruption. Zudem akzeptiert sie in hohem Maße Gewaltanwendung außerhalb des gesetzlichen Rahmens und personliche Bereicherung.
Fur die innere Sicherheit ist in Mexiko das Secretaria de Seguridad Publica zustandig, andere Aufgaben eines normalen Innenministeriums werden hingegen vom Secretaria de Gobernacion wahrgenommen. Auf den Ebenen des Bundes, der Bundesstaaten und der Stadte und Gemeinden gab es Stand 2009 uber 1661 Polizeibehorden mit ca. 350.000 Mitgliedern. Die so zwischen den vielen Polizeiorganisationen verteilten und uberlappenden Verantwortungsbereiche, eine unzureichende Koordinierung und eine schlechte Bezahlung begunstigen die oben genannten Missstande. Lediglich auf der Ebene des Bundes wurde mit der Schaffung der Policia Federal eine Zusammenfassung der verschiedenen Polizeien betrieben. Die Procuraduria General de la Republica ist fur die Strafverfolgung auf Bundesebene zustandig, sowie fur die Uberwachung und Reform des Justizwesens und der Verfassung. Ihr steht der Generalstaatsanwalt vor, der direkt vom Staatsprasidenten ernannt wird und damit in einem direkten Abhangigkeitsverhaltnis zur Exekutive steht.
Dem Secretaria de Gobernacion ist das Centro de Investigacion y Seguridad Nacional (CISEN) unterstellt. Er ist der Nachrichtendienst Mexikos und war in seiner Geschichte immer mehr nach innen gerichtet, denn auf außere Gegner. Er beobachtete etwa Oppositionelle und Andersdenkende in den Jahren nach der Revolution und der Zeit der Alleinherrschaft der PRI.
Wirtschaft Mexiko hatte 2023 ein Bruttoinlandsprodukt von 1,8 Billionen USD (3,2 Billionen USD nach Kaufkraftparitat). Dies war das 13. hochste der Welt und das zweithochste in Lateinamerika. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag auf einem vergleichbaren Level mit anderen Schwellenlandern wie Brasilien, Volksrepublik China oder der Turkei. Mexiko belegt momentan Rang 12 der Export-Weltrangliste, die meisten Exporte gehen in die USA. Mexikos Konjunktur ist deshalb stark von den USA abhangig. Im Global Competitiveness Index, der die Wettbewerbsfahigkeit eines Staates misst, belegt Mexiko Platz 51 von 137 Staaten (Stand: 2017–2018). Korruption ist ein großes Problem in der mexikanischen Wirtschaft.
Das Bruttoinlandsprodukt (im Jahr 2016) teilt sich auf in:
Landwirtschaft: 3,7 Prozent des BIP werden erwirtschaftet durch 13,4 Prozent der Beschaftigten
Industrie: 33,1 Prozent des BIP werden erwirtschaftet durch 24,1 Prozent der Beschaftigten
Dienstleistung: 63,2 Prozent des BIP werden erwirtschaftet durch 62,5 Prozent der Beschaftigten
Mexikos Wirtschaft wurde seit den 1990er Jahren stark dereguliert und privatisiert. Die Dominanz privater Firmen wachst standig, und die Privatisierung von Eisenbahn, See- und Flughafen geht ihrem Ende entgegen, ebenso wie die weitere Privatisierung der Banken. Die Liberalisierung des Energiesektors schreitet weiter voran. In den Bereichen Telekommunikation und Petrochemie stehen noch Reformen aus. Die Maquiladora-Industrie verstarkte ihre Position in der mexikanischen Wirtschaft und dominiert vor allem den Textilsektor. Aufgrund der fortschreitenden Industrialisierung, gunstigen Demografie, steigendem Binnenkonsum und Nahe zum US-Markt verfugt Mexikos Wirtschaft uber betrachtliches Potenzial.
Es existiert ein Nord-Sud Gefalle in Mexiko. Nordliche Bundesstaaten die Nahe an den USA liegen wie Nuevo Leon oder Sonora sind reicher und starker industrialisiert als sudliche Bundesstaaten wie Chiapas, Guerrero oder Oaxaca, die zu den armsten Regionen Mexikos zahlen. Wichtigstes Wirtschaftszentrum ist allerdings mit Abstand die zentrale Region rund um die Hauptstadt Mexiko-Stadt.
Mexikaner, die im Ausland leben, uberwiesen 2016 uber 26 Milliarden US-Dollar in ihren Heimatstaat zuruck. Der großte Teil dieser Uberweisungen stammt aus den Vereinigten Staaten. Ruckuberweisungen sind damit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, die 2,7 % der Wirtschaftsleistung ausmachen.
Die Arbeitslosenquote war im Jahr 2017 mit 3,9 % relativ niedrig. Allerdings ist eine hohe Anzahl der Arbeitskrafte unterbeschaftigt. Schatzungen gehen von einer Unterbeschaftigungsrate von uber 20 % aus.
Mexiko ist eines der ungleichsten Lander der Welt. 0,2 Prozent der Bevolkerung besitzen 60 Prozent des Reichtums des Landes, wahrend 46,8 Millionen Menschen in Armut leben (2024). Die Ungleichheit gilt als der Hauptfaktor fur die Kriminalitat in Mexiko.
Das Land fuhrt eine Wertpapierborse mit dem Namen Bolsa Mexicana de Valores mit ihrem Sitz in der Hauptstadt. Der Leitindex des Landes ist der Indice de Precios y Cotizaciones.
Quellen: CIA World Factbook, Landerinformationen des Auswartigen Amtes zu Mexiko
= Energiewirtschaft =
Mexiko deckt seinen Energiebedarf Stand 2020 in erster Linie mit Ol und (mit zunehmender Tendenz) Gas. Das Gas wird großtenteils aus den USA importiert.
Strom Das staatliche Monopolunternehmen Comision Federal de Electricidad (CFE) ist fur die Erzeugung und die Verteilung der elektrischen Energie zustandig. Die Abdeckung der Stromversorgung liegt bei 98,7 % (2021).
Die installierte Kapazitat zur Stromerzeugung betrug Stand 2017 75 GW. 70,5 Prozent der installierten Kapazitat waren 29,5 Prozent emissionsarm. 2008 kamen 19,0 % des Stroms aus Wasserkraft, 2,4 % aus Kernenergie und 3,3 % aus anderen erneuerbaren Energien (ausg. Wasserkraft). 2007 hat Mexiko 1,3 TWh Strom in die USA exportiert und 0,6 TWh aus den USA importiert.
2009 betrug die Bruttostromerzeugung 233,4 TWh.:
Warmekraftwerke 41,18 %
privatwirtschaftliche Stromerzeugung 32,76 %
Wasserkraft 11,33 %
Kohlekraftwerke 7,23 %
Kernenergie 4,50 %
Geothermie 2,89 %
Windkraft 0,11 %
2020 lag der Stromverbrauch bei 307 TWh.
Mexiko hat ein hohes Potenzial fur die Nutzung erneuerbarer Energien, speziell Windkraft und Solarenergie. Das technische Potenzial zur Erzeugung von Strom wird auf 25.000 GW fur Photovoltaik und 3.600 GW fur Wind geschatzt. Zwischen 2006 und 2015 wollte Mexiko zusatzliche 14,8 GW Strom durch Erneuerbare Energiesysteme erzeugen. Stand 2021 lag die Kapazitat fur Solarenergie bei 7 GW (peak), und es waren Windkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 7,69 GW in Betrieb (2020: 6,50, 2019: 6,05 GW). Wasserkraft lag bei 12,6 GW.
Der großte Stausee in Mexiko, der Manuel-M.-Torres-Staudamm in Chiapas, staut den Rio Grijalva und ist mit einer Leistung von 2.400 MW, der viertproduktivste der Welt.
Mexiko betreibt ein Kernkraftwerk, das Kernkraftwerk Laguna Verde mit zwei Reaktoren und einer Bruttoleistung von 1.640 MW, das bis 2050 betrieben werden soll.
Biokraftstoff Auch die Produktionsausweitung von Bioethanol als Treibstoff fur Autos ist eine Option, wobei zu berucksichtigen ist, dass bereits heute nicht genugend Mais aus heimischer Produktion fur die Ernahrung der Bevolkerung zur Verfugung steht. Als Rohstoff fur die Bioethanolherstellung wird daher Melasse aus der Zuckerindustrie bevorzugt. Das Produktionspotenzial wird auf 56 Millionen Liter pro Jahr geschatzt, der zukunftige Verbrauch auf 164 Millionen Liter.
= Bodenschatze =
Der Erdolsektor nimmt eine zentrale Rolle fur die mexikanische Wirtschaft ein. Die Einnahmen aus dem Erdolexport belaufen sich auf 10 % der mexikanischen Exporterlose.
Mexiko war 2007 der sechstgroßte Produzent von Erdol weltweit mit 3,7 Million Barrels pro Tag und die zehntgroßte Ol-Exportnation. Das staatliche Erdolunternehmen PEMEX ist das großte mexikanische Unternehmen und das großte Unternehmen in Lateinamerika, mit knapp 140.000 Mitarbeitern und einem Umsatz von knapp 100 Milliarden US$ (2006).
= Industrie =
Die Automobilindustrie (OEM- und Zulieferindustrie) in Mexiko tragt mit 3 % zum gesamt BIP, mit 17,3 % zur produzierenden Industrie und mit 21,4 % zu den Exporten bei und beschaftigt 13 % der Arbeiter in Mexiko (davon sind 84 % in der Zulieferindustrie und 16 % in der Kfz-Herstellung tatig). Sie stellt heute (2012) die großte Branche dar und beschaftigt rund eine Million Menschen. Zahlreiche Freihandelsabkommen mit 43 Landern ermoglichen hohe Exportquoten. Der Anteil der fur den Export produzierten Fahrzeuge stieg im Zeitraum von 1990 bis 2016 von 34 Prozent auf 82 Prozent. Bis 2016 erreichte die Produktion 3,3 Millionen Einheiten, was dem siebent-großten Produzenten weltweit entsprach.
Das Unternehmen Ford investiert 2 Milliarden US$, um das Modell Ford Fiesta in Mexiko zu produzieren. Hierdurch werden ca. 30.000 Arbeitsplatze bei Zulieferern und bei Ford selbst geschaffen.
Viele der in Mexiko produzierten Fahrzeuge werden in die USA und nach Kanada verkauft. So errichtete Toyota ein Werk ab 2004 direkt an der Grenze zu den USA, in dem 50.000 Pick-ups pro Jahr produziert werden.
General Motors de Mexico, S. de R. L. de C.V. ist mit einem Umsatz von 11,8 Milliarden US$ der großte Automobilhersteller in Mexiko und das neuntgroßte Unternehmen des Staates. General Motors ist seit 1935 in Mexiko aktiv und besitzt heute Fabriken in Toluca, Silao, Guanajuato, Ramos Arizpe, Coahuila und in Mexiko-Stadt. GM montiert in Mexiko verschiedene Modelle fur den einheimischen Markt und fur den Export weltweit. GM Mexiko verkauft in Mexiko die Marken Chevrolet, Pontiac, Cadillac, Saab und Fiat.
Nissan Mexicana S.A. de C.V. produziert seit 1966 Fahrzeuge und Fahrzeugteile in Mexiko und importiert Nissan-Fahrzeuge aus anderen Landern (z. B. aus Brasilien) fur den mexikanischen Markt. Die Firma wurde 1961 gegrundet, die Hauptverwaltung (ca. 450 Mitarbeiter) ist in Mexiko-Stadt.
Mit 9000 Mitarbeitern rangierte das Unternehmen 2006 an Platz 16 der großten Unternehmen Mexikos. Die Ausbringung betrug 2007 496.000 Fahrzeuge, 214.000 Fahrzeuge wurden in Mexiko verkauft (Marktanteil 19,5 %).
Volkswagen de Mexico betreibt seit 1964 ein Fertigungswerk in Puebla, in dem ca. 15.000 Mitarbeiter beschaftigt werden. Ungefahr 80 % der dort im Jahr 2008 produzierten 450.000 Fahrzeuge werden exportiert. Planziel fur 2012 sind 600.000 Fahrzeuge. In dem Werk wurde noch bis 2003 der VW Kafer gebaut.
Das 1906 gegrundete Unternehmen Cemex ist ein global operierender Baustoffhersteller, vor allem von Transportbeton, und einer der großten Zementhersteller der Welt (Jahresumsatz ca. 13 Milliarden US-Dollar; Stand Ende 2017). Neben den beiden Hauptgeschaftsbereichen Zement und Beton betreibt die Cemex weltweit noch fast 400 Abbaustatten von mineralischen Rohstoffen wie Sand, Kies und Bruchstein. Des Weiteren werden Zementklinker und Betonfertigteile produziert. Die monopolahnliche Stellung des Unternehmens fuhrte zu einem Zementpreis, der doppelt so hoch wie in den USA ist.
= Landwirtschaft =
Der Beitrag der Landwirtschaft zum BIP Mexikos ist in den vergangenen Jahren stetig zuruckgegangen und betragt jetzt (2006) 3,9 %, wahrend der Beitrag 1980 noch 7 % betrug und 25 % im Jahr 1970.
Trotzdem sind noch 18 % der Beschaftigten in der Landwirtschaft tatig (2003), von denen viele im Rahmen der Subsistenzwirtschaft Nahrungsmittel fur den eigenen Bedarf produzieren.
Im Norden Mexikos hat sich seit der Conquista mit der Einfuhrung von Schafen und Ziegen eine halbsesshafte Form der Transhumanz (Fernweidewirtschaft) entwickelt, bei der je nach Regen- und Trockenzeit zwischen den Weidegrunden auf dem Hochland und an den Hangen der Sierra gewechselt wurde. Dabei legen die Hirten oft Hunderte von Kilometern durch zum Teil kaum zugangliches Gelande zuruck.
Landwirtschaftliche Produkte
Obwohl Mais das typische Grundnahrungsmittel in Mexiko ist, liegt der Schwerpunkt der Landwirtschaft in Mexiko im Gartenbau, Sudfruchte und Gemuse. Im Zuge der Realisierung des Freihandelsabkommens NAFTA wurde allgemein erwartet, dass sich viele der mexikanischen Maisanbauer arbeitsintensiveren Produkten zuwenden wurden, z. B. Obst, Nusse, Gemuse, Kaffee und Zuckerrohr.
Allerdings wurde Mexiko mit hochsubventionierten US-amerikanischen Landwirtschaftsprodukten und Fleisch uberschwemmt, dessen Preis 20 Prozent unter den Produktionskosten liegt, wahrend in Mexiko Subventionen gestrichen wurden. War Mexiko zu Beginn der 1990er Jahre noch weitestgehend ein Selbstversorger mit Mais, so mussten viele kleinbauerliche Betriebe aufgeben und die Agrarimporte stiegen. Die vielen Landlosen konnten nicht in den neu entstandenen Zulieferindustrien absorbiert werden. Mexiko muss heute 60 Prozent seines Weizen- und 70 Prozent seines Reisbedarfs importieren.
Auf circa 160.000 kleinen und mittelgroßen Farmen wird Zuckerrohr in 15 Staaten Mexikos angebaut. Die Anbauflache betragt ca. 700.000 ha mit einem Zuckerrohrertrag von etwa 72 t/ha. Zurzeit sind 57 Zuckerfabriken in Betrieb. Die mexikanische Zuckerindustrie ist gekennzeichnet durch hohe Produktionskosten und einen Ruckstand bei den Investitionen. Die Zuckerproduktion Mexikos ist großer als der Inlandsverbrauch. 2005 stand Mexiko mit einer Produktion von 45.127.000 t an Platz 6 der wichtigsten Zuckerrohr produzierenden Lander.
= Tourismus =
Der Tourismus ist von steigender Bedeutung fur Mexikos Wirtschaft. 2016 wurde der Staat von uber 35 Millionen Touristen besucht. Die Tourismuseinnahmen beliefen sich im selben Jahr auf 39,7 Mrd. US-Dollar. Haufig besuchte Touristenziele im Staat sind die Statten von Chichen Itza, die Altstadt von Mexiko-Stadt und die extra fur den Tourismus errichtete Stadt Cancun. Der Staat besitzt insgesamt 35 UNESCO-Welterbestatten, womit es weltweit den 7. Rang einnimmt. Die großte Gruppe an auslandischen Touristen kommt aus den benachbarten Vereinigten Staaten.
= Außenhandel =
Mittlerweile hat Mexiko 32 Freihandelsabkommen mit uber 40 Landern unterzeichnet, unter anderem mit der EU (seit 2000), Japan, Guatemala, Honduras und El Salvador. Seit dem 1. Januar 1994 ist Mexiko Mitglied des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA). In den ersten Jahren nach dessen Inkrafttreten hatte sich die wirtschaftliche Situation des Staates nur unwesentlich verbessert. Seit Beginn des Freihandels sind die Ausfuhren bis heute um das Dreifache gestiegen, und mittlerweile entfallen 90 Prozent der mexikanischen Exporte auf Freihandelsabkommen.
Allein die USA nehmen 80 Prozent der Exporte Mexikos ab. 80 Prozent der Exporte entfallen auf Industrieerzeugnisse, 15,6 Prozent auf Rohol und Raffinerieprodukte sowie 3 Prozent auf landwirtschaftliche Erzeugnisse. Der hochste Zuwachs wird bei den Erdolausfuhren verzeichnet. Bedingt durch die stark gestiegenen Olpreise konnte ein Wachstum von 27,3 Prozent verzeichnet werden. Jedoch gelang es, in den vergangenen Jahren, den Export zu diversifizieren. So haben die Automobilindustrie, Elektronik, der Tourismus und die Maquila-Fabriken in zollfreien Zonen an Bedeutung zugenommen.
= Staatshaushalt =
Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 255,9 Mrd. US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 224,3 Mrd. US-Dollar gegenuber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Hohe von 3,0 % des BIP.
Die Staatsverschuldung betrug 2016 607 Mrd. US-Dollar oder 58,1 % des BIP. Von der amerikanischen Ratingagentur Standard & Poor’s werden die Staatsanleihen des Staates mit der Note BBB+ bewertet (Stand: November 2018). Der Staat gilt damit als Schuldner mittlerer Gute.
2020 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche:
Gesundheit: 6,2 %
Bildung: 4,3 % (2018)
Militar: 0,6 % (2023)
= Arbeitnehmerrechte =
Die Wochenarbeitszeit in Mexiko betragt 48 Stunden. Im Jahr 2025 kundigte Staatsprasidentin Sheinbaum eine Reform zur Senkung auf 40 Stunden bis spatestens 2030 an, nachdem im Jahr 2024 Proteste dafur stattgefunden hatten.
Verkehrswesen Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualitat der Infrastruktur misst, belegte Mexiko 2018 den 51. Platz unter 160 Landern. Von allen Landern in Lateinamerika belegt Mexiko damit den dritten Platz hinter Chile und Panama.
= Straßenverkehr =
Der Hauptpersonen- und Guterverkehr in Mexiko findet im Straßen- und Autobahnnetz statt. 2012 hatte das Straßensystem des Staates eine Lange von 377.660 km. Im selben Jahr betrug die Lange des Autobahnnetz 7176 km.
Bei der Verkehrssicherheit liegt der Staat im weltweiten Mittelfeld. 2013 kamen in Mexiko insgesamt 6,1 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Insgesamt kamen damit 15.000 Personen im Straßenverkehr ums Leben. Der Staat hat eine im weltweiten Vergleich relativ fortgeschrittene Motorisierungsrate. 2010 kamen im Staat 275 Kraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner.
= Schienenverkehr =
= Luftverkehr =
Mexiko hat ein flachendeckendes Netz von modernen Flughafen. Das System gilt als sicher und zuverlassig. Die Flughafen-Infrastruktur gilt als die fortgeschrittenste in Lateinamerika. Jede Metropolregion mit uber 500.000 Einwohnern hat einen internationalen Flughafen. In Mexiko gibt es 1834 Flugplatze, die drittgroßte Anzahl aller Staaten weltweit.
Die sieben großten Flughafen des Staates bedienen 90 % des Verkehrsaufkommens (Reihenfolge nach Flugverkehr):
Internationaler Flughafen der Stadt Mexiko 'Benito Juarez'
Internationaler Flughafen von Cancun
Internationaler Flughafen Don Miguel Hidalgo und Costilla (Guadalajara)
Internationaler Flughafen General Mariano Escobedo (Monterrey)
Internationaler Flughafen General Abelardo L. Rodriguez (Tijuana)
Internationaler Flughafen General Juan N. Alvarez (Acapulco)
Internationaler Flughafen General Heriberto Jara Corona (Veracruz)
Internationaler Flughafen Licenciado Gustavo Diaz Ordaz (Puerto Vallarta).
Alle Flughafen sind in Privatbesitz, mit Ausnahme des Internationalen Flughafens der Stadt Mexiko. Dieser Flughafen ist der großte in Lateinamerika (weltweit Platz 44), dabei befordert er ungefahr 26 Millionen Passagiere jahrlich.
In Mexiko gibt es mehr als 70 Fluglinien. Die großte Fluggesellschaft ist Aeromexico. Kleinere Fluggesellschaften sind Aeromexico Connect (Aeromexicos regionale Tochtergesellschaft), Volaris, Aeromar, Viva Aerobus, Magnicharters und Republicair.
Einige ehemals bekannte Fluggesellschaften haben in den letzten Jahren ihren Betrieb eingestellt: Aviacsa (2009), Mexicana de Aviacion samt Tochtergesellschaft Click Mexicana (2010), Interjet (2020).
Mexiko und die USA haben 2015 eine Vereinbarung der open skies getroffen. Diese erlaubt jetzt auch Billigfluggesellschaften, Direktfluge zwischen mexikanischen und US-amerikanischen Stadten herzustellen. Diese Vorgehensweise soll den Luftverkehr in Nordamerika durch Direktverbindungen kleiner Stadte und Umgehung der Luftfahrtdrehkreuze dezentralisieren.
= Schifffahrt =
Mexiko hat 67 Seehafen und 10 Binnenhafen.
Kultur = Kunst =
Die Kunst in Mexiko ist gepragt vom Ruckgriff auf prakolumbianische Traditionen und den Einfluss der spanischen Eroberer. Obwohl die Spanier gewaltsam mit hohen Reprasentanten der indianischen Macht brachen, blieb ein starker Bezug auf die vorkoloniale Kunst vorhanden. Daruber hinaus fanden in Mexiko-Stadt unter der Regierung des Vizekonigs Maskenumzuge statt, die die Erinnerung an die aztekische Dynastie aufrechterhalten sollte. Die traditionellen Kunstformen wurden dabei auch mit neuen Motiven verknupft. So entstanden etwa Federbilder mit Marien-Darstellungen, die auf den von den Spaniern eingefuhrten christlichen Glauben Bezug nahmen. Die gesamte Federkunst, die zuvor nur dem Adel zustand, erlebte eine Umdeutung in das Christliche und wurde etwa fur Bischofskappen und Altardecken verwandt, wobei aber traditionelle aztekische Farbbedeutungen beibehalten wurden. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war Patzcuaro ein Zentrum der Federverarbeitung mit bedeutenden kunsthandwerklichen Einrichtungen. Ein weiteres Feld der Bilddarstellung mit traditionellen Grundlagen waren Karten und genealogische Darstellungen. Dabei zeigten sich in den Karten etwa Verbindungen der aus Europa stammenden Form der Kartografie mit mexikanischen Glyphen.
Wahrend des 19. Jahrhunderts reisten europaische Kunstler nach Mexiko und stellten den Staat in seiner Vielfalt kunstlerisch dar. Der bedeutendste von ihnen war wohl Johann Moritz Rugendas, der Landschaften, Genreszenen und Studien der Natur und der Bevolkerung anfertigte. Eine Blute erlebte die mexikanische Kunst in der Zeit infolge der mexikanischen Revolution. Kunstler wie David Alfaro Siqueiros, Jose Clemente Orozco und Juan O’Gorman beschaftigten sich in ihrem Werk mit der Revolution und sozialen Fragen sowie der mexikanischen Geschichte bis hinein in die prakolumbianische Zeit. Die beruhmtesten mexikanischen Kunstler sind bis heute Diego Rivera und Frida Kahlo. Diego Rivera begrundete zusammen mit anderen den Muralismus, die Kunstform monumentaler offentlicher Wandgemalde, die in Mexiko weite Verbreitung fand und heute an vielen offentlichen Gebauden und auch in anderen Staaten Lateinamerikas und in den USA zu sehen ist. Bedeutende Murales von Rivera finden sich etwa im Palacio National und zeigen Ereignisse der mexikanischen Geschichte. Die zeitgenossische Kunst in Mexiko setzt sich vor allem mit gesellschaftlichen Themen wie Gewalt und Kriminalitat auseinander. Beispielhafte Vertreter sind Teresa Margolles, Daniel Guzman und Eduardo Abaroa.
= Architektur =
Der weltweit bekannteste mexikanische Architekt der Moderne ist Luis Barragan.
= Literatur =
= Musik =
Populare Musik in Mexiko besteht aus einer breiten Palette von musikalischen Stilen und Genres. Sie hat ihren Ursprung in der prakolumbianischen und europaischen, vorwiegend spanischen Kultur. Wichtigste Stilrichtungen sind der mexikanische Son und der Corrido, die bereits im 18. Jahrhundert gespielt wurden. Elemente des Corrido finden sich auch im Narcocorrido, der seit Anfang des 21. Jahrhunderts die typische mexikanische Volksmusik verkorpert. Der Ranchera entstand in der Zeit der mexikanischen Revolution zu Anfang des 20. Jahrhunderts und fand seine Auspragung als Nortena im Norden Mexikos. In den 1920er Jahren wurden die ursprunglich aus Kuba stammenden Tanzstile Bolero und Danzon zu eigenstandigen Formen weiterentwickelt. Agustin Lara, ein Schopfer des mexikanischen Boleros, komponierte auch den Soundtrack zum ersten mexikanischen Tonfilm Santa von 1932. Weltweit bekannte Volkslieder sind: Besame mucho (Bolero), Cielito lindo (Ranchera), El Rey (Ranchera), Granada (Bolero), La Bamba (Volkslied), La Cucaracha (Corrido), Las mananitas (Volkslied), Mexico Lindo y Querido (Ranchera), Solamente una vez (Bolero), Somos Novios (Bolero).
Eine Musikgruppe, welche die verschiedensten Stile der traditionellen Musik spielt, wird als Mariachi bezeichnet. Die Mariachi-Musik wurde 2011 von der UNESCO in die Reprasentative Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen.
Urvater der mexikanischen Rockmusik (rock nacional) ist Carlos Santana, der in den 1960er Jahren den Latin Rock kreierte. Weitere bekannte Popmusiker aus Mexiko sind: Mana, Luis Miguel, Alejandro Fernandez, Thalia, Marco Antonio Solis, Pepe Aguilar, Paulina Rubio, Angelica Maria, Alejandra Guzman, Gloria Trevi und Cristian Castro.
Im Bereich klassische Musik wurde die erste mexikanische Oper La Partenope, komponiert von Manuel de Sumaya, 1711 uraufgefuhrt. Im 19. Jahrhundert war der Walzer popular und mexikanische Komponisten (Ernesto Elorduy, Juventino Rosas, Felipe Villanueva) schufen eine eigenstandige mexikanische Form. Das mexikanische Symphonieorchester Orquesta Sinfonica Mexicana wurde 1928 von Carlos Chavez gegrundet. Zu den international anerkanntesten Tenoren der Gegenwart gehort der in Mexiko geborene Rolando Villazon.
= Film =
Die Geschichte des Films in Mexiko begann im Januar 1895 mit dem Kinetoskop und im August 1896 mit dem Cinematographe. In der Folge entwickelte sich eine eigene mexikanische Stummfilmproduktion. Die meisten dieser Filme sind jedoch verschollen beziehungsweise haben sich nicht erhalten. Infolge des Wandels zum Tonfilm wuchs die Filmindustrie und nahm an Bedeutung zu. Dabei gab es erstmals international bekannte Stars wie die Schauspielerin Dolores del Rio, die auch in den Vereinigten Staaten von Amerika drehte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis in den Anfang der 1950er Jahre erlebte der mexikanische Film sein „Goldenes Zeitalter“. Es drehte unter anderem Luis Bunuel in dieser Zeit Filme, die international erfolgreich waren, sowohl beim Publikum als auch auf Festivals. Ein Beispiel dafur ist etwa Bunuels Film Die Vergessenen (Los Olvidados) aus dem Jahr 1950. Ahnliche Erfolge gelangen auch anderen Regisseuren und auch Schauspieler konnten internationalen Ruhm erlangen. Mit dem Ende dieser Ara begann ein langer Zeitraum, in dem eher billige Produktionen mit thematischen Fokus auf Action, Gewalt und Erotik dominierten und internationale Erfolge ausblieben. Dies veranderte sich erst mit dem Ende der 1980er und dem Beginn der 1990er Jahre. Es kam ein neuer mexikanischer Film auf, der mit qualitativ hochwertigen Filmen wie etwa Bittersuße Schokolade (Como aguapara chocolate) aus dem Jahr 1992, der in den USA einer der erfolgreichsten auslandischen Filme des Jahres war, wieder an erfolgreichere Zeiten anknupfen konnte. Der Trend zu hochwertigen mexikanischen Filmen, die international Interesse auf sich ziehen konnten, setzte sich fort. Nach der Jahrtausendwende konnten etwa Amores Perros und Y Tu Mama Tambien – Lust for Life (Y Tu Mama Tambien) internationale Preise und ebenso fremdsprachiges Publikum fur sich gewinnen. Zudem etablierten sich auch mexikanische Filmschaffende international. So konnte etwa Guillermo del Toro auch in Hollywood als Regisseur Fuß fassen.
= Medien =
Die Medienlandschaft Mexikos war lange Zeit und ist bis heute politisch dominiert. Zwar sind die Medien mehrheitlich privatisiert und eine direkte Zensur bestand nicht, dennoch gab es keine freie Berichterstattung. Die politischen Eliten und Teile der Unternehmerschaft nahmen und nehmen zum Teil großen Einfluss auf die Berichterstattung. So gab es uber lange Zeit das staatliche Papiermonopol, Subventionen, Vermischung von Nachrichten mit Kommentaren und Werbung, bestellte Berichterstattung und platzierte Informationen und Bilder. Dabei wirkte auch die schlechte Bezahlung von Journalisten forderlich, die etwa fur Korruption und Bezahlung von staatlichen Stellen und Unternehmen anfallig waren und sind. Firmen wie PEMEX, der Prasident, staatliche Behorden sowie die der Lander und Gemeinden, die Partido Revolucionario Institucional und ihre Unterorganisationen sowie weitere Parteien und Organisationen unterhielten und unterhalten teils lang andauernde Beziehungen zu bestimmten Journalisten, die sie mit Informationen versorgten und deren Berichterstattung dementsprechend gesteuert ausfiel. Noch in den 1990er und 2000er Jahren wurden die Netzwerke zwischen PRI und Journalisten dazu genutzt, PAN- oder PRD-gefuhrte Regierungen und Gouverneure auf Landerebene zu diskreditieren.
Es gab aber auch Journalisten, die die Missstande des Systems thematisierten und etwa auf Verletzungen der Menschenrechte und Mangel des Rechtsstaats hinwiesen. Diese wurden oftmals Opfer staatlicher Repression. In den 1990er-Jahren kam es in Nachfolge der Wochenzeitschrift Proceso, die von Julio Scherer Garcia herausgegeben wurde, zu einem Aufschwung des investigativen Journalismus und zur Neugrundung von Printmedien in Nordmexiko und Mexiko-Stadt. Insgesamt spielen Zeitungen in Mexiko aber nur eine untergeordnete Rolle, da sie fur die Mehrheit der Menschen zu teuer sind und damit nur eine geringe Reichweite haben. Von den 300 Zeitungen, von denen 35 in Mexiko-Stadt erscheinen, ist die Reforma mit 186.000 Exemplaren die großte, gefolgt von El Universal mit 139.000, Exelsior mit 112.000 und La Jornada mit 82.000 Exemplaren.
Das Verhaltnis von Staat und Medien ist in Mexiko nur schwach reglementiert. Das Ley Federal de Radio y Television stammt aus dem Jahr 1960, als statt Gesetze eher nicht niedergeschriebene Vereinbarungen bestimmend waren. Dieses Mediengesetz entspricht nicht mehr den heutigen Anforderungen, ein neues Gesetz, das den Medienmarkt regulieren, Monopole bekampfen und den Einfluss der Werbeindustrie begrenzen wurde, liegt seit 2002 dem Parlament vor, wurde aber noch nicht verabschiedet. Die Gesetzesinitiative geht auf Forderungen aus den 1970er Jahren zuruck und soll zur Einrichtung eines unabhangigen Medienrates fuhren, zur Starkung von nicht-kommerziellen Kanalen bei der Vergabe von Lizenzen und zur Legalisierung freier Radiosender. Trotz der Veranderungen im politischen Machtgefuge konnte das Gesetz bis jetzt nicht gegen die schweigenden Mehrheiten in der PRI und der PAN durchgesetzt werden. Es sind rund 2000 Lizenzen fur elektronische Medien von der mexikanischen Regierung vergeben worden. 80 Prozent von ihnen werden kommerziell betrieben. Es gibt eine erhebliche Konzentration im Fernsehmarkt. Televisa hat einen Marktanteil von rund 50 Prozent, TV Azteca rund 30 Prozent. Der Rest entfallt auf regionale Sender. Die beiden großen Sendergruppen entfalten ihren Einfluss uber auch international erfolgreich vermarktete Programme wie etwa Telenovelas. Televisa gilt als einer der einflussreichsten Medienkonzerne der Welt. In letzter Zeit investierte die Regierung verstarkt in die offentlichen Programme. So wird die Reichweite der von der Universidad Nacional Autonoma de Mexico und dem Instituto Politecnico Nacional betriebenen Radio- und Fernsehprogramme erweitert.
2017 wurden elf Journalisten in Mexiko getotet. Laut dem Bericht von Reporter ohne Grenzen steht der Tod der Opfer in direktem Zusammenhang mit deren journalistischen Tatigkeit.
Im Jahr 2021 nutzten 72 Prozent der Einwohner Mexikos das Internet.
= Kuche =
Die mexikanische Kuche zeichnet sich durch die Synthese von aztekischen und spanisch-kolonialen, im Suden auch Maya-Traditionen aus. Regional gibt es in Mexiko große Unterschiede zwischen Kuste und zentralem Hochland, chiliverliebtem Suden und rindfleischorientiertem Norden.
Die wichtigste Mahlzeit am Tag ist das Mittagessen, entsprechend lang ist auch die Mittagspause eines ublichen Arbeitstages. Abends wird dann meist nur noch ein kleiner Imbiss verzehrt, ein paar Fruchte, ein Taco oder ahnliches. In einem heißen, tropischen Staat mit großenteils uppiger Vegetation spielen Fruchte und bestimmte Gemusesorten eine dominante Rolle.
Fur Mexiko typisch sind die Tortillas, die zu jedem Essen dazugehoren. Normalerweise sind auch Chilis oder Chilisaucen auf dem Tisch, deren Scharfe hochst unterschiedlich sein kann. Der scharfste Chili ist der Chile Habanero, ein meist gruner, etwa drei Zentimeter großer Vertreter seiner Gattung. Weitaus milder ist der Chile Jalapeno, der in Scheiben geschnitten in den traditionellen Restaurants zum Essen serviert wird.
Eine in Mexiko ebenfalls beliebte Speise sind die sogenannten Churros. Es handelt sich hierbei um langliche, frittierte Teigstucke, die traditionell mit Zucker oder Schokolade serviert werden.
Trinkwasser wird meist in Flaschen oder Kanistern verkauft, da Leitungswasser haufig nicht zum Trinken geeignet ist. Gerne getrunken wird die von den Spaniern eingefuhrte Horchata, ein sußliches Reis/Zimt-Getrank, das gekuhlt serviert wird. Die ublichen alkoholischen Getranke sind Bier, Tequila, Mezcal und Pulque.
Das mexikanische Essen erfreut sich in den letzten Jahrzehnten wachsender Beliebtheit und einige Gerichte zahlen bereits, ahnlich der Italienischen Kuche, zu den international bekanntesten.
= Sport =
Die mexikanische Nationalsportart ist Charreria und ist vor allem im Norden des Staates verbreitet. Der Sport basiert auf den Tatigkeiten des Charro und besteht aus verschiedenen Punktwettbewerben, womit er dem Rodeo ahnelt. Eine weitere traditionelle Sportart, die von den Spaniern in Mexiko eingefuhrt wurde, ist der Stierkampf. Andere populare und verbreitete Sportarten in Mexiko sind Fußball, Boxen, Baseball und Basketball. Speziell ist auch das mexikanische Show-Wrestling, das unter dem Namen Lucha Libre bekannt ist. Der Fußball in Mexiko ist auf Vereinsebene in einem nationalen Ligasystem organisiert. Die oberste Spielklasse ist die 1943 gegrundete Primera Division. Zurzeit spielen in ihr 18 Mannschaften, der Meister wird im Playoff-System aus acht Mannschaften ermittelt. Die erfolgreichste Mannschaft ist Club America aus Mexiko-Stadt mit zwolf Meistertiteln, gefolgt vom Deportivo Guadalajara mit elf und Deportivo Toluca mit zehn Titeln. Mexiko richtete die Fußball-Weltmeisterschaft 1970 und die Fußball-Weltmeisterschaft 1986 aus, wobei beide Finalspiele im Aztekenstadion, dem aktuell drittgroßten Fußballstadion der Welt, stattfanden. Die mexikanische Fußballnationalmannschaft nahm an 15 von 20 moglichen WM-Endrunden teil und gehort damit neben Argentinien und Brasilien zu den erfolgreichsten amerikanischen Nationalmannschaften. Die kontinentale Meisterschaft der Fußballverbande Nord- und Mittelamerikas und der Karibik konnte Mexiko bereits zehn Mal gewinnen. International bekannte Fußballer aus Mexiko sind etwa Hugo Sanchez, Rafael Marquez, Ricardo Osorio, Pavel Pardo und Javier Hernandez (Chicharito).
Die Anfange des Baseball in Mexiko liegen in den 1870er Jahren. Die hochste Liga ist die Liga Mexicana de Beisbol, die 1925 gegrundet wurde und die hochste Klassifizierung der Major League Baseball besitzt, womit sie als eine der besten Ligen weltweit gilt. In ihr spielen derzeit 16 Mannschaften, der Rekordmeister ist Diablos Rojos del Mexico aus Mexiko-Stadt. Uber 100 Spieler haben es in die amerikanisch-kanadische Major League Baseball geschafft, darunter Spieler wie Fernando Valenzuela, Vinny Castilla und Aurelio Rodriguez. Die Nationalmannschaft konnte bei vier Panamerikanischen Spielen Bronzemedaillen gewinnen.
Die hochste Basketball-Liga in Mexiko ist die Liga Nacional de Baloncesto Profesional, die im Jahr 2000 gegrundet wurde und derzeit 24 Mannschaften umfasst. Boxen ist eine weitere populare und erfolgreiche Sportart, da mexikanische Boxer einige Weltmeistertitel und Olympiamedaillen erkampfen konnten. Zu den Boxern aus Puerto Rico besteht traditionell eine besondere Rivalitat. Von 1962 bis 1970, von 1986 bis 1992 und seit 2015 findet der Große Preis von Mexiko im Rahmen der Formel 1 statt. Aufgrund ihrer Erfolge ist die Golferin Lorena Ochoa – die seit 2007 die LPGA Tour anfuhrt – sehr popular.
Mexiko richtete die Olympischen Sommerspiele 1968 in Mexiko-Stadt aus. Es war bis 2016 der einzige lateinamerikanische Gastgeberstaat, bis die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro stattfanden. In Mexiko-Stadt nahmen 112 Nationen mit insgesamt 5516 Sportlern teil, es gab 172 Wettbewerbe in 20 Sportarten. Herausragend waren der Weltrekord im Weitsprung von Bob Beamon und der Fosbury-Flop im Hochsprung. Insgesamt wurden bei diesen Spielen besonders viele Rekorde aufgestellt. Mexikanische Athleten gewannen bei Olympischen Spielen bisher 55 Medaillen, womit Mexiko den 39. Rang des ewigen Medaillenspiegels einnimmt. Die Medaillen konnten dabei in verschiedensten Sportarten wie Reiten, Wasserspringen, Schwimmen, Boxen, Polo und Fechten gewonnen werden.
Special Olympics Mexiko wurde 1987 gegrundet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil.
= Feiern und Feste =
Literatur Helmut Hermann, Dorit Heike Gruhn: Reise Know-How Mexiko kompakt. 5. Auflage. Reise Know-How Verlag Peter Rump, Bielefeld 2023, ISBN 978-3-89662-317-1.
Gerhard Heck, Manfred Wobcke, Thomas Bassen: DuMont Reise-Handbuch Reisefuhrer Mexiko. 5. Auflage. DuMont Reiseverlag, Ostfildern 2023, ISBN 978-3-7701-8199-5.
Barbara Schroter (Hrsg.): Das politische System Mexikos. Springer VS, Wiesbaden 2014, ISBN 978-3-531-19688-6.
Anne Huffschmid: Mexiko – das Land und die Freiheit. Rotpunktverlag, Zurich 2010, ISBN 978-3-85869-427-0.
Frank Jacob, Riccardo Altieri (Hrsg.): Das Moderne Mexiko. Von Unabhangigkeitskampf und Revolution. ALTIJA (Eigenverlag), New York 2016.
Klaus-Jorg Ruhl, Laura Ibarra Garcia: Kleine Geschichte Mexikos: Von der Fruhzeit bis zur Gegenwart. 2. Auflage. C.H. Beck, Munchen 2007, ISBN 978-3-406-42166-2.
Stefan Rinke: Conquistadoren und Azteken. Cortes und die Eroberung Mexikos. C.H. Beck, Munchen 2019, ISBN 978-3-406-73399-4.
Weblinks Offizielle Website der mexikanischen Regierung (spanisch)
Offizielle Website der mexikanischen Prasidentschaft (spanisch)
Landerinformation – Mexiko des deutschen Auswartigen Amts
Deutsche Botschaft in Mexiko (deutsch und spanisch)
Karsten Bechle: Mexiko – DOSSIER Innerstaatliche Konflikte. Bundeszentrale fur politische Bildung, 9. Dezember 2020, abgerufen am 25. Januar 2021.
Maps of Mexico – Online-Landkarten und -Stadtplane von Mexiko
Landerprofil des Statistischen Bundesamtes
Literatur von und uber Mexiko im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Mexiko (spanisch Mexico [ˈmexiko], in Spanien auch Mejico, Nahuatl Mexihco [meː'ʃiʔko]; amtlich Vereinigte Mexikanische Staaten, spanisch Estados Unidos Mexicanos) ist eine Bundesrepublik in Nordamerika. Sie umfasst 32 Gliedstaaten, namlich 31 Bundesstaaten und die Bundeshauptstadt Mexiko-Stadt. Im Norden grenzt Mexiko an die Vereinigten Staaten von Amerika, im Suden und Westen an den Pazifischen Ozean, im Sudosten an Guatemala, Belize und an das Karibische Meer, im Osten an den Golf von Mexiko. Mit einer Gesamtflache von fast zwei Millionen Quadratkilometern ist Mexiko der funftgroßte Staat auf dem amerikanischen Doppelkontinent, global liegt der Staat an vierzehnter Stelle. Weltweit liegt Mexiko mit einer Bevolkerungszahl von uber 130 Millionen Menschen auf Platz elf und ist der einwohnerreichste spanischsprachige Staat.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mexiko"
}
|
c-13954
|
Der Arunachalmakak (Macaca munzala) ist eine Primatenart aus der Gattung der Makaken innerhalb der Familie der Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae). Die Art wurde erst 2005 wissenschaftlich beschrieben.
Merkmale und Lebensweise Arunachalmakaken sind relativ stammig gebaut. Ihr Fell ist dunkel und der Schwanz eher kurz, auch das Gesicht ist sehr dunkel. Diese Primaten sind nur aus einem kleinen Gebiet (Distrikt Tawang) im Bundesstaat Arunachal Pradesh im außersten Nordosten Indiens bekannt. Ihr Lebensraum sind Walder zwischen 2000 und 3500 Metern Seehohe. Sie sind tagaktiv und halten sich vorwiegend am Boden auf. Wie alle Makaken ernahren sie sich vorwiegend von Fruchten, daneben nehmen sie auch Blatter und Kleintiere zu sich.
Systematik Systematisch wird der Arunachalmakak innerhalb der Makaken in die sinica-Gruppe eingeordnet. Die nachsten Verwandten dieser Art sind wahrscheinlich der Tibetmakak und der Assam-Makak. Von diesen unterscheidet er sich durch die Lange des Schwanzes, die Farbung und seine Markierungsgewohnheiten.
Arunachalmakaen und Menschen Die Art wurde erst im Jahr 2004 von Anindya Sinha und seinen Mitarbeitern entdeckt und 2005 in der Zeitschrift „International Journal of Primatology“ erstmals beschrieben. Wie die meisten Neuentdeckungen war auch diese eher das Ergebnis eines Zufalls. Bei der Kartierung eines Waldstucks an der Nordostgrenze von Indien zur Volksrepublik China stieß eine Forschergruppe der Nature Conservation Foundation in Mysore auf die bislang nur den Einheimischen bekannte Art. Das Artepitheton munzala leitet sich von der Bezeichnung der lokalen Bevolkerung fur die Art ab.
Die letzte in Indien gefundene Affenart war der Goldlangur, der 1955 in Assam entdeckt wurde. Es ist uber 100 Jahre her, dass eine neue Makakenart entdeckt wurde: der Mentawai-Makak in Indonesien.
Da der neu entdeckte Makak in einem Gebiet lebt, das durch die hohe Bevolkerungsdichte stark beansprucht ist, forderte die Forschergruppe die Regierung auf, das 1.200 Quadratkilometer große Gebiet unter Schutz zu stellen. Sie konnte in dem Areal Spuren von 14 Affentruppen der Art entdecken. Die Gesamtpopulation wird auf weniger als 600 Tiere geschatzt.
Literatur Anindya Sinha, Aparajita Datta, M. M. Madhusudan, Charudutt Mishra: Macaca munzala: a new species from western Arunachal Pradesh, northeastern India. In: International Journal of Primatology. 26, 4, 2005, ISSN 0164-0291, S. 977–989. (online (PDF; 700 kB)).
Jihosuo Biswas, Dhiraj K Borah, Abhijit Das, Jayanta Das, Parimal Ch Bhattacharjee, S M Mohnot, Robert Horwich: The Enigmatic Arunachal Macaque: Its Biogeography, Biology and Taxonomy in Northeastern India. Mai 2011, American Journal of Primatology 73(5):458-73, DOI:10.1002/ajp.20924
Weblinks Sally Walker und Sanjay Molur: Guide to South Asian Primates for Teachers and Students of All Ages (PDF), S. 32 (1,99 MB)
Macaca munzala in der Roten Liste gefahrdeter Arten der IUCN 2013.1. Eingestellt von: Kumar, A., Sinha, A. & Kumar, S., 2008. Abgerufen am 10. Oktober 2013.
|
Der Arunachalmakak (Macaca munzala) ist eine Primatenart aus der Gattung der Makaken innerhalb der Familie der Meerkatzenverwandten (Cercopithecidae). Die Art wurde erst 2005 wissenschaftlich beschrieben.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Arunachalmakak"
}
|
c-13955
|
Der Maracaibo-See (spanisch Lago de Maracaibo) ist ein Binnenmeer im Nordwesten von Venezuela. Es liegt im Maracaibo-Becken und ist im Norden uber die Straße von Tablazo (55 km) mit dem Golf von Venezuela verbunden, der an das Karibische Meer grenzt.
Durch die fast vollige Trennung vom Karibischen Meer wird der Maracaibo oft als See angesehen und ware mit 13.512 Quadratkilometern Ausdehnung der großte See Sudamerikas. Geologische Aufzeichnungen zeigen, dass es sich fruher tatsachlich um einen See handelte, der mit einem Alter von 20 bis 36 Millionen Jahren zu den altesten Seen der Erde gehort.
Geographie Das Binnenmeer ist 13.512 km² groß und bis zu 35 m tief. Es ist durch die 38 km lange und 5,5 bis 14,6 km breite Meerenge Canal de San Carlos mit dem Golf von Venezuela und der Karibik verbunden. Der Maracaibo-See wird wegen seiner kurzen Verbindung zum Meer auch von Hochseeschiffen befahren; an der Mundung befinden sich die Hafenstadte Cabimas und Maracaibo.
Zu den insgesamt 135 Zuflussen des Maracaibo-Sees gehoren der Apon, Aricuaisa, Aurare, Bravo, Burro Negro, Catatumbo, Caus, Chama, Escalante, Limon, Machango, Mene, Misoa, Motatan, Onia, Palmar, Santa Ana, Tamare, Tucani sowie Ule. An der Mundung des Catatumbo kommt es zum Phanomen der Catatumbo-Gewitter.
Wahrend der nordliche Teil des Binnenmeeres noch Brackwasser enthalt, ist der sudliche Teil vollig ausgesußt.
Aufgrund der großen Ausdehnung und geologischen Beschaffenheit des Maracaibo-Sees besitzt er zahlreiche zum Teil auch großere Inseln. Ein Großteil dieser Inseln gehoren zur Region der Gemeinde Almirante Padilla: Zapara, Toas, San Carlos, Isla de Providencia, Isla de Pescadores, Los Pajaros, Maraca, San Bernardo sowie Sabaneta de Montiel.
Der Maracaibo-See halt den absoluten Blitzweltrekord weltweit. Durch seine große Flache zwischen den beiden nordlichsten Auslaufern der Anden und wegen seiner im Durchschnitt mit 30 Grad Celsius hohen Wassertemperatur verdunstet dort tagsuber eine große Menge Wasser. Nachts kuhlen die den See umgebenden Berghange schneller ab als die warme Luft uber dem See. Dieser Temperaturgegensatz fordert die Wolkenbildung und lasst extrem hohe Quellbewolkung entstehen. Starke Gewitter mit entsprechend intensiven elektrischen Entladungen sind die Folge. Nach den Aufzeichnungen des Satelliten der Tropical Rainfall Measuring Mission kommt es uber jedem Quadratkilometer des Maracaibo-Sees im Durchschnitt zu mehr als 233 Blitzen im Jahr, wobei sich die meisten Gewitter in den Nachtstunden des Spatsommers ereignen. Gelegentlich wurden dort sogar bis zu 65 Blitze pro Quadratkilometer und Nacht gemessen. Blitzeinschlage in der Gegend fuhren immer wieder zu Verlusten unter den ausgedehnten Rinderherden, die in dem flachen Uferbereich des Maracaibo-Sees grasen. Gelegentlich schlagen die Blitze auch in Olfordereinrichtungen ein und setzen sie in Brand. Unter dem flachen Binnenmeer befinden sich namlich große Lagerstatten an Kohlenwasserstoffen, aus denen die staatliche venezolanische Olgesellschaft Ol und Gas fordert.
Flora und Fauna Das sauerstoffreiche Wasser des Maracaibo-Sees begunstigt das Algenwachstum und fuhrt zu einer reichen Artenvielfalt. Hierzu gehoren Reiher, Krokodilkaimane, Garnelen, Leguane, Welse, Barsche, Meeraschen, Gurteltiere und Braunpelikane sowie Guyana-Delfine. Zu den endemischen Fischen im Becken des Maracaibo-Sees gehort der Lamontichthys maracaibero, der zur Familie der Harnischwelse gehort und eine Lange von bis zu 21 Zentimetern erreicht, sowie eine Art der Gattung Mylossoma.
Im Sommer 2004 kam es auf dem Maracaibo-See zu einer Plage durch massenhafte Ausbreitung der Kleinen Wasserlinse. Die Ursache dafur wird in der zunehmenden Aussußung des Seewassers durch verstarkte Regenfalle gesehen. Daneben sollen Umwelteinflusse durch die Erdolindustrie eine Rolle spielen.
Im Sudwesten befindet sich der Nationalpark Cienagas de Juan Manuel. Der Park ist vor allem durch Moorlandschaften, tropische Walder und eine reiche Population verschiedener Vogelarten gepragt. Zur weiteren Fauna gehoren Flussdelfine, Tapire sowie Großkatzen.
Geschichte = Ureinwohner und Entdecker =
Die ersten bekannten Siedlungen in der Bucht waren die der Ureinwohner, die der zu den Arawak gehorenden Anu (auch Paraujano). Der Stamm, dessen Name ubersetzt „Menschen des Wassers“ bzw. „Menschen der Lagune“ bedeutet, nannte den Maracaibo-See Conquibacao bzw. Coquivacoa. Weitere bedeutende Stamme in dieser Zeit waren die Wayuu (Guajiro), die Caquetios und die Quiriquires. Noch heute gibt es indigene Ansiedlungen im westlichen Grenzbereich mit Kolumbien an der Laguna de Sinamaica sowie vereinzelt im nordlichen Zulia. Weitere dieser im Spanischen palafitos genannten Pfahlbau-Siedlungen existieren im Suden und Sudwesten des Maracaibo-Sees bei Lagunetas sowie in Santa Rosa, einem Stadtteil von Maracaibo.
Am 24. August 1499 fuhren Amerigo Vespucci und Alonso de Ojeda durch eine Meerenge in ein riesiges Brackwassergewasser, das sie Lago de Bartolome nannten, nach dem Tagesheiligen Bartholomaus.
Die Legende besagt, dass die Ojeda-Expedition zahlreiche Hutten von Einheimischen fand, die auf Stelzen uber dem Wasser gebaut und die durch Holzstege untereinander und mit dem Meeresufer verbunden waren. Die Pfahlbauten erinnerten Vespucci an die Stadt Venedig (ital. Venezia), so dass er die Region Venezuela taufte – im Sinne von Klein-Venedig auf Italienisch. Das Wort hat die gleiche Bedeutung im Spanischen, wo das Suffix „-uela“ als Diminutiv Verwendung findet: beispielsweise wird aus Plaza der Begriff plazuela und aus Cazo der Begriff cazuela.
Obwohl die Geschichte um Ojeda und Vespucci die popularste und akzeptierteste Version des Namensursprungs Venezuelas bleibt, verweisen einige Quellen auf Martin Fernandez de Enciso, ein Mitglied der Vespucci- und Ojeda-Crew. In seinem Werk Summa de Geografia beschreibt dieser, dass sie eine indigene Bevolkerung wahrend der Expedition entdeckten, die sich selbst die „Veneciuela“ nannten. Dies lasst den Ruckschluss zu, dass der Name „Venezuela“ sich hiervon nativ ableiten lasst.
= 16. bis 19. Jahrhundert =
Von 1528 bis 1545 wurde das Land um den See als Klein-Venedig an die Welser verpfandet. 1529 wurde Neu-Nurnberg, das spatere Maracaibo, gegrundet. Doch die Bemuhungen der Welser hatten keinen Erfolg, und so wurde ihnen das Lehen wieder entzogen. Spater erhielt der See den Namen Lago de Maracaibo: „Maracaibo-See“.
Wahrend des siebzehnten Jahrhunderts kam es auf dem Maracaibo-See immer wieder zu Uberfallen durch Piraterie. Zu den bekannten Piraten dieser Zeit gehorten Enrique de Gerard (1614), William Jackson (1642), Jean-David Nau „l Olonnes“ (1666), Miguel Vascongado (1667), Henry Morgan (1669) und Michel de Grandmont (1678).
Am 24. Juli 1823 kam es in der Bucht zur Seeschlacht vom Maracaibo, bei der die spanische Flotte unter Kapitan Angel Laborde von der republikanischen Marine unter Admiral Jose Prudencio Padilla besiegt wurde; sie gilt als letzte Schlacht der Unabhangigkeitskriege in Venezuela. Von Historikern wird die Schlacht von Carabobo am 24. Juni 1821 unter General Simon Bolivar gewohnlich als entscheidende Schlacht bei der Erlangung der Venezolanischen Unabhangigkeit angesehen.
= 20. Jahrhundert =
1917 fand man bei Cabimas an der Ostkuste des Sees Erdol, weitere Olfelder folgten. 1922 gingen die ersten Bohrturme, hauptsachlich von Standard Oil und Gulf Oil, in Betrieb. Zwischen 1923 und 1953 kam eine Flotte kleiner Oltanker zum Einsatz, die so genannte Moskitoflotte. Diese hatten einen besonders flachen Tiefgang und wurden zum Transport des Rohols zu den Erdolraffinerien in Aruba und Curacao sowie zu den vor der Bucht ankernden Tankern genutzt. Die Flotte war notwendig, da die den See mit dem Golf von Venezuela und der Karibik verbindende Meerenge, der Canal de San Carlos, aufgrund von wandernden Sandbarren anfangs nur Tiefen von vier Metern erreichte. Spater wurde die Fahrrinne vertieft und Ende der 1940er Jahre mit dem Bau von Olpipelines zum Tiefwasserhafen der Paraguana-Halbinsel begonnen.
Die 1962 fertiggestellte General-Rafael-Urdaneta-Brucke (8678 m) uberquert die Meerenge Canal de San Carlos auf einer sudlich des Zentrums von Maracaibo gelegenen Trasse; sie ist eine der langsten Brucken der Welt und galt bei ihrer Fertigstellung als die langste Schragseilbrucke der Welt.
Am 6. April 1964 kollidierte der Tanker Esso Maracaibo nach dem Ausfall seiner elektrischen Systeme mit der Brucke. Die Kollision fuhrte zum Einsturz von zwei Pfeilern, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen. Das Tankerungluck hatte keine weiteren Folgen fur den See.
Fur den Bau einer zweiten Brucke, die Santa Cruz de Mara mit Punta de Palmas verbinden soll,[veraltet] fanden im Jahr 2013 Voruntersuchungen fur Fundamente statt. Die Brucke soll Straßen- und Schienenverkehr ermoglichen und 10,8 km lang werden. Die Freileitungskreuzung des Maracaibo-Sees verbindet bereits heute die beiden Stadte.
Wirtschaft Die Wirtschaft des Maracaibo-Sees fußt vor allem auf der Olindustrie, der Fischerei und dem Tourismus.
Der See fungiert als wichtige Schifffahrtsstraße zu den Hafen von Maracaibo und Cabimas. Das umgebende Maracaibo-Becken enthalt große Erdol-Vorkommen, die eine Haupteinnahmequelle der Wirtschaft Venezuelas darstellen. Fast ein Viertel der venezolanischen Bevolkerung lebt in der Nahe des Maracaibo-Sees.
Nach einer Erhebung aus dem Jahr 2000 ernahrt der Maracaibo-See fast 20.000 Fischer.
Literatur Hanns Simons, Heinz Wind, W. Hans Moser: Die Brucke uber den Maracaibo-See in Venezuela: General Rafael Urdaneta Brucke, Bauverlag, Wiesbaden, Berlin 1963
Einzelnachweise Weblinks
|
Der Maracaibo-See (spanisch Lago de Maracaibo) ist ein Binnenmeer im Nordwesten von Venezuela. Es liegt im Maracaibo-Becken und ist im Norden uber die Straße von Tablazo (55 km) mit dem Golf von Venezuela verbunden, der an das Karibische Meer grenzt.
Durch die fast vollige Trennung vom Karibischen Meer wird der Maracaibo oft als See angesehen und ware mit 13.512 Quadratkilometern Ausdehnung der großte See Sudamerikas. Geologische Aufzeichnungen zeigen, dass es sich fruher tatsachlich um einen See handelte, der mit einem Alter von 20 bis 36 Millionen Jahren zu den altesten Seen der Erde gehort.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Maracaibo-See"
}
|
c-13956
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Binnensee"
}
|
||
c-13957
|
Sudamerika ist der sudliche Teil des amerikanischen Doppelkontinentes, hat eine Bevolkerungszahl von uber 441 Millionen Menschen und ist mit einer Flache von 17.843.000 km² die viertgroßte kontinentale Landflache der Erde.
Sudamerika ist im Osten vom Atlantischen Ozean und im Westen vom Pazifischen Ozean umgeben. Die Insel Feuerland an der Sudspitze Sudamerikas wird durch die Drakestraße vom Nachbarkontinent Antarktika getrennt. Etwas sudlich Feuerlands liegt Kap Hoorn, bei welchem Atlantik und Pazifik aufeinandertreffen. Nach Norden hin besteht eine Verbindung uber die Landenge von Panama nach Nordamerika.
Geographie Der sudamerikanische Teilkontinent lasst sich in drei wesentliche Großraume einteilen:
Die Anden als Hochgebirge an der Westseite des Kontinents
Drei Flussebenen ostlich der Anden
Drei Berglander ostlich der Anden
An der Westkuste liegt mit den Anden die langste uberseeische Gebirgskette der Erde. Das Hochgebirge zieht sich entlang des Pazifiks uber 7500 km von Venezuela bis zur Sudspitze Patagoniens entlang. Der hochste Berg der Anden, zugleich hochster Berg Sudamerikas und hochster Berg außerhalb Asiens, ist mit 6961 m Hohe der Aconcagua. Er liegt an der Grenze zwischen Argentinien und Chile. Die Laguna del Carbon, mit 105 Meter unter dem Meeresspiegel der tiefste Punkt Sudamerikas, befindet sich im San-Julian-Becken in Patagonien. Als sudlichster Punkt Sudamerikas wird in der Regel Kap Hoorn auf der Isla Hornos bezeichnet, der sudlichste Festlandspunkt ist Kap Froward an der Magellanstraße. Beide Punkte gehoren zu Chile.
Die großte Stromebene bildet das Amazonasbecken (Amazonien), eine Aquatoriale-Regenwald-Tiefebene, die vom Amazonas mit seinen etwa 10.000 Zuflussen entwassert wird. Der aus den Anden quer uber den gesamten Kontinent nach Osten fließende Amazonas ist mit etwa 6448 km der langste Fluss Sudamerikas und der wasserreichste Fluss der Erde. Nordlich liegt die Orinoco-Ebene, die zum Amazonasbecken nach Suden hin durch die Berglander Guayanas und nach Norden durch das venezolanische Kustenbergland begrenzt wird. Eine weitere Stromebene liegt im Suden des Kontinents, wo das Flusssystem aus Rio Paraguay und Rio Parana aus dem Pantanal im Norden kommend im Suden in eine subtropische Schwemmlandschaft ubergeht.
Die Berglander sind das Bergland von Guayana, das Brasilianische Bergland und das Ostpatagonische Bergland. Das Bergland von Guayana unterteilt sich in das Regenwaldbergland Sudvenezuelas, das Zentrale Hochland von Guayana und das Ostliche Bergland von Guayana, erstreckt sich zwischen der Stromebene des Orinoco und des Amazonas mit einer maximalen Erhebung von bis zu 2800 m.
Das Zentralbrasilianische Bergland dominiert Zentralsudamerika und zieht sich bis an die Kuste Brasiliens bzw. die Pampa Argentiniens im Suden. Das Ostpatagonische Bergland erhebt sich im Osten der Anden an der Sudspitze Sudamerikas.
Zu Einzelheiten siehe Physische Geographie Sudamerikas
= Geologie und Geomorphologie =
Die pazifische Seite Sudamerikas ist durch einen aktiven Kontinentalrand in Form einer Subduktionszone gepragt, die atlantische Kontinentalseite ist plattentektonisch passiv. Die ostlichen Berglander Sudamerikas weisen einen großen prakambrischen Sockel auf, welcher von Sandsteinen uberlagert sein kann. Die Beckenstrukturen der Stromebenen sind durch tertiare und quartare Sedimente dominiert. Im Suden bildet die patagonische Plattform den Grundstock fur das patagonische Bergland. Das Anden-Orogen besteht zum Großteil aus vulkanisch-sedimentaren Deckenschichten, nachprakambrischen Sedimentbecken und mittel- und jungprakambrischen Grundgebirgen. (nach ZEIL 1986) Die Andenregionen sind durch ihre Lage am aktiven Kontinentalrand durch Vulkanismus und Erdbeben gepragt.
Sudamerika war einst ein Teil des Urkontinents Gondwana. Hinweise darauf sind die exakte Passform an Afrika, erhebliche Basaltvorkommen, die sich beim Aufreißen an der heutigen Ostkuste gebildet haben, die Strichrichtungen von Sandsteinen und Anzeichen der Perm-karbonen Vereisung. Der Suden Sudamerikas ist durch glaziale Serien quartarer Vereisungen gepragt. Geomorphologische Erscheinungen sind Gletscherseen, Moranen und glaziale Abflussformen.
Sudamerika weist weltwirtschaftlich bedeutende Vorkommen an Rohstoffen und Mineralen auf, es werden Erze, Salpeter, Erdol, Kohle und Gold abgebaut.
= Klima =
Das Klima Sudamerikas ist ausgesprochen komplex. Ganzjahrige klimatische Einflusse sind der kalte Humboldtstrom an der Westkuste Perus, die innertropische Konvergenzzone (ITCZ), die Entstehung tropischer Wirbelsturme am Rand des subtropischen Hochdruckgebietes und die Passatwinde. Der kalte Humboldt-Meeresstrom bewirkt ein Abkuhlen der Meeresoberflache vor der Kuste Perus und Nordchiles, was zu der Ausbildung von Kustenwusten fuhrt. Dieses Phanomen beruht auf der Tatsache, dass die abgekuhlte Luft zu einer konstanten Inversion, somit zu einem stabilen Hochdruckgebiet fuhrt, das keine Konvektion und somit keinen Niederschlag zulasst. Die Auswirkung sind ausgedehnte Wustenregionen an den Kusten.
Die aquatoriale Tropenlage bewirkt im Sudwinter eine Ausbildung einer innertropischen Konvektionszone uber der Zentralen Amazonasregion und fuhrt zu starken Niederschlagen. Im Sommer verlagert sie sich weiter nach Suden, somit sind die inneren Tropen durch ganzjahrigen Niederschlag gekennzeichnet. Ebenfalls im Sommer bildet sich ein kontinentales Hitzetief aus, welches sehr niederschlagsreich ist. Die sudlichen Randtropen sind somit durch (Sud-)Sommerniederschlag gepragt.
Die nordlichen Randtropen sind durch Passatstau im Osten (ganzjahrig hoher Niederschlag) und durch kuhle Meereswasser an der Kuste im Norden (sehr geringer Niederschlag) gekennzeichnet.
Die Sudpassatwinde an der Ostkuste fuhren zu erhohten Niederschlagen in den Kustenregionen, im Sudsommer gepragt durch die Ausbildung monsunaler Ostwinde und im Sudwinter durch Stauniederschlage an den Kustenregionen.
Das stabile Hochdrucksystem am Westrand Sudamerikas im Zusammenspiel mit den kalten Luftmassen der sudlichen polaren Regionen fuhrt zur Ausbildung von außertropischen Zyklonen vor der Kuste Westpatagoniens. Die zyklonalen Fronten variieren in ihrer Lage im Sudsommer und Sudwinter. Die Verlagerung nach Norden im Sudwinter fuhrt zu periodischen Winterniederschlagen im Großen Suden Chiles (Urwaldchile) sowie zu sporadischen Winterniederschlagen im Kleinen Suden Chiles. Im Gegenzug fuhrt die Verlagerung der zyklonalen Fronten im Sudsommer (beeinflusst durch die veranderte Lage der ITCZ) zu einer ausgepragten Sommertrockenheit in ganz Sudchile, ausgenommen Patagonien.
Die Zyklonalen Fronten bilden an der Anden-Luvseite des patagonischen Gebirges heftige Stauniederschlage, welche als hypermaritim bezeichnet werden konnen. Diese Stauniederschlage auf der Westseite fuhren dazu, dass die Anden-Leeseite Patagoniens durch Trockenheit gekennzeichnet ist.
Die Anden selbst haben eine weitere klimatische Unterteilung in der vertikalen Dimension. Allgemeinhin lassen sich funf Hohenstufen unterscheiden: Die Tierra Caliente (Warme Erde, bis 1000 m), die Tierra Templada (Gemaßigte Erde, bis 2000 m), die Tierra Fria (Kalte Erde, bis 3500 m, Anbaugrenze und Frostgrenze), die Tierra Helada (Eisige Erde, bis 4500 m, Schneegrenze) und die Tierra Glacial (glaziale Erde, bis 6000 m, Anokumene).
Des Weiteren sind in den Anden Vergletscherungen vorhanden. In Peru sind die großten innertropischen Vergletscherungen der Welt zu finden. In Patagonien gibt es eine ausgedehnte Inlandsvereisung und bis auf Meeresniveau hinunterreichende Zungengletscher.
Ein fur die sudamerikanische Westkuste bedeutendes Klimaphanomen ist El Nino, denn obwohl es von seinem Ursprung her ein rein ozeanisches Phanomen ist, werden vor allem seine klimatischen Folgen wahrgenommen. Die Kaltwasserstrome vor Sudamerika reißen ab und es sammelt sich Warmwasser vor der sudamerikanischen Kuste. Als klimatische Folge hebt sich somit die normal vorherrschende stabile Hochdrucksituation auf und es kommt zu einer Umkehrung der Walker-Zirkulation mit schwerwiegenden Auswirkungen durch Starkniederschlage.
Flora und Fauna Zoogeographisch gesehen gehort Sudamerika zur Neotropischen Region, die auch Mittelamerika und Westindien umfasst. Der sudamerikanische Kontinent war wahrend des großten Teils der Erdneuzeit von den anderen Kontinenten isoliert. Damals bildeten sich einmalige Saugetierformen heraus, die zum Teil noch heute fur Sudamerika charakteristisch sind. Dazu zahlen verschiedene Beuteltiere, die Gurteltiere, Ameisenbaren und Faultiere. Die Neuweltaffen und Meerschweinchenverwandten gelangten ebenfalls sehr fruh (vermutlich von Afrika aus) als Inselspringer auf den Kontinent. Die heutige Saugetierfauna der Neotropischen Region besteht allerdings zum großten Teil aus Gruppen, die im Zuge des großen Amerikanischen Faunenaustauschs vor etwa 3 Millionen Jahren aus Nordamerika einwanderten. Damals wanderten Paarhufer (Hirsche, Kamele, Nabelschweine), Unpaarhufer (Tapire), Hasen, Raubtiere (Katzen, Hunde, Marder, Baren, Kleinbaren), Spitzmause und die Nagerfamilien der Neuweltmause und Hornchen aus Nordamerika nach Sudamerika ein. Daruber hinaus gelangten damals auch die Russeltiere und Pferde nach Sudamerika, die jedoch im Zuge der Quartaren Aussterbewelle am Ende des Pleistozan wieder verschwanden. Mit ihnen verschwanden auch zahlreiche andere Großtiere, wie die Riesenfaultiere, Glyptodonten, Toxodonten, Macrauchenia und die Sabelzahnkatze Smilodon. War Sudamerika bis vor 12.000 Jahren ein Kontinent der Giganten, so ist heute der Mittelamerikanische Tapir das großte Landsaugetier des Kontinents, er kommt allerdings nur noch in Kolumbien vor. Jaguar und Brillenbar stellen die großten Landraubtiere dar. Aus der Vogelwelt sind die zahlreichen Kolibris bekannt.
Das Amazonasbecken zeichnet sich durch seine reichhaltige Pflanzenwelt aus, doch gibt es dort auch naturliche Monokulturen, die so genannten Teufelsgarten, in denen uberwiegend Rotegewachse zu finden sind. Wissenschaftler haben errechnet, dass es in Amazonien etwa 16.000 Baumarten gibt, wobei die Halfte aller Einzelbaume in der Region nur zu 227 Arten gehoren. Brasilien ist das artenreichste Land der Erde. Entdeckt wurden bislang unter anderem rund 55.000 Blutenpflanzen-, uber 3000 Sußwasserfisch-, 921 Amphibien-, 749 Reptilien- und 51 Primaten-Arten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Teakbaum – vor allem in Argentinien, und Ecuador – eingefuhrt und in Plantagen angebaut, was auf Kosten der naturlichen Vegetation erfolgte und diese verdrangte. Der atlantische Kustenregenwald ist bereits zu mehr als 90 % zerstort, was unter anderem auch auf die Landwirtschaft zuruckzufuhren ist.
Geschichte = Vor der Konquista =
Nach herrschender Meinung zur Besiedlung Amerikas wurde der nordliche Kontinent um ca. 15.000 v. Chr. uber die Beringstraße von asiatischen Stammen bevolkert. In Sudamerika tauchen die ersten menschlichen Spuren zwischen 20.000 und 10.000 v. Chr. auf. Als alteste amerikanische Kultur gilt die Valdivia-Kultur in Ecuador im 4. Jahrtausend v. Chr. Ab dem 2. Jahrtausend v. Chr. entwickelten sich einzelne lokale Kulturen in ganz Sudamerika. Die fruheste heute noch erkennbare Hochkultur war die der Chavin de Huantar, die etwa 800 v. Chr. bis 300 v. Chr. existierte. Weiterhin gab es unter anderem die Tiahuanaco-, Paracas-, Nazca-, Moche-, Chimu und Chachapoya-Kultur.
Ab etwa 1200 bis 1532 herrschten die Inka, die wohl bekannteste Hochkultur Sudamerikas, uber große Teile des Kontinentes und schufen ein riesiges Reich mit Zentrum im heutigen Peru. Durch die Ankunft der spanischen Eroberer wurde das Inkareich zerschlagen.
= Konquista =
Bereits 1494 wurde Sudamerika im Vertrag von Tordesillas von Papst Alexander VI. zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt. Der ostliche Teil, das heutige Brasilien, wurde Portugal zugesprochen. Panama und der Rest des Kontinents fielen an Spanien. Zahlreiche spanische und portugiesische Missionare kamen im 15. und 16. Jahrhundert nach Sudamerika und fuhrten das Christentum ein. Aus diesem Grund bekennen sich heute noch etwa 80 bis 90 % der Sudamerikaner zum katholischen Christentum.
Im Jahr 1543 wurden die Vizekonigreiche Neuspanien (Mexiko und Venezuela) und Peru (spanischer Teil von Sudamerika mit Panama, ohne Venezuela) gegrundet.
1717 losten sich Ecuador und Kolumbien aus dem Vizekonigreich Peru und bildeten mit Venezuela das Vizekonigreich Neugranada. Bolivien, Chile, Argentinien und Paraguay folgten 1776 diesem Beispiel und schufen das neue Vizekonigreich Rio de la Plata.
= Unabhangigkeit =
Der Drang nach Unabhangigkeit nahm seitdem stetig zu. 1813 siegten zum ersten Mal Aufstandische in Caracas unter dem Anfuhrer Simon Bolivar.
Im Suden erkampfte sich 1816 Argentinien die Unabhangigkeit. In den Jahren 1817/1818 folgte die Unabhangigkeit Chiles. 1819 besiegte die Armee unter Simon Bolivar die Spanier in der Schlacht von Boyaca und befreite damit Kolumbien. Die Unabhangigkeit Ecuadors wurde 1822 in der Schlacht am Pichincha durchgesetzt. Die Heere von Jose de San Martin und Simon Bolivar vereinigten sich und gewannen die Entscheidungsschlacht bei Ayacucho in Peru am 9. Dezember 1824. Mit dieser Schlacht zogen sich die Spanier als politische Macht endgultig aus Sudamerika zuruck. In Brasilien nahm die Unabhangigkeitsbewegung einen etwas anderen Lauf. Da das portugiesische Konigshaus mit Hofstaat auf der Flucht vor Napoleon 1808 nach Brasilien fluchtete und damit die eigentliche Hauptstadt des portugiesischen Weltreiches von Lissabon nach Rio de Janeiro verlegt wurde, war Brasilien ab diesem Jahr faktisch und ab 1815 offiziell mit Portugal gleichgestellt. Die Unabhangigkeit wurde endgultig 1822 vom portugiesischen Thronfolger Pedro ausgerufen und Brasilien wurde zu einer Monarchie.
Nach der Unabhangigkeit von Spanien entstand Großkolumbien, bestehend aus den Staaten Venezuela, Kolumbien und Ecuador. Kurzzeitig schlossen sich Peru und Bolivien dem Bundnis an. Aber bereits 1832 zerfiel die Konfoderation endgultig und es bildeten sich die heutigen Nationalstaaten.
Bevolkerung Entwicklung der Bevolkerung Sudamerikas (in Millionen)
Am 1. Januar 2010 lebten in Sudamerika etwa 390 Millionen Menschen. Die Bevolkerung Sudamerikas ist durch Vermischung der Volker gekennzeichnet, die als indigene Bewohner dort heimisch waren und den Volksgruppen, die sich spater hier angesiedelt haben. Letztere waren meist europaische Zuwanderer oder aus Afrika hierher verschleppte Sklaven. Somit uberwiegt der Anteil der Mestizo, der Mulatten und Zambos. In Brasilien bilden die Afrolateinamerikaner als Nachfahren der aus Afrika verschleppten Sklaven einen großeren Bevolkerungsanteil. Reste der Urbevolkerung leben fast nur noch im Andenhochland und im Amazonasgebiet. Nur in einigen Landern stellen die indigenen Volker einen wesentlichen Anteil der Bevolkerung, so in Ecuador, Peru und Bolivien.
= Sprachen =
Da Sudamerika 1494 im Vertrag von Tordesillas zwischen Spanien und Portugal aufgeteilt wurde, wird in Brasilien heute Portugiesisch in seiner brasilianischen Variante gesprochen, wahrend in fast allen anderen sudamerikanischen Staaten die Landessprache Spanisch ist. Lediglich in Suriname und auf den Inseln Aruba, Bonaire und Curacao wird Niederlandisch als offizielle Landessprache gesprochen. In Suriname wird neben Niederlandisch auch Sranantongo als Lingua franca gesprochen. In Guyana und Trinidad und Tobago spricht man Englisch und in Franzosisch-Guayana, das jedoch kein selbstandiger Staat, sondern ein franzosisches Ubersee-Departement ist, Franzosisch.
Andere europaische Sprachen, die in Sudamerika verbreitet sind, sind Englisch (zum Teil in Argentinien), Deutsch (im Suden Brasiliens und Chiles, in Argentinien, Paraguay und in deutschsprachigen Orten Venezuelas) und das niederdeutsche Plautdietsch, Italienisch (in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Venezuela) sowie Walisisch (im Suden Argentiniens).
In Bolivien werden indigene Sprachen – teilweise neben dem Spanischen – von mehr als der Halfte der Bevolkerung gesprochen. Quechua und Aymara werden mit Abstand am meisten gesprochen, gefolgt von dem im ostlichen Tiefland gesprochenen Guarani. Seit 2009 sind alle indigenen Sprachen Boliviens durch die Verfassung neben dem Spanischen als Amtssprachen anerkannt. In Peru sind Quechua und Aymara neben Spanisch regional anerkannte Amtssprachen. Das im Hochland Ecuadors verbreitete, mit Quechua verwandte Kichwa (oder Quichua) ist dort zwar nicht Amtssprache, jedoch verfassungsmaßig anerkannt. Guarani ist neben Spanisch eine der offiziellen Sprachen Paraguays, wo es von einer zweisprachigen Mehrheit verwendet wird. Kolumbien erkennt alle indigenen Sprachen, die im Land gesprochen werden, als offizielle Sprachen an, doch es handelt sich dabei um weniger als ein Prozent Muttersprachler. Die am meisten gesprochene indigene Sprache in Chile ist Mapudungun („Araukanisch“) der Mapuche in Sudchile, daneben sind in Nordchile Aymara und auf der Osterinsel Rapanui verbreitet.
= Religionen =
Die uberwiegende Mehrheit der Bevolkerung bekennt sich zum romisch-katholischen Glauben. Seit etwa 1960 entwickelte sich vor allem hier die Befreiungstheologie, die jedoch von Papst Johannes Paul II. und dem damaligen Leiter der Kongregation fur die Glaubenslehre und spateren Papst Benedikt XVI. bekampft wurde. Der Anteil der Katholiken hat (Stand 2007) bestandig abgenommen; Freikirchen und religiose Sondergemeinschaften wuchsen (Stand 2007). Der 2013 bis 2025 amtierende Papst Franziskus war Argentinier.
siehe auch
= Sklaverei =
Bis in das spate 19. Jahrhundert wurden afrikanische Sklaven vor allem auf den exportorientierten Plantagen im Karibischen Becken, an der Pazifikkuste und in Brasilien eingesetzt. Die Sklaverei wurde in Brasilien erst 1888 und damit spater als in fast allen anderen Landern abgeschafft.
Typische Haciendas im Hochland sicherten sich die Abhangigkeit der Indigenas, indem die Landarbeiter eine kleine Parzelle zugeteilt erhielten und als Gegenleistung fur den patron Arbeitsleistungen erbringen mussten. Die systematische Haltung von Abhangigen im sozial relativ geschlossenen Hazienda-System dauerte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein an.
Wirtschaft = Bodenschatze =
Der Bergbau spielte schon in vielen vorkolonialen Kulturen Sudamerikas eine bedeutende Rolle. Einer der wesentlichen Grunde fur die Konquista war die Unterwerfung indianischer Gold- und Silberreiche, wobei die Sage von Eldorado eine nicht zu unterschatzende Rolle spielte.
Die sudamerikanischen Anden sind besonders reich an metallischen Bodenschatzen. Im zentralen Andengurtel sind einige der weltweit großten Kupfer-, Zinn-, Gold- und Silberlagerstatten zu finden. Das bedeutendste kupfererzfordernde Land im Jahre 2006 war mit großem Abstand Chile und unter den funf großten Zinnforderlandern liegen drei (Peru, Bolivien und Brasilien) in Sudamerika. In den Salzseen vor allem von Chile (z. B. Salar de Atacama) und Bolivien (z. B. Salar de Uyuni) befinden sich die großten Vorkommen an Lithiumsalzen, die zum Teil noch nicht abgebaut werden.
Auch die Vorkommen an fossilen Energietragern sind bedeutend. Die Lander im Orinoco-Delta im Nordwesten des Kontinents haben großen Anteil an den Erdolreserven: Venezuela zahlt bereits heute zu den weltweit großten Forderlandern und in Brasilien wurde 2007 ein Vorkommen entdeckt, das zu den großten Olreserven der Welt zu rechnen ist.
Entsprechend stellt der Export der Bodenschatze fur die Staaten Sudamerikas die wichtigste Devisenquelle dar. Die Erschließung und Ausbeutung der Lagerstatten fuhrt stets zu territorialen und kulturellen Konflikten zwischen den Interessen der Unternehmen und der indigenen Bevolkerung. Insbesondere mit der Erdolforderung sind massive Umweltprobleme zu beobachten: Waldrodung, Straßenbau, Boden- und Gewasserkontamination fuhren vor allem im Amazonastiefland, wo noch viele indigene Bevolkerungsgruppen in einem sensiblen Okosystem naturverbunden leben, zu einer Zerstorung des okologischen Gleichgewichts.
= Landwirtschaft =
Die landwirtschaftlichen Strukturen wurden bis ins 20. Jahrhundert von kolonialen Einflussen gepragt. Bis heute wird der Landbesitz entweder in riesigen Landgutern der Großgrundbesitzer oder von Subsistenzwirtschaft betreibenden Kleinbauern gehalten.
Im Zuge der spanischen Eroberung entstand zunachst das System der Encomienda (spanisch fur „Auftrag“). Ziel war ein profitables landwirtschaftliches Kolonialwesen ohne die Herausbildung eines autonomen Erbadel. Zu diesem Zweck erhielten die spanischen Conquistadoren umfangreichen Landbesitz treuhanderisch ubertragen. Lehnsherr blieb der spanische Konig, der dem Encomendero („Auftragnehmer“) die Aufgabe ubertrug, das Land zu bewirtschaften und fur den Schutz und die Missionierung der dort lebenden indigenen Bevolkerung zu sorgen. In seiner praktischen Umsetzung wird diese Fremdverwaltung allerdings als eine besonders menschenverachtende Form der Sklaverei betrachtet, denn die indigene Bevolkerung stellte fur die Gutsherren keinerlei finanziellen Wert dar und wurde oftmals dementsprechend leichtfertig zu Tode geschunden.
Zwar bestand die Institution der Encomienda formal bis 1791, doch wurde es seit 1549 sukzessive durch die Repartimiento (zu deutsch „Zuteilung“) abgelost. Im Repartimiento-System wurden indianische Gemeinschaften verpflichtet, dem Staat aus ihren Reihen Arbeitskrafte zur Verfugung zu stellen.
Nach Erlangung der Unabhangigkeit wurden die „treuhanderischen“ Großgrundbesitzungen in private Eigentumsverhaltnisse umgewandelt, und obwohl die Hacienda (spanisch) bzw. Fazenda (portugiesisch) genannten Landwirtschaftsbetriebe deutlich kleiner waren, so umfassten sie oftmals mehrere zehntausend Hektar Land. Fur diese Großgrundbesitze ist bis heute der Begriff der Latifundien gebrauchlich.
In vielen Landern Sudamerikas gibt es heute Bestrebungen, in Landreformen den Besitz gerechter zu verteilen. Einigermaßen wirksam umgesetzt wurden diese aber bisher erst in Venezuela und Peru. Die in Nicaragua von den Sandinisten durchgefuhrt Reform ist mittlerweile zu bedeutenden Teilen wieder ruckgangig gemacht worden. In Brasilien kampft die Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra fur eine umfangreiche Landreform.
= Organisationen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit =
Bis heute (Stand 2016) hat sich ein Geflecht aus internationalen Organisationen mit zum Teil wechselnden Mitgliedschaften gebildet:
Rund um Peru wurde 1969 die Andengemeinschaft als Internationale Organisation (span. Comunidad Andina de Naciones, Abkurzung: CAN) zur wirtschaftlichen, politischen und sozialen Integration gegrundet.
Rund um Argentinien entstand 1991 der Mercado Comun del Sur (kurz: Mercosur; span.: Gemeinsamer Markt des Sudens), in dem die relativ stark industrialisierten Sudlander die Errichtung eines Binnenmarkts anstreben.
Rund um das Venezuela von Hugo Chavez wurde von Landern mit linksgerichteten Regierungen die Bolivarianische Allianz fur Amerika, kurz ALBA, initiiert. Diese Organisation hatte zunachst viel Einfluss auf den Emanzipierungsprozess der Staaten Sudamerikas ausgeubt, ist aber aktuell klar die schwachste der Organisationen, zumindest was die wirtschaftliche Bedeutung angeht.
Rund um Brasilien wurde 1978 der Amazonaspakt, heute OCTA (port.: Organizacao do Tratado de Cooperacao Amazonica), ins Leben gerufen mit dem heutigen Ziel der nachhaltigen Entwicklung Amazoniens.
Ein mehr politisches als wirtschaftliches Projekt ist die 2004 ins Leben gerufene Union Sudamerikanischer Nationen, kurz UNASUR, die nach dem Vorbild der Europaischen Union die kontinentale Integration vorantreiben mochte. Der Fokus liegt auf dem Kampf gegen „Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Hunger, Armut und Unsicherheit“. Die Initiative ging von den beiden großen Organisationen Mercosur und CAN aus, aber auch Chile, Venezuela und die anderen Lander Sudamerikas, die dort nicht Vollmitglieder sind, traten bei.
Bolivien, als geographisch zentrales Land mit signifikantem Anteil sowohl in der Amazonas- als auch der Andenregion, ist das einzige Land, das in allen Organisationen Vollmitglied ist.
Verkehr = Allgemeines =
Aufgrund der Bevolkerungskonzentration an den Kusten Sudamerikas verlaufen hier auch die wichtigsten Verkehrsverbindungen. Problematisch ist das Fehlen leistungsfahiger landgebundener Direktverbindungen zwischen den Staaten Sudamerikas, da das Innere des Kontinents nur schlecht erschlossen ist. Insbesondere fehlt es an leistungsfahigen Verbindungen uber die Anden und uber den Amazonas mit seinen Nebenflussen.
= Flugverkehr =
Von Bedeutung sowohl fur den Verkehr innerhalb der Staaten Sudamerikas als auch zwischen den Staaten ist der Flugverkehr. Dieser bildet insbesondere in großflachigen Staaten wie Brasilien oft die einzige Verbindung zwischen entlegenen Landesteilen. Ebenso bildet er oft die einzige Verbindung zwischen den Staaten Sudamerikas.
= Schiffsverkehr =
Von essentieller Verkehrsbedeutung ist in Sudamerika die Schifffahrt, sowohl im Bereich der Kusten als auch auf einigen Flussen wie dem Amazonas, dem Rio de la Plata, dem Orinoco und seinen Zuflussen sowie auf Binnenseen. Wichtige Hafen befinden sich in Buenos Aires und in Rosario in Argentinien, Montevideo in Uruguay, Belem, Fortaleza, Ilheus, Imbituba, Manaus, Paranagua, Porto Alegre, Recife, Rio de Janeiro, Rio Grande, Salvador, Santos und Vitoria in Brasilien, Cayenne in Franzosisch-Guayana, Paramaribo in Surinam, Georgetown in Guyana, La Guaira und Puerto Cabello in Venezuela, Barranquilla, Buenaventura und Cartagena in Kolumbien, Machala in Ecuador, Lima in Peru und Arica, Iquique, Antofagasta, Chanaral, Coquimbo, Valparaiso, San Antonio, Talcahuano, Puerto Montt und Punta Arenas in Chile. Bis zur Eroffnung des Panamakanals war die am haufigsten genutzte Verbindung vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean die gefahrliche Umrundung des Kap Hoorn an der Sudspitze des Kontinents. Die Magellanstraße bietet Chile einen direkten Zugang zum Atlantik, was von Bedeutung war, da die Wirtschaft des Landes lange in Richtung Europa orientiert war.
= Straßen- und Fernbusnetz =
Es gibt kein zusammenhangendes Straßennetz. Beispielsweise ist die nordbrasilianische Millionenstadt Manaus nicht an das ubrige Straßennetz angebunden. Aktuell sind, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen, Straßenbauprojekte zur Erschließung des Inneren Sudamerikas und damit zur Schaffung von Direktverbindungen zwischen den Atlantik- und den Pazifikstaaten in Planung oder im Bau, so die Transoceanica und die Transamazonica. Der Kontinent wird von Nord nach Sud von der Panamericana durchquert. In den meisten Landern besteht Rechtsverkehr, in Guyana und Surinam besteht Linksverkehr.
Trotz der teilweise schlechten Straßenverbindungen und großen Distanzen ist der Fernbusverkehr in den meisten sudamerikanischen Staaten von sehr großer Bedeutung, da Fahrkarten in der Regel wesentlich preiswerter sind als Flugtickets. Ublich sind vielerorts Ubernachtfahrten, die nicht selten langer als 12 Stunden dauern. Zum Teil werden auch internationale Linien angeboten, aber in der Regel muss an der Grenze das Fahrzeug gewechselt werden. Neben großen Bussen werden Uberlandreisen auch vielfach mit Kleinbussen und Linientaxis angeboten.
= Schienenverkehr =
Ein zusammenhangendes Schienennetz besteht nicht. Ein dichtes Schienennetz existiert insbesondere im Bereich der Metropolen an den Kusten, beispielsweise im Raum Rio de Janeiro, Sao Paulo, Buenos Aires, Caracas oder im Raum Santiago de Chile. Verbindungen bestehen zwischen den Schienennetzen Brasiliens, Boliviens, Argentiniens, Chiles, Paraguays und Uruguays. Die Eisenbahnnetze Perus, Ecuadors, Kolumbiens, Venezuelas und Guyanas sind hingegen isoliert. In Surinam und in Franzosisch-Guayana existiert derzeit kein Schienenverkehr. Die Schienennetze im Hinterland Brasiliens, Argentiniens und Chiles sind in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgedunnt worden, Paraguay besitzt nur noch eine grenzuberschreitende Verbindung nach Argentinien ohne weitere Inlandsverbindungen. Problematisch sind die sehr unterschiedlichen gebrauchlichen Spurweiten von 600 mm, 760 mm, 1000 mm, 1435 mm, 1600 mm und 1676 mm, die eine Vereinheitlichung des Schienenverkehrs in Sudamerika behindern. Fur den Personenverkehr besitzt der Schienenverkehr nur eine untergeordnete Bedeutung, haufig im Vorortverkehr. Wichtiger ist hier der Guterverkehr. In einigen Großstadten ubernehmen Seilbahnen eine wichtige Funktion im offentlichen Personennahverkehr.
Siehe auch: Schienenverkehr in Brasilien, Schienenverkehr in Ecuador, Schienenverkehr in Peru, Schienenverkehr in Uruguay, Liste sudamerikanischer Eisenbahngesellschaften
= Pipelines =
Bauprojekte fur Pipelines sind ebenfalls in Planung. Dazu zahlt beispielsweise die Bolivien-Argentinien-Trasse der geplanten Gaspipeline des Sudens. In Brasilien bestehen circa 5000 km Erdolpipelines. Dazu kommen Erdgasleitungen von etwa 4250 km.
Politische Geografie Die Staaten Sudamerikas werden geopolitisch wie folgt unterteilt:
Andenlander: Kolumbien, Peru, Ecuador, Bolivien und Chile. Diese Lander weisen spezielle ethnische, sprachliche und kulturelle Gemeinsamkeiten auf, etwa die Verwendung des Quechua sowie die Adobe-Bauweise. Resultierend aus der Geschichte des Inka-Reichs, das sich in dieser Region etwa zwischen 800 und 1500 erstreckte, wird die Bezeichnung „Andenlander“ bis heute als Begriff fur den gemeinsamen Kulturraum verwendet.
Amazonasbecken-Staaten (Amazonien): umfasst Gebiete in den Staaten Brasilien, Franzosisch-Guayana, Suriname, Guyana, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Brasilien wird aufgrund seiner Große auch oft als eigenstandige Einheit gesehen.
La-Plata-Staaten: eng gefasst Argentinien und Uruguay. Beiden Landern gemein ist die direkte Lage am Rio de la Plata, dem 290 km langen und bis zu 220 km breiten Mundungstrichter der großen sudamerikanischen Strome Parana und Uruguay. Uber den Rio Paraguay und dessen Zuflusse haben auch Paraguay und Bolivien Anteil an diesem Einzugsgebiet.
Cono Sur (dt. Sudkegel): Argentinien, Chile und Uruguay, bedingt auch Paraguay.
Karibikstaaten: Venezuela, Guyana, Suriname und Franzosisch-Guayana. Diese Lander werden aufgrund ihrer Kolonialgeschichte sowie ihrer Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen zu den Karibischen Inseln haufig mit zur Karibik gerechnet.
Trinidad und Tobago werden traditionell zu den Karibischen Inseln und damit zu Mittelamerika gerechnet. Die Hauptinsel Trinidad liegt jedoch auf dem sudamerikanischen Festlandssockel.
Aruba, Bonaire und Curacao (ABC-Inseln) gehoren zu den Inseln unter dem Winde, einem Archipel vor der Kuste Venezuelas, der traditionell als Teil der Kleinen Antillen gilt und daher ebenfalls oft zu Mittelamerika gezahlt wird.
= Staaten und abhangige Gebiete in Sudamerika =
1 Beansprucht von Argentinien
2 Wird kulturgeografisch meist Nordamerika zugerechnet
= Politische Bundnisse und Organisationen =
Die Union Sudamerikanischer Nationen (UNASUR) ist die 2008 gegrundete Gemeinschaft der zwolf sudamerikanischen Staaten. In der Grundungsurkunde wird als Ziel der Union der Kampf gegen „Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Hunger, Armut und Unsicherheit“ definiert. Bis zum Jahre 2025 soll mit gemeinsamer Wahrung, einem Sudamerika-Parlament und einheitlichen Reisepassen eine der Europaischen Union vergleichbare Integration erreicht werden.
Mit Franzosisch-Guayana, einem Ubersee-Departement Frankreichs, erstreckt sich die Europaische Union selbst bis nach Sudamerika und hat mit Suriname und Brasilien eine Außengrenze.
Trotz aller Fortschritte erscheint derzeit (Stand 2016) fraglich, ob die Ziele bereits 2025 erreicht werden konnen. Die verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Bundnisse verfolgen zum Teil unterschiedliche Ziele, vor allem was den Freihandel und die Kooperation mit den USA und anderen Weltmachten angeht. Haufig mangelt es auch an der Bereitschaft ihrer Mitglieder, umfangreiche Kompetenzen an die supranationalen Bundnisse abzutreten. Auch die seit einigen Jahren bestehende Schwache der fuhrenden Staaten Brasilien, Argentinien und Venezuela ist ein großes Hindernis fur weitere Integrationsschritte.
Im Zuge der Emanzipationsbewegungen von wachsender Bedeutung fur die Staaten Sudamerikas ist auch die Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (kurz: CELAC), wahrend die von den USA dominierte Organisation Amerikanischer Staaten oder gar der von Spanien dominierte Iberoamerika-Gipfel immer mehr in den Hintergrund treten.
Siehe auch Liste von Seehafen: (die Spalten sind sortierbar; Spalte „Land“ anklicken)
Liste von Seehafen#Atlantischer Ozean
Liste von Seehafen#Pazifischer Ozean
Literatur Thomas Fischer: Der Linksruck in Sudamerika. In: Politorbis. Zeitschrift zur Außenpolitik. Nr. 41, H. 2, 2006, S. 6–19.
Hans-J. Aubert, Ulf-E. Muller: Sudamerika. Mit Bibliografie, Namens-, Orts- und Sachregister. 2., durchgesehene Auflage. Bruckmann, Munchen 1981, ISBN 3-7654-1732-7.
Walther L. Bernecker, Horst Pietschmann, Rudiger Zoller: Eine kleine Geschichte Brasiliens. Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 3-518-12150-2.
Konig, Hans-Joachim: Kleine Geschichte Lateinamerikas. Bundeszentrale fur politische Bildung, Bonn 2006, ISBN 3-89331-723-6.
Thomas Bauer: Die Gesichter Sudamerikas. 6. Auflage. Wiesenburg Verlag, 2013, ISBN 978-3-940756-45-9.
Stefan Rinke: Geschichte Lateinamerikas: Von den fruhesten Kulturen bis zur Gegenwart. Beck-Wissen. 2., aktualisierte Auflage. Beck, Munchen 2014, ISBN 978-3-406-60693-9.
Weblinks Literatur von und uber Sudamerika im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Sudamerika ist der sudliche Teil des amerikanischen Doppelkontinentes, hat eine Bevolkerungszahl von uber 441 Millionen Menschen und ist mit einer Flache von 17.843.000 km² die viertgroßte kontinentale Landflache der Erde.
Sudamerika ist im Osten vom Atlantischen Ozean und im Westen vom Pazifischen Ozean umgeben. Die Insel Feuerland an der Sudspitze Sudamerikas wird durch die Drakestraße vom Nachbarkontinent Antarktika getrennt. Etwas sudlich Feuerlands liegt Kap Hoorn, bei welchem Atlantik und Pazifik aufeinandertreffen. Nach Norden hin besteht eine Verbindung uber die Landenge von Panama nach Nordamerika.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Südamerika"
}
|
c-13958
|
James Paul David „Jim“ Bunning (* 23. Oktober 1931 in Southgate, Campbell County, Kentucky; † 26. Mai 2017 ebenda) war ein US-amerikanischer Baseballspieler in der Major League Baseball (MLB), der spater eine Laufbahn als Politiker einschlug und von 1999 bis 2011 fur die Republikanische Partei dem US-Senat angehorte.
Sport-Karriere In der MLB trat Bunning 1955 erstmals als Pitcher in den Reihen der Detroit Tigers auf. 1964 wechselte er zu den Philadelphia Phillies, fur die er bis 1967 antrat, anschließend spielte er 1968 und 1969 fur die Pittsburgh Pirates. Innerhalb der Saison 1969 bestritt er auch fur die Los Angeles Dodgers neun Spiele. 1970 kehrte Bunning zu den Phillies zuruck, wo er seine sportliche Karriere 1971 beschloss. Er erreichte in seiner Laufbahn eine Bilanz von 224 Siegen bei 184 Niederlagen, die Earned Run Average uber die Karriere betragt 3.27 bei insgesamt 2.855 Strikeouts.
Bunnings Spielstarke lasst sich auch daran ablesen, dass er in den Jahren 1957, 1959, von 1961 bis 1964 sowie 1966 in das „All Star Team“ gewahlt wurde. 1996 wurde er in die Baseball Hall of Fame gewahlt. Eine weitere bemerkenswerte Leistung von Bunning im Baseball war das Werfen eines Perfect Games am 21. Juni 1964 in New York City gegen die New York Mets. Bis 2009 wurde dies in der Geschichte der MLB erst achtzehn Mal erreicht.
Politische Karriere Seine politische Karriere begann 1977 mit der Wahl in den Stadtrat von Fort Thomas, Kentucky, wo er zwei Jahre lang sein Amt ausubte. Danach kandidierte er sogleich fur den Senat von Kentucky, wurde gewahlt und zeigte 1983 deutliche Ambitionen, Gouverneur Kentuckys zu werden. Als Kandidat der Republikaner unterlag er jedoch der Demokratin Martha Layne Collins. 1986 war er bei den Wahlen zum Kongress erfolgreich. Er verblieb von 1987 bis 1999 im Reprasentantenhaus, ehe er in den Senat gewahlt wurde.
= Verbale Entgleisungen =
2004 traf Bunning bei den Neuwahlen auf einen demokratischen Herausforderer, Daniel Mongiardo, der als Arzt und Staatsenator von Kentucky durchaus Chancen hatte, woraufhin Bunning sich deutlich in Wort- und Tonfall vergriff.
Die konfliktreiche Kontroverse geriet außer Kontrolle, als Bunning seinen italienischstammigen Widersacher dergestalt beschrieb, dass „er einen an Saddam Husseins Sohne erinnere“ („like one of Saddam Hussein’s sons.“). Angesichts der großen Emporung in der Offentlichkeit rang er sich eine Entschuldigung ab. Sein weiteres Verhalten, wie z. B. seine Anschuldigungen gegen Mongiardo, dass dieser Bunnings Ehefrau physisch angegriffen habe und diese dabei „grune und blaue Flecken“ davongetragen habe, und die offensichtliche Verwendung eines Teleprompters in einer Fernsehdebatte brachte diverse Medienwissenschaftler zu dem Schluss, Bunnings mentale und emotionale Eignung fur sein Amt anzuzweifeln.
= Wahlkampffinanzierung und Wiederwahl =
Bunning standen rund 4 Millionen US-Dollar fur seine Kampagne zur Verfugung, wahrend Mongiardo lediglich 600.000 US-Dollar aufzuweisen hatte. Verspatet begriff die Demokratische Partei, dass man angesichts Bunnings bizarren Verhaltens eine echte Wahlchance hatte, und stockte Mongiardos Budget mit 800.000 US-Dollar auf, die mehrheitlich in Werbespots investiert wurden.
Nach einer Serie von unzulassigen Wahlkampfspenden, hasslichen homophoben Attacken gegen Mongiardo, sowie dem großen Stimmenvorsprung George W. Bushs bei den Prasidentschaftswahlen, gewann Bunning knapp die Wahl am 2. November 2004, was zuvor keiner der Wahlkampfanalysten fur moglich gehalten hatte.
Im Juli 2009 erklarte Bunning erklart, im Jahr 2010 nicht erneut zur Wiederwahl anzutreten. Zu seinem Nachfolger wurde mit Rand Paul erneut ein Republikaner gewahlt.
Tod Am 26. Mai 2017 starb Bunning in seiner Heimat- und Geburtsstadt Southgate im Alter von 85 Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls, den er im Oktober 2016 erlitten hatte.
Weblinks Medienanalyse (Memento vom 5. Juni 2011 im Internet Archive) (englisch)
Jim Bunning im Biographical Directory of the United States Congress (englisch)
Jim Bunning in der Notable Names Database (englisch)
Spielerinformation und Statistiken von MLB oder ESPN oder Baseball-Reference oder Fangraphs oder Baseball-Reference (Minor League) (englisch)
Jim Bunning in der Baseball Hall of Fame (englisch)
Einzelnachweise
|
James Paul David „Jim“ Bunning (* 23. Oktober 1931 in Southgate, Campbell County, Kentucky; † 26. Mai 2017 ebenda) war ein US-amerikanischer Baseballspieler in der Major League Baseball (MLB), der spater eine Laufbahn als Politiker einschlug und von 1999 bis 2011 fur die Republikanische Partei dem US-Senat angehorte.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Jim_Bunning"
}
|
c-13959
|
Kentucky (engl. Aussprache [kənˈtʰʌki] ) (offiziell Commonwealth of Kentucky) ist ein Bundesstaat im Sudosten der Vereinigten Staaten von Amerika. Er grenzt im Norden an Illinois, Indiana und Ohio, im Nordosten an West Virginia, im Osten an Virginia, im Suden an Tennessee und im Westen an Missouri. Seine nordliche Grenze wird durch den Ohio River gebildet. Die Hauptstadt ist Frankfort und die bevolkerungsreichste Stadt ist Louisville. Weitere bedeutende Stadte sind Lexington, Bowling Green, Paducah und Owensboro. Im Jahr 2024 betrug die Einwohnerzahl des Bundesstaates etwa 4,6 Millionen.
Kentucky gehorte fruher zum kolonialen Virginia und wurde am 1. Juni 1792 als funfzehnter Staat in die Union aufgenommen. Im Sezessionskrieg versuchte Kentucky anfangs neutral zu bleiben, dann standen Einwohner des Staates auf beiden Seiten, wie z. B. Abraham Lincoln als Prasident der Union und Jefferson Davis als Prasident der Konfoderation. Das United States Census Bureau zahlt Kentucky heute jedoch eindeutig zu den Sudstaaten.
Der Name des Staates ist shawnesischer oder irokesischer Herkunft, moglicherweise aus dem Wyandotischen, mit der Bedeutung „Wiese“, „Aue“, „Flur“. Im Senecaischen, ebenfalls einer irokesischen Sprache, bedeutet das Wort geda’geh „auf dem Feld“. Der Name „Bluegrass State“ bezieht sich auf das Kentucky Bluegrass, eine von europaischen Siedlern eingefuhrte Grasart, die lange Zeit die Vollblutpferdeindustrie des Staates unterstutzte.
Der Bundesstaat beherbergt das langste bekannte Hohlensystem der Welt im Mammoth Cave National Park, die großte Lange an schiffbaren Wasserstraßen und Flussen in den USA und die zwei großten kunstlichen Seen ostlich des Mississippi River. Zu den kulturellen Aspekten Kentuckys gehoren Pferderennen, Bourbon, Moonshine (Schwarzgebrannter), Kohlebergbau, der My Old Kentucky Home State Park, Automobilbau, Tabak, Sudstaatenkuche, Barbecue, Bluegrass-Musik, College-Basketball, Louisville Slugger-Baseballschlager und Kentucky Fried Chicken.
Neben den Bundesstaaten Virginia, Pennsylvania und Massachusetts fuhrt Kentucky den amtlichen Namen „Commonwealth of Kentucky“ im Gegensatz zu der sonst ublichen Gliedstaaten-Bezeichnung als „State“.
Geografie = Lage und Abgrenzung =
Kentucky liegt zwischen 36°30′ und 39°9′ nordlicher Breite und zwischen 81°58′ und 89°34′ westlicher Lange. Das Staatsgebiet erstreckt sich damit uber 225 km in nordsudlicher und 610 km in ostwestlicher Ausdehnung und umfasst 104.659 km².
Kentucky begrenzt den Mittleren Westen und Suden der USA. Es liegt zwischen West Virginia, Virginia, Tennessee, Missouri, Illinois, Indiana und Ohio. Im Norden wird es durch den Ohio River begrenzt. Dabei ist es der einzige US-Bundesstaat mit einer Exklave, die nur von anderen Bundesstaaten umschlossen ist: Im Westen Kentuckys im Fulton County liegt der durch das New-Madrid-Erdbeben von 1811 gebildete kleine Landstreifen des Kentucky Bend auf dem Mississippi, begrenzt vom Bundesstaat Missouri und nur uber Tennessee zuganglich.
= Regionen =
Es gibt funf Hauptregionen: die Cumberland Mountains, das Cumberland-Plateau im Sudosten, im Norden die „Bluegrass-Region“, im Suden und Westen das Pennyroyal-Plateau, auch „Pennyrile“ genannt, die Kohlereviere im Westen und „Jackson Purchase“ im außersten Westen.
Die Eastern Coal Fields, eine raue, bergige Region, die stark bewaldet ist und von Flussen durchschnitten wird, weist die hochsten Erhebungen auf und liegt im River Valley. Der hochste Berg ist der Black Mountain im Harlan County mit 1292 m. Der westliche Abschnitt der Region umfasst einen Großteil des Daniel Boone National Forest.
Die „geschaftige“ Zentrale Kentuckys, die Bluegrass Region, liegt im Norden des Bundesstaates. Geologisch gehort sie zum altesten Teil des Staates. Der kalkreiche Boden bildet die Grundlage fur den Getreideanbau und fur Weideflachen.
Davon nur durch eine Reihe von kleineren Mittelgebirgshugeln, den Knobs, getrennt, liegt das Mississippi-Plateau.
Die Western Coal Fields, die im Norden und Nordwesten vom Ohio River begrenzt werden, gehoren bereits zum Illinois-Becken.
Der sudwestliche Teil des Staats ist eine tief gelegene Ebene, die man „Jackson Purchase“ nennt. Hier liegt auch der tiefste Punkt Kentuckys im Fulton County im Verlauf des Mississippi, rund 78 m u. d. M. Benannt wurde es nach dem spateren Prasidenten Andrew Jackson, der 1818 den Kauf des Landes von den Chickasaw als offiziell Bevollmachtigter in die Wege geleitet hatte. Das riesige Schwemmland bildet eine der ertragreichsten landwirtschaftlichen Nutzflachen des Landes.
= Flusse und Seen =
Große Flusse wie der Ohio oder der Mississippi, die auch die Nachbarstaaten pragen, bestimmen das Landschaftsbild und die Grenzen Kentuckys, wobei das gesamte Flussnetz rund 140.000 km ausmacht. Weitere wichtige Flusse sind der Red und Green River, der Tennessee River, der Cumberland River und Rough River, der Big Sandy River, der Licking und der Kentucky River. Kentucky ist daruber hinaus der einzige Bundesstaat, der auf drei Seiten durch Flusse begrenzt ist: durch den Mississippi im Westen, den Ohio im Norden und den Big Sandy River sowie Tug Fork im Osten. Auch wenn der Staat selbst nur drei großere naturliche Seen besitzt, weist er einige Stauseen auf, die man zum Teil als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wahrend Franklin D. Roosevelts New-Deal-Politik mittels Staudammen schuf, wie z. B. den nach Vizeprasident Alben W. Barkley benannten Lake Barkley am Cumberland River oder dem Dewey Lake am Big Sandy. Der Red River verdankt seinen Namen angeblich der großen Menge Blut, das wahrend der heftigen Indianerkampfe zum Ende des 18. Jahrhunderts vergossen wurde.
= Naturschutz =
Kentucky weist ein ausgedehntes Naturparksystem auf. Dieses umfasst einen Nationalpark, den Mammoth-Cave-Nationalpark, zwei Nationale Erholungsgebiete, zwei Nationale Historische Parks, zwei Nationalforstanlagen, 52 State Parks, 153 km² Staatsforst und 82 Wildlife Management Areas.
Der Staat ist zudem Teil von zwei der erfolgreichsten biologischen Auswilderung- bzw. Wiederansiedlungsprojekten in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Im Winter 1997 begann das Kentucky Department of Fish and Wildlife Resources mit der erneuten Aussiedlung von Wapitis in den ostlichen Countys, die in dieser Gegend seit uber 150 Jahren ausgestorben waren. 2009 erreichte das Projekt sein Ziel, den Bestand von 10.000 Tieren, wodurch es zum großten Bestand ostlich des Mississippi wurde.
Kentucky hatte bereits in den 1950er Jahren wilde Truthuhner, die hier ebenfalls ausgestorben waren, erfolgreich ausgewildert. Heute leben hier mehr Truthuhner als in jedem anderen ostlichen Bundesstaat.
= Gliederung =
Liste der Countys in Kentucky
Klima Da Kentucky im sudostlichen inneren Teil Nordamerikas liegt, herrscht ein feucht-subtropisches Klima gemaßigter Natur mit kuhlen Wintern und warmen Sommern. Die Durchschnittstemperaturen schwanken zwischen 30,9 °C im Sommer und −4,9 °C im Winter bei 1168,4 mm Niederschlagen. Das Jahresmittel liegt bei rund 14 °C in einem Großteil des Landes. Die Temperaturextreme schwanken zwischen −36,7 °C in Cynthiana im Jahre 1963 und +45,6 °C in Greensburg im Sommer 1930. Dagegen sind im Winter Schneedecken von mehr als 60 cm in den Auslaufern der Appalachen haufig anzutreffen. Kentucky liegt im Durchzugsgebiet verschiedener Sturmsysteme, die meist zwischen Marz und September zum Teil als Tornado auftreten. Die heftigsten Sturmkatastrophen traten 1890 beim Tornado um Louisville mit mindestens 76 und 1974 im „Super Outbreak“ mit 72 Todesopfern auf. In der jungeren Vergangenheit forderte im Jahr 1997 eine Uberschwemmung 18 Menschenleben, der so genannte Super Tuesday tornado outbreak, der auch mehrere andere Bundesstaaten betraf, mit 17 Opfern allein in Kentucky. Bei einem uberregionalen Eissturm im Januar 2009 kamen mindestens 24 Menschen zu Tode.
Fauna und Flora Bis zur Ankunft der europaischen Siedler waren die Ebenen und Walder Kentuckys Heimat von umherziehenden Großsaugetieren wie dem Bison, dem Wapiti oder dem Elch. Heute leben hier in der Regel lediglich kleinere Saugetiere wie Bisamratten, Fuchse, Hornchen, Kaninchen, Murmeltiere, Opossums und Waschbaren, aber auch Hirsche.
Bei den Vogelarten ist eine deutlich großere Bandbreite vorzufinden: Vom Weißkopfseeadler bis zum Zaunkonig ist fast alles vorhanden. Typische Vogel sind der Rotkardinal, der „Staatsvogel“, die Spottdrossel, der Saftlecker, der Eisvogel und diverse Spechtarten. Vom Westen des Bundesstaates hin zum Ohio und zum Mississippi zieht sich einer der wichtigsten Zugvogelwege des Landes.
Die Cumberland Mountains als westliche Auslaufer der Appalachen im Grenzland zu Virginia gehoren zu den artenreichsten mesophytischen Waldern der temperierten Zone der nordlichen Erdhalbkugel. Dabei kommen rund 30 Arten in den bis zu 35 m hohen Baumschichten vor. Heute bedecken Walder rund 40 % des Staatsgebiets. Uberwiegend sind es Laubbaume wie Ahorn, Birke, Eiche, Rosskastanie und Walnuss. Doch auch Nadelgeholze wie Hemlocktannen, Kiefern, Virginischer Wacholder oder Zypressen sind haufig vertreten. Charakteristische Pflanzen der Umgebung sind Rhododendren, Lorbeerrose, Heidelbeere, Tulpenbaum, Goldrute und Minze. Auch die unteren Baumschichten sind sehr artenreich. Derartige Walder (Cove Forests) in humiden Senken auf Konkavhangen sind von hohem Wuchs und durch gerade Stamme gekennzeichnet. Die Kernregionen der mesophytischen Walder werden als erdgeschichtlich wichtiges genetisches Reservoir fur die Verbreitung vieler Waldarten betrachtet.
Bevolkerung Kentucky hat 4.505.836 Einwohner (Stand: Census 2020), davon sind 86,9 % Weiße (ohne Hispanics und Latinos), 8,7 % Afro-Amerikaner, 4,3 % Hispanics- bzw. Latinos, 1,8 % Asiaten, 0,3 % Indianer.
= Alters- und Geschlechterstruktur =
Die Altersstruktur von Kentucky setzte sich 2014 folgendermaßen zusammen:
bis 18 Jahre: 1.015.095 (23,0 %)
18–64 Jahre: 2.745.170 (62,2 %)
ab 65 Jahre: 653.192 (14,8 %)
Das Medianalter betragt 38,5 Jahre. 49,2 % der Bevolkerung sind mannlich und 50,8 % sind weiblich.
Acht der insgesamt 13 US-Countys, in denen die Lebenserwartung 2015 niedriger lag als im Vorjahr, liegen in Kentucky. Die betroffenen Regionen sind die armsten des Staates. Damit besteht ein Zusammenhang zwischen der Armut in einem Bundesstaat und der dortigen Lebenserwartung.
= Abstammung =
18,9 % der Einwohner sind im Jahr 2014 nach eigenen Angaben „amerikanischer“ Abstammung und stellen damit die großte Gruppe. Es folgen die Gruppen der Deutsch- (14,6 %), Irisch- (12,3 %) und Englischstammigen (9,6 %).
= Einwohnerentwicklung =
Die einwohnerstarksten Stadte sind die Metropolen Lexington und Louisville, wobei letztere eine wesentlich großere innerstadtische Bevolkerung hat. Im nordlichen Kentucky gibt es eine großere Anzahl von Kleinstadten entlang des Ohios, die ebenfalls einen speziellen Ballungsraum ergeben.
= Religionen =
Die Bevolkerung ist mit 76 % uberwiegend protestantisch. Dazu gehoren 43 % Baptisten und 7 % Methodisten. 13 % sind Katholiken, 2 % gehoren anderen freikirchlichen Gemeinschaften an und 9 % gehoren keiner dieser Religionsgemeinschaften an bzw. bezeichnen sich selbst als „nicht religios“.
= Bildung =
Um 1785 wurde die erste Privatschule eroffnet, 1838 das staatliche Schulsystem eingerichtet. Wie uberall stieß die Durchsetzung des Schulunterrichts bzw. der spateren Schulpflicht auf erhebliche Widerstande – Kinder waren wichtige Helfer in der Landwirtschaft. 1884 waren 22 % der uber zehnjahrigen Weißen und rund 70 % der afroamerikanischen Bevolkerung Analphabeten.
Heute kann Kentucky auf fast 60 hohere bzw. weiterfuhrende Bildungseinrichtungen mit 650.000 Schulern an Colleges und Studenten an Universitaten verweisen. Dazu gehoren die Universitat Kentucky und die Transylvania University (seit 1780), mit Sitz in Lexington, die Universitat Louisville (1798), die Kentucky State University (1886) in Frankfort, die Eastern Kentucky University (1906) in Richmond sowie die Western Kentucky University (1906) in Bowling Green.
Im allgemeinen Schulwesen verweist der Staat in seinen Regierungsberichten auf seine Schulreform von 1990, den Kentucky Education Reform Act, die den Schulen weitgehende Selbstverwaltung bei gleichzeitig verstarkter staatlicher Unterstutzung einraumte, sodass man seitdem in demographischen Vergleichen gegenuber anderen US-Bundesstaaten bessere Resultate erzielte.
= Großte Stadte =
Geschichte = Erdgeschichte =
Aus den Erdzeitaltern des Tertiars und des Pleistozans stammen zahlreiche Knochenfunde von Mammuts oder Mastodons, die der franzosische Hauptmann und Kommandeur des Fort Niagara, Charles Lemoyne de Longueil, als erster Europaer 1739 am „Big Bone Lick“ im heutigen Boone County entdeckte. Im Umfeld einer Salz-Schwefel-Quelle waren offensichtlich hunderte von Großsaugern verendet, deren Knochen erhalten blieben. Die dortigen Gewasser waren bis 1812 als Salinen geschatzt und zwischen 1815 und 1830 sogar fur ihre Kurwirkung bekannt. US-Prasident Thomas Jefferson schickte eigens eine Expedition an diesen Ort, um einige Knochen in seine Sammlung aufzunehmen.
= Prahistorie =
Seit etwa 20 Jahren wird die prahistorische Vergangenheit durch die Archaologie in sechs Unterabschnitte geteilt. Diese umfassen einen Zeitraum von 13.000 v. Chr. bis 1650 n. Chr.: die Palao-Indianische Kultur, die Archaische Kultur, die Woodland-Periode, die Adena-Kultur, die Mississippi-Kultur und die „Fort-Ancient“-Kultur. Ab etwa 3000 v. Chr. entstanden als Mounds bezeichnete Grabhugel, wie etwa Indian Knoll, wo fast 1200 Menschen begraben, und wo weit uber 50.000 Artefakte entdeckt wurden.
Von etwa 1650 bis zur Ankunft der ersten weißen Siedler kampften unterschiedliche indianische Stammesgruppen um die Vorherrschaft uber das Land der großen Weiden („Great Meadow“). Die Stamme der Shawnee drangen vom Norden uber den Ohio River in das Territorium, wahrend die Cherokee- und Chickasaw-Stamme vom Suden uber den Cumberland River kamen. Aber auch Stamme der Delawaren und der Wyandot durchstreiften die Region, da dies auch der Weg der großen Buffelherden von den Salzsumpfen bis hin ins heutige Illinois war.
= Neuzeit =
Britische Kolonialzeit und Unabhangigkeitskrieg Christopher Gist und Thomas Walker leiteten die ersten Erkundungs-Expeditionen in den Jahren 1750 und 1751, doch der Ausbruch des Krieges gegen Frankreich im Jahr 1754 und die weiteren Auseinandersetzungen wahrend des Siebenjahrigen Krieges unterbrachen diese Erkundungen.
Jahrzehntelang hatte das Gebiet westlich der Allegheny Mountains fur die amerikanischen Siedler nur als wildreiches Jagdgebiet gedient. Durch den mit den Indianern Handel treibenden John Finlay auf die Fruchtbarkeit jener Gegend aufmerksam gemacht, war es den Erkundungen Daniel Boones seit 1769 zu verdanken, der das Land mit mehreren „Jagdgesellschaften“ bereiste. Er grundete das erste Fort, bahnte die Trasse fur die erste Straße, die Wilderness Road, und erschloss Kentucky damit fur die spatere Besiedlung.
Wahrend des Unabhangigkeitskrieges ordnete das britische Oberkommando von Detroit 1780 einen Raid ins Siedlungsgebiet des spateren Kentuckys an. Unter der Fuhrung des Hauptmanns Henry Bird landeten 150–200 kanadisch-franzosische Ranger bei Falmouth im heutigen Pendleton County an. In ihrem Gefolge hatten sie 600–800 indianische Verbundete, die zu den Shawnee, Odawa, Huronen, Anishinabe, Lenni Lenape und Mingo gehorten und als zum Teil ehemalige Bewohner dieser Regionen Grund zur Rache an den dortigen Siedlern hatten. In erbitterten Kampfen, die von amerikanischen Historikern zu den heftigsten Auseinandersetzungen mit indianischer Beteiligung gezahlt wurden, bekampften sie die Grenz-Forts des Staates. Ihr Weg wird heute noch als „Bird’s War Road“ bezeichnet. Auf ihrem Ruckzug verschleppten sie rund 460 Siedler aus den umliegenden Gegenden auf britisches Gebiet. Die Gefangenen wurden dabei ohne Rucksicht auf den familiaren Zusammenhalt aufgeteilt. Eine Minderheit deportierten die Briten nach Detroit, die meisten blieben in indianischer Gefangenschaft.
Allein zehn der Verfassungskonvente fanden 1784–1792 im Gerichtshaus von Danville statt.
Loslosung von Virginia 1790 akzeptierten die Deputierten Kentuckys die Bedingungen Virginias bezuglich des Austritts, so dass die Verfassung des Bundesstaats im April 1792 ratifiziert werden konnte. Am 1. Juni 1792 wurde Kentucky zum 15. Bundesstaat der Union und Isaac Shelby, eine herausragende Figur des Unabhangigkeitskrieges, zum ersten Gouverneur des Commonwealths.
1826 spielte sich in Frankfort im Zusammenhang mit der politischen Auseinandersetzung um die Entschuldung der Neusiedler die „Beauchamp-Sharp-Tragodie“ ab. Der Kandidat der relief- oder new-court-party, Colonel Solomon P. Sharp, wurde ermordet. Es ist nicht auszuschließen, dass der Morder, Jereboam O. Beauchamp, aufgrund einer amourosen Verstrickung mit Ann Cook, die er durch Sharp entehrt sah, unbewusst zum Werkzeug einer Verleumdungskampagne John V. Warings wurde. Waring hatte diese initiiert, um die Kandidatur Sharps zu behindern.
1798 erbauten Investoren nach britischen Vorbildern eine erste Pferderennbahn. Seit jener Zeit widmete man sich verstarkt der Zucht und dem Verkauf der Vollbluter.
Sezessionskrieg In Kentucky war Sklaverei erlaubt. Sie hatte aber nicht die gleiche wirtschaftliche Bedeutung wie in anderen Sud-Staaten. Im Vorfeld des Burgerkrieges hatte Kentucky aufgrund seiner offenen Grenze uber 1126 km zum Suden hin eine bedeutende Rolle bei den Fluchthelferaktionen fur schwarzafrikanische Sklaven der Anrainerstaaten. Zahlreiche unterirdische Verstecke der „Underground Railroad“, die nach Kanada fuhrte, sind bis heute erhalten.
Am 20. Mai 1861 versuchte Kentucky durch eine Proklamation seine Neutralitat im Sezessionskrieg zu wahren (siehe Neutralitatserklarung von Kentucky). Als jedoch am 3. September 1861 konfoderierte Truppen eindrangen und zahlreiche Stadte brandschatzten, ergriff man Partei fur die Union.
Zur allgemeinen Propaganda gehorte das Bedrucken von Visitenkarten und der Post mit politischen Parolen. In einer auf einem Briefumschlag damals von Illinois aus verbreiteten Karikatur kniet der befrackte Wolf der Sezession vor Rotkappchen, das ein Banner der Union schultert. Er bietet ihr an, Kentucky aus der Union herauszufuhren – oder jeden anderen Staat, dies ware die entscheidende Frage. („The Secession Wolf“ offering to lead Kentucky, „Or any other State,“ out of the Union. „That’s what’s the matter.“)
Trotz des Versuchs, die Neutralitat zu wahren, kampften haufig Verwandte auf beiden Seiten. So standen ca. 100.000 Kentuckier auf der Seite der Union, rund 40.000 Mann verfochten die Sache der Konfoderation. Das strategische Potenzial des Staates hatten beide Armeen erkannt, sodass verschiedene Scharmutzel und zahlreiche Guerilla-Raids auf dem Staatsgebiet stattfanden. Die Schlacht bei Perryville gilt als die heftigste Konfrontation, bei der letztlich 7.600 Soldaten fielen und 5.400 verwundet wurden, als es dem Nordstaaten-General Don Carlos Buell aufgrund eines akustischen Schattens entging, die zahlenmaßig unterlegenen Truppen Braxton Braggs zu stellen.
Die Zivilbevolkerung hatte bis Ende des Krieges unter den Uberfallen der Bushwhackers-Banden aus dem Suden zu leiden. Dennoch stellte man sich spater, wahrend der Rekonstruktionsphase (1865–1877), demonstrativ auf die Seite des Sudens. Insbesondere seit den 1880er-Jahren betrieb der Ku-Klux-Klan eine Einschuchterungspolitik gegenuber der farbigen und liberalen Bevolkerung.
Landwirtschaftlicher und industrieller Aufschwung, Monopole Nach dem Niedergang der Hanfindustrie, die zuvor die meisten Sacke in den Staaten produziert hatte, veranderte die Kultivierung des „Burley Tabaccos“ die Agrarlandschaft entscheidend. Mit diesem hochwertigen Produkt konnten neue Absatzmarkte erschlossen werden.
Als die „Kentucky Railway Company“ die Schienenstrecke im Powell County 1886 erschloss, expandierte gleichermaßen die Zedernholzindustrie des Landes. Die bereits sechs Jahre zuvor gegrundete Red River Lumber Mills-Gesellschaft galt als die großte dampfbetriebene Sagemuhle des Staates. Um 1890 begann ein buchstablicher „Run“ auf Amerikas großte Zedern-Plantage in der Nahe von Clay City. Der Boom der Region nahm jedoch durch ein verheerendes Großfeuer der Muhlen und der Anpflanzungen 1906 ein unerwartetes Ende.
Im „Black Patch Tobacco War“ zwischen 1904 und 1909 druckte sich die Unzufriedenheit kleiner und mittelstandischer Anbieter aus, die letztlich erfolgreich gegen das Tabakmonopol einiger weniger großer Anbieter ankampften.
Die großte Umwalzung druckte sich im Wandel von einem Agrar- in einen Industriestaat aus, der wahrend des Zweiten Weltkrieges beinahe abgeschlossen wurde. Neben der Textilien produzierenden war es vor allem die Kohle fordernde und Tabak weiterverarbeitende Industrie, die den Weg fur weitere Fertigungszweige ebnete. Aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1930 waren viele Farmer und Minenarbeiter gezwungen, sich um Arbeit in den Stadten zu bemuhen. Es sollte allerdings bis 1970 dauern, dass mehr Arbeiter in den Stadten als auf dem Land beschaftigt waren.
1936 richtete man den US-Staatsschatz mit seinen Goldreserven in Fort Knox ein.
In den Wintern 1936/37 kam es in vielen Teilen des Staates zu katastrophalen Uberschwemmungen, bei denen Tausende evakuiert werden mussten. In Louisville und Mayfield wurden ganze Straßenzuge unter Wasser gesetzt, als der Ohio River uber die Ufer trat.
Weltkriege und Koreakrieg Als Angehoriger eines Bundesstaates, der stolz auf seine kampferische Grenzertradition war, fiel mancher Kentuckier in Europa wahrend des Ersten Weltkrieges. Auf dem Godman Field bei Fort Knox war mit der Stationierung der 29. Aero Squadron erstmals ein Flugplatz entstanden, die Squadron verblieb mit dem 31. Ballonkorps von 1918 bis 1921 an diesen Ort. Nach Ende dieses Anachronismus blieb der Stutzpunkt verwaist, bis 1937 das 12. Aufklarergeschwader untergebracht wurde. Wahrend des Zweiten Weltkrieges beherbergte der Stutzpunkt diverse Bombergeschwader, die alle mit dem zweimotorigen Martin B-26 „Marauder“-Modell ausgerustet waren, die man vorwiegend in Italien und im Pazifikkrieg einsetzte.
Robert H. Brooks trat als erster Afroamerikaner in die zuvor ausschließlich „weiße“ Nationalgarde vor Kriegsbeginn ein. Bei einem Bombardement der Japaner auf den Philippinen wurde er aus offizieller Sicht als erster bewaffneter Soldat der amerikanischen Streitkrafte am 8. Dezember 1941 nach der japanischen Kriegserklarung getotet. Ihm zu Ehren benannte man den Paradeplatz in Fort Knox schon zwei Wochen spater in „Brooks Field“ um. Dieses ambivalente Signal gegenuber der Emanzipation der Farbigen im Suden beschrankte sich jedoch zunachst ausschließlich auf die Armee, in der ein sozialer Aufstieg zwar moglich, aber weiterhin mit Hindernissen verbunden war.
Ein weiteres Relikt des Krieges findet sich in Camp Breckinridge, im Union County bei Morganfield, wo von 1943 bis 1946 auf dem Gelande des ursprunglichen Ausbildungslagers fur Rekruten in zusatzlichen Baracken ein Kriegsgefangenenlager fur rund 3000 Soldaten der deutschen Wehrmacht eingerichtet wurde. Wie uberall in den Staaten waren die Prisoners of war als billige Arbeitskrafte in der Landwirtschaft und im Handwerk angesichts des Arbeitermangels bei rund 9000 Gefallenen nach anfanglichem Misstrauen bald Bestandteil des Wirtschaftslebens, das auch ihnen in Anbetracht der Umstande ein gutes Auskommen sicherte.
Bereits funf Jahre nach Kriegsende starben im Koreakrieg erneut Soldaten aus Kentucky, wobei der posthum hochdekorierte Feldkaplan Herman Felhoelter aufgrund seines selbstlosen Handelns sowohl fur die katholische Kirche als auch fur den Bundesstaat zum „Nationalhelden“ erklart wurde.
Burgerrechtsbewegung In den 1950er Jahren anderte sich allmahlich die Bildungslandschaft. Im Zuge der Integrationspolitik der Universitat von Louisville gliederte man Teile des ubrigen Campus als auch benachbarte Institutionen ein. Dadurch kam mit dem afroamerikanischen Professor Charles H. Parrish Jr. ein renommierter Soziologe und lebenslanger Verfechter der Burgerrechte vom Louisville Municipal College, wo zuvor ausschließlich Farbige immatrikuliert wurden, als erster schwarzer Professor an eine „weiße“ Hochschule des Sudens. Dort saß er ab 1959 dem Lehrstuhl fur Soziologie vor und pflegte offen seine Beziehungen zur Burgerrechtsbewegung.
Ab der Rekonstruktionsphase war Kentucky bis in die 1990er Jahre eine Hochburg der Demokraten. Sie wurden von den Republikanern abgelost, die ein gunstigeres Wirtschaftsklima versprachen. Im Verlauf dieses Jahrzehnts gelang es der Regierung, die Steinkohleforderung zu drosseln, den Tourismus als bedeutenden Dienstleistungssektor durch die Einrichtung von Naturparks zu starken, den Verlust von Arbeitsplatzen zu kompensieren und die Sozialfursorge zu erweitern. Gerade in diesem Bereich nahm allerdings insbesondere Gouverneur Ernie Fletcher Vieles zuruck, selbst die Sozialversicherung der Regierungsangestellten strich er gegen vielfachen Protest zusammen.
Am oder vor dem 10. Juli 2023
wurde der Große Kentucky-Schatz, 700 Goldmunzen aus 1840–1863, in einem Maisfeld gefunden, Finder und Ort werden nicht bekanntgegeben.
Politik Die Hauptstadt von Kentucky ist das mit weniger als 30.000 Einwohnern eher kleinstadtische Frankfort. Als Gouverneur amtiert seit Dezember 2019 Andy Beshear von der Demokratischen Partei, der den seit 2015 amtierenden Matt Bevin von der Republikanischen Partei abloste (siehe auch Liste der Gouverneure von Kentucky).
Der Bundesstaat hatte parteipolitisch insofern lange eine Sonderrolle eingenommen, als er schon immer uber einige republikanische Hochburgen verfugt hatte, ansonsten aber hatte er uber Jahrzehnte Anteil an der absoluten Dominanz der Demokraten in den Sudstaaten. Wie die meisten Sudstaaten entwickelte sich Kentucky mit der großen Verschiebung der Parteien seit den 1960er-Jahren zu einem zunehmend republikanisch beherrschten Staat, vor allem bei Wahlen auf Bundesebene, da die Demokraten im Laufe der 1960er-Jahre zunehmend liberaler und die Republikaner zunehmend konservativer wurden und die konservativen Southern Democrats mit der Zeit die Partei wechselten. Bei Prasidentschaftswahlen gab es daher zwischen 1960 und 2004 eine ahnliche Entwicklung wie in Tennessee. Nur die beiden aus den Sudstaaten stammenden Kandidaten Jimmy Carter 1976 sowie Bill Clinton 1992 und 1996 konnten Kentucky fur die Demokraten gewinnen. Allerdings ist Kentucky bei den Prasidentschaftswahlen stets sehr „treffsicher“ gewesen. Die einzigen Kandidaten der letzten Jahrzehnte, die eine Prasidentschaftswahl gewannen, ohne auch in Kentucky zu siegen, waren John F. Kennedy 1960, Barack Obama 2008 und 2012 sowie Joe Biden 2020.
Die Republikaner konnten ihre Wahlergebnisse aber auch auf Staatsebene kontinuierlich verbessern. Wahrend die Demokraten lange Zeit die wichtigsten Staatsamter wie Gouverneur und Attorney General behalten konnten, gelang es den Republikanern bei den Wahlen 2015 erstmals, fast alle dieser Amter zu besetzen; die knapp 44 Prozent, die der Gouverneurskandidat der Demokraten Jack Conway im November 2015 erzielte, war das schlechteste Ergebnis fur die Partei bei diesem Amt seit dem Burgerkrieg. Der traditionell demokratische kohlereiche, gewerkschaftlich gepragte Sudosten des Landes, in dem fur dessen Niedergang viele die Energiepolitik der Regierung Obama verantwortlich machen, wahlte in den 2010er Jahren ebenfalls erstmals mehrheitlich republikanisch.
Im Electoral College stellt Kentucky acht Wahlmanner. 1988 waren es noch neun.
Das Staatsparlament (Kentucky General Assembly) stellt ein Zweikammersystem dar, mit einem Senat von 38 Mitgliedern, die jeweils einen Wahldistrikt fur eine Legislaturperiode von vier Jahren reprasentieren, und einem Reprasentantenhaus von 100 Mitgliedern, die ebenfalls einen Wahldistrikt vertreten.
= Kongress =
Liste der US-Senatoren aus Kentucky
Liste der Mitglieder des US-Reprasentantenhauses aus Kentucky
= Mitglieder im 119. Kongress =
= Todesstrafe =
In Kentucky kann die Todesstrafe verhangt werden. Die letzte Hinrichtung in Kentucky fand 2008 statt. Es gab insgesamt 3 Hinrichtungen seit 1976. 26 Haftlinge warten derzeit auf ihre Hinrichtung. (Stand Januar 2020)
Kultur und Sehenswurdigkeiten = Kultur =
Wie in vielen anderen uberwiegend landlichen Regionen wird das kulturelle Leben von den Traditionen des amerikanischen Sudens gepragt. Countrymusiker wie Billy Ray Cyrus oder Loretta Lynn pragten seit dem 19. Jahrhundert die Musikgeschichte. Ein besonderes Genre der Countrymusik, der um 1945 unter anderem von Bill Monroe und Earl Scruggs kreierte Bluegrass, ist sogar nach dem Spitznamen des Staates benannt worden. Aber auch einige renommierte Jazzmusiker wie Al Casey oder Lionel Hampton stammen aus Kentucky.
Das Kentucky Derby am ersten Samstag im Mai ist nicht nur ein sportliches und wirtschaftliches, sondern auch ein kulturelles Großereignis, das wahrend der zwei Rennwochen sowohl auf der Ebene der Hochfinanz wie des einfachen Mannes von jeher mit einem kulturellen Rahmenprogramm gefeiert wird.
Wahrend des 20. Jahrhunderts hatte Louisville den Ruf, die kultivierteste Stadt nordlich von St. Louis zu sein. Hier ballen sich bis heute die meisten kulturellen Einrichtungen, wie das J. B. Speed Art Museum, mit Exponaten aus der amerikanischen und europaischen Malerei sowie einer speziellen Kentucky Collection, das Kentucky Museum of Natural History und das Kentucky Derby Museum mit einer umfassenden Ausstellung zum Pferderennsport. 1927 entstand das War Memorial Auditorium zum Gedenken an die Kriegstoten der Stadt. Dort traten viele bedeutende Schriftsteller, Kunstler und Musiker wie George Gershwin, Helen Hayes, Arthur Rubinstein, Mikhail Baryshnikov oder die Peking Oper auf. Lexington beherbergt außerdem mit dem Lexington Opera House eine Opernspielstatte.
Sehenswurdigkeiten sind:
Abraham Lincoln Birthplace National Historic Site in Hodgenville
Besuch einer beliebigen Whiskey-Brennerei, wobei dort in der „Dry Zone“ bei Werksbesichtigungen keine alkoholischen Getranke ausgeschenkt werden durfen, so dass man nur Bourbon Balls verteilt
Cumberland Falls, ein Wasserfall, der unter Naturschutz steht
Fort Knox als Ort der Staatsreserven
Kentucky Derby in Louisville
Mammoth Cave National Park (siehe Abb.), das weltweit großte Hohlensystem mit einer Gesamtlange von uber 300 km
Nationales Quiltmuseum in Paducah
Red River Gorge Geological Area, ein unter Naturschutz stehendes Canyon-System
J. B. Speed Art Museum in Louisville
War Memorial Auditorium
= Naturdenkmaler =
Wirtschaft und Infrastruktur Das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (engl. per capita real GDP) lag im Jahre 2016 bei 44.409 Dollar, wahrend der Durchschnitt der US-Bundesstaaten bei 57.118 lag. Damit lag Kentucky an 42. Stelle unter den 50 Bundesstaaten. Die Arbeitslosenrate lag im November 2017 bei 4,7 % (Landesdurchschnitt: 4,1 %).
Die Agrarwirtschaft wird in vielen Regionen von der Pferdezucht dominiert, bedeutender sind allerdings Rinder, Molkereiprodukte, Tabak, Schweine, Sojabohnen, Getreide und Whiskey. Kentucky ist der Bundesstaat mit den hochsten Exporten von Vieh bzw. Viehprodukten. Daher gilt der Staat als „Fleischtopf“ von Chicago und seiner Schlachthofe, eine Rolle, die sich auf die umliegenden Staaten ausgeweitet hat. Als einziger Agrarzweig steht er in der Wirtschaftsbilanz des Staates unter den zehn umsatzstarksten Sparten. Welchen Stellenwert die Vollbluter und ihre 381 Gestute im kollektiven Bewusstsein einnehmen, kann man daraus ersehen, dass 1947 etwa 2000 Trauergaste dem Rennpferd Man o'War in Lexington bei seiner Beisetzung die letzte Ehre gaben. Einem anderen beruhmten Galopper, Seabiscuit, setzte man sowohl ein literarisches wie filmisches Denkmal. Der Hintergrund offizieller Homepages wird oftmals von Pferdemotiven beherrscht.
Die Industrie produziert Automobilteile, chemische Produkte, Elektroartikel, Maschinen, hinzu kommt der Kohlebergbau.
= Kentucky-Whiskey =
Als das neben den Pferden wohl bekannteste Produkt gilt der hier gebrannte Whiskey. 90 Prozent des in der Welt konsumierten Bourbon Whiskeys stammt aus diesem Staat. Das Verfahren des „Toastens“, bei dem die Innenseiten der Hickoryfasser rund 45 Sekunden einer offenen Flamme ausgesetzt werden, entzieht dem Holz Zucker, der nun in der Kohleschicht enthalten ist. Dadurch erhalt der Whiskey sein Aroma und die charakteristische Farbgebung.
1872 entstand die Forman-Brown-Corporation, als ein gewisser Mr. Brown in Louisville eine Brennerei grundete. Zwei Jahre spater stieß sein Kompagnon Forman hinzu. Im Laufe der Jahre vergroßerte sich das Unternehmen stetig, um sich wahrend der Prohibitionszeit als einer der wenigen lizenzierten Produzenten von medizinischem Alkohol zu halten. Daruber hinaus musste die Firma auf die Herstellung von „fachfremden“ Produkten wie z. B. Schießpulver zuruckgreifen. Der Erwerb der „Early Times“-Brennerei 1935 und des bekannten Labels Jack Daniel’s und die Erweiterung der Produktpalette in den 1970er Jahren mit dem Erwerb der Marken Canadian Mist und Southern Comfort sicherten ihm eine marktbeherrschende Stellung. Woodford Reserve ist Brown-Formans „Super-Premium“ Bourbon und wird in Woodford County hergestellt.
Andere bedeutende Kentucky-Whiskey-Produzenten sind Wild Turkey, Maker’s Mark, Jim Beam, Four Roses, Buffalo Trace und Heaven Hill.
= Alkoholverkaufsgesetze =
Auch wenn der meiste Bourbon Whiskey in Kentucky produziert wird, ist der Kauf alkoholischer Produkte in 61 von 120 Countys des Staates verboten. In manchen Gemeinden darf Alkohol innerhalb der Stadtgrenzen veraußert werden – nicht aber im Zustandigkeitsbereich des jeweiligen Countys. Im Widerspruch dazu erlauben andere Kommunen den Erwerb von Spirituosen im County, nicht aber innerhalb der Stadtgrenzen. In zwolf Countys ist hingegen lediglich die Menge des Ausschanks bzw. Verkaufs beschrankt, acht Verwaltungsbezirke erlauben einen liberalisierten Gebrauch auf Golfplatzen, und sechs Countys nehmen Wein von der Regelung aus.
= Automobilindustrie und -zulieferer =
In Bowling Green wird in einem Werk des GM-Konzerns von ca. 900 Arbeitern hauptsachlich das Modell Chevrolet Corvette gebaut.
Am 4. August 2004 bekraftigte der deutsche Reifenproduzent Continental, dass er durch Umstrukturierungsmaßnahmen trotz der gunstigen Prognosen die Reifenfertigung im Werk Mayfield zum Jahresende fur unbestimmte Zeit einzustellen gedachte. Im November 2004 ließ die Firma verlauten, dass sie ihre fuhrende Marktposition in den USA bei elektronischen Stabilitatskontrollsystemen (ESP) weiter ausbauen konnte. Die großen Herstellerfirmen aus Detroit kundigten an, fast alle neuen Modelle mit dieser Sicherheitsausrustung auszustatten.
Die Dr. Schneider Unternehmensgruppe, ein Automobilzulieferer aus dem oberfrankischen Kronach, betreibt seit 2014 in Russell Springs eine Fabrik zur Fertigung von Automobilteilen.
= Sonstige Unternehmen =
Das erste Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant wurde 1930 von Harland D. Sanders in einer Tankstelle in Corbin gegrundet. Heute gibt es uber 12.300 Fastfood-Restaurants dieser Franchise-Systemgastronomie in uber 80 Landern weltweit, der Firmensitz ist in Louisville.
Am 1. Oktober 2015 waren in Kentucky noch 9.356 Menschen im Steinkohlebergbau beschaftigt. Vier Jahre zuvor waren es noch mehr als doppelt so viele. Hauptgrunde fur diesen Ruckgang waren billiges Gas, erschopfte Kohlefelder im Osten von Kentucky und Forderkosten, die nicht mit dem Weltmarkt konkurrieren konnten.
= Verkehr =
Offentliche Verkehrsmittel Der offentliche Verkehr ist in Kentucky wenig entwickelt. Auf dem Gebiet des Staates halten die Amtrak-Fernzuge City of New Orleans in Fulton im außersten Sudwesten Kentuckys und Cardinal in Maysville, South Shore und Ashland jeweils unmittelbar an der Grenze zu Ohio. Ansonsten wird auf dem Schienennetz des Staates kein Personenverkehr betrieben. Am 18. Dezember 1999, 20 Jahre nach Einstellung des letzten Personenzugs, gab es einen Versuch, mit dem Kentucky Cardinal von Louisville nach Chicago den Schienenpersonenverkehr neu zu beleben. Am 6. Juli 2003 wurde der Versuch beendet.
Straßenverkehr Die zulassige Hochstgeschwindigkeit auf mehrspurigen Interstate Highways außerhalb der Stadtgrenzen betragt 65 Meilen in der Stunde (= 105 km/h). In einigen landlichen Regionen wurde 2007 die zulassige Hochstgeschwindigkeit auf 70 Meilen in der Stunde erhoht. Auf den sonstigen Fern- und Landstraßen insbesondere der Naturschutzparks („Parkways“, ) gilt in der Regel eine Geschwindigkeitsbeschrankung auf 55 Meilen, also 88 Kilometer in der Stunde.
Innerhalb der Stadte gilt Tempo 25 oder 35 (40 oder 56 km/h). In Kentucky existiert wie auch in anderen Bundesstaaten eine Ausnahmeregelung, die das Rechts- und sogar in einigen Ausnahmefallen das Linksabbiegen bei roten Ampeln erlaubt. Nur wo das Verkehrsschild „No Turn on Red“ zu sehen ist, muss man in jedem Fall an einer Abzweigung bei Rot halten.
Luftverkehr Wer in diesem Staat mit dem Flugzeug reisen mochte, wahlt meist das Drehkreuz im nahen Illinois, den Chicago O’Hare International Airport. Der nachste Flughafen, der direkt von Deutschland aus zu erreichen ist, ist der Flughafen Cincinnati-Northern Kentucky International, der in Covington liegt (deshalb auch das IATA-Kurzel „CVG“). Cincinnati befindet sich allerdings nordlich des Flusses in Ohio.
= Sport =
Neben den Pferdesportarten, fur die Kentucky eines der Zentren der Vereinigten Staaten darstellt und 2010 auch Austragungsort der Weltreiterspiele war, stehen hier die traditionellen Mannschaftsballsportarten im Vordergrund: American Football, Baseball und Basketball. Das einzige Team des Staates in einem professionellen Spitzensport ist Racing Louisville FC, das 2021 in der National Women’s Soccer League spielte.
Wie in vielen anderen Bundesstaaten, die uber kein professionelles Major-League-Sportteam verfugen, nehmen die jeweiligen Sportteams der Colleges eine sehr wichtige Rolle ein, die diejenige der zweitklassigen Minor League deutlich ubertrifft.
Dies trifft besonders fur die drei Division I Football Bowl Subdivision (FBS) Programme, inklusive der Kentucky Wildcats (University of Kentucky), der Western Kentucky University Hilltoppers und der Louisville Cardinals (University of Louisville) zu. Die Wildcats, Hilltoppers und Cardinals gehoren zu den altesten Basketball-Teams in den Vereinigten Staaten, so gehen schließlich allein neun Meisterschaften und 22 Einzuge in die Runde der besten vier Mannschaften auf das Konto dieser Mannschaften. Die Kentucky Wildcats nehmen in den Statistiken der USA die Spitzenposition ein und werden lediglich von der UCLA in der Anzahl der NCAA Championships ubertroffen.
Kentucky verfugt uber einige Minor League Teams wie z. B. im Baseball die Lexington Legends (Class A/South Atlantic League) und die Louisville Bats (Class AAA). Daruber beheimatet der Staat Florence Freedom aus der Frontier League und verschiedene Teams in der Mid Continental Football League.
Staatssymbole Hymne: My Old Kentucky Home von Stephen Collins Foster, 1853
Staatsbaum: Tulpenbaum (Magnolie)
Staatsblume: Goldrute
Staatsedelstein: Sußwasserperlen
Staatsfisch: Kentucky Barsch
Staatsfossil: Brachiopode
Staatsmotto: „United We Stand, Divided We Fall“
Staatspferd: Vollblut
Staatsschmetterling: Viceroy Butterfly
Staatsvogel: Roter Kardinal
Staatswildtier: Grauhornchen
Literatur = Monographien zur Geschichte =
R. Barry Lewis (Hrsg.): Kentucky Archaeology, University Press of Kentucky, 1996, 2015.
Thomas D. Clark: A History of Kentucky. Prentice-Hall, New York 1937; Neuausgabe: J. Stuart Foundation, Lexington 1992, ISBN 0-945084-30-7.
J. Goldstein: Kentucky Government and Politics. College Town Press, Louisville 1984, ISBN 0-89917-421-3.
Lowell H. Harrison, James C. Klotter: A New History of Kentucky. University Press of Kentucky, Lexington 1997, ISBN 0-8131-2008-X.
Lowell H. Harrison: The Antislavery Movement in Kentucky. University Press of Kentucky, Lexington 1978, ISBN 0-8131-0243-X.
Larry Gara: The Liberty Line: The Legend of the Underground Railroad. University of Kentucky Press, Lexington 1961, 1996, ISBN 0-8131-0864-0.
= Darstellungen =
Nartha Ellen Zenfell: USA. Der Alte Suden. Virginia, Kentucky, Tennessee, North und South Carolina. APA Publications, Munchen 1995, ISBN 3-8268-1474-6.
Weblinks Touristikburo Kentuckys
Historische Gesellschaft Kentuckys
Bildungsprogramm Kentuckys
Historische Museen in Kentucky
Geschichte der Sklaverei in Kentucky
Einzelnachweise
|
Kentucky (engl. Aussprache [kənˈtʰʌki] ) (offiziell Commonwealth of Kentucky) ist ein Bundesstaat im Sudosten der Vereinigten Staaten von Amerika. Er grenzt im Norden an Illinois, Indiana und Ohio, im Nordosten an West Virginia, im Osten an Virginia, im Suden an Tennessee und im Westen an Missouri. Seine nordliche Grenze wird durch den Ohio River gebildet. Die Hauptstadt ist Frankfort und die bevolkerungsreichste Stadt ist Louisville. Weitere bedeutende Stadte sind Lexington, Bowling Green, Paducah und Owensboro. Im Jahr 2024 betrug die Einwohnerzahl des Bundesstaates etwa 4,6 Millionen.
Kentucky gehorte fruher zum kolonialen Virginia und wurde am 1. Juni 1792 als funfzehnter Staat in die Union aufgenommen. Im Sezessionskrieg versuchte Kentucky anfangs neutral zu bleiben, dann standen Einwohner des Staates auf beiden Seiten, wie z. B. Abraham Lincoln als Prasident der Union und Jefferson Davis als Prasident der Konfoderation. Das United States Census Bureau zahlt Kentucky heute jedoch eindeutig zu den Sudstaaten.
Der Name des Staates ist shawnesischer oder irokesischer Herkunft, moglicherweise aus dem Wyandotischen, mit der Bedeutung „Wiese“, „Aue“, „Flur“. Im Senecaischen, ebenfalls einer irokesischen Sprache, bedeutet das Wort geda’geh „auf dem Feld“. Der Name „Bluegrass State“ bezieht sich auf das Kentucky Bluegrass, eine von europaischen Siedlern eingefuhrte Grasart, die lange Zeit die Vollblutpferdeindustrie des Staates unterstutzte.
Der Bundesstaat beherbergt das langste bekannte Hohlensystem der Welt im Mammoth Cave National Park, die großte Lange an schiffbaren Wasserstraßen und Flussen in den USA und die zwei großten kunstlichen Seen ostlich des Mississippi River. Zu den kulturellen Aspekten Kentuckys gehoren Pferderennen, Bourbon, Moonshine (Schwarzgebrannter), Kohlebergbau, der My Old Kentucky Home State Park, Automobilbau, Tabak, Sudstaatenkuche, Barbecue, Bluegrass-Musik, College-Basketball, Louisville Slugger-Baseballschlager und Kentucky Fried Chicken.
Neben den Bundesstaaten Virginia, Pennsylvania und Massachusetts fuhrt Kentucky den amtlichen Namen „Commonwealth of Kentucky“ im Gegensatz zu der sonst ublichen Gliedstaaten-Bezeichnung als „State“.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Kentucky"
}
|
c-13960
|
Saddam Hussein (arabisch صدام حسين عبد المجيد التكريتي Saddam Husain ʿAbd al-Madschid at-Tikriti, DMG Saddam Husain ʿAbd al-Magid at-Tikriti, kurdisch سەددام حوسێن Sedam Huseyn; * 28. April 1937 in al-Audscha bei Tikrit; † 30. Dezember 2006 in al-Kazimiyya bei Bagdad) war ein irakischer Politiker (Baath-Partei). Von 1979 bis 2003 war er Staatsprasident und gleichzeitig von 1979 bis 1991 sowie 1994 bis 2003 Premierminister. Er regierte das Land diktatorisch und wurde spater wegen Massakern an Schiiten und Kurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Kindheit und Jugend Saddam Hussein wurde in al-Audscha, einem Dorf bei Tikrit, am 28. April 1937 in eine armliche Bauernfamilie geboren. Seine Familie gehorte zum sunnitisch-arabischen Stamm der al-Bu Nasir.
Sein leiblicher Vater Hussein al-Majid starb, wahrend seine Mutter Subha mit Saddam schwanger war. Als sie im achten Monat schwanger war, starb auch Saddams altester Bruder an einer Krebserkrankung. Daraufhin unternahm Subha einen Suizidversuch, wurde jedoch von einer judischen Familie daran gehindert und finanziell unterstutzt. Ebenso versuchte Subha erfolglos, ihren ungeborenen Sohn abzutreiben.
Subha gab Saddam nach seiner Geburt an ihren Bruder Khairallah Talfah, der als Offizier uber einen hoheren sozialen Status und Geld verfugte, nach Tikrit. 1941 wurde Talfah wegen seiner Mitwirkung im Ghailani-Putsch inhaftiert, und Saddam musste zu seiner Mutter zuruckkehren. Sie hatte mittlerweile einen Verwandten namens Hassan Ibrahim geheiratet und war mit ihm nach Al-Schawisch, einem armlichen Dorf bei Tikrit, gezogen. Hassan Ibrahim war dort ubel beleumundet, sein Spitzname im Dorf war „Hassan der Lugner“. Ebenso schmuckte er sich wohl unverdienterweise mit dem Titel eines Haddsch. Die meisten Quellen beschreiben Saddams Leben im Dorf als das eines Außenseiters, der aufgrund seiner Vaterlosigkeit sozial ausgegrenzt wurde. Einzig eine offizielle Biografie schildert ihn als sozial integriertes Mitglied der Dorfgemeinschaft. Saddams Wunsch nach einer Schulausbildung wurde von seinem Stiefvater und seiner Mutter abgeschlagen. Stattdessen wurde er zur Feldarbeit herangezogen und von seinem Stiefvater zum Diebstahl angestiftet, was Saddam bereits in der Kindheit einen kurzen Gefangnisaufenthalt einbrachte. Er wurde auch Opfer von physischer und psychischer Gewalt durch seinen Stiefvater. Seinen eigenen Aussagen nach trug Saddam stets eine Eisenstange mit sich, um sich gegen die Angriffe der anderen Dorfkinder zu wehren.
Nach der Freilassung seines Onkels Khairallah Talfah verließ Hussein den Haushalt seines Stiefvaters und floh zu seinem Onkel nach Tikrit. Dieser sorgte dafur, dass Saddam mit zehn Jahren eingeschult wurde. Er erzog den Jungen im Geiste des arabischen Nationalismus. Mit 14 Jahren stand Saddam unter dem Verdacht, aus Rache den Bruder eines Lehrers angeschossen zu haben. Die Beweise erharteten sich jedoch nicht und Saddam konnte die Schule abschließen. Nach seinem Schulabschluss zog Saddam mit seinem Onkel nach Bagdad, wo er eine weiterfuhrende Schule besuchte und mit 18 Jahren abschloss. Nach seiner Schulausbildung wurde Saddam Khairallahs alteste Tochter Sadschida versprochen.
Politische Karriere = Beginn =
Saddam Hussein trat 1957 im Alter von 20 Jahren der damals noch verbotenen Baath-Partei bei. Er bewarb sich bei der prestigetrachtigen Militarakademie in Bagdad, scheiterte jedoch an der Aufnahmeprufung. Am 14. Juli 1958 sturzten in einem Staatsstreich nationalistische Offiziere, die sich die „Freien Offiziere“ nannten, die Monarchie und toteten Konig Faisal II. und dessen Familie. Der Staatsstreich fuhrte zur Grundung der Republik Irak mit dem Premierminister Abd al-Karim Qasim. Ende des Jahres erschossen Saddam und sein Onkel Khairallah einen entfernten Verwandten, der Khairallah beleidigt hatte. Beide wurden fur mehrere Monate inhaftiert, entgingen aber einer Anklage wegen Mordes. Die Baath-Partei rekrutierte Hussein nach seiner Ruckkehr nach Bagdad als Attentater fur einen Anschlag auf Qasim. Am 7. Oktober 1959 uberfielen die Attentater Qasims Konvoi, dieser uberlebte jedoch. Hussein wurde von einer Kugel in den Oberschenkel getroffen und fluchtete nach Syrien. Das versuchte Attentat sei „mit dem Wissen der CIA“ geschehen, da sein Kontaktmann fur den agyptischen Geheimdienst und die CIA gearbeitet hatte; die angemietete Wohnung sei laut UPI vom stellvertretenden agyptischen Militarattache bezahlt worden. Die Amerikaner seien zuvor vom Ausscheren Qasims aus dem Bagdad-Pakt uberrascht worden. Anfang 1960 zog Saddam nach Kairo. Er wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Der bis dahin amtierende Chef der Baath-Partei, Fuad ar-Rikabi, floh ebenfalls nach Agypten und wurde im Irak durch einen entfernten Verwandten Saddam Husseins, Madschid, ersetzt. Rikabi hatte offensichtlich den Auftrag zum Attentat gegeben, nachdem er im Jahr zuvor aus der Regierung ausgeschieden war.
Sein Studium an der juristischen Fakultat der Universitat Kairo beendete er ohne Abschluss. Er kehrte am 8. Februar 1963 nach dem blutigen Putsch der Baath-Partei in den Irak zuruck und heiratete Sadschida Khairallah. Nach dem erneuten Militarputsch vom 18. November 1963 wurde er 1964 zu einer Gefangnisstrafe verurteilt, floh aber mit Hilfe des Premierministers Tahir Yahyas im Juli 1966. 1968 unterstutzte er einen erfolgreichen Staatsstreich von Baath-Partei und Armee.
= Aufstieg =
Als die Baath-Partei 1968 im Irak an die Macht kam, wurde Hussein in der neuen Regierung stellvertretender Generalsekretar des Revolutionaren Kommandorates sowie Chef des Ministeriums fur Staatssicherheit und des Propagandaministeriums. 1969 wurde er Vizeprasident.
Am 1. Juni 1972 leitete er die Verstaatlichung westlicher Olfirmen ein, die ein Olmonopol im Irak hatten. Mit den Oleinnahmen entwickelte er das Land zu einer regionalen militarischen Großmacht. Die Einnahmen aus dem Olverkauf sorgten aber auch fur den Wohlstand breiterer Bevolkerungsschichten. 1972 unterzeichnete Saddam in Moskau ein Freundschaftsabkommen mit der Sowjetunion. Am 1. Juli 1973 wurde er vom Revolutionsrat zum Drei-Sterne-General der irakischen Streitkrafte ernannt. Spater ernannte er sich selbst zum Feldmarschall. Am 6. Marz 1975 schloss er als Vizeprasident mit dem iranischen Schah Mohammad Reza Pahlavi das Abkommen von Algier uber den Grenzverlauf im Schatt al-Arab und die gegenseitige Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
1979 ernannte Prasident Ahmad Hasan al-Bakr Hussein im Alter von 42 Jahren zum Vorsitzenden der Partei und zu seinem Nachfolger. Am 11. Juli 1979 wurde er Generalsekretar der Baath-Partei, und am 16. Juli 1979 ubernahm er die Macht als Staatsprasident und Regierungschef. In einer seiner ersten Handlungen in dieser Position diffamierte Saddam in einer offentlichen Versammlung mehrere anwesende Mitglieder der Baath-Partei als Verrater, woraufhin sie im Schnellverfahren zum Tode verurteilt und sofort liquidiert wurden. Die ubrigen Parteimitglieder wurden durch dieses Exempel auf die Linie Saddams eingeschworen, der so auch den geplanten Zusammenschluss mit dem ebenfalls baʿthistischen Regime Syriens verhinderte.
Dennoch war Saddam Husseins Autoritat zunachst noch nicht uneingeschrankt. Nach dem Tausch seines Amtes mit al-Bakr blieb dieser faktisch Vizeprasident bis zu seinem Tode im April 1982. Saddam Hussein nutzte diese erste Zasur einer Machterweiterung bereits im Juli 1982 zu einem folgenschweren Alleingang: Er gab einen Ruckzugsbefehl fur die irakischen Truppen in einer entscheidenden Phase des Golfkrieges gegen die Islamische Republik Iran. Die zweite Zasur war 1989. Mit dem Tod des Baath-Partei-Grunders und Vizeprasidenten Michel Aflaq sowie des als Kriegsminister im Golfkrieg popular gewordenen Chairallah Talfah durch einen unaufgeklarten Hubschrauberabsturz im gleichen Jahr gab es keine rivalisierende Autoritat mehr außer dem nunmehr endgultig diktatorisch agierenden Prasidenten, die seine Entscheidung zum Krieg gegen Kuwait im Folgejahr hatte beeinflussen konnen.
Saddam Husseins Herrschaft wurde ab 1979 von einem Personenkult gepragt. Dieser bediente sich politischer, religioser und nationalistischer Motive und diente der Disziplinierung der Bevolkerung und Unterdruckung politischen Dissenses. Propagandistische Darstellungen seiner Person waren hierbei im offentlichen und privaten Raum obligat. Fuhrend bei der Durchsetzung des Personenkults war die Ba'thpartei als Staatspartei des Einparteienstaats. Ab Mitte der 1980er Jahre wurde Kritik an ihm oder seinen Familienangehorigen offen strafrechtlich durch Sondergerichte verfolgt.
Saddam Hussein ist fur zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich, die in seiner Regierungszeit verubt wurden, darunter Giftgaseinsatze und Massenmorde an Kurden und Schiiten. Human Rights Watch schatzt, dass Saddams Regime mindestens 250.000 Iraker ermordete oder „verschwinden“ ließ. Dazu zahlen 100.000 Kurden, die wahrend der Anfal-Operation von 1987 bis 1988 getotet wurden, sowie viele Menschen, die verhaftet wurden und „verschwunden“ sind, darunter 50.000 bis 70.000 Schiiten in den 1980er Jahren, 50.000 Oppositionsaktivisten, darunter Linke, Kurden und andere Minderheiten in den 1980er und 1990er Jahren und 30.000 schiitische Manner wahrend des gescheiterten Aufstands im Marz 1991.
= Erster Golfkrieg =
Etwa ein Jahr nach der Islamischen Revolution in Iran gegen den prowestlichen Schah Mohammad Reza Pahlavi kundigte Saddam Hussein am 17. September 1980 das Abkommen von Algier, das zuvor auch Iran als nicht mehr bindend erklart hatte. Der Irak verweigerte daraufhin die Raumung der 1975 abgetretenen Grenzgebiete, die seit dem 4. August unter iranischem Beschuss lagen. Am 22. September 1980 befahl Hussein der irakischen Armee, die Islamische Republik Iran mit neun von insgesamt zwolf Divisionen auf einer 600 km breiten Front anzugreifen. Geplant war ein Blitzkrieg. Die irakische Offensive scheiterte jedoch nach begrenzten Gelandegewinnen, und die Initiative ging auf die Iraner uber. Dies bildete den Auftakt fur den fast acht Jahre dauernden Ersten Golfkrieg.
Dabei spielten auch verschiedene westliche Staaten eine fuhrende Rolle, die den Irak wegen der drohenden Niederlage gegen Iran massiv unterstutzten, wie Frankreich und Deutschland als Rustungsexporteure und Lieferanten fur Kernreaktoren sowie Chemieanlagen (Pestizide und Giftgas). Hauptunterstutzer des Iraks waren die Sowjetunion, Frankreich und die Volksrepublik China, die allerdings auch Iran belieferte. Auch Washington belieferte beide Seiten. Eine besondere Bedeutung hatten weiterhin die sunnitischen und wahhabitischen Golfstaaten als Kreditgeber und Finanziers des Ersten Golfkrieges. Das Unvermogen, die Kredite zuruckzuzahlen, wird allgemein als einer der Grunde fur die versuchte Annexion Kuwaits durch den Irak betrachtet. Wahrend des Krieges ließen auf beiden Seiten Hunderttausende ihr Leben, allein durch Saddam Husseins Giftgaseinsatze starben mehrere tausend Menschen. Sehr kritisch betrachtet werden Vermutungen, denen zufolge der US-Geheimdienst dem Irak Satellitenbilder der iranischen Stellungen zur Verfugung stellte, und die Zuruckhaltung und teilweise stillschweigende Billigung eines Großteils der Staatengemeinschaft.
Von 1981 bis 1987 lag die militarische Initiative uberwiegend auf iranischer Seite, erst 1988 konnten die irakischen Truppen wieder großere Erfolge erzielen. Am 18. Juli 1988 willigte Iran daher in die Waffenstillstandsbedingungen der UN-Resolution 598 ein, die Saddam Hussein bereits zuvor akzeptiert hatte. Ajatollah Chomeini kommentierte dies mit dem Zusatz „bitterer als Gift“. Am 8. August 1988 wurde ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen, das am 20. August 1988 in Kraft trat und die Vorkriegsgrenzen wiederherstellte. Zum Abschluss eines Friedensvertrages ist es seither nicht gekommen.
= Anfal-Operation =
Gegen Ende des Krieges 1988 befahl Hussein die Anfal-Operation im Nordirak und intensivierte damit die seit Mitte der 1970er Jahre bestehende Arabisierungspolitik gegen die Kurden. Die Kurden hatten sich insbesondere nach der Niederlage der Peschmerga unter Mustafa Barzani im Jahr 1975 einer starkeren Verfolgung durch Hussein ausgesetzt gesehen. Dazu waren sie aus uber 1500 Ortschaften vertrieben und in Sicherheitszonen, die im Grenzgebiet zur Turkei und zu Iran lagen, in dafur bestimmte Lager konzentriert worden. Auch aus Stadten, in denen keine Bevolkerungsgruppe dominierte, waren Kurden im Zuge der Arabisierungspolitik deportiert worden. Kurden, die in der irakischen Armee dienten oder Lehrkrafte waren, waren im Suden des Iraks fernab ihrer Heimat eingesetzt worden. Vor allem um das olreiche Kirkuk hatte Hussein eine aggressive Umsiedlungspolitik betrieben, bei der kurdische, assyrische und turkmenische Bewohner vertrieben und arabische Iraker angesiedelt wurden.
Die Durchfuhrung der Anfal-Operation ubernahm Ali Hasan al-Madschid, ein Vetter von Hussein, der durch den Einsatz von Chemiewaffen gegen die kurdische Bevolkerung unter dem Namen Chemical-Ali (kurdisch Eliye Kimyawi, „Chemie-Ali“) bekannt wurde. Im Rahmen dieses Genozids wurden laut Human Rights Watch von Februar bis September 1988 bis zu 100.000 Kurden systematisch ermordet und eine unbekannte Zahl in den Suden des Iraks deportiert. Ferner wurde die Infrastruktur von etwa 2.000 Dorfern und 20 Kleinstadten, darunter die Stadt Qeladize mit ihren damals 70.000 Einwohnern, zerstort. Die Kurden selber schatzten die Zahlen der verschwundenen Menschen auf 182.000 und die zerstorten Dorfern auf 4.000 ein. Im Gegensatz zu fruheren Einsatzen von Giftgas wurde der Giftgasangriff auf Helepce von der westlichen Presse mit Entsetzen und Emporung zur Kenntnis genommen. Staatliche Seiten verhielten sich weiterhin zuruckhaltend. An der Herstellung des Giftgases waren großtenteils deutsche Firmen beteiligt.
= Zweiter Golfkrieg =
Am 2. August 1990, zwei Jahre nach dem Waffenstillstand, ließ Saddam Hussein Kuwait mit der Behauptung besetzen, es zapfe illegal Olfelder des Iraks an. Die Besetzung erfolgte, nachdem Kuwait die Olfordermenge erhoht und die Olpreise gesenkt hatte. Der Irak hatte starke Interessen an einem lukrativen Olgeschaft, zumal das Land sich im Wiederaufbau nach dem Ersten Golfkrieg befand.
Im Zweiten Golfkrieg wurde die irakische Armee Anfang 1991 durch die von den USA gefuhrte Koalition fast vollstandig geschlagen. Ein bereits begonnenes Vorrucken amerikanischer Verbande in Richtung Bagdad wurde eingestellt, da der Auftrag der UN-Resolution, die nur die Befreiung Kuwaits, aber nicht einen Regimewechsel im Irak vorsah, erfullt war und die Verbundeten der USA nicht gewillt waren, weitergehende Maßnahmen mitzutragen. Der von westlichen Kraften ermutigte Aufstand der Schiiten im sudlichen Irak gegen Hussein wurde durch die militarisch immer noch uberlegenen irakischen Regierungstruppen trotz Einrichtung einer Flugverbotszone niedergeschlagen.
= Weiteres politisches Wirken =
Saddam Hussein uberlebte zahlreiche Putschversuche und Attentate, auch von auslandischen Geheimdiensten. Er hatte, wie Latif Yahya behauptet, zwei Doppelganger. Faoaz Al-Emari und einen zweiten, der 1984 bei einem Anschlag ums Leben kam.
Er forderte aktiv die Modernisierung der irakischen Wirtschaft und den Aufbau von Industrie, Verwaltung und Polizei. Hussein leitete den Aufbau des irakischen Landes, die Technisierung der Landwirtschaft und die Bodenreform sowie die Volksbildung. Des Weiteren forderte er die vollstandige Neugestaltung der Energiewirtschaft, des offentlichen Dienstes sowie des Transport- und Bildungswesens. Unter seiner Herrschaft begann eine nationale Alphabetisierungskampagne, und die allgemeine Schulpflicht wurde eingefuhrt. Vor 1990 stieg die Alphabetisierungsrate bei Madchen auf uber 90 Prozent, nach der Zerstorung von Schulen in den beiden Golfkriegen von 1991 und 2003 sank sie wieder auf 24 Prozent, so die UNESCO.
Seit dem 29. Mai 1994 war Hussein wieder Premierminister, nachdem er nach dem Ende des Golfkriegs 1991 diesen Posten aufgab. Zudem bekleidete er das Amt des Vorsitzenden der Baath-Partei und war Oberkommandierender der Armee. Im Oktober 1995 ließ er sich ohne Gegenkandidaten mit 97 Prozent der abgegebenen Stimmen auch offiziell zum Prasidenten wahlen. Die Gratulation durch den ehemaligen Staatsprasidenten Abd ar-Rahman Arif verlieh dieser Wahl einen beinahe legitimen Anstrich. Am 8. August 1995 fluchteten Saddams Schwiegersohne sowie der Geheimdienstchef und dessen Bruder wegen Meinungsverschiedenheiten nach Jordanien. Angeblich durch Hussein begnadigt, kehrten sie in den Irak zuruck, wo sie im Februar 1996 inhaftiert und drei Tage spater erschossen wurden.
Die Vereinten Nationen hatten seit dem Zweiten Golfkrieg ein ununterbrochenes Handelsembargo uber das Land verhangt. 1996 akzeptierte das irakische Parlament den „Oil-for-Food“-Plan des UNO-Sicherheitsrates, der dem Irak den Verkauf begrenzter Mengen Erdols ermoglichte, um dringende humanitare Bedurfnisse zu decken. Hussein kundigte im Jahre 2000 an, im Rahmen des Programms „Ol gegen Lebensmittel“ Erdol gegen Euro zu verkaufen und begann seine nationalen Devisenreserven auf Euro umzustellen („Petro-Euro“).
Im Oktober 2002 wurde Saddam Hussein in einer offensichtlich fingierten Wahl mit fast 100 Prozent der Stimmen als Fuhrer des Landes fur weitere sieben Jahre im Amt bestatigt.
= Irakkrieg =
Im Jahre 2003 begann schließlich der Irakkrieg. Die Truppen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Konigreiches marschierten am 20. Marz 2003 in den Irak ein. Die irakische Armee wurde geschlagen, das Land vollstandig besetzt. Die USA begrundeten dies damit, dass der Irak durch Entwicklung und Besitz von „Massenvernichtungswaffen“ gegen die uber ihn verhangten UN-Resolutionen verstoßen und dass Hussein terroristische Organisationen wie al-Qaida unterstutzt habe. Beide Vorwurfe waren falsch und wurden auch in den USA nachtraglich durch den Geheimdienstausschuss des US-Senats widerlegt.
Am 9. April 2003 wurden die Kampfe mit dem Fall Bagdads und dem Untergang des Regimes von Saddam Hussein beendet. Auf Hussein und eine Reihe von fuhrenden Angehorigen der Regierung wurde nach dem Sturz des Regimes ein Kopfgeld von 25 Millionen US-Dollar ausgesetzt. Nach ihnen wurde auch mittels eines in Umlauf gebrachten Kartenspiels gefahndet, in dem die Gesuchten Karo-Ass, Herz-Konig etc. darstellten.
Er suchte zunachst mit seinen Sohnen Udai und Qusai Zuflucht in der Provinz al-Anbar und sandte beide anschließend nach Syrien. Syriens Prasident Baschar al-Assad war das Risiko eines Konflikts mit den Vereinigten Staaten zu hoch und schickte beide in den Irak zuruck. Ihr Unterschlupf in Mossul wurde verraten und beide sowie Qusais vierzehnjahriger Sohn wurden am 22. Juli 2003 in einem funfstundigen Feuergefecht mit Soldaten der 101st Airborne Division getotet.
Strafverfolgung = Festnahme =
Am 13. Dezember 2003 wurde Saddam Hussein von US-Besatzungstruppen festgenommen. Nach amerikanischer Darstellung wurde er nach einem Verrat eines fruheren Gefolgsmannes, eines ehemaligen irakischen Geheimdienstlers, in dem Dorf Ad-Dawr rund 15 Kilometer von seiner Heimatstadt Tikrit entfernt von amerikanischen Soldaten gefangen genommen. Demnach habe sich der einstmals machtigste Mann des Landes zuletzt in einem engen, gemauerten Erdloch vor einer armlichen Hutte versteckt gehalten. Als die Soldaten das Erdloch mit vorgehaltener Waffe inspizierten, habe sich Saddam Hussein ihnen kampflos und mude ergeben. Bei ihm soll Bargeld im Wert von etwa 750.000 US-Dollar gefunden worden sein. Der von der US-amerikanischen Fuhrung verbreitete Hergang der Festnahme und der konkrete Zeitpunkt wurden von Saddam Husseins Anwalt wie auch von ihm selbst bestritten. Der ehemalige US-Soldat Nadim Abou Rabeh sagte im Marz 2005, dass die Szene mit dem sogenannten Erdloch gestellt worden sei, Saddam Hussein in einem Haus gelebt habe und die US-Soldaten bei der Festnahme auf Widerstand gestoßen seien.
Husseins Identitat wurde nach US-amerikanischen Angaben durch eine DNS-Probe sowie anhand von Zahnen und Narben nachgewiesen. Die offizielle Bestatigung der Festnahme erfolgte am 14. Dezember 2003 um etwa 13 Uhr MEZ durch den britischen Premierminister Tony Blair und kurz danach in einer Pressekonferenz durch Paul Bremer, den US-amerikanischen Zivilverwalter im Irak.
Der Ex-Diktator wurde im Hochsicherheitsgefangnis Camp Cropper inhaftiert. Am 10. Januar 2004 gab die US-amerikanische Regierung bekannt, dass er nun offizieller Kriegsgefangener der USA sei. Der Status des Kriegsgefangenen ermoglichte unter anderem, dass unabhangige Beobachter und Hilfsorganisationen, z. B. das Rote Kreuz, mit dem Ex-Diktator in Kontakt treten konnten, um sich von dessen Unversehrtheit und den Haftbedingungen ein Bild zu machen. Am selben Tag forderte der irakische Regierungsrat die Vereinigten Staaten auf, Hussein als einen Kriminellen der irakischen Justiz zu ubergeben. Dies erfolgte am 30. Juni 2004, zwei Tage nach der offiziellen Machtubergabe der USA an die irakische Ubergangsregierung.
= Anklage =
Ein Sondertribunal mit irakischen Richtern beschaftigte sich mit Saddam Hussein und elf weiteren Politikern und Militars des Iraks nach irakischem Recht. In einer ersten Anhorung ohne Anwalt am 1. Juli 2004, die wegen US-Zensur uberwiegend ohne Ton im Fernsehen ubertragen wurde, stritt Saddam jede Schuld ab und erkannte das Tribunal nicht an. Er sah sich weiterhin als Prasident. Er blieb unter Bewachung der USA. Gemaß irakischem Recht wurde Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait vor dem Tribunal verhandelt. Davon ausgenommen sollte der Uberfall auf Iran 1980 nicht als Angriffskrieg verhandelt werden. Die iranische Regierung beabsichtigte, in Bagdad zu klagen, da Saddam Hussein 1980 den Krieg gegen Iran begonnen und Chemiewaffen eingesetzt habe. Saddam Hussein wurden die in diesen Kriegen verubten Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt. Laut Human Rights Watch wurden bis zu 290.000 Menschen ermordet. Die Ermittlungen wurden laut New York Times vom FBI und einer Einheit des US-Justizministeriums gefuhrt. Die irakischen Juristen erhielten Unterstutzung von auslandischen Experten. Salam Tschalabi, der Gerichtsdirektor, wurde in den USA ausgebildet.
Der Kurdenfuhrer und spatere irakische Staatsprasident Dschalal Talabani sprach sich gegen die Todesstrafe fur Saddam Hussein aus. Dennoch zweifelt er nicht an seiner Schuld: Saddam Hussein habe „massakriert“ und „unsere Stadte abgebrannt und zerstort“. Der neue Irak, der gerade im Entstehen sei, musse deshalb die Rechte der kurdischen Bevolkerung achten: „Wenn der Irak diese Verpflichtung nicht anerkennt, wird das das Ende der irakischen Einheit sein.“
= Prozess =
Der Prozess gegen Saddam Hussein und sieben Mitangeklagte begann am 19. Oktober 2005. In erster Instanz entschied eine Kammer aus funf Richtern, wobei zunachst Richter Ra’uf Raschid Abd ar-Rahman den Vorsitz hatte, nachdem der ursprunglich dem Gericht vorsitzende Rizgar Muhammad Amin sein Amt niedergelegt hatte. In der Berufung entschieden neun Richter. Das Gericht hatte die Gerichtsbarkeit uber Volkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen sowie uber drei weitere aus dem irakischen Recht abgeleitete Verbrechen, unter ihnen etwa die unerlaubte Einmischung in die Justiz, die wahrend Husseins Prasidentschaft von 1979 bis zum Beginn der Okkupation durch die Koalitionstruppen 2003 begangen wurden.
Der erste Anklagepunkt vor dem Gericht bezog sich auf eine Vergeltungstat, die nach dem misslungenen Attentat auf Saddam Hussein in der Stadt Dudschail 1982 begangen worden sein soll. 148 Manner und Jungen wurden hingerichtet oder starben bei „Vernehmungen“ durch staatliche Behorden. Die weiteren zwolf Anklagen reichten vom Giftgasangriff auf Kurden in der sogenannten Anfal-Kampagne und dem Angriff auf die Stadt Halabdscha 1988 bis hin zur Totung Zehntausender Schiiten nach deren Aufstand 1991. Mit Saddam Hussein standen sieben weitere Personen vor Gericht. Unter ihnen waren Taha Yassin Ramadan, der fruhere Vizeprasident des Iraks, Barzan Ibrahim at-Tikriti, ein jungerer Halbbruder Saddams und ehemaliger Direktor des Sicherheitsdienstes Mukhabarat, und Awad al-Bandar, fruherer Vorsitzender des Revolutionsgerichtshofs, der unter anderem fur die Todesurteile in Dudschail zustandig war.
Nachdem zwei Verteidiger von Husseins Mitangeklagten Anschlagen zum Opfer gefallen waren, ein Mordkomplott gegen den Ermittlungsrichter Dschuhi aufgedeckt und ein Anschlag auf das Gerichtsgebaude vereitelt worden war und einige Verteidiger sich aus diesem Grund zuruckgezogen hatten, wurde vom damaligen Vorsitzenden Amin die Verlegung des Prozesses in die weniger instabilen kurdischen Regionen erwogen. Der Prozess wurde allerdings weiterhin in Bagdad gefuhrt. Der US-amerikanische Anwalt Ramsey Clark, fruherer US-Justizminister und prominenter Gegner des Irak-Kriegs, gehorte ebenfalls zu dem Team, das Hussein im Prozess verteidigte. Er hatte schon Slobodan Milosevic verteidigt. Außerdem gehorte zu dem Verteidigerteam Ayesha al-Gaddafi, die Tochter des damaligen libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi. Ein weiterer Anwalt Saddam Husseins, Najib al-Nawimi, ehemaliger katarischer Justizminister, versuchte die Legitimitat des Gerichts anzuzweifeln, da große Teile seines Statuts wahrend der Besetzung durch die USA geschrieben worden seien. Der Anwalt Curtis Doebbler legte sogar Rechtsmittel vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein, da das Recht auf einen fairen Prozess in erheblicher Weise verletzt worden sei.
In Bagdad wurde der Prozess unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen abgehalten. Zeugen gegen Saddam Hussein wurde wegen ihrer Furcht vor Anschlagen Anonymitat zugestanden. Der Prozess wurde von Anhangern Saddam Husseins und US-kritischen Stimmen als Schauprozess und als Siegerjustiz interpretiert. Menschenrechtsorganisationen zweifelten an der rechtmaßigen Einsetzung des Tribunals. Human Rights Watch betonte zudem, die Rechte der Angeklagten wurden beschnitten. Ein Menschenrechtsbeobachter der Vereinten Nationen erklarte, das Gericht werde internationalen Standards fur solche Verfahren nicht gerecht. Saddam Hussein begann am 7. Juli einen Hungerstreik, um gegen die mangelhafte Sicherheit fur seine Anwalte zu protestieren. Ab dem 23. Juli wurde er deswegen in einem Krankenhaus zwangsernahrt.
Der irakische Generalstaatsanwalt forderte wegen des Massakers von Dudschail die Todesstrafe fur Saddam Hussein. Auch der ehemalige Vizeprasident Taha Jassin Ramadan und Husseins Halbbruder Barsan Ibrahim al-Tikriti sollten hingerichtet werden, forderte der Staatsanwalt in seinem Schlusspladoyer. Fur vier weitere Angeklagte beantragte er Freiheitsstrafen.
= Urteil =
Hussein wurde am 5. November 2006 vom Richter Ra’uf Raschid Abd ar-Rahman zum Tode durch den Strang verurteilt. Hussein wollte sich zur Urteilsverkundung vor dem Sondertribunal nicht erheben, lenkte jedoch ein, als ihm letztlich mit Zwang gedroht wurde. Seinem personlichen Wunsch, nicht „wie ein einfacher Krimineller“ erhangt, sondern erschossen zu werden, wurde nicht entsprochen.
Der Nahost-Direktor von Amnesty International, Malcolm Stuart, erklarte am 5. November 2006: „Jeder Angeklagte hat das Recht auf einen fairen Prozess, unabhangig von dem Ausmaß der Vorwurfe gegen ihn. […] Hier wurde eine Gelegenheit verpasst, und die Verhangung der Todesstrafe macht das noch schlimmer.“
Die Berufungsverhandlung in der Berufungskammer des Sondertribunals, die bei jedem Todesurteil automatisch angeordnet wird, bestatigte das Urteil schließlich am 26. Dezember 2006. Eine zugige Hinrichtung innerhalb von maximal 30 Tagen, d. h. bis zum 25. Januar 2007, wurde außerdem vorgeschrieben. Ein letzter Versuch, die Hinrichtung durch einen Antrag seiner Anwalte vor einem US-Bezirksgericht in Washington aufzuschieben, wurde abgelehnt.
= Hinrichtung =
Das Urteil gegen Saddam Hussein wurde am 30. Dezember 2006 kurz nach 6:00 Uhr Ortszeit (4:00 Uhr MEZ) in al-Kazimiyya, einer Nachbarstadt im Nordosten von Bagdad, durch Hangen vollstreckt. Die gesamte Hinrichtung wurde offiziell von den irakischen Behorden gefilmt und auf Fotos festgehalten. Entsprechende Aufnahmen, die die letzten Minuten Husseins, nicht jedoch die Exekution zeigen, waren wenig spater weltweit in zahllosen Medien zu sehen. Die Hinrichtung sei nach offizieller Darstellung schnell und ruhig verlaufen. Hussein habe keine Bemerkung gemacht, wahrend er zum Galgen gefuhrt worden sei. Vor der Hinrichtung habe er das sunnitisch-islamische Glaubensbekenntnis gesprochen. Er wurde 69 Jahre alt.
Eine im Internet kursierende Amateuraufnahme der Hinrichtung widerlegt jedoch diese Darstellung. Dabei ist zu horen, dass Personen im Raum Saddam Hussein beschimpfen, er werde „direkt in die Holle gelangen“, woraufhin dieser antwortet: „Irak ist nichts ohne Saddam“. Ebenso wird der radikale irakische Schiiten-Fuhrer Muqtada as-Sadr, einer der großten Gegner Saddam Husseins, durch die unbekannten Personen bejubelt. Bereits mit der Schlinge um den Hals auf der Falltur stehend, sprach Saddam Hussein anschließend seine letzten Worte, die zweizeilige Schahada der Sunniten: „Es gibt keine Gottheit außer Allah. Mohammed ist der Prophet Allahs.“ Noch wahrend der ersten Wiederholung offnete sich die Falltur, als er das Wort Mohammed aussprach. Die inoffizielle Filmaufnahme zeigt auch, wie Saddam Hussein durch Genickbruch stirbt und unmittelbar nach der Hinrichtung am Galgen hangt.
= Reaktionen auf die Hinrichtung =
Das gewahlte Hinrichtungsdatum wurde in der islamischen Welt scharf kritisiert, da sie an einem islamischen Feiertag, dem Opferfest, vollstreckt wurde. Es wurden außerdem Terroranschlage als Reaktion auf die Hinrichtung Husseins befurchtet, denn bereits die Urteilsverkundung im November hatte in Teilen des Landes Gewalt ausgelost.
Das im Internet veroffentlichte nicht offizielle Hinrichtungsvideo loste ein besturztes Medienecho aus. Fur die BBC bezeichnete World Affairs Editor John Simpson den Verlauf als „hasslich und erniedrigend“. Es erinnere an offentliche Hinrichtungen des 18. Jahrhunderts. Staatsanwalt Munkith al-Farun, der bei der Hinrichtung anwesend war, erklarte am 2. Januar 2007, dass hochrangige irakische Regierungsmitarbeiter den Mitschnitt unerlaubt mit einem Handy gedreht hatten. Das Hinrichtungsvideo entwickelte sich in den folgenden Tagen insbesondere im Suden Bagdads, in dem zahlreiche Schiiten leben, zum Verkaufsschlager. Die Anwalte Saddam Husseins forderten daraufhin am 3. Januar 2007 in einem Brief an UN-Generalsekretar Ban Ki-moon eine Untersuchung und verwiesen erneut auf die Genfer Konventionen, die mehrfach nicht auf den Kriegsgefangenen angewandt worden seien. In dem Schreiben wurde außerdem vermutet, einige der argsten Feinde Saddams konnten „in einem ublen Handel mit der Besatzungsmacht das Privileg erhalten haben, bei der Totung selbst Hand anzulegen“. Es soll daher ebenfalls untersucht werden, wer die vermummten Henker waren. Auch andere irakische Beobachter kritisierten das Verfahren.
EU-Entwicklungshilfekommissar Louis Michel verurteilte die Hinrichtung noch am selben Tag indirekt als „barbarisch“. Zudem außerte er die Befurchtung, dass die Vollstreckung des Urteils Hussein zu einem Martyrer machen konne. Die EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner außerte sich im Namen der Europaischen Kommission zu dem Urteil: „Wahrend die EU die Todesstrafe grundsatzlich ablehnt, bedeuten das Gerichtsverfahren und die Bestrafung von Saddam, dass jene, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, der Gerechtigkeit nicht entgehen konnen.“ Der Tod Saddam Husseins habe ein „langes und schmerzhaftes Kapitel in der Geschichte des Iraks“ geschlossen. Seine Karriere und sein Vermachtnis zeige die „Sinnlosigkeit einer Politik der Gewalt und des Terrors“.
Bundeskanzlerin Angela Merkel brachte zum Ausdruck, dass die deutsche Bundesregierung die Todesstrafe ablehnt:
Fur die deutsche Bundesregierung zeigte Gernot Erler (SPD), Staatsminister im Auswartigen Amt, zwar Verstandnis fur die Zustimmung betroffener Iraker, fugte jedoch im RBB-Inforadio hinzu: „Aber wir wenden uns gegen die Todesstrafe, egal wo sie angewandt wird.“
Vom Vatikan wurde die Hinrichtung ebenfalls scharf verurteilt. Vatikansprecher Federico Lombardi sagte, es handele sich um „eine tragische Nachricht“, und benutzte das Wort „Ermordung“. Weiter sagte er, es bestehe „das Risiko, dass dies den Geist der Rache noch anstachelt und neue Gewalt sat“. Der Prasident des papstlichen Rates fur Gerechtigkeit und Frieden, Kurienkardinal Renato Raffaele Martino, sagte gegenuber Radio Vatikan: „Ich hatte in den vergangenen Tagen gehofft, dass man es fur angemessen halten wurde, das Todesurteil nicht zu vollstrecken. Ich hoffe und bete, dass dieser letzte Akt nicht dazu beitragt, die bereits kritische Situation im Irak weiter zu verschlimmern, einem Land, das von vielen Spaltungen und Bruderkampfen gezeichnet ist.“
US-Prasident George W. Bush wurdigte dagegen die Hinrichtung von Saddam Hussein als „gerechte Strafe“. Die Hinrichtung sei das Ergebnis einer Rechtsprechung, die der irakische Exprasident „den Opfern seines brutalen Regimes“ vorenthalten habe, sagte Bush in der Nacht auf seinem Landsitz in Texas.
Die britische Regierung wiederum kritisierte die Hinrichtung aus prinzipiellen Grunden. „Wir treten fur die weltweite Abschaffung der Todesstrafe ein, unabhangig von dem jeweiligen Verbrechen“, erklarte Außenministerin Margaret Beckett. Großbritannien habe seine Ablehnung der Todesstrafe „der irakischen Regierung sehr deutlich klargemacht, allerdings respektieren wir deren Position“, fugte die Ministerin hinzu.
Russland hat wegen der Hinrichtung Saddam Husseins vor einer weiteren Verscharfung der Lage im Irak gewarnt. Gleichzeitig bedauerte ein Sprecher des Außenministeriums in Moskau, dass die internationalen Bitten um eine Aussetzung der Hinrichtung ungehort verhallt seien. „Russland ist wie viele andere Lander prinzipiell gegen die Todesstrafe, aus welchen Motiven diese auch verhangt worden sein mag“, hieß es in der Stellungnahme.
Ban Ki-moon, der Generalsekretar der Vereinten Nationen, sorgte dagegen uberraschend fur einen Eklat, indem er in einer Stellungnahme zur Hinrichtung erklarte, es stehe einem Land frei, uber Hinrichtungen zu entscheiden. Bei einer Pressekonferenz erklarte eine Mitarbeiterin anschließend prompt, dass Hinrichtungen von den Vereinten Nationen weiterhin abgelehnt wurden. In Bans Heimatland Sudkorea gibt es die Todesstrafe, seit 1998 sind Todesurteile aber nicht mehr vollstreckt worden.
Ausdrucklich begrußt wurde der Vollzug des Todesurteils in Iran und in Kuwait, wahrend ein Vertreter der Palastinenser von politischem Mord sprach und der libysche Revolutionsfuhrer Muammar al-Gaddafi eine dreitagige Staatstrauer fur sein Land anordnete. Israels Vize-Ministerprasident Schimon Peres verglich Saddams Hinrichtung mit dem Ende Adolf Hitlers. Der Tod des Ex-Diktators, der eine Gefahr fur den Nahen Osten und den Weltfrieden dargestellt habe, sei wie der Hitlers vorhersehbar gewesen.
Der irakische Premierminister Nuri al-Maliki zeigte sich uber die internationale Kritik erbost: „Die irakische Regierung sollte vielleicht ihre Beziehungen zu den Regierungen uberdenken, die den Willen des irakischen Volkes nicht respektieren.“
Vernehmungen durch das FBI Im Juli 2009 wurden die Vernehmungen des FBI aus dem Jahre 2003 – 2004 vom National Security Archive veroffentlicht. Saddam Hussein nannte als seine Feinde Iran und al-Qaida, als potentiellen Verbundeten betrachtete er das Regime in Nordkorea. Als große Fehler nannte er u. a. die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen in den 1990ern, die er sonst im Irak-Krieg 2003 hatte einsetzen konnen. Hussein gab des Weiteren Details zu den Golfkriegen wieder. Nicht enthalten in den FBI-Berichten waren jedoch Aussagen zur Beziehung zwischen dem Irak und den USA in den 1980ern, zu Chemiewaffenangriffen und einer Rolle der CIA beim Aufstieg der Baath-Partei.
Personliches = Ruhestatte =
Der Leichnam wurde in Saddam Husseins Geburtsort, dem Dorf al-Audscha nahe Tikrit, beigesetzt. Es nahmen rund 100 Personen an der Bestattung teil, darunter auch der Gouverneur der Provinz Salah ad-Din. Die Beisetzung erfolgte gemaß islamischen Glaubensvorschriften binnen 24 Stunden nach dem Tod. Hussein wurde unter der Kuppel eines Grabmals beigesetzt, das er fur sich hatte bauen lassen und sich direkt neben der nach ihm benannten Saddam-Moschee befindet. In der Nahe sind seine beiden Sohne Udai und Qusai, die bereits 2003 von amerikanischen Soldaten bei einem Gefecht getotet worden waren, beerdigt. In den Stadten der Provinz kam es zu Demonstrationen fur Hussein. Irakische Polizisten hinderten jedoch die Bevolkerung daran, zum Grab zu fahren. Die Familie Saddams will in der Nahe der Moschee eine Bibliothek und eine Koranschule errichten lassen. Das Grabmal wurde bei den Kampfen zwischen ISIS und irakischen Streitkraften im Marz 2015 zerstort, Saddam Husseins Leichnam wurde bereits 2014 von seinen Anhangern an einen unbekannten Ort umgebettet.
= Familie =
1. Ehefrau Sadschida Talfah (* 1936, Heirat 1963)
Sohn Udai Hussein (1964–2003)
Sohn Qusai Hussein (1966–2003)
Tochter Raghad Hussein (* 1968)
Tochter Rana Hussein (* 1969)
Tochter Hala Hussein (* 1979)
2. Ehefrau Samira Schahbandar (Heirat 1986)
Sohn Ali Saddam Hussein (* 1980 oder 1983)
3. Ehefrau Nidal al-Hamdani (Heirat 1990)
Halbbruder Barzan Ibrahim at-Tikriti (1951–2007)
Halbbruder Sabawi Ibrahim Hasan at-Tikriti (1947–2013)
Halbneffe Ayman Sabawi Ibrahim (seit 9. Dezember 2006 fluchtig)
Halbbruder Watban Ibrahim Hasan at-Tikriti (inhaftiert)
Cousin Ali Hasan al-Madschid (1941–2010)
Seine beiden Schwiegersohne General Hussein Kamel Hasan al-Madschid und Oberst Saddam Kamel Hassan kehrten mit ihren Ehefrauen Raghad und Rana Hussein am 20. Februar 1996 aus Jordanien in den Irak zuruck und wurden drei Tage spater erschossen.
Von Saddam Hussein initiierte Bauten Umm-al-Qura-Moschee
Schwerter von Kadesia
Verfilmung al-Ayyam al-tawila (The Long Days), 1980, Irak, 6-Stunden-Epos uber das Leben Saddam Husseins
2008 entstand die britische Miniserie House of Saddam (dt. Die Husseins – Im Zentrum der Macht), die von Aufstieg und Fall des irakischen Diktators handelt. In der Hauptrolle ist der israelische Schauspieler Jigal Naor zu sehen.
The Devil’s Double, 2011, Belgien/Niederlande, Literaturverfilmung. Hussein wird von Philip Quast gespielt.
Saddam Hussein (= Folge 2 der Serie The Dictator’s Playbook). 54-minutige Filmdokumentation von Mark Stevenson (Australien 2018).
Werke Zabibah und der Konig, eine Liebesgeschichte. edition de facto, Kassel, ISBN 3-9808561-2-7.
„Wir kampfen stellvertretend fur die Geschichte!“ In Andreas Meier (Hrsg.): Politische Stromungen im modernen Islam. Quellen und Kommentare. Bundeszentrale fur politische Bildung, Bonn 1995, ISBN 3-89331-239-0; sowie Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1995, ISBN 3-87294-724-9, S. 93–98.
Literatur Lisa Blaydes: State of Repression: Iraq under Saddam Hussein. Princeton University Press, Princeton 2020, ISBN 978-0-691-21175-6.
Jean-Michel Cadiot: Quand l’Irak entra en guerre, la Qadissiyah de Saddam. L’Harmattan, 2000, ISBN 2-7384-0129-5.
Andrew Cockburn, Patrick Cockburn: L’enigme Saddam – Enquete explosive au cœur du systeme irakien. First, 1999, ISBN 2-87691-446-8.
Con Coughlin: Saddam Hussein. Portrat eines Diktators. Die Biografie, List Verlag, Munchen, 2002, ISBN 978-3-471-77259-1.
Efraim Karsh, Inari Rautsi: Saddam Hussein. A Political Biography. Grove Press, New York 2002, ISBN 0-8021-3978-7.
Angeli Mesnier: Notre allie Saddam. Orban, 1992, ISBN 2-85565-658-3.
Mylroie Miller: Saddam Hussein. Presses de la Cite, 1993, ISBN 2-258-03369-1.
John Nixon: Debriefing the President: The Interrogation of Saddam Hussein. Blue Rider, New York 2016, ISBN 978-0-399-57581-5.
Georges Sada, Jim Nelson Black: Saddams Geheimnisse. 25 Jahre unter einem Terrorregime; als Christ im irakischen Generalstab. Brunnen Verlag, Gießen / Basel 2006, ISBN 978-3-7655-1939-0. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Saddam’s Secrets Verlag Integrity Publishers Brentwood USA
Abdul Majid Saman: Les annees Saddam. Fayard, 2003, ISBN 2-213-61751-1.
Latif Yahya: Ich war Saddams Sohn: als Doppelganger im Dienst des irakischen Diktators Hussein. Goldmann, Munchen 2003, ISBN 3-442-15249-6.
Weblinks Literatur von und uber Saddam Hussein im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
National Security Archive: Saddam Hussein Talks to the FBI. Dokumente veroffentlicht am 1. Juli 2009
Christian Meier: Nebukadnezars Erbe. Zenith – Zeitschrift fur den Orient; Portrat Saddam Husseins
Saddam Hussein bei IMDb
Einzelnachweise
|
Saddam Hussein (arabisch صدام حسين عبد المجيد التكريتي Saddam Husain ʿAbd al-Madschid at-Tikriti, DMG Saddam Husain ʿAbd al-Magid at-Tikriti, kurdisch سەددام حوسێن Sedam Huseyn; * 28. April 1937 in al-Audscha bei Tikrit; † 30. Dezember 2006 in al-Kazimiyya bei Bagdad) war ein irakischer Politiker (Baath-Partei). Von 1979 bis 2003 war er Staatsprasident und gleichzeitig von 1979 bis 1991 sowie 1994 bis 2003 Premierminister. Er regierte das Land diktatorisch und wurde spater wegen Massakern an Schiiten und Kurden zum Tode verurteilt und hingerichtet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Saddam_Hussein"
}
|
c-13961
|
Homophobie (von altgriechisch homos „gleich“, und, uber „Phobie“, von phobos „Furcht, Schrecken, Flucht“) bezeichnet eine gegen lesbische und schwule Personen gerichtete soziale Aversion (Abneigung) oder Aggressivitat (Feindseligkeit). Homophobie wird in den Sozialwissenschaften zusammen mit Erscheinungen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus unter die Begriffe Queerfeindlichkeit und noch weiter unter gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefasst und ist demnach nicht krankhaft abnorm bedingt. Als Lesbophobie wird ein sich mit Homophobie uberschneidendes, sexistisches Verhalten gegenuber lesbischen Frauen bezeichnet, eine doppelte Diskriminierung der davon betroffenen Frauen.
Homophobes Verhalten und andere diskriminierende Handlungen stehen teilweise in einem engen Zusammenhang zur Transphobie (Transfeindlichkeit), insbesondere wenn Menschen die vermeintliche Homosexualitat einer Person an deren Abweichung von als geschlechtstypisch geltenden Verhaltens- und Ausdrucksweisen zu erkennen glauben.
Der Begriff Homofeindlichkeit wird oft synonym zu Homophobie verwendet. Gelegentlich wird allerdings argumentiert, dass Homofeindlichkeit der geeignetere Begriff sei, da „Phobie“ eine tatsachliche oder vermeintliche Angst unterstelle und den Hass, mit dem sich Homosexuelle teilweise konfrontiert sehen, verharmlose.
Definition Der Begriff der Homophobie weist auf Angst als Ursache des ablehnenden Verhaltens hin (siehe unten zu Ursachen von Homophobie). Angst ist ein anerkanntes Erklarungsmodell fur das aggressive-ablehnende Verhalten nicht nur Jugendlicher, sondern auch Erwachsener gegenuber Homosexuellen, und zwar nicht Angst vor diesen Personen, sondern eine tiefsitzende, oft unbewusste Angst vor den eigenen unterdruckten Personlichkeitsanteilen. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Angststorung im klinisch-psychologischen Sinne.
Homophobie bezeichnet einerseits eine irrationale Angst vor den eigenen, nicht in das Selbstbild passenden und deshalb abgewehrten und ins Unbewusste verdrangten weiblichen oder mannlichen Personlichkeitsanteilen und andererseits die daraus resultierenden Gefuhle wie Ekel, Verachtung und Hass und drittens die durch homophobe Personen in die Gesellschaft getragenen Vorurteile, Verfolgungstendenzen und Gewaltpotenziale. Aus tiefenpsychologischer Sicht handelt es sich bei Homophobie – wie bei Sexismus, Rassismus oder Judenfeindlichkeit (Antisemitismus) – um eine meist unbewusste Angst, die eigene Identitat in Frage zu stellen. Homophobe Menschen beschaftigen sich haufig exzessiv mit Homosexualitat und wollen sie bekampfen.
Die verschiedenen Formen homophober Gewalt (seitens Gesellschaft, Gruppierungen oder Individuen oder anderen) mussen als gestorte Verhaltensweisen bezeichnet werden, die ihrerseits Lesben und Schwule in ihrer Entfaltung teilweise massiv beeintrachtigen und unter denen sich sekundar psychische Storungen entwickeln konnen.
Abgrenzung gegenuber anderen Begriffen Von der Homophobie unterscheiden sich folgende Begriffe:
Heterosexismus beschreibt die oft subtile gesellschaftliche Neigung und das ideologische System, jede Form von Identitat, Verhalten, Beziehung oder Gemeinschaft, die nicht eindeutig der auf Heterosexualitat basierenden sozialen Norm entspricht, zu verleugnen, verunglimpfen und stigmatisieren. Er ist zu verstehen als eine auf Heteronormativitat grundende und nicht hinterfragte gesellschaftliche Setzung heterosexueller Lebensentwurfe und -weisen als „sexuelle Normalitat“, die etwa schwule und lesbische Orientierungen als Randerscheinung oder „weniger naturliches“ Phanomen, als bloße „sexuelle Vorliebe“ abhandelt. Der Begriff Heterosexismus verweist eher auf Arroganz oder Chauvinismus als Ursache des ablehnenden Verhaltens. Heterosexismus richtet sich gegen homosexuelle, bisexuelle, transgeschlechtliche, aber auch androgyne Menschen.
Biphobie bezeichnet das Unverstandnis und die Abneigung gegen Bisexuelle von beiden Polen der sexuellen Orientierung oder Identitat. Teilweise wird aber auch die Vereinnahmung durch beide Seiten von Bisexuellen als Biphobie empfunden. Neuere Studien zeigen, dass mit Biphobie zusatzliche Diskriminierungsmerkmale verbunden sind, die sich nicht unter Homophobie zusammenfassen lassen. So werden bisexuelle Personen von schwuler oder lesbischer Seite diskriminiert oder unterliegen entsprechenden negativen, aber auch positiven Vorurteilen.
Transphobie beschreibt die Aversion und dadurch entstehende Diskriminierung von Transpersonen, basierend auf ihrer Geschlechtsidentitat (die nicht ubereinstimmt mit dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht). Weil bei einem Geschlechts(rollen)wechsel eine gleichbleibende sexuelle Orientierung von der gleich- zur gegengeschlechtlichen wechselt (oder umgekehrt), werden Transpersonen ausgegrenzt.
Misogynie bezeichnet die Aversion gegen Frauen allgemein oder bestimmte Auspragungen von Weiblichkeit – haufig solche, die nicht unter die „aktuellen kulturellen Akzeptanzkategorien“ der sozialen Rolle von Weiblichkeit fallen. Misogynie wird als Sexismus verstanden.
Misandrie bezeichnet die Aversion gegen Manner und Mannlichkeit, auch ein Sexismus.
Etymologie = Latein/Griechisch – Manner =
Das Wort „Homophobie“ wurde in den 1920er Jahren fur kurze Zeit in der gemischten lateinisch-griechischen Zusammensetzung als „Angst vor dem Mann“ (lateinisch homo ‚Mann, Mensch‘; altgriechisch φοβος phobos, deutsch ‚Angst‘) verwendet. Der Soziologe und Mannerforscher Michael Kimmel verwendete es in dieser Zusammensetzung 1997 und meinte damit die aktuelle ultimative Angst eines Mannes vor anderen Mannern, dass sie ihn als zu wenig maskulin bloßstellen wurden.
= Griechisch – Homosexuelle =
Meistens wird das Wort als Zusammensetzung aus den griechischen Wortern altgriechisch ομος homos, deutsch ‚gleich‘ und Phobie „Furcht“ verwendet. Nach den Erinnerungen des US-amerikanischen Psychotherapeuten George Weinberg dachte er im September 1965 bei der Vorbereitung eines Vortrages auf einer Veranstaltung der East Coast Homophile Organizations (ECHO) uber die Tatsache nach, dass viele heterosexuelle Psychoanalytiker, wenn sie außerhalb des klinischen Umfeldes mit Homosexuellen zusammen sind, starke personliche negative Reaktionen zeigen, und es kam ihm die Idee, dass man dies als Phobie beschreiben konne.
Nach eigenen Aussagen begann er das Wort etwa ab 1966 oder 1967, nach Jack Nichols’ Aussagen ab 1967, zu verwenden.
Gedruckt erschien das Wort homophobia erstmals im Screw magazine, einer nicht sonderlich anspruchsvollen Zeitschrift („screw“ kann mit „nageln“ im sexuellen Sinn ubersetzt werden), die ein uberwiegend heterosexuelles, mannliches Publikum ansprach. Dort hatten die Aktivisten und Freunde Weinbergs, Jack Nichols und Lige Clarke, eine wochentliche Kolumne, die schwule Themen ansprach. Am 23. Mai 1969 bekam die Kolumne vom Herausgeber Al Goldstein die Uberschrift He-Man Horse Shit, als sie die ubertriebene Meidung heterosexueller Manner von Dingen, die fur tuntig gehalten werden konnten, beschrieb. Ein ubertriebenes Machoverhalten sei somit das Ergebnis der Angste heterosexueller Manner, fur homosexuell gehalten zu werden. Durch diese Angst wurden die mannlichen Erfahrungen eingeschrankt, weil dadurch Dinge wie Poesie, Kunst, Bewegung und Beruhrung als verweiblicht tabuisiert wurden.
Am 31. Oktober 1969 erschien es zum ersten Mal gedruckt in einer weit verbreiteten Publikation, dem Time Magazine. Weinberg selber verwendete das Wort erstmals am 18. Juli 1971 in einer schriftlichen Veroffentlichung, einem Essay mit dem Titel Words for the New Culture in Nichols’ Wochenzeitung Gay. Dort wurde es als „die Scheu davor, raumlich eng mit Homosexuellen zusammen zu sein – und im Falle von Homosexuellen selber, ein Selbsthass“ definiert. Er beschrieb auch die Folgen dieser Phobie, die im engen Zusammenhang mit den mannlichen Normen der Gesellschaft zu sehen waren, und betrachtete sie als eine Form von Vorurteil einer Gruppe gegenuber einer anderen. Eine nachhaltige Verankerung im englischen Sprachgebrauch bekam das Wort jedoch erst durch Weinbergs Buch Society and the Healthy Homosexual im Jahre 1972. In einem Interview im Jahre 2002 definierte Weinberg Homophobie folgendermaßen:
Andere Psychologen wie zum Beispiel David Andrew Fogel Haaga bestreiten, dass Homophobie eine wahre Phobie sei, und betonen, dass eine wahre Phobie durch Angst, Homophobie durch Wut oder Hass gepragt sei. Haaga nennt vier Unterscheidungsmerkmale zwischen Homophobie und klassischen Phobien: Der Phobiker erkenne seine Angste als ubertrieben, wahrend der Homophobe seine Wut als gerechtfertigt betrachte; das Ergebnis einer Phobie sei Vermeidung, wahrend das Ergebnis der Homophobie Aggression sei; der Begriff Homophobie werde in einem politischen Zusammenhang verwendet, wahrend allgemeine Phobien selten bis nie in einem politischen Zusammenhang auftauchten; diejenigen, die von klassischen Phobien betroffen seien, hatten einen Leidensdruck, der den Wunsch nach Veranderung wecke, wahrend homophobe Menschen Leidensdruck in anderen erzeugten und der Wunsch nach Veranderung somit extern geweckt werde.
Aus dem etymologischen Grund, dass Homophobie eine Phobie oder irrationale Angst bezeichnet, ist NARTH – eine Organisation, die sich fur die Moglichkeit einer Therapie der Homosexualitat einsetzt – der Meinung, dass die prinzipielle Ablehnung homosexuellen Verhaltens aus moralischen, psychologischen oder medizinischen Grunden noch nicht als Homophobie bezeichnet werden konne. A. Dean Byrd – Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und designierter Prasident – meint, dass eine Phobie eine ernste Geisteskrankheit sei und Homophobie kein wissenschaftlicher Ausdruck, sondern nur ein soziales Konstrukt sei. Dieselbe Organisation veroffentlicht zum Beispiel auf ihrer Webseite mehrfach Fakten einer Studie einer Klinik fur Geschlechtskrankheiten (von Maria Xiridou), von der monogam Lebende ausgeschlossen waren und die schon in entstellter Weise uber christliche Nachrichtenagenturen verbreitet wurde, um „sachliche Kritik“ an einem undifferenziert und allgemeingultig formulierten „homosexuellen Lebensstil“ zu uben.
Die Psychologin Melanie Steffens lehnt den Begriff Homophobie ab, da er verschleiere, dass es sich nicht um eine individuelle Phobie, sondern um eine gesellschaftlich erlernte Einstellung handele.
Im Zuge der zweiten Welle der Lesben- und Schwulenbewegung wurde der Begriff ab Anfang der 1970er Jahre auch im deutschen Sprachraum verwendet.
= Synonyme =
1967 veroffentlichte Wainwright Churchill sein Buch Homosexual Behavior Among Males, wo er das Wort homoerotophobia (deutsch „Homoerotophobie“), zusammengesetzt aus den griechischen Wortern homos „gleich“, eros „Liebe“ und phobos „Furcht“, in sehr ahnlichem Zusammenhang benutzte.
Weitere seltenere Synonyme sind dread of homosexuality („Scheu/Furcht von Homosexualitat“, Hoffman, 1968), anti-homosexualism („Anti-Homosexualismus“, Hacker, 1971), homosexphobia, („Homosexphobie“, Levitt & Klassen, 1974), homonegativism („Homonegativismus“, Hudson und Ricketts, 1980) und homosexism („Homosexismus“, Hansen, 1982).
Die sich in Burgerrechtsbewegungen organisierenden Lesben und Schwulen haben den Begriff Homophobie bald durch den Begriff Heterosexismus erganzt, um damit – in Parallele zu Begriffen wie Rassismus und Sexismus – auf eine ausgrenzende soziale und kulturelle Ideologie und auf die institutionelle Unterdruckung nicht-heterosexueller Menschen hinzuweisen (siehe auch unten: Abgrenzung gegenuber anderen Begriffen). Im deutschen Sprachraum fasste der Begriff vergleichsweise spat in den 1980er Jahren Fuß. Oft wird Heterosexismus synonym zu Homophobie verwendet.
Ein Synonym ist Antihomosexualitat (anti- von griech. αντι „gegen, wider“). Hauptsachlich wird es als Adjektiv antihomosexuell verwendet. Die Konnotation ist etwas milder, und es ist Unbedarften leichter verstandlich. Die englische Version antihomosexual wird spatestens seit Mitte der 1950er Jahre verwendet. Auf Deutsch scheint es etwa zur selben Zeit wie Homophobie aufgekommen zu sein. Zusatzlich gibt es die spezifischeren Adjektive antischwul und antilesbisch ohne dazu passende Substantive.
Ebenfalls leichter verstandlich, aber mit einer scharferen Konnotation sind Homosexualitatsfeindlichkeit und Homosexuellenfeindlichkeit und die dazugehorigen Adjektive. Oft werden die Begriffe als Eindeutschung oder Erklarung von Homophobie verwendet. Zusatzlich gibt es Schwulenfeindlichkeit und Lesbenfeindlichkeit mit passenden Adjektiven.
Auspragungen und Haufigkeit von Homophobie Je nach Auspragung reicht Homophobie von Vorurteilen uber ausgepragte Abneigung und Befurwortung von Diskriminierung oder staatlichen Repressionen gegen Homosexuelle bis hin zu außerstem Hass und korperlicher Gewalt gegen Homosexuelle. Es sind auch Falle bekannt, in denen Homosexuelle nur wegen ihrer sexuellen Orientierung ermordet oder schwer verletzt wurden (z. B. Matthew Shepard). In einigen Staaten ist die Totung von Homosexuellen sogar staatlich organisiert: In funf islamischen Landern werden homosexuelle Handlungen unter Mannern mit dem Tode bestraft. Die Strafbarkeit wird aus der Scharia abgeleitet, die jedoch fur solche Handlungen kein konkretes Strafmaß vorsieht.
Auch in Deutschland (§ 175 StGB) trugen Heterosexismus und Homophobie lange zur Homosexuellenverfolgung bei. Heute sind homosexuelle Handlungen in allen westlichen Industrielandern (u. a. in ganz Europa, den USA und Kanada) straffrei; siehe den Artikel Gesetze zur Homosexualitat.
Der Soziologe Michael Bochow vom Wissenschaftszentrum Berlin fur Sozialforschung schreibt zu einer Studie aus dem Jahre 1991:
Insgesamt lasst sich unter Erwachsenen in Deutschland im letzten Jahrzehnt feststellen, dass Homophobie in der deutschen Gesellschaft aufgrund der Veranderungen in der Darstellung in Medien und verschiedener Aufklarungskampagnen, der Visualisierung von homosexuellen Politikern und homosexuellen Menschen/Paaren im Alltags- und Berufsleben sowie der geanderten Gesetzeslage und Rechtsprechung (siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts) zur Verfassungsmaßigkeit der Homo-Ehe zuruckgegangen ist.
Eine reprasentative Umfrage im Rahmen des jahrlichen „Thuringen-Monitors“ der Friedrich-Schiller-Universitat Jena brachte 2013 folgende Ergebnisse: Der Aussage, homosexuelle Beziehungen seien unnaturlich, stimmten 29 % der Befragten zu, wobei die Spanne von 14 % bei den 18- bis 24-Jahrigen bis 41 % bei den uber 60-Jahrigen reichte. Manner außerten sich homophober als Frauen und religiose Personen homophober als nichtreligiose.
= Homophobie unter Jugendlichen =
Zur Frage, inwieweit Homophobie unter Jugendlichen verbreitet ist, liegen unterschiedliche Studien vor, die zu unterschiedlichen Bewertungen der Tendenz zum Ruckgang oder zur Ausbreitung von Homophobie unter Jugendlichen gelangen.
Gesondert zu betrachten ist die Verbreitung von Homophobie unter Jugendlichen, deren Ursachen unterschiedlich begrundet werden. Im Jahr 2002 ergab eine reprasentative mundliche Befragung des Marktforschungsinstituts iconkids & youth bei rund 670 12- bis 17-Jahrigen:
In einer globalen Umfrage mit 3050 Jugendlichen, die im Jahr 2006 im Auftrag des BBC World Service durchgefuhrt wurde, verneinten 47 % der 15- bis 17-Jahrigen die Frage: „Meinst du, Homosexuelle sollten dieselben Rechte haben wie Heterosexuelle?“ (Do you think homosexuals should have the same rights as heterosexuals?). 39 % bejahten diese Frage, 13 % hatten keine Meinung, 1 % wollte nicht antworten. Befragt wurden 15- bis 17-jahrige Jugendliche in zehn „Schlusselstadten“ (New York, Nairobi, Kairo, Lagos, Rio, Bagdad, Delhi, Jakarta, Moskau, London; die Frage zur Homosexualitat wurde jedoch in Kairo und in Bagdad nicht gestellt). Die Jugendlichen verschiedener Stadte unterschieden sich hinsichtlich der Zustimmung zu einer Gleichberechtigung von homosexuellen Burgern (z. B. sind 74 % der Jugendlichen in Rio fur eine Gleichberechtigung, 67 % in New York, 43 % in Moskau, 36 % in London, 8 % in Nairobi). Sozialwissenschaftler weisen darauf hin, dass Einstellungen zur sexuellen Orientierung in Großstadten liberaler sind als auf dem Land.
In einer Studie des US-amerikanischen Pew Research Center aus dem Jahr 2006 zeigte sich, dass Jugendliche in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu ihrer Vorgangergeneration im Umgang mit dem Thema Homosexualitat toleranter waren.
= Homophobie unter Glaubigen =
Islam Nach Aussage des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer ist der Islam mehr als tausend Jahre lang tolerant mit homosexuellen Menschen umgegangen. Bauer betont, dass sich in der arabisch-islamischen Kulturgeschichte zwischen 800 und 1800 „keine Spur von Homophobie“ feststellen lasse. Aus der islamischen Literatur sind zahlreiche homoerotische Gedichte uberliefert. Laut Bauer habe erst im 19. Jahrhundert der Westen im Zuge der Kolonialisierung den „Kampf gegen den unordentlichen Sex“ im Nahen Osten eingefuhrt. Vor dem Jahr 1979 sei in tausend Jahren kein Fall im islamischen Nahen Osten und Nordafrika bekannt, in dem ein Mann aufgrund von einvernehmlichem Sex mit einem anderen Mann strafrechtlich angeklagt worden sei.
Die konservative Auffassung des islamischen Rechts betrachtet, weniger auf den Koran als vielmehr auf verschiedene Uberlieferungen Hadithe gestutzt, homosexuellen Geschlechtsverkehr (liwat, sihaq) als zu bestrafendes Vergehen, sofern gewisse Voraussetzungen erfullt sind. Die Frage nach der Art der Bestrafung hat in den islamischen Rechtsschulen (Madhahib) zu einem Dissens gefuhrt. Die Meinungen reichten von Auspeitschung bis zur Todesstrafe.
In muslimischen Migrantengemeinschaften in Europa wird das Thema Homosexualitat selten offen angesprochen und meist als Thema betrachtet, das fur die Kultur der Mehrheitsgesellschaft und nicht der Migrantengemeinde relevant ist. Eltern uben Druck auf ihre Kinder aus, heterosexuell zu heiraten. In einer reprasentativen Umfrage der Info GmbH unter Turken in Deutschland im August 2012 außerten 51 Prozent der Befragten die Uberzeugung, dass Homosexualitat eine Krankheit sei.
Die taz berichtete anlasslich der Premiere zweier Dokumentarfilme mit homosexuellen bzw. transgeschlechtlichen Muslimen uber deren homophobes Umfeld in den islamisch gepragten Gesellschaften der Turkei sowie im Iran und wie die Darsteller damit umgehen.
Homosexualitat wird in islamisch gepragten Landern verschieden bewertet und von Seiten des Staates rechtlich unterschiedlich eingestuft. Eine staatliche Anerkennung von homosexuellen Paarbeziehungen gibt es gegenwartig in keinem islamisch gepragten Staat. In den islamisch gepragten Staaten Albanien, Bosnien und Herzegowina, Indonesien, Jordanien, Kasachstan, Kirgisistan, Kosovo, Mali, Tadschikistan, Tschad und Turkei sind homosexuelle Handlungen nicht verboten. In den meisten islamisch gepragten Staaten werden homosexuelle Handlungen mit unterschiedlich hohen Haftstrafen verfolgt. Hierzu gehoren die Staaten Afghanistan (gegenwartig keine staatliche Hoheit), Agypten, Algerien, Bahrain, Bangladesch, Brunei, Gambia, Guinea, Irak, Katar, Komoren, Libyen, Malaysia, Malediven, Marokko, Oman, Pakistan, Senegal, Singapur, Somalia (gegenwartig keine staatliche Hoheit), Syrien, Tunesien, Turkmenistan und Usbekistan. In sieben Landern, Iran, Nigeria (nordliche Landesteile), Mauretanien, Sudan (vor der Unabhangigkeitserklarung des Sudsudan, nur in den nordlichen Landesteilen), Jemen, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate, droht die Todesstrafe.
Christentum Ein Teil der konservativen Christen, darunter auch romisch-katholische Christen, sehen – unter anderem – aufgrund mehrerer, von ihnen als eindeutig angesehener biblischer Verse (→ Bibeltexte zur Homosexualitat) praktizierte Homosexualitat als Sunde und starke gleichgeschlechtliche Anziehung als negativ an. Ihnen wird sowohl von lesbisch-schwulen Burgerrechtsorganisationen als auch von liberalen Christen und jungen amerikanischen Christen Homophobie und Intoleranz vorgeworfen.
So gaben in einer Umfrage der Barna Group, eines evangelikalen Meinungsforschungsinstituts aus den Vereinigten Staaten, uber die Meinung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 16 bis 29 Jahren (867 Teilnehmer) 91 % der Nicht-Christen (440 Teilnehmer) und 80 % der Kirchganger (305 Teilnehmer) an, dass „anti-homosexuell“ die diesbezugliche Einstellung des Christentums aus ihrer Wahrnehmung gut beschreibe. Neben der bekannten Opposition der Christen gegenuber Homosexuellen gaben beide Gruppen als Grunde fur diese Ansicht an, dass Christen ubertriebene Verachtung und lieblose Haltungen gegenuber Schwulen und Lesben hatten. In der Gruppe der jungen Christen war einer der meist erwahnten Kritikpunkte, dass die Kirchen aus der Homosexualitat eine „großere Sunde“ als alle anderen mache. Außerdem behaupten die jungen Christen, dass die Kirchen ihnen nicht geholfen hatten, die biblischen Lehren uber Homosexualitat mit ihren Freundschaften zu Schwulen und Lesben in Einklang zu bringen.
Selbst in konservativen christlichen „Hilfestellungen zur Veranderung“ wird auf die besondere Abneigung vieler hingewiesen:
Im Jahre 2007 fragte das Pew Research Center im Rahmen der U.S. Religious Landscape Survey Glaubige, ob eine homosexuelle Lebensweise von der Gesellschaft akzeptiert oder abgelehnt werden sollte (der Rest von 6 bis 14 % auf 100 % meinte anderes oder gab keine Antwort). Dabei ergab sich folgende Reihung: Zeugen Jehovas (12 % akzeptieren, 76 % lehnen ab), Mormonen (24 % / 68 %), evangelikale Kirchen (26 % / 64 %), Muslime (27 % / 61 %), historisch schwarze Kirchen (39 % / 46 %), Hindus (48 % / 37 %), Orthodoxe Kirchen (48 % / 37 %), Mainline-Kirchen (56 % / 34 %), romisch-katholische Christen (58 % / 30 %), andere Christen (69 % / 20 %), „Ungebunden“ (Atheisten, Agnostiker, sakulare Ungebundene, aber auch religiose Ungebundene; 71 % / 20 %), Juden (79 % / 15 %), Buddhisten (82 % / 12 %) und andere Glaubensrichtungen (84 % / 8 %). Der Durchschnitt lag bei 50 % Akzeptanz und 40 % Ablehnung. Die auffalligsten Veranderungen finden seit 2007 bei den Mormonen statt, unter anderem auch als Reaktion auf das starke Engagement der Mormonenkirche fur ein Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe in Kalifornien (Abstimmung „Proposition 8“, 2008). Nach Angaben des Pew Forums ist die Befurwortung der gleichgeschlechtlichen Ehe unter allen christlichen Gruppen sowie unter sakularen Ungebundenen gestiegen. So etwa unterstutzten im Jahr 2001 38 % der amerikanischen Katholiken und 30 % der schwarzen Protestanten die gleichgeschlechtliche Ehe, im Jahr 2014 stieg der Anteil auf 57 % bzw. 41 %. Christen lagen damit weiterhin hinter sakularen Ungebundenen, von denen 61 % im Jahr 2001 und 77 % im Jahr 2014 die gleichgeschlechtliche Ehe befurworteten.
In einer empirischen Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Religiositat und verschiedenen Vorurteilen wurde im Jahr 2007 eine reprasentative Stichprobe von Deutschen nach ihrer selbsteingeschatzten Religiositat („sehr religios“, „eher religios“, „eher nicht religios“, „uberhaupt nicht religios“) gefragt. Die uberwiegende Zahl der Befragten gehorte der evangelischen oder katholischen Kirche an. Das Ergebnis der Untersuchung war, dass mit der Religiositat Homophobie deutlich zunahm.
Eine 2011 im Berliner Journal fur Soziologie veroffentlichte Mehrebenenanalyse in 79 Landern ergab, dass religiose Personen eine durchschnittlich negativere Einstellung zu Homosexualitat und Homosexuellen haben als Atheisten. Dieser Effekt wird jedoch von der Religionszugehorigkeit moderiert. So sind z. B. Hindus weniger negativ gegenuber Homosexualitat und Homosexuellen eingestellt als Katholiken.
= Amateur- und Profi-Fußball =
= Homophobie unter Linken =
Vor 1945 Die politisch linken Gruppierungen haben eine zwiespaltige Geschichte und im Laufe der Zeit eine Wandlung durchgemacht. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Deutschlands wurde von der SPD und teilweise auch von der KPD zwar die Abschaffung des § 175 maßig unterstutzt, aber man beschaftigte sich ebenso wie die Anarchisten zum großten Teil nicht mit den eigenen homophoben Vorurteilen und instrumentalisierte sie immer wieder gegen politische Gegner. Homosexualitat wurde als Dekadenzerscheinung gesehen und mit den Klassen des Adels und der Bourgeoisie verbunden. In Russland beispielsweise wurde im Zuge der Revolution die Strafbarkeit von Homosexualitat abgeschafft, unter Josef Stalin aber wieder eingefuhrt. Die noch immer existierende Bezeichnung „Golubcik“ fur Schwule kommt von „Goluboj“ („Blau“) und wird mit dem „blauen Blut“ der Aristokratie, der Machthaber aus vorrevolutionarer Zeit, assoziiert. Innerhalb der deutschen Linken war Homosexualitat nicht akzeptiert. Man ging großteils davon aus, dass es sie in einer sozialistischen Gesellschaft einfach nicht mehr geben werde. Aber sie sollte straffrei sein. Samtliche moralischen Vorurteile gegenuber Homosexualitat waren immer auch im Kampf gegen Burgertum, Adel und schließlich auch den Faschismus virulent. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Affare um Friedrich Alfred Krupp (1902), der Harden-Eulenburg-Affare (1907–1909) und den Agitationen gegen Ernst Rohm (ab 1931).
Letzteres war ein großer Schritt zum Stereotyp des „homosexuellen Nationalsozialisten“. Dazu trug auch bei, dass im theoretischen Diskurs seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Mannlichkeitsideale, Fuhrerkult, Mannerbunde und die patriarchale Gesellschaftsordnung durch Homoerotik und Homosexualitat gepragt waren. Vor allem auch die deutschsprachige Exilpresse brachte Homosexualitat in Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus, explizit erstmals im August 1933 im von der Exil-KPD herausgegebenen Braunbuch uber Reichstagsbrand und Hitlerterror. Dort wurde auch durch manipulierte Fakten und den Einsatz von Klischees Marinus van der Lubbe, der angebliche Brandstifter des Reichstages, zum „Lustknaben“ erklart. Erste Meldungen uber die Verfolgung von Homosexuellen wurden von der Exilpresse als interne Streitigkeiten unter den Nationalsozialisten interpretiert. Der angebliche Zusammenhang zwischen Homosexualitat und Nationalsozialisten wurde auch mit vielen empirischen Berichten uber (teilweise angeblich) homosexuelle Nationalsozialisten zu untermauern versucht. Nur wenige traten gegen diese Darstellungen auf, wie etwa der selbst homoerotisch veranlagte Klaus Mann: „Man ist im Begriffe, aus ‚dem‘ Homosexuellen den Sundenbock zu machen – ‚den‘ Juden der Antifaschisten. Das ist abscheulich.“ Die Nationalsozialisten wiederum gingen unter anderem mit dem Vorwurf der Homosexualitat beispielsweise gegen Mitglieder der Wandervogelbewegung, Priester, Monche und Nonnen, (sozialistische) Juden und andere missliebige Personen vor. Speziell der sogenannte „Rohm-Putsch“ wurde propagandistisch verwendet, um gegen Homosexuelle offentlich Stimmung zu machen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren verschiedene Personen wegen ihrer Einsatze fur linke Ziele geachtet, ihre Aktivitat in der Schwulenbewegung aber lange Zeit totgeschwiegen, beispielsweise beim radikalen Antimilitaristen Kurt Hiller. Durch die Ruckbesinnung auf linke Faschismusanalysen der 1930er Jahre in der Folge der 68er-Bewegung wurde das Stereotyp des „homosexuellen Nationalsozialisten“ in Westdeutschland teilweise wiederbelebt. Dies findet sich etwa im Buch Mannerphantasien von Klaus Theweleit, wo er behauptet, „Mannerbunde“ neigen „zur Ausbildung ‚homosexueller Praktiken‘, die, selber aggressiver Art, zum Umklappen in jede andere Form der Aggressivitat fahig“ seien. Heute dagegen werden solche Dinge, wie etwa teilweise stark sexualisierte Initiationsriten in Mannerbunden, von der Soziologie und Psychologie anders bewertet und selbst als Akte mit homophobem Einschlag beschrieben. Viele anfangliche Aktivisten der zweiten Welle der Lesben- und Schwulenbewegung ab Ende der 1960er Jahre fuhlten sich der Linken politisch zugehorig, ohne aber von dieser aufgenommen zu werden. Die relevanten Themen wurden von der Mehrheit in diesen Kreisen nicht behandelt. Als Folge entstand eine eigenstandige Homosexuellenbewegung, die sich um lokale Gruppen und entstehende Schwulen- und Lesbenprojekte entwickelte, auch wenn es einzelne personelle Kontakte und Uberschneidungen gab. Mit der Zeit fand eine Verburgerrechtlichung der Homosexuellenbewegung statt. Eine Folge dieser Entwicklungen ist der sogenannte Tuntenstreit. Bei den neu entstandenen Grunen entwickelte sich erstmals eine große politische Unterstutzung. Danach wandelte sich auch die Einstellung der sozialistischen Parteien, und es stieg die Unterstutzung fur die Belange der Homosexuellenbewegung. Dazu beigetragen haben auch parteiinterne Themengruppierungen wie etwa die deutschen Schwusos. Einige Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion anderte sich auch die Einstellung einiger kommunistischer Parteien, wo es teilweise zur Modernisierung kam, und in den 2000er Jahren entstanden auch dort parteiinterne oder parteinahe Themen-Gruppen.
Ostblock und DDR nach 1945 In den der Sowjetunion nahestehenden „sozialistischen“ Landern wurde Homosexualitat oft als vor allem „kapitalistisches“ oder „westliches“ Ubel angesehen. In Landern wie Kuba oder China zeigt sich dies trotz Legalisierung und zunehmender Anerkennung noch bis heute. In der DDR wurde im Gegensatz zur Bundesrepublik in den Jahren 1948/49 die Verscharfung des § 175 aus dem Jahre 1935 prinzipiell als nationalsozialistisches Rechtsgut anerkannt und ab da großteils die Fassung aus der Weimarer Republik und zusatzlich der aus dem Nationalsozialismus stammende scharfere § 175a fur Beziehungen zu Jugendlichen angewandt. In den politischen Diskussionen um Gesetzesentwurfe zeigten sich aber immer wieder die Vorurteile der SED gegenuber Homosexuellen. Es wirkten sich auch die am Anfang dieses Abschnittes erwahnten Utopien von der „Uberwindung der Homosexualitat“ in der sozialistischen Gesellschaft und vom „Uberbleibsel“ abgewirtschafteter Klassen aus. Die Kommission zur Reform des Strafrechtes in den 1950er Jahren schrieb: „Uberreste der Vergangenheit konnen naturlich auch in diesen homosexuellen Erscheinungen bestehen. Das Wegfallen der sozialen Wurzeln reicht nicht aus. Wir mussen sie nicht bestrafen, sondern es ist festzustellen, ob Uberreste da sind und ob man sie bekampfen muss.“ Homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen waren durch ein Gerichtsurteil ab 1957 quasi straffrei, ab 1968 mit der Verabschiedung eines neuen Strafgesetzbuches auch laut Gesetz, und 1987 wurde eine besondere Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Kontakte komplett aufgehoben. Die Abschaffung der Strafbarkeit fuhrte aber nicht zu einer großeren Toleranz. Offen homosexuelles Leben war nahezu unmoglich. Auch in der Politik der SED spiegelten sich die widerspruchlichen Positionen der Arbeiterbewegung zur Homosexualitat wider. „Die von ihr propagierte sozialistische Gesellschaft favorisierte die lebenslange, monogame und reproduktive Ehe. Diese Norm bestimmte ihre Sexualpolitik und Sexualerziehung. […] Homosexuell-Sein hatte darin keinen Platz. Im gleichgeschlechtlichen Begehren, das frei wahlbar und gelebt werden konnte, sah die SED eine Gefahr fur die sozialistische Moral, fur das ‚Sittengefuhl der Werktatigen‘.“ Die Stasi uberwachte, wie alles, was sich unabhangig von der Parteilinie entwickelte, auch die kleine „Szene“. Eine sich in den 1970er Jahren entwickelnde Emanzipationsbewegung stieß beim Staatsapparat auf Widerstand, und Organisationen wurde eine Zulassung mit der Begrundung verweigert, Sexualitat sei Privatsache und folglich bestehe kein Bedarf an einer solchen Organisation. Erst mit Entstehen einer unabhangigen Oppositionsbewegung entstand ab den 1980er Jahren, meist unter dem Schutze der Kirche, eine politische Homosexuellenbewegung, die klarerweise wieder von der Stasi uberwacht wurde. Auf hochster Ebene wurde vom Ministerium fur Staatssicherheit ein Maßnahmenplan zum Umgang mit der Homosexuellenbewegung erarbeitet, der die Verhinderung jeder Organisation zum Ziel hatte.
Vorurteile Hinter Homophobie und antihomosexueller Gewalt in verschiedenen Formen stehen neben emotionaler Abwehr Kognitionen, Vorurteile und Fehlannahmen gegenuber Schwulen und Lesben. Simplifikationen uber „die Schwulen“ oder „die Lesben“ fuhren zu sozialen Stereotypen. Diese lassen sich definieren als die von einer Gruppe geteilten impliziten Personlichkeitstheorien hinsichtlich dieser oder einer anderen Gruppe. Neben der rein kognitiven Dimension ist dabei oft auch eine wertende Bedeutung festzustellen. „Stereotype sind ein Produkt aus der mentalen Rekonstruktion dessen, was von Individuen fur wirklich gehalten wird, wobei nicht deren Lebenserfahrungen, sondern auch deren Bedurfnisse, Wunsche und Absichten zum Ausdruck kommen.“ Generell wird mit Vorurteilen auf sehr spezifische Weise hantiert:
Diskriminierung von (mannlicher) Homosexualitat Nationale Umfragen und andere Untersuchungen haben ergeben, dass heterosexuelle Manner negativere Einstellungen gegenuber homosexuellen Mannern haben als heterosexuelle Frauen. Frauen machen keinen oder nur einen geringen Unterschied bei der Beurteilung von Lesben und Schwulen, Manner zeigen sich hingegen deutlich toleranter gegenuber Lesben als schwulen Mannern. Heterosexuelle Manner, die sich in ihrer Mannlichkeit bedroht fuhlen, reagierten in einer Untersuchung besonders negativ auf subjektiv als feminin wahrgenommene Homosexuelle.
In vielen Landern stellten oder stellen spezifische Strafgesetze nur mannliche Homosexualitat unter Strafe. Mit dem § 175 StGB des westdeutschen Strafgesetzbuchs gab es beispielsweise ein Sonderstrafgesetz, das nur sexuelle Handlungen zwischen Personen mannlichen Geschlechts unter Strafe stellte, bis 1969 als Totalverbot und bis 1994 als erhohtes Schutzalter. In Osterreich war der § 129 I StG (ab 1975 § 209 StGB) zu Zeiten des Totalverbots geschlechtsneutral formuliert, Frauen wurden jedoch um einiges seltener verurteilt, und ab 1971 bis 2002 galt das erhohte Schutzalter nur fur gleichgeschlechtliche Kontakte unter Mannern, ebenso wie bis 1989 das Prostitutionsverbot.
Homosexuelle Manner sind haufiger Opfer extremer Gewalt als Lesben. Homophobie kann gegenuber Frauen auch ganz spezifische physische Gewalt annehmen, etwa beim Corrective rape – einer Vergewaltigung als vorgeblichem „Heilungsversuch“. Durch eine strukturelle, weit verbreitete Homophobie in der Gesellschaft kann aus der Diskriminierung mannlicher Homosexualitat physische und psychische Gewalt werden. Haufig verletzt die Gewalt die Personlichkeitsrechte der Opfer und wird in Form von Straftaten begangen, hauptsachlich in Form von verbaler Anfeindung (Beleidigung §185 StGB), Mobbing (Uble Nachrede §186 StGB) und leichter, manchmal aber auch schwerer Korperverletzung (StGB §223).
Ursachen von Homophobie = Sozialpsychologische Perspektive =
Aus Sicht der Sozialpsychologie ist das soziale Erlernen von Vorurteilen und Stereotypen Ursache fur Homophobie. Sie werden bereits in der Sozialisation vermittelt. Dabei werden Vorurteile und Erwartungen der sozialen Umwelt (auch z. B. religiose Uberzeugungen) ubernommen. Sind Vorurteile und Stereotype einmal vorhanden, verstarken sie sich laufend selbst, indem man an Homosexuellen genau das selektiv wahrnimmt, was dem Stereotyp entspricht.
= Tiefenpsychologische Perspektive =
Die Anfalligkeit fur diesen sozialpsychologischen Mechanismus ist nicht bei allen Menschen gleich stark ausgepragt. Aus Sicht der Tiefenpsychologie dient Homophobie der Abwehr von Angsten, und das umso starker, je geringer das Selbstwertgefuhl eines Menschen ist, je geringer seine soziale Integration und je schlechter seine soziale Lage ist. Die Angste der diskriminierenden Menschen werden allerdings nicht direkt spurbar, weshalb die These, dass Angst die Hauptursache fur Diskriminierungen sei, fur viele zunachst schwer nachvollziehbar ist. Die Tiefenpsychologie benennt folgende unbewussten Angste und Bedurfnisse, die mithilfe von Homophobie aus dem Bewusstsein ferngehalten wurden:
Angst vor eigenen lesbischen bzw. schwulen Zugen
Die Angst vor homosexuellen Anteilen der eigenen Sexualitat sei einer der Grunde fur Diskriminierungen Homosexueller. Dafur sprachen auch Untersuchungen mit rechtsextremen Jugendgruppen, die Gewalt gegen Schwule ausuben und sich betont hart und mannlich geben (solche Jugendgruppen sind nicht mit „den Skinheads“ gleichzusetzen, die politisch sehr heterogen sind). Unterschwellige homoerotische Tendenzen, die es in solchen Mannerbunden auch gebe, wurden bei diesen Jugendlichen eine „weit uberdurchschnittliche Angst vor der eigenen Homosexualitat“ wecken. Rauchfleisch vertritt die Ansicht, dass es oft gar nicht so sehr um eigene homosexuelle Anteile gehe, sondern um die immer auch vorhandenen passiv-rezeptiven Anteile, die diese Jugendlichen falschlicherweise als Weiblichkeit verstehen und diese wiederum falschlicherweise als Homosexualitat. Der Angst vor eigenen homosexuellen Anteilen liege oft die noch großere Angst zugrunde, emotional beruhrt zu werden.
Angst vor sozialer Unsicherheit und Streben nach Macht
Menschen in einer sozio-okonomisch schwierigen Lage wurden allgegenwartige (heterosexistische) gesellschaftliche Normvorstellungen eher ubernehmen, da der Einklang mit solchen Normverstellungen einerseits Sicherheit vermittelt und andererseits mit Homosexuellen eine Gruppe gefunden ist, die vermeintlich noch schwacher ist.
Angst vor der Infragestellung zentraler Normvorstellungen
Homosexuelle Orientierungen und ein offen homosexuelles Leben forderten tradierte, konservative gesellschaftliche Normvorstellungen heraus. Nach sozialpsychologischen Untersuchungen von Adorno et al. habe jeder Mensch Tendenzen, auf ungewohnte Verhaltensweisen mit Verunsicherung und oft auch mit Aggressivitat zu reagieren. Hinzu komme, dass man diejenigen, die von den Regeln abweichen, nicht nur verachte oder hasse, sondern auch haufig unbewusst etwas um ihren Freiraum beneide.
Angst vor dem „Angriff“ auf die traditionelle Familie
Dass zwei Lesben oder zwei Schwule intim und partnerschaftlich zusammenleben, sei ein Affront aus Sicht von Menschen, die sich als einzige Form des Zusammenlebens die von Mann und Frau vorstellen konnen. Zwar pflegen heutzutage auch heterosexuelle Paare oft nicht die traditionelle Rollenhierarchie einer Kleinfamilie, aber diese Rollenhierarchie werde durch homosexuelle Paare sichtbarer infrage gestellt. Manner in einer Partnerschaft mit traditioneller Rollenverteilung fuhlten sich haufiger als Frauen davon bedroht, dass in homosexuellen Beziehungen die Rechte und Pflichten immer wieder neu ausgehandelt werden mussten und es dadurch keine festen Machtpositionen gebe.
Angst vor Infragestellung des gangigen Mannlichkeitsideals
Es geht hier nicht primar darum, dass manche Schwule sich effeminiert („feminin“) verhalten, sondern darum, dass Schwule oft auch ihre „weichen“ Seiten leben, die viele heterosexuelle Manner sich nicht erlauben, obwohl sie sie – so Rauchfleisch – gleichermaßen besitzen. Zudem fuhlten sich diejenigen heterosexuellen Manner, deren Verhaltnis zu anderen Mannern hauptsachlich von Rivalitat gepragt ist, oft davon provoziert, dass ein Schwuler mit einem anderen Mann emotional und intim verbunden ist. Die Befurchtung, dass traditionelle Geschlechterrollen und Mannlichkeit durch Homosexualitat drastisch infrage gestellt wurden, fuhre zu einer tiefgreifenden Verunsicherung der Betroffenen, die sie sich aber nicht eingestehen, sondern durch Abwertung Homosexueller abwehren.
Das „Abweichende“ schlechthin
Zum einen stellen Lesben und Schwule durch ihre sexuelle Orientierung und z. T. durch ihre Lebensweisen Normen infrage, so dass sie in eine Außenseiterposition gedrangt wurden. Zum anderen ist aus der Sozialpsychologie bekannt, dass Aggressionen, die eigentlich Autoritaten gelten, auf vermeintlich Schwachere, auf Minderheiten umgelenkt werden (s. o.: Adorno). Studien belegen, dass solche Aggressionen schnell auf andere Minderheiten verschoben werden konnen, beispielsweise auf Juden oder Auslander.
= Wissenschaftliche Untersuchungen =
Die These, dass Homophobie auch durch Abwehr eigener schwuler oder lesbischer Anteile verursacht werde, wird durch eine Untersuchung gestutzt, die Professor Henry E. Adams 1996 an der University of Georgia durchfuhrte. Es wurde die Anschwellung (Tumeszenz) mittels Phallografie gemessen. Dabei wurde festgestellt, dass 54,3 % der 35 homophoben Probanden (zum Vergleich: 24,1 % der 29 nicht homophoben Probanden) sexuell eindeutig erregt wurden beim Betrachten von Videos, die sexuelle Handlungen zwischen Mannern zeigten. An der Untersuchung nahmen insgesamt 64 Manner teil, die sich alle selbst als ausschließlich heterosexuell bezeichnet hatten.
Diese Untersuchungsergebnisse werden in der Psychologie so interpretiert, dass homophobe Einstellungen mancher Manner auch dadurch entstehen, dass sie sich mit eigener sexueller Erregung durch Manner nicht auseinandersetzen wollen. Die Frage nach vergleichbaren Untersuchungen mit weiblichen Probanden ist hier noch ungeklart, obwohl bei Frauen alle anatomischen Voraussetzungen gegeben sind. (Siehe auch den Abschnitt Diskriminierung von (mannlicher) Homosexualitat.)
Der Soziologe Robb Willer von der Cornell University uberprufte 2004 die maskuline Uberkompensationstheorie der Psychologie. Die Untersuchung zeigte, dass in ihrer Maskulinitat verunsicherte Manner starker zu Macho-Einstellungen neigen, was sich auch in einer erhohten Neigung zu Homophobie zeigte. 111 mannliche und weibliche Probanden fullten einen Fragebogen aus, der Ruckschlusse uber ihre Geschlechtsidentitat zulassen sollte. Man teilte die Probanden in zwei Gruppen und sagte ihnen unabhangig von den tatsachlichen Antworten, dass der Test auf eine eher mannliche oder weibliche Identitat schließen lasse. Danach wurden Einstellungsfragen gestellt, bei denen sich bei den Mannern die Auswirkungen des Feedbacks zeigten. In ihrer mannlichen Identitat erschutterte Probanden zeigten mehr Unterstutzung fur ein Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen, mehr Opposition zur Lesben- und Schwulenbewegung und sagten ofter, dass es falsch sei, homosexuell zu sein. Sie zeigten auch mehr Zustimmung zum Irakkrieg und mehr Interesse ausschließlich fur ein Sport Utility Vehicle (SUV) und keinen anderen Autotyp. Diese Einstellungen waren in einer fruheren Studie als „typisch mannlich“ identifiziert worden. Auch zeigten sie sich starker beschamt, schuldig, besturzt und feindselig. Bei Frauen anderte sich das Antwortverhalten in dieser Untersuchung nicht.
= Soziologische Perspektive =
Laut dem Sozialpsychologen Gregory M. Herek entsteht Homophobie aus der Befurchtung, die Anforderungen der mannlichen Geschlechterrolle nicht erfullen zu konnen, sowie der Angst vor einer Feminisierung des mannlichen Korpers. Herek sieht Homophobie als einen wesentlichen Teil heterosexueller Mannlichkeit. Homophobie – z. B. in Form von schwulenfeindlichen Beschimpfungen – wird insbesondere von mannlichen Jugendlichen verwendet, um sich geschlechtlich zu positionieren und ihre Mannlichkeit zu beweisen.
Gesellschaftskritische Analysen von Homophobie entstanden und entstehen vor allem im Umkreis der Queer Theory. Insbesondere die Arbeiten von Eve Kosofsky Sedgwick, Judith Butler und Mark Simpson sind diesbezuglich von Bedeutung.
Manche Beobachter fuhren homophobes Verhalten auf eine fehlende wirtschaftliche, technische, kulturelle bzw. intellektuelle Prosperitat zuruck.
Einordnung in andere negativ wahrgenommene Gruppen Im Jahre 2002 fuhrte die Forschungsgemeinschaft fur Konflikt- und Sozialstudien im Zuge einer Befragung auch eine Untersuchung uber „Hassgruppen“ in der deutschen Gesellschaft durch. Die Befragung erfolgte mittels postalisch zugesandter Fragebogen an zufallige Adressen aus einer Kartei, von denen 1.846 zuruckgesandt wurden. In den angewandten Fragestellungen ging es um vorstellbare Begegnungen in der Lebenswelt und um dabei auftretende „spurbare Abneigungen“. Die Einstellungen, Vorurteile und Stereotype konnen die Basis fur diskriminierendes, ausschließendes und aggressives Verhalten sein. Die Mehrheit der Antworten (80 %) stammten aus dem Osten Deutschlands, ein Teil aus dem Westen Deutschlands (20 %), wobei sich in dieser Untersuchung in der Haufigkeit der Ablehnung keine großen Unterschiede zeigten. Quantitativ zeigte sich eine Hierarchie der „Hassgruppen“:
Personen mit rechtsradikalem Outfit lehnten 82 % der Befragten ab
Drogenabhangige wurden von 70 % der Befragten abgelehnt
Ein Mix aus Einwanderern aus Osteuropa, Haftentlassenen, Menschen arabischer Herkunft, Personen turkischer Herkunft, Obdachlosen, Menschen, die reich aussehen, Menschen mit HIV-Infektion, Schwulen und Lesben, Straßenkindern, Auslandern allgemein wurde von 50 % bis 20 % der Befragten abgelehnt.
Ein Mix aus Menschen judischer Herkunft, mit dunkler Hautfarbe oder asiatischer Abstammung, Menschen, denen man Armut ansieht, wurde von 20 % bis 15 % abgelehnt.
Ein Mix aus Arbeitslosen, jungen Menschen, Menschen mit Behinderung und alten Menschen wurde zwischen 15 % und 6 % abgelehnt.
Allgemein wurde festgestellt, dass die Grunde fur Abneigung nicht Unterschiedlichkeit, Aussehen oder negatives Verhalten der Gruppen waren, sondern dass Gefuhle wie Angst und Furcht gegenuber Menschen, die anders sind, großen Einfluss haben. Die Betroffenen furchten um den Verlust ihrer eigenen Kultur, ihrer Normen und ihrer Werte, um ihre Identitat. Die Mitglieder anderer Gruppen werden abgewertet, um den Status und Wert der eigenen Gruppe zu starken. Bei dem Mix der dritten Kategorie waren die meisten angegebenen Grunde:
Ich habe personlich negative Erfahrungen mit ihnen gehabt (34 %).
Ihr Außeres gefallt mir nicht. (31 %)
Ich mag sie einfach nicht. (27 %)
Sie leben wie Parasiten. (26 %)
Sie sind mir irgendwie zu fremd. (21 %)
Unterteilt man die einzelnen Gruppen in „ethnisch-kulturelle“ Merkmale, „biologische“ Merkmale (Homosexuelle, junge Menschen, Menschen mit Behinderung, alte Menschen), „verschiedene soziale Positionierung“ und Gruppen mit „besonderem Verhalten“, so sind die Top-Ablehnungsgrunde fur die „biologische“ Gruppe:
Sie sind gefahrlich.
Sie passen sich nicht der Allgemeinheit an.
Sie haben ein schlechtes Benehmen.
Auf den letzten Platzen rangieren allgemein Arbeitsmarktkonkurrenz und personliche Erlebnisse. Dies zeigt sich auch bei der Gruppe der Schwulen und Lesben:
Phanomenbeschreibung und Erklarungsmodell Homophobie ist eine Form kollektiver Angst in kulturellen Gesellschaften und Gruppierungen, die ihr durch strikte Geschlechtsunterscheidungen und starre Rollenverteilungen gepragtes Weltbild durch gleichgeschlechtliche Empfindungen und Verhaltensweisen bedroht sehen. Da ein Teil der Menschen (nach zahlreichen statistischen Untersuchungen zwischen 5 und 10 %) aufgrund ihrer psychosexuellen Veranlagung diesen Rollenerwartungen nicht entsprechen kann, richtet sich die Homophobie in Form von Hass und Aggression gegen diese Minderheit mit dem Ziel ihrer Beseitigung. Diese Tendenz kann sich in unterschiedlichster Form gegenuber den Normabweichlern außern: in Verachtlichmachung, Ekel und sozialer und beruflicher Ausgrenzung, in dem Ruf nach Bestrafung oder Umerziehung, in der Suche nach Verhinderungsmethoden (z. B. hormonelle Behandlung von Schwangeren, siehe Gunter Dorner) oder therapeutische Behandlung (versch. Psychotherapien, Elektroschocktherapie usw.) bis hin zur Totung (Hexenverfolgung, Vernichtung durch Arbeit im Dritten Reich, Hinrichtungen in verschiedenen arabischen Landern, Fememorde auch in Deutschland). Homophobie wird so zum dauerhaften gesellschaftlichen Problem, deren Verbreitung hauptsachlich von der privilegierten heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft durch Solidaritat, also ein Eintreten gegen Homophobie verhindert werden kann: Durch Einspruch, wenn homophobes Gedankengut verbreitet wird, durch Antidiskriminierungsgesetze und permanente Aufklarung, vor allem in den Schulen.
Zum individuellen Problem wird die Homophobie insofern, als sie sich gegen die in fast jedem Menschen (in unterschiedlicher Starke) vorhandenen gegengeschlechtlichen Anteile (siehe Kinsey-Skala) richtet und ein stark homophob gepragtes Individuum zur Abspaltung dieser Anteile und ihrer Verdrangung ins Unbewusste und/oder zur Projektion auf andere zwingt. Gelingt das nur teilweise oder gar nicht, entsteht Selbsthass, der sich zerstorerisch gegen die eigene Person richtet, aber auch Hassreaktionen gegen andere auslosen kann, die gleichgeschlechtliches Verlangen in dem Individuum auslosen.
Die gesellschaftliche Homophobie wird besonders gefahrlich dadurch, dass die Abscheu vor gleichgeschlechtlichen Empfindungen unter ihrem Einfluss von den Kindern schon vor der Pubertat verinnerlicht und mehr oder weniger fester Bestandteil ihrer Personlichkeitsstruktur wird. Mit dem Erwachen der genitalen Sexualitat in der Pubertat sind diese Kinder und Jugendliche zur Aufrechterhaltung ihres Selbstwertgefuhls gezwungen, sich durch immer starkere homophobe Abwehrmechanismen vor den eigenen Gefuhlen zu schutzen, was wiederum Hassprojektionen in verschiedene Richtungen (nicht nur gegen Homosexuelle) auslost und bis zu einzeln oder kollektiv begangenen Gewaltexzessen (zum Beispiel „Schwulenklatschen“) oder gar zu Totungshandlungen fuhren kann. Ist der eigene gleichgeschlechtliche Triebanteil eines homophob gepragten Individuums so stark, dass ihm die Abwehrmechanismen nicht standhalten, kann es (besonders unter dem Einfluss religioser Schuldgefuhle) zu Autoaggressionshandlungen wie genitale Selbstverstummelungen und Selbstmord kommen, was in unserem Kulturkreis selten geworden ist.
Da pubertierende Jugendliche ihre Identitatssuche an den Rollenerwartungen ihrer jeweiligen Peergroups und ihres sozialen Umfeldes und an der veroffentlichten Meinung in den von ihnen bevorzugten Massenmedien ausrichten und diesen noch keine selbstbestimmten Werte entgegensetzen konnen, sind sie homophoben Einflussen besonders schutzlos ausgeliefert. Besonders gefahrdet, homophoben Einflussen und Vorurteilen zu erliegen, sind derzeit in der Bundesrepublik Jugendliche aus Kulturkreisen mit stark religios fundierter Homophobie.
Gegenaktionen Nachdem die erste Welle der Homosexuellenbewegung in Europa durch die Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg zum Stillstand gekommen war und die durch Anpassung Anerkennung suchende Homophilenbewegung der 1950er und 1960er Jahre in den USA und in Europa keine besonderen gesellschaftlichen Veranderungen brachte, wehrten sich in der Nacht vom 27. zum 28. Juni 1969 im Stonewall Inn in New York City erstmals Schwule gegen die herabwurdigende und beleidigende Behandlung durch Polizisten. Dieses Ereignis und die darauffolgenden Demonstrationen gingen als „Stonewall“ in die Geschichte ein und initiierten die zweite Phase der Lesben- und Schwulenbewegung. In den 1970er Jahren grundeten Verwandte und Freunde von Homosexuellen in den USA eine Bewegung namens „Straight Ally“ (ubersetzt in die deutsche Sprache als „heterosexuelle Verbundete“), die sich als heterosexuell und cisgender erkennen, aber den Kampf gegen die Homophobie unterstutzen.
Das Europaische Parlament hat am 18. Januar 2006 eine Entschließung zu Homophobie in Europa verabschiedet. Es „verurteilt scharfstens jede Diskriminierung auf der Grundlage der sexuellen Ausrichtung“.
Am 17. Mai wird jahrlich der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie begangen.
Siehe auch Liste queerfeindlicher Anschlage und Angriffe
Homosexualitat in der Zeit des Nationalsozialismus
Homophilenbewegung
Heteropatriarchat
Hegemoniale Mannlichkeit
Androzentrismus
Strukturelle Diskriminierung, Allport-Skala, Vorurteil, Stereotyp, Othering
Identifikation (Psychologie), Queer-Theorie, Sexismus
Antischwule Gewalt
Mahmoud Asgari und Ayaz Marhoni
Yogyakarta-Prinzipien
Literatur Eric Anderson: Openly gay athletes: Contesting hegemonic masculinity in a homophobic environment. In: Gender & Society. Band 16, Nr. 6, Dezember 2002, S. 860–877 (englisch).
Ian Ayres, Jennifer Gerarda Brown: Straightforward: how to mobilize heterosexual support for gay rights. Princeton Univ. Press, Princeton NJ u. a. 2005 (englisch).
Sam Dick: Homophobic hate crime. The Gay British Crime Survey 2008 (englisch; PDF: 163 kB, 40 Seiten auf stonewall.org.uk (Memento vom 21. Januar 2009 im Internet Archive)).
Dictionnaire de l’homophobie. Publ. sous la dir. de Louis-Georges Tin. Presses Univ. de France, Paris 2003 (franzosisch).
Patrick Hamm u. a.: Bewegte Manner: Das schwule Buch zum Sport. Jackwerth, Koln 1996, ISBN 3-932117-23-9.
Gregory M. Herek: Beyond “Homophobia”: Thinking About Sexual Prejudice and Stigma in the Twenty-First Century. In: Sexuality Research & Social Policy. Band 1, April 2004, S. 6 ff. (englisch; online auf springer.com).
David K. Johnson: The Lavender Scare: The Cold War Persecution of Gays and Lesbians in the Federal Government. University of Chicago Press, Chicago 2004 (englisch).
Susanne zur Nieden (Hrsg.): Homosexualitat und Staatsrason. Mannlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900–1945. Campus, Frankfurt am Main / New York, NY 2005
Adrienne Rich: Compulsory Heterosexuality and Lesbian Existence. 1980, zuerst in: Signs 5, S. 631–660; deutsch: Zwangsheterosexualitat und lesbische Existenz. In: Dagmar Schulz (Hrsg.): Macht und Sinnlichkeit. Ausgewahlte Texte von Audre Lorde und Adrienne Rich. Orlanda Frauenverlag, Berlin 1993, S. 138–168 ISBN 3-922166-13-X.
Gayle Rubin: Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality. In: Henry Abelove u. a. (Hrsg.): The Lesbian and Gay Studies Reader. Routledge, New York 1993 (englisch; Erstveroffentlichung 1984).
Evelyn Schlatter: 18 Anti-Gay Groups and Their Propaganda. In: Southern Poverty Law Center. Intelligence Report, Nr. 140, Winter 20210 (englisch; online).
Themenheft: Homophobe Traditionen – Verfolgung von Lesben und Schwulen im Nationalsozialismus. In: LaG-Magazin. Nr. 3, 10. Marz 2010 (online bei Lernen aus der Geschichte).
Jens Thomas: Ich bin nicht schwul, und das ist auch cool so. Homophobie im deutschen HipHop: Sexismus in Reinform oder Fiktion nach Maß? In testcard. Nr. 17: »Sex«, Ventil, Mainz 2008, ISBN 978-3-931555-16-0 (teilweiser Vorabdruck bei heise.de).
George Weinberg: Society and the Healthy Homosexual. St. Martin’s Press, New York 1972 (englisch; wiederaufgelegt 1983).
Stereotyp „homosexuelle Nazis“:
Jorn Meve: Homosexuelle Nazis: ein Stereotyp in Politik und Literatur des Exils. Selbstverlag, 1990; Mannerschwarm, 1995, ISBN 3-928983-02-4.
Alexander Zinn: Die soziale Konstruktion des homosexuellen Nationalsozialisten. Zu Genese und Etablierung eines Stereotyps. Peter Lang, Frankfurt am Main / New York 1997, ISBN 3-631-30776-4.
Weblinks Norbert Mappes-Niediek: Wie Osteuropa homophob wurde. In: Deutsche Welle. 12. Februar 2021.
Batz: Pimmelzwang und Seifenblasen: Kurzgeschlossenes zum Tag gegen Homophobie. (Memento vom 18. Mai 2008 im Internet Archive) 17. Mai 2008.
Alexander Zinn: Schwule Nazis: Homosexuelle in Presse und Propaganda der Linken. (Memento vom 31. Juli 2010 im Internet Archive) In: schwule-nazis.lsvd.de. 2008.
Ulrich Dehne: Diskriminierung: „Ich kenne schwule Nationalspieler“. In: Zeit online. 23. November 2006.
Thomas Kraemer: Society and the Healthy Homosexual. In: GayToday.com. 10. November 2003 (englisch; Buchbesprechung zu George Weinberg 1972).
Einzelnachweise und Anmerkungen
|
Homophobie (von altgriechisch homos „gleich“, und, uber „Phobie“, von phobos „Furcht, Schrecken, Flucht“) bezeichnet eine gegen lesbische und schwule Personen gerichtete soziale Aversion (Abneigung) oder Aggressivitat (Feindseligkeit). Homophobie wird in den Sozialwissenschaften zusammen mit Erscheinungen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus unter die Begriffe Queerfeindlichkeit und noch weiter unter gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit gefasst und ist demnach nicht krankhaft abnorm bedingt. Als Lesbophobie wird ein sich mit Homophobie uberschneidendes, sexistisches Verhalten gegenuber lesbischen Frauen bezeichnet, eine doppelte Diskriminierung der davon betroffenen Frauen.
Homophobes Verhalten und andere diskriminierende Handlungen stehen teilweise in einem engen Zusammenhang zur Transphobie (Transfeindlichkeit), insbesondere wenn Menschen die vermeintliche Homosexualitat einer Person an deren Abweichung von als geschlechtstypisch geltenden Verhaltens- und Ausdrucksweisen zu erkennen glauben.
Der Begriff Homofeindlichkeit wird oft synonym zu Homophobie verwendet. Gelegentlich wird allerdings argumentiert, dass Homofeindlichkeit der geeignetere Begriff sei, da „Phobie“ eine tatsachliche oder vermeintliche Angst unterstelle und den Hass, mit dem sich Homosexuelle teilweise konfrontiert sehen, verharmlose.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Homophobie"
}
|
c-13962
|
Als Anthroposophie (von altgriechisch ανθρωπος anthropos „Mensch“ und σοφια sophιa „Weisheit“) werden eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begrundete, weltweit vertretene spirituelle und esoterische Weltanschauung sowie der zugehorige Ausbildungs- und Erkenntnisweg bezeichnet. Die Anthroposophie verbindet Elemente des deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, der Gnosis, christlicher Mystik, fernostlicher Lehren sowie der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Steiners Zeit miteinander. Eine Hauptquelle der anthroposophischen Lehre bildet die okkulte „Geheimwissenschaft“,
die Rudolf Steiner nach eigenen Aussagen aus Erforschungen einer fur ihn bestehenden geistigen Welt, mit Hilfe von „Hellseherorganen“, erlangt habe.
Ein zentraler Aspekt war und ist eine Anwendung des Evolutionsgedankens auf die spirituelle Entwicklung. Dabei verarbeitete Steiner evolutionare Ansatze sowohl des Darwinisten Ernst Haeckel als auch der modernen Theosophie, wie sie Helena Petrovna Blavatsky vertrat. Die Anthroposophie sucht – im Gegensatz zu Vertretern eines rein sakular naturwissenschaftlich orientierten Fortschrittsgedankens – die Menschheit und ihre Entwicklung spirituell und ubersinnlich zu verstehen, setzt sich dabei aber von der Theosophie und ihrer Orientierung an der ostlichen Religiositat ab. Die Einbeziehung und Neuinterpretation der Evolution fuhrte ebenso wie bei Haeckel und anderen Zeitgenossen Steiners zu Kontroversen um mogliche sozialdarwinistische und rassistische Aspekte.
Angeregt von Steiners Ideen existiert in vielen Bereichen eine „Anwendungs-Anthroposophie“, zum Beispiel die Anthroposophische Architektur, die Waldorfpadagogik, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die anthroposophische Medizin, anthroposophische Naturkosmetik und Die Christengemeinschaft.
Begriff und Wirkung Rudolf Steiner verstand unter Anthroposophie einerseits eine umfassende („kosmologische“) Anschauung des Menschen und der Welt, die er als Lehre vertrat und verbreitete, andererseits einen Erkenntnisweg als eine wissenschaftliche Methode zur Erforschung des Ubersinnlichen („Geistigen“). Die Bezeichnung „Anthroposophie“ wahlte er als Kontrast zum Begriff der „Anthropologie“. Letztere behandele dasjenige, was fur den Menschen durch seine Sinne und den sich an die Sinnesbeobachtung haltenden Verstand uber die Welt erfahrbar sei; erstere dagegen beinhalte das „Wissen des Geistesmenschen“ und erstrecke sich auf alles, was dieser in der „geistigen Welt“, d. h. im Ubersinnlichen, wahrnehmen konne.
Synonym zu der Bezeichnung „Anthroposophie“ verwendete Steiner auch andere Begriffe wie „Theosophie“, „Geheimwissenschaft“ oder „Geisteswissenschaft“, um seine Lehre und seine „Forschungsmethode“ zu kennzeichnen. Von „Theosophie“ sprach er jedoch nur wahrend seiner Tatigkeit im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft (1902–1913). „Geisteswissenschaft“ war dagegen auch spater noch eine von ihm gebrauchte synonyme Bezeichnung fur seine Weltauffassung. Dabei knupfte Steiner augenscheinlich an Wilhelm Dilthey, den Begrunder der Lebensphilosophie, an, auf dessen „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ er sich an verschiedenen Stellen zustimmend bezog. Anders als bei Dilthey wird in der Anthroposophie unter Geisteswissenschaft ein methodisch geschulter ubersinnlicher Erkenntnisgewinn verstanden. Steiner nahm an, durch systematisches Uben lasse sich die Denkkraft trainieren wie ein Muskel. In der Aufsatzserie Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten? legte er 1904/05 dar, wie durch Konzentration und Meditation unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers ein intuitives Schauen „hoherer Spharen“ erreicht werden konne. Diese Methodik griff auf Buddhismus, Yoga und die Theosophie Helena Petrovna Blavatskys zuruck.
Den Begriff „Anthroposophie“ hat Steiner als Titel einer Fragment gebliebenen Schrift aus dem Jahre 1910 verwendet (Gesamtausgabe [GA] 45). Anthroposophie ist fur Steiner dabei die Schaffung eines Bewusstseins des Menschentums. Es geht ihm um die Formulierung einer umfassenden Erkenntnistheorie zur menschlichen Bewusstwerdung. Da nach Steiner die dualistische Trennung von „Ich“ und „Welt“ im Erkenntnisakt uberwunden wird, will seine Anthroposophie Anleitung zur „Selbst- und Welterkenntnis des Menschen“ zugleich bieten. Dies ist das monistische Programm des anthroposophischen Erkenntnisweges, das – mit Friedrich Nietzsche und Max Stirner – einen freien, individualistisch gepragten Menschen voraussetzt. Diese Spielart des Monismus vereinigt Naturerkenntnis und anthroposophische Geist-Erkenntnis, indem die Natur und die geistige Welt als Teilbereiche einer Welt betrachtet werden.
Die Anthroposophie hatte und hat bedeutende Anhanger uberwiegend aus dem Bereich des Kulturlebens, namentlich der Kunst, darunter die bildenden Kunstler Joseph Beuys, Wassily Kandinsky, Oscar Luthy und Franz Marc, den Komponisten Viktor Ullmann, den Komponisten und Musikwissenschaftler Peter-Michael Riehm und den Dirigenten Bruno Walter, die Schriftsteller Saul Bellow, Andrej Bely, Michael Ende und Christian Morgenstern. Sympathisanten waren etwa Alexej (von) Jawlensky, Jorge Luis Borges, Piet Mondrian, Richard Neutra, Le Corbusier, Henry van de Velde, Frank Lloyd Wright, Eero Saarinen, Erich Mendelsohn und Hans Scharoun (siehe auch Organische Architektur). Von den heute lebenden Architekten bezeichnet vor allem Frank Gehry Steiner als Inspirationsquelle.
Uber den Kreis der direkten Anhanger hinaus ist ein Einfluss Steiners feststellbar. Hermann Hesse, der ein distanziertes Verhaltnis zu Steiners Lehre hatte, veroffentlichte etwa 1926/1927 verschiedene Gedichte in der Zeitschrift Individualitat, die von dem anthroposophischen Grundungsmitglied und zeitweiligen Steiner-Sekretar Willy Storrer herausgegeben wurde. Auch Paul Klee rezipierte Steiner mit kritischer Distanz. Ein Teil dieses Einflusses Rudolf Steiners auf verschiedene Kunstrichtungen wird erst allmahlich aufgearbeitet.
Begriffsgeschichte Die Bezeichnung „Anthroposophie“ wurde bereits in der fruhen Neuzeit verwendet. In einem anonymen Buch mit dem Titel Arbatel de magia veterum, summum sapientiae studium (1575), das dem Philosophen und Theologen Agrippa von Nettesheim zugeschrieben wird, wird Anthroposophie (ebenso wie Theosophie) der „Wissenschaft des Guten“ zugerechnet und mit „Kenntnis der naturlichen Dinge“ bzw. „Klugheit in menschlichen Angelegenheiten“ ubersetzt. 1648 erschien die Anthroposophia Theomagica des walisischen Philosophen Thomas Vaughan.
Anfang des 19. Jahrhunderts pragte der Schweizer Arzt und Philosoph Ignaz Troxler (1780–1866) den Begriff „Anthroposophie“ in Anlehnung an seine Biosophie (Elemente der Biosophie, 1806). Im Sinne der Vorlaufer der Lebensphilosophie, vor allem des Naturphilosophen Schelling, bei dem Troxler studiert hatte, sollte Biosophie „Naturerkenntnis durch Selbsterkenntnis“ bedeuten. Die Erkenntnis der menschlichen Natur nannte Troxler Anthroposophie. Die Philosophie – und alle Philosophie sei Naturerkenntnis – muss ihm zufolge zur Anthroposophie werden. Diese wird als eine „objektivierte Anthropologie“ vorgestellt, die vom „ursprunglichen Menschen“ ausgehen soll. In der menschlichen Natur vereinen sich demzufolge in einem mystischen Vorgang Gott und Welt.
Auch Immanuel Hermann Fichte verwendete das Wort Anthroposophie 1856 in Anthropologie – Die Lehre der menschlichen Seele und bezeichnete damit eine „grundliche Selbsterkenntnis des Menschen“, die „nur in der erschopfenden Anerkenntnis des Geistes“ liege. Wahrhaft grundlich oder ergrundend konne sich der „Menschengeist“ aber nicht erkennen, ohne damit der „Gegenwart oder Bewahrung des gottlichen Geistes an ihm inne zu werden“.
Der Religionsphilosoph Gideon Spicker, der eine „Religion in philosophischer Form auf naturwissenschaftlicher Grundlage“ anstrebte und den Konflikt zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Naturwissenschaft als das Grundproblem seines Lebens und Denkens ansah, formulierte das Programm einer Anthroposophie, ebenfalls im Sinne „hochster Selbsterkenntnis“. Spickers Ideal umfasste in der Religion die Einheit von Gott und Welt als selbstverantwortete Erkenntnis unter Anwendung von Vernunft und Erfahrung.
Der osterreichische Philosoph und Herbartianer Robert Zimmermann (1824–1898), Schopfer der „Philosophischen Propadeutik“, wahlte die Bezeichnung „Anthroposophie“ 1882 als Titel einer Programmschrift, die ein System idealer Weltsicht auf realistischer Grundlage zu beschreiben suchte (Anthroposophie im Umriß, 1882). Zimmermann, bei dem Steiner Philosophie-Vorlesungen horte, wollte in seinem System uber die „Schranken und Widerspruche, die der gemeine Erfahrungsstandpunkt in sich tragt“, hinausgehen und eine „Philosophie des Menschenwissens“ errichten, die als Wissenschaft von der Erfahrung ausgeht, aber uber sie hinausreicht, wo es das logische Denken erfordert.
Rudolf Steiner verwendete den Namen „Anthroposophie“ zunachst in sehr freier Weise. So hielt er 1902 in dem von ihm geleiteten Berliner Literatenkreis Die Kommenden eine Vortragsserie mit dem Titel: Von Zarathustra bis Nietzsche. Entwicklungsgeschichte der Menschheit anhand der Weltanschauungen von den altesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie. Uber den Inhalt dieser Vortrage ist nichts Naheres uberliefert. Parallel dazu sprach er erstmals offentlich (im Rahmen des Giordano-Bruno-Bunds) uber die von da an durch ihn vertretene Theosophie (Titel: Monismus und Theosophie), wobei er inhaltlich an Immanuel Hermann Fichte anknupfte. Im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft benutzte Steiner die Bezeichnung „Anthroposophie“ erstmals 1909, und zwar fur eine erweiterte Sinneslehre, die er neben die schon existierende Theosophie stellte, „ahnlich wie im Mittelalter neben die Theologie die Anthropologie“ gestellt wurde (Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie, GA 115). Nachdem er 1902 eine historische Betrachtung von Weltanschauungen „Anthroposophie“ genannt hatte, entwickelte er jetzt unter demselben Namen also eine Sinneslehre, welche die bekannten funf Sinne durch funf weitere Sinne erganzte und so eine Brucke zwischen Theosophie und Anthropologie bilden sollte. Zur Wortgeschichte merkte er dabei an: „Das Wort ist schon einmal gebraucht worden. Robert Zimmermann hat eine Anthroposophie geschrieben, aber er unternahm sie mit hochst unzulanglichen Mitteln […]. Er hat sie herausgesponnen mit den ausgesogensten, abstraktesten Begriffen, und dieses Gespinst war dann seine Anthroposophie.“ Eine schriftliche Fassung seiner „anthroposophischen“ Sinneslehre brachte Steiner nicht zu Ende; sie wurde posthum als Fragment publiziert (Anthroposophie – ein Fragment, GA 45).
Als es 1913 zum Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft kam und Steiner eine neue Bezeichnung fur das wahlen musste, was er bisher als „Theosophie“ vertreten hatte, entschied er sich fur „Anthroposophie“.
Anthroposophie bei Rudolf Steiner „Anthroposophie“ bezeichnet bei Steiner zum einen seine Lehren, zum anderen die von ihm dafur in Anspruch genommene Methode der Erkenntnisgewinnung. 1908 definierte er:
Steiner ubernahm die Grundlagen dieser Lehre aus der anglo-indischen Theosophie der Okkultistin Helena Blavatsky. Außerdem knupfte er an die christliche Mystik, das Rosenkreuzertum und die idealistische Philosophie an. Aufgrund dieser Verbindung unterschiedlicher Strome wurde sie von Kritikern schon zu Steiners Lebzeiten etwa als synkretistische Weltanschauung, eklektischer Mystizismus oder Obskurantismus eingeordnet. Sie beinhaltet einen umfassenden („kosmischen“) Evolutionsbegriff sowie ein vielschichtiges Bild von Reinkarnation und Karma.
Steiners Erkenntnisse entstammten nach seinen Angaben einer ihm seit seiner Kindheit bewussten und von ihm methodisch vertieften geistig-ubersinnlichen Schau. In seinem philosophischen Fruhwerk hatte er einen erkenntnistheoretischen Monismus entwickelt, der auf einer Auseinandersetzung mit Kant (Kritik der reinen Vernunft) und dem Neokantianismus beruhte. Steiner pladierte fur einen „ethischen Individualismus“, der in Max Stirners Schriften sowie dem individualistischen Anarchismus von Benjamin Tucker und John Henry Mackay Verwandtes findet. Weitere Einflusse sind Goethe, Hegel (Phanomenologie), J. G. Fichte (deutscher Idealismus), Nietzsche und Haeckel (Evolutionstheorie). Deren Lehren wurden von Steiner selektiv, individuell und eklektizistisch herangezogen und ausgelegt (Wahrheit und Wissenschaft, 1892, und Die Philosophie der Freiheit, 1894).
Ab 1902 trat Steiner im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft esoterisch und christlich auf. Die Frage, inwieweit dies einer Wandlung in seinem Leben (er selbst spricht von einem „Erweckungserlebnis“) zuzuschreiben ist, ist – auch unter Anthroposophen – nicht entschieden. Auch wie sich die Wende philosophisch auf Steiners Gesamtwerk ausgewirkt hat, konnte nicht abschließend geklart werden. Steiner selbst bezeichnete seine Anthroposophie als konsequente Weiterentwicklung seines Fruhwerks, nahm aber auch offen Bezug auf die christliche Mystik und das Rosenkreuzertum. Auch Elemente der blavatskyschen Theosophie fanden vorubergehend Eingang in Steiners Darstellungen, wobei er jedoch von Anfang an betonte, seine Lehre unabhangig von der Blavatskys entwickelt zu haben.
Nach Steiner befindet sich der Mensch (und die gesamte, also auch die geistige Welt) in bestandiger Entwicklung (Evolution). Das Ziel des anthroposophischen Schulungsweges sei es, durch Meditation, Selbsterziehung und Beobachtung auf einer lebenslangen „Suche“, hohere Bewusstseinsebenen zu erreichen. Dieser Schulungsweg sei individuell auszugestalten und konne von jedem Menschen beschritten werden.
Die anthroposophische Bewegung ist soziologisch, weltanschaulich-religios und politisch sehr heterogen. Als spirituelle Ausrichtung gaben Menschen mit einem anthroposophischen Lebensstil in einer Befragung etwa 64 % an christlich zu sein, etwa 17 % hinduistisch und etwa 1 % muslimisch. Die Interpretation von Steiners Werk ist auch aufgrund der verschiedenen Themengebiete und des großen Umfangs (28 Schriften und ca. 5.900 Vortrage) innerhalb der Anthroposophie nicht einheitlich.
Geschichte = Zu Lebzeiten Rudolf Steiners =
Im Oktober 1902 wurde in Berlin eine deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar (Adyar-TG) gegrundet, einer von etlichen konkurrierenden theosophischen Gruppierungen, die in Deutschland bis dahin durch zehn „Logen“ vertreten war. Als Generalsekretar wurde der Philosoph und Goethe-Forscher Rudolf Steiner gewahlt, der zuvor nur als Vortragsredner in der Berliner Theosophischen Bibliothek von Sophie Grafin und Cay Graf von Brockdorff in Erscheinung getreten war und wohl als Kompromisskandidat herangezogen wurde, weil keines der alteren, untereinander zerstrittenen Mitglieder eine Mehrheit erhalten konnte.
In Steiners Biographie stellte das eine außerordentliche Wendung dar. Er hatte sich bis dahin als Philosoph, Goethe-Herausgeber, Buchautor, Publizist, Redakteur und Vortragsredner zu vielfaltigen Themen geaußert, aber zur Religion immer eine kritische Distanz gewahrt. Erst recht hatte er der stark von orientalischen Lehren beeinflussten Theosophie ablehnend gegenubergestanden. Was Steiner in der zweiten Halfte von Die Philosophie der Freiheit (Version 1894) als ethische Konsequenz seiner Voraussetzungen entwickelte, konne „in vollkommener Ubereinstimmung“ mit dem Stirnerschen Werke Der Einzige und sein Eigentum gesehen werden. Auch war er als begeisterter Anhanger der Religionskritiker Ernst Haeckel und Friedrich Nietzsche hervorgetreten. Jetzt aber ubernahm er die Leitung der Adyar-Theosophen in Deutschland und begann, eine eigene Spielart der Theosophie auszuarbeiten, wobei er an die christliche Mystik und andere Traditionen des europaischen Geisteslebens anknupfte, aber auch Elemente der vorhandenen theosophischen Lehre ubernahm.
Diese erstaunliche Wendung im Leben Steiners gab Anlass zu vielfaltigen Deutungen. Steiner selbst beschrieb in seiner Autobiographie einen „tiefgehenden Umschwung“ in seinem seelischen Erleben in den Jahren vor der Jahrhundertwende und bezeichnete diese als eine „Prufungszeit“ mit „harten Seelenkampfen“, die insbesondere sein Verhaltnis zum Christentum betrafen. Der Biograph Gerhard Wehr spricht in diesem Zusammenhang von einem „neuzeitlichen Damaskus-Erlebnis“, das mit der Bekehrung des Apostels Paulus vergleichbar sei. Der Theologe Georg Otto Schmid greift Steiners autobiographische Schilderungen auf, wonach er schon seit seiner Kindheit Wahrnehmungen einer „geistigen“ Welt hatte, und meint, dass Steiner durch seine Hinwendung zur Theosophie einen weltanschaulichen Rahmen gefunden habe, „in welchen er seine Wahrnehmungen in der Geisteswelt einbringen und sie deuten kann. Die Theosophie liefert Steiner eine ausgebaute Geographie der Geisteswelt, eine geistige Welt, die bevolkert ist von geistigen Wesen aller Art, die seine Ahnungen und Wahrnehmungen plausibel deuten kann.“ Viele Zeitgenossen Steiners unterstellten ihm rein weltliche Motive, indem sie auf die prekaren materiellen Verhaltnisse verwiesen, in denen er sich in den Jahren davor befunden hatte.
Steiners Tatigkeit in der TG bestand vor allem im Halten von Vortragen, in der Herausgabe einer eigenen theosophischen Zeitschrift (Luzifer, spater Lucifer-Gnosis) und im Verfassen von Buchern. Die organisatorische Arbeit ubernahm Marie von Sivers, die spatere zweite Ehefrau Steiners. Neben den Vortragen fur Mitglieder der TG, in denen er in erheblichem Maß an die etablierten Lehren der Theosophie anknupfte, hielt Steiner auch zahlreiche offentliche Vortrage. Darin nahm er fast ausschließlich Bezug auf das mitteleuropaische (deutschsprachige) Geistesleben und versuchte, darauf aufbauend seine Theosophie zu entwickeln. Unter Steiners Leitung wuchs die Zahl der Mitglieder der Adyar-TG in Deutschland rapide: Zahlte man bei der ersten Generalversammlung 1903 nur 130 Mitglieder, waren es 1912 bereits 2489. Zu diesem Zeitpunkt war die TG in 54 deutschen Stadten durch einen „Zweig“ vertreten.
Seine (damals noch so genannte) theosophische Lehre formulierte Steiner in zwei Buchern: Theosophie (1904) und Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910), die er zu Lebzeiten mehrfach uberarbeitete und die auch heute noch als die grundlegenden Darstellungen der Anthroposophie gelten. Ein weiteres Standardwerk ist die Aufsatzserie Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten? die 1909 erstmals in Buchform herauskam.
Aufgrund zunehmender Differenzen mit der Prasidentin der internationalen Theosophischen Gesellschaft, Annie Besant, die sich besonders im Streit um die Stilisierung des jungen Jiddu Krishnamurti zu einer Art Messias durch Besant und Charles W. Leadbeater zuspitzten, kam es im Fruhjahr 1913 zum Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft. Bereits Ende 1912 war in Koln die Anthroposophische Gesellschaft gegrundet worden, der sich nun die meisten in Deutschland lebenden Theosophen anschlossen und die bald auch in anderen Landern prasent war. In diesem Zusammenhang benannte Steiner seine bisherige Theosophie in „Anthroposophie“ um.
Im Herbst 1913 begannen in Dornach bei Basel die Arbeiten am ersten Goetheanum, das als Veranstaltungsstatte und Zentrum der Gesellschaft dienen sollte, nachdem fur ein ursprunglich in Munchen geplantes Gebaude mehrfach die Baugenehmigung versagt worden war. Parallel dazu kam es zu vielfaltigen Aktivitaten im sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich. So grundete Emil Molt, Generaldirektor der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, 1919 in Stuttgart fur die Kinder seiner Arbeiter und Angestellten die erste Waldorfschule, deren Leitung Steiner selbst ubernahm. 1921 wurde die Pharmafirma Weleda AG gegrundet, die anthroposophische Arzneimittel herstellt und vertreibt. 1922 grundete eine Gruppe von Theologen die Christengemeinschaft, eine Bewegung zur Erneuerung des Christentums mit anthroposophischer Ausrichtung.
Gleichzeitig formierten sich Gegner. In der Silvesternacht 1922/23 brannte das aus Holz errichtete erste Goetheanum bis auf seine Grundmauern nieder, vermutlich von Unbekannten in Brand gesetzt. Daraufhin entwarf Steiner ein zweites, großeres Goetheanum aus Beton, das erst 1928 fertiggestellt wurde. Parallel bemuhte er sich um eine Reorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft, an deren Leitung er bis dahin als Ehrenprasident nicht direkt beteiligt war. Als diese Bemuhungen nicht den gewunschten Erfolg brachten, erfolgte unter Steiners Veranlassung in Dornach auf der sogenannten Weihnachtstagung am 28. Dezember 1923 die Neugrundung der Anthroposophischen Gesellschaft, die unter Anpassung an die Erfordernisse der Gegenwart an die im Jahre 1912 gegrundete Anthroposophische Gesellschaft anknupfte und deren Vorsitz Steiner selbst ubernahm. Zugleich grundete er die schon lange geplante Freie Hochschule fur Geisteswissenschaft und ubernahm als vorlaufig einziger Dozent auch deren Leitung. Nachdem der 1913 gegrundete Goetheanum-Bauverein in Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft umbenannt worden war, kam es am 8. Februar 1925 zu einer konkludenten Fusion der neu gegrundeten Anthroposophischen Gesellschaft in diesen umbenannten Bauverein. Bereits wahrend der Grundungsfeierlichkeiten erlitt Steiner jedoch einen schweren korperlichen Zusammenbruch, von dem er sich nicht mehr erholen sollte; als Ursache hierfur wird zuweilen ein Giftanschlag auf Steiner vermutet. So kam von den drei geplanten „Klassen“ der Hochschule nur die erste, elementare zustande. Im Verlauf des Jahres 1924 musste Steiner seine Vortragstatigkeit zunehmend einschranken. Seinen letzten Vortrag am 28. September 1924 musste er nach kurzer Zeit abbrechen. Bis zwei Tage vor seinem Tod am 30. Marz 1925 arbeitete er im Krankenbett noch an diversen Publikationen, zuletzt auch an einem gemeinsam mit seiner behandelnden Arztin Ita Wegman verfassten Buch zur Begrundung der Anthroposophischen Medizin.
= Krise nach Steiners Tod =
Fur den Fall seines Todes hatte Rudolf Steiner in Bezug auf die Anthroposophische Gesellschaft und die Hochschule keine Anweisungen gegeben. Der funfkopfige Vorstand der Gesellschaft, den Steiner erst gut ein Jahr zuvor berufen hatte, war ratlos und zerstritt sich bald. Insbesondere konnte keine Einigkeit daruber erzielt werden, ob man Steiners Initiativen fortsetzen oder realistischerweise nur noch das Vorhandene verwalten konne. Ende 1925 wurde Albert Steffen als Vorsitzender und damit formal als Nachfolger Steiners gewahlt. Auf Initiative namentlich von Ita Wegman beschloss man bald darauf, die Hochschule formal weiter bestehen zu lassen, indem man die schon unter Steiner begonnene Gepflogenheit aufgriff, dass ausgewahlte Personlichkeiten das Recht erhielten, Steiners mitgeschriebene „Klassenstunden“ andernorts zu verlesen oder frei zu rezitieren. Der Dornacher Vorstand verlor jedoch zunehmend an Bedeutung, und in mehreren Landern spalteten sich neue Gruppierungen von der Anthroposophischen Gesellschaft ab, teils unter Beteiligung einzelner Vorstandsmitglieder. 1935 beschloss deshalb die Generalversammlung auf Betreiben Steffens, die daran beteiligten Personen – darunter die Vorstandsmitglieder Ita Wegman und Elisabeth Vreede und andere fuhrende Anthroposophen in Deutschland, Holland und England – aus der Gesellschaft auszuschließen.
Parallel zu den Krisen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft entwickelten sich jedoch einige der von Steiner angeregten Kulturimpulse weiter, so die Waldorfbewegung durch Grundung neuer Schulen und die kunstlerischen Initiativen Steiners, die unter der Leitung Marie Steiners fortgefuhrt wurden.
= Wahrend der Zeit des Nationalsozialismus =
Die Nationalsozialisten nahmen gegenuber der Anthroposophie eine ambivalente Haltung ein. Einerseits zeigten einige Nationalsozialisten Interesse an Elementen der Lehre, die aus der Lebensreform stammten. Namentlich der „Stellvertreter des Fuhrers“, Rudolf Heß, setzte sich wiederholt fur die anthroposophische Medizin ein. Zu Beginn der NS-Zeit keimten in anthroposophischen Kreisen Hoffnungen auf eine Kooperation mit dem Regime. Das Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, Guenther Wachsmuth, bekundete Respekt fur „die tapfere und mutige Weise, wie die [deutsche] Regierung die Probleme anpackt“, sowie „Sympathie“ und „Bewunderung“ fur die Problembewaltigung „durch die Fuhrer des neuen Deutschlands“. Wieweit hier Strategien gegen ein drohendes Verbot eine Rolle spielten, bleibt nach dem Religionswissenschaftler Helmut Zander zu prufen. Andererseits galt die anthroposophische Gesellschaft als gegnerische Organisation der Nationalsozialisten.
Zander sieht es als bemerkenswert an, dass es fast keine Parteimitglieder unter den Anthroposophen gab.
Verbot der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Am 1. November 1935 wurde laut Verfugung der Preußischen Geheimen Staatspolizei „die im Gebiete des Deutschen Reiches bestehende Anthroposophische Gesellschaft […] wegen ihres staatsfeindlichen und staatsgefahrlichen Charakters“ aufgelost. Das Dekret trug die Unterschrift von Reinhard Heydrich.
Das antisemitische Hetzblatt Der Judenkenner hatte bereits einige Monate zuvor die Stoßrichtung vorgegeben: „Was wir uber die ganzlich verjudete anthroposophische Bewegung und Rudolf Steiner denken, ist bekannt“, hieß es etwa in der Ausgabe vom 28. August 1935. Schon vor dem Verbot hatten alle judischen Mitglieder ihre Amter in der Gesellschaft abgegeben. Ein Großteil von ihnen war ausgetreten; andere wurden zum Austritt gedrangt, um Reibungspunkte mit dem Regime zu minimieren. Nach dem Verbot bemuhten sich einige Anthroposophen um eine Wiederzulassung. Der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft wehrte sich gegen die Auflosung mit einem Brief an Adolf Hitler, in dem auf Steiners arische Abstammung verwiesen und die Verbindung zu judischen Kreisen bestritten wurde.
Der Brief dokumentiert den Versuch, sich mit dem nationalsozialistischen Regime zu arrangieren. Einige Anthroposophen betrieben eine noch offensivere Anbiederung. Der Anthroposoph Friedrich Rittelmeyer formulierte eine explizite Anerkennung des NS-Staates: „Die Christengemeinschaft anerkennt den nationalsozialistischen Staat. Sie glaubt ihm den besten Dienst zu tun, wenn sie das Religios-Christliche in moglichster Reinheit und Starke pflegt.“ Guenther Wachsmuth, Mitglied des Dornacher Vorstandes der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, hatte im Juni 1933 seine „Sympathie“ fur das bekundet, „was z. Zt. in Deutschland geschieht“. In seinen Lebenserinnerungen behauptete Erich Ludendorff, dem die Anthroposophie als Teil einer judisch-freimaurerischen Weltverschworung erschien, sogar eine „gefahrliche“ Unterwanderung nationalsozialistischer Kreise. Die Nationalsozialisten blieben bei ihrer Ablehnung der Anthroposophie, auch wenn sie einige Ubereinstimmungen konstatierten. Das geht jedenfalls aus einem Gutachten hervor, das der nationalsozialistische Padagoge Alfred Baeumler im Auftrag des Amtes Rosenberg angefertigt hatte.
Alle Versuche einer Wiederzulassung der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland scheiterten jedoch 1939, als Rudolf Heß die „Gleichbehandlung mit ehemaligen Freimaurern“ anordnete. Und das, obwohl sich anthroposophische Institutionen auch weiter kooperativ zeigten. Nach dem Flug von Rudolf Heß nach England vom 10. Mai 1941 ordnete Reinhard Heydrich fur den 9. Juni die Aktion gegen Geheimlehren und sogenannte Geheimwissenschaften an, die sich gegen Anhanger der Anthroposophie, Theosophie und Ariosophie und gegen deren Organisationen richtete.
Behinderung des Schulunterrichts und Verbot von Waldorfschulen Die acht Waldorfschulen waren den Nationalsozialisten von Anfang an ein besonderer Dorn im Auge. Anders als andere anthroposophische Institutionen, die lange Zeit von den Behorden unbemerkt weiterarbeiten konnten, hatten die Schulen eine große Außenwirkung. Um die Schulen zu retten, nahm Elisabeth Klein, die Dresdner Schulleiterin, die eine Schlusselstellung in den Verhandlungen mit dem Regime innehatte, Kontakt zu fuhrenden Nationalsozialisten auf. Sie suchte den Schulterschluss, wahrend sich die Schulen in Berlin und Altona 1936 ausdrucklich von diesen Kollaborationsversuchen distanzierten und die eigene Schließung selbst betrieben. Unter den Personen, die Klein kontaktierte, war auch Rudolf Heß, dem Sympathien fur die Anthroposophie nachgesagt wurden. Auch Klein ging davon aus, dass Heß seine Aufgabe darin sehe, „alle Geistesrichtungen in Deutschland zu schutzen, die noch aufbauend im Geistesleben wirken konnen“.
Gemaß einer Anordnung von Rudolf Heß durften Waldorfschulen bis 1940 keine Einschulungen mehr vornehmen. Zwei Schulen wurden sogar verboten (1938 Stuttgart und 1941 Dresden). Die restlichen mussten aus finanziellen Grunden schließen. Von den acht anthroposophischen heilpadagogischen Heimen wurden drei massiv bedroht, davon zwei geschlossen. Trotz dieser Repressionsmaßnahmen gab es auch Mitglieder, die sich dem System weiter annaherten oder sogar aktiv in den Gremien der NSDAP mitarbeiteten.
Zeit nach dem Verbot und Gesamteinschatzung Parallel dazu spitzte sich auch in Dornach die Situation weiter zu. Nach dem Verbot der Gesellschaft im deutschen „Mutterland“ und dem durch die Beschlusse von 1935 bewirkten Zerwurfnis mit den wichtigen Landesgesellschaften in Holland und England war der Einfluss des Dornacher Zentrums schon weitgehend auf die Schweiz beschrankt, bevor diese mit Ausbruch des Krieges 1939 auch als Nation in eine rundum isolierte Insellage geriet. 1939 musste das Goetheanum (Hauptgebaude) aus finanziellen Grunden geschlossen werden. Personell geriet im nun noch dreikopfigen Vorstand Marie Steiner allmahlich ins Abseits, und 1942 kam es zum offenen Konflikt zwischen ihr und Albert Steffen oder vielmehr zwischen den jeweiligen Anhangern in der Mitgliedschaft. Marie Steiner, die von Rudolf Steiner testamentarisch zur Alleinerbin bestimmt worden war, machte nun diese Rechte formal geltend, indem sie einen „Nachlassverein“ grundete, der abgesondert von der Anthroposophischen Gesellschaft auch nach ihrem Tod die Werke Rudolf Steiners herausgeben sollte.
Hohe Wertschatzung fand die biologisch-dynamische Landwirtschaft bei einigen NS-Großen, was jedoch eher auf ihre „Ursprunglichkeit“ als auf die spirituelle Begrundung zuruckzufuhren ist. Die SS hatte zwischen 1939 und 1945 landwirtschaftliche Versuchsguter eingerichtet, in denen die biologisch-dynamische Landwirtschaft erprobt wurde; eines der Guter beim KZ Ravensbruck und ein biologisch-dynamischer Hof beim KZ Dachau. Das Heft 5 der Zeitschrift Demeter aus dem Jahr 1939 erschien mit einer Abbildung Hitlers und einer Grußzeile zum 50. Geburtstag auf dem Titelbild. Der Septemberausgabe der Zeitschrift lag zudem ein Flugblatt bei, in dem der Herausgeber, Erhard Bartsch, die biologisch-dynamischen Landwirte zur Unterstutzung des „Fuhrers“ aufrief. Bartsch bemuhte sich offenbar sogar um eine Mitwirkung an den Besiedlungsplanen der SS fur den „Lebensraum im Osten“.
Vorrangig Rudolf Heß und Heinrich Himmler hatten bis 1941 versucht, mit der Anthroposophie verbundene, praktische Einrichtungen zu erhalten und fur den Nationalsozialismus nutzbar zu machen. Als scharfer Gegner trat namentlich Reinhard Heydrich in Erscheinung. Erst nach dem sogenannten „Englandflug“ von Heß am 10. Mai 1941, in dessen Folge er als Verrater bezeichnet und fur verruckt erklart worden war, wurden die Reste der organisierten Anthroposophie im Deutschen Reich zerschlagen. Nun startete Propagandaminister Joseph Goebbels eine Kampagne gegen die spirituellen und spiritistischen Gruppen, fur die sich Heß verwendet hatte. In diesem Zusammenhang wurde behauptet, Heß habe aufgrund des Einflusses von Astrologen, Mesmeristen und anderer Okkultisten unter Halluzinationen gelitten. Auch von Anthroposophen wurde behauptet, sie hatten Heß okkult beeinflusst und zu seinem Flug nach England bewegt. Es folgte eine Welle von Verhaftungen und Verhoren. Kurz darauf wurde auch die Christengemeinschaft aufgelost. Ihre Priester wurden inhaftiert. Zwar gab es weitere Versuche von anthroposophischer Seite, sich dem Regime im „Endkampf gegen den Bolschewismus“ anzudienen, mit dem Wegfall des Forderers Heß fehlte diesen aber der Resonanzboden.
= Zeit nach 1945 =
Nach dem Krieg wurden die im Dritten Reich verbotenen anthroposophischen Aktivitaten auch in Deutschland und Osterreich bald wieder aufgenommen. Der Konflikt um die Rechte an Rudolf Steiners Werk spitzte sich jedoch weiter zu. Nach dem Tod Marie Steiners 1948 betrachtete sich der von ihr gegrundete Nachlassverein (heute: Rudolf Steiner Verlag) als Alleininhaber dieser Rechte. Daruber kam es zu einem Rechtsstreit mit der Anthroposophischen Gesellschaft, der 1952 mit einem Sieg des Nachlassvereins endete. Die unterlegene Partei verbannte daraufhin alle Werke Rudolf Steiners aus der Buchhandlung im Goetheanum, woran bis 1968 festgehalten wurde. Die Rolle Dornachs als internationales Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft wurde wieder vollstandig hergestellt, indem die 1935 abgespaltenen Landesgesellschaften in Holland und England sich 1960 bzw. 1963 wieder anschlossen.
Die starke Expansion der Waldorfschulen (im Mai 2015 laut Selbstdarstellung weltweit 1063 Schulen in 60 Landern), der Waldorfkindergarten (im November 2015 laut Selbstdarstellung ca. 2000 weltweit), der Anthroposophischen Medizin und der ebenfalls durch Rudolf Steiner angeregten biologisch-dynamischen Landwirtschaft (hierzu die Marke Demeter) verlief von diesen Schwierigkeiten weitgehend unberuhrt. 1960 wurde in Bochum auch eine Bank mit anthroposophischer Zielsetzung begrundet (GLS Gemeinschaftsbank). 1969 entstand das anthroposophische Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke als erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. 1973 wurde in Alfter die anthroposophisch orientierte Alanus Hochschule eingerichtet, seit 2002 eine staatlich anerkannte Kunsthochschule. Auch die 1983 gegrundete Universitat Witten/Herdecke, Deutschlands alteste Privatuniversitat, hat uberwiegend anthroposophische oder der Anthroposophie nahestehende Urheber (Gerhard Kienle, Konrad Schily, Herbert Hensel). Zurzeit sind nach Aussagen der Anthroposophischen Gesellschaft weltweit uber 10.000 anthroposophische Einrichtungen in 103 Landern tatig.
Im Vergleich zu diesen Erfolgen diverser von Steiner angestoßenen oder spater aus der Anthroposophie hervorgegangenen praktischen Initiativen und Anwendungen blieb das allgemeine Interesse an der Anthroposophie selbst lange eher gering. Seit den 1980er Jahren ist jedoch eine – wie Gerhard Wehr schrieb – „erstaunliche Renaissance“ zu beobachten.
Lehre und Erkenntnisweg Steiners Anthroposophie stellt den Menschen in das Zentrum ihrer Betrachtungen. So hat er in seinen beiden grundlegenden Werken Theosophie (1904) und Die Geheimwissenschaft im Umriss (1910) erst ausfuhrlich das „Wesen des Menschen“ beschrieben, bevor er zur sonstigen Welt ubergeht. Die Anthroposophie nimmt an, dass jeder bei Anwendung entsprechender Techniken zur Erkenntnis hoherer Welten gelangen konne. Insofern sei sie demokratischer als andere esoterische Lehren, in den das esoterische Wissen nur wenigen vorbehalten bleibt. Nach dem schwedischen Religionshistoriker Olav Hammer wurde diese Demokratisierung in der Anthroposophie kaum zur Halfte vollzogen, da sich nach Steiners Tod kein ebenburtiger Nachfolger fand. Das implizite Ziel des anthroposophischen Erkenntnispfades scheint ihm im Nachvollzug der doktrinaren Standpunkte zu liegen, die Steiner vorlegte. Der Historiker Ulrich Linse sieht im hierarchisch-inegalitaren Menschenbild der Anthroposophie die Ursache fur den Erfolg, den sie beim Adel hatte, die gleichzeitig propagierte Selbsterlosung durch Selbsterziehung habe sie fur das gehobene Burgertum attraktiv gemacht.
= Wesensglieder =
Ahnlich wie Helena Petrovna Blavatsky, an deren Lehren er vor allem zu Beginn seiner Tatigkeit in der Theosophischen Gesellschaft haufig anknupfte, unterschied Steiner verschiedene „Wesensglieder“ des Menschen. Dabei vermied er jedoch eine Festlegung auf ein bestimmtes Gliederungsschema, wie es bis dahin in der Theosophie ublich war, sondern fuhrte ganz im Kontrast dazu oft verschiedene Schemata ineinander uber, die Freiheit der Perspektive gegenuber starren Schemata betonend. Außerdem ubernahm er die Inhalte seiner „Menschenkunde“ nicht wie Blavatsky aus der indischen Philosophie, sondern entwickelte sie aus Ansatzen im deutschsprachigen Geistesleben mehr oder weniger neu.
Die erste umfassende schriftliche Darstellung des anthroposophischen Menschenbilds erschien 1904 noch unter dem Titel Theosophie. Darin wahlte Steiner als Ausgangspunkt Goethes erkenntnistheoretischen Essay Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt (1793) – und erhob damit implizit den Anspruch, seine „Theosophie“ inhaltlich an seine fruhere Tatigkeit als Goethe-Herausgeber und als Autor einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886) anzuschließen. Mit Goethe stellte er fest, dass der Mensch „in einer dreifachen Art mit der Welt verwoben ist. – Die erste Art ist etwas, was er vorfindet, was er als eine gegebene Tatsache hinnimmt. Durch die zweite Art macht er die Welt zu seiner eigenen Angelegenheit, zu etwas, was eine Bedeutung fur ihn hat. Die dritte Art betrachtet er als ein Ziel, zu dem er unaufhorlich hinstreben soll“. Ein „gleichsam gottliches Wesen“ (Goethe) mit der Moglichkeit, die Wahrheit zu erkennen und entsprechend handeln zu konnen. Diese drei Arten des Verhaltnisses des Menschen zur Welt nannte Steiner nun „Leib“, „Seele“ und „Geist“. Dabei distanzierte er sich ausdrucklich von jeder bisherigen Belegung dieser Worte: „Wer irgendwelche vorgefassten Meinungen oder gar Hypothesen mit diesen drei Worten verbindet, wird die folgenden Auseinandersetzungen notwendig missverstehen mussen.“
Diese drei Grundbegriffe der anthroposophischen „Menschenkunde“ differenzierte Steiner weiter, indem er jeweils drei leibliche, seelische und geistige Komponenten unterschied, die er Wesensglieder nannte. Als Abwandlung der daraus resultierenden neunfachen Gliederung leitete er auch ein siebengliedriges Schema ab, das mit dem bis dahin unter Theosophen gebrauchlichen, auf Blavatsky zuruckgehenden Schema zu vergleichen, aber nicht mit diesem identisch ist. In der einfachsten Variante unterschied Steiner nur die drei leiblichen Wesensglieder und subsumierte alles andere unter der Bezeichnung „Ich“. Dieses viergliedrige Schema, das an die medizinische Lehre des Paracelsus erinnert und sich mit der Seelenlehre des Aristoteles vergleichen lasst, basiert auf der zu Steiners Zeit gultigen Klassifikation der drei Naturreiche der Mineralien, Pflanzen und Tiere und fugt als viertes „Reich“ den Menschen hinzu, der mit seinen drei Leibesgliedern (Physischer Leib – Atherleib oder Lebensleib – Astralleib oder Seelenleib) an allen Naturreichen beteiligt ist, aber mit seinem Ich aus der Natur herausragt.
Nur der physische Leib sei mit den gewohnlichen Sinnen wahrnehmbar. Die hoheren Wesensglieder, die diesen physischen Leib durchziehen, seien aber fur eine ubersinnliche Anschauung als eigenstandige Komponenten der menschlichen Wesenheit erforschbar. So erscheine der Atherleib als eine „lebenerfullte Geistgestalt“, in der „alles in lebendigem Ineinanderfließen“ sei. Steiners Begriff des Atherleibs entspricht etwa dem der vegetativen Seele bei Aristoteles. Das Vorhandensein eines Atherleibs außert sich nach Steiner in Lebendigkeit und Wachstum, und er sei auch der Trager der Vererbung. Einen Atherleib habe jedes Lebewesen. Ein Astralleib, manchmal bei Steiner auch einfach „Seele“ genannt, sei dagegen nur bei „beseelten“ Wesen vorhanden: bei Tieren und Menschen. Er verleihe ihnen ein bewusstes Innenleben, Gefuhle, Begierden, aber auch unbewusste Impulse. Das entspricht ungefahr der sensitiven Seele bei Aristoteles. Das 'Ich' schließlich bezeichnet in der anthroposophischen Terminologie den ewigen, unverganglichen und nur dem Menschen zukommenden „Wesenskern“. Der „Wesenskern“ tragt das Karma, besteht nach dem Tod fort und inkarniert sich erneut in einem anderen Korper. Das Ich durchdringt und verandert jedoch auch die niederen Wesensglieder; in diesem Zusammenhang spricht Steiner auch von einer gesonderten leiblichen „Ich-Organisation“. Nach Leijenhorst ist in Steiners Ich-Begriff der unbewusste Wille im Sinne Schopenhauers und Nietzsches mit Descartes’ cogito vereinigt.
Anderungen in der Wechselwirkung der Wesensglieder außern sich in verschiedenen Bewusstseinszustanden. Im Wachbewusstsein sind alle vier Wesensglieder eng miteinander verbunden. Beim Einschlafen losen sich Astralleib und Ich vom physischen und atherischen Leib. Es tritt ein Zustand ein, der bei Pflanzen permanent vorliegt: der traumlose Schlaf. Dabei wirken Astralleib und Ich „von außen“ auf den schlafenden Korper ein, und dieser kann sich regenerieren. Im Zwischenzustand des Traumbewusstseins verbindet sich der Astralleib in gewisser Weise mit dem Atherleib, nicht aber mit dem physischen Leib. Ohne Verbindung mit den physischen Sinnesorganen kann er die physische Welt nicht wahrnehmen, und auch ein volles Ich-Bewusstsein ist im gewohnlichen Traum nicht vorhanden.
Ein vierter Zustand ist der Tod, bei dem sich die hoheren Wesensglieder einschließlich des Atherleibs vom physischen Leib trennen. Dieser ist nun allein den physikalisch-chemischen Gesetzmaßigkeiten unterworfen und zerfallt. Der Zusammenhang der hoheren Wesensglieder bleibt aber zunachst erhalten. Erst spater lost sich auch der Atherleib und danach der Astralleib auf, und das Ich geht in eine geistige Welt ein, in der es sich auf seine Wiedergeburt (Reinkarnation) vorbereitet.
Von Inkarnation zu Inkarnation, aber auch innerhalb eines „Erdenlebens“, entwickelt sich der Mensch als seelisches und geistiges Wesen (im anthroposophischen Sinn, vgl. oben). Als Stufen dieser Entwicklung, die aber auch nebeneinander existieren, werden die seelischen und geistigen Wesensglieder unterschieden. Das niederste Seelenglied ist die „Empfindungsseele“, benannt nach einem zu Steiners Zeit gebrauchlichen Synonym fur die Sinneswahrnehmung. In diesem Seelenteil leben die bewussten Eindrucke der Sinne, aber auch Triebe, Begierden und Leidenschaften. Im Unterschied zum Astralleib, fur den das ebenfalls gilt, handelt es sich auf dieser „seelischen“ Ebene um Regungen, welche uber das Naturhafte und Gattungsmaßige hinausgehen, wodurch sich also der Mensch als Individualitat vom Tier unterscheidet. Insofern ist die Empfindungsseele eine „individualisierte“ Metamorphose des Astralleibes, aus dem sie im Verlauf der Personlichkeitsentwicklung hervorgeht.
Das zweite Seelenglied ist die „Verstandesseele“, in der sich das Denken entfaltet. Wie die Empfindungsseele eine Metamorphose des Astralleibes ist, so ist die Verstandesseele eine Metamorphose des Atherleibes. Die Wachstums- und Gestaltungskrafte, die zunachst den physischen Leib aufbauen und gestalten, werden spater zum Teil als Denkkraft frei. Deshalb soll nach Steiner bei Kindern das eigenstandige Denken erst gefordert werden, wenn alle physischen Organe vollstandig angelegt sind („Zahnwechsel“). Das dritte Seelenglied schließlich wird „Bewusstseinsseele“ genannt. In ihr erhebt sich das Individuum aus der Subjektivitat zum Wahren und Guten, das uber die Eigenpersonlichkeit hinaus Gultigkeit hat.
Im Unterschied zu diesen Stufen der seelischen Entwicklung, die unter dem Einfluss der Erziehung und der sonstigen Sozialisation erfolgen, beschrieb Steiner die geistigen Wesensglieder als Stufen einer voll bewusst vom Ich aus betriebenen Entwicklung. Diese stecke heute aber noch in den Anfangen.
= Dreigliederung =
Von diesen Gliederungs-Schemata in relativ fruhen theosophisch-anthroposophischen Darstellungen Steiners ist die Idee der „Dreigliederung“ zu unterscheiden, die er erstmals 1917 in seinem Buch Von Seelenratseln publizierte und die in seinem Spatwerk und den daraus hervorgegangenen Anregungen fur die Waldorfpadagogik, die Anthroposophische Medizin und fur die soziale Gestaltung („Soziale Dreigliederung“) eine große Bedeutung erlangen sollte. Diese Idee basiert auf der Unterscheidung der Seelentatigkeiten Denken, Fuhlen und Wollen und ordnet diesen als leibliche Grundlagen drei Organsysteme zu: dem Denken (und der sinnlichen Wahrnehmung) das „Nerven-Sinnes-System“, dem Wollen das „Stoffwechsel-Gliedmaßen-System“ und dem Fuhlen das „rhythmische System“.
= Reinkarnation =
Das Ich, der unvergangliche „Wesenskern“ des Menschen, unterliegt nach Steiner der Reinkarnation, die als „Instrument zur Vollendung des Menschen“ dienen soll. Mit dem Tod hort seiner Darstellung zufolge das Bewusstsein nicht auf, sondern es folgt eine Ruckschau auf das vergangene Leben und danach eine dem Fegefeuer vergleichbare Reinigung („Kamaloka“), wobei sich erst der Atherleib und dann der Astralleib „auflosen“. Auch die alte (neuplatonische) Vorstellung des Aufstiegs der Seele durch die Planetenspharen griff Steiner in diesem Zusammenhang auf. Nach einer zeitweilig rein geistigen Existenz fasst demnach das Ich den Entschluss zu einer neuen Inkarnation. Beim Herabstieg durch die Spharen gliedert sich ihm erst ein neuer Astralleib und dann ein neuer Atherleib an, je nach den Taten und Erlebnissen wahrend der vorangegangenen Inkarnationen oder „Erdenleben“. Hier tritt die Idee des Karmas auf, jedoch so gewendet, dass das Ich selbst anstrebt, was sich ihm als Konsequenz des in fruheren Inkarnationen Getanen und Erlebten ergibt. Schließlich wahlt die herabsteigende Seele ihre kunftigen leiblichen Eltern aus und wirkt schon uber Generationen im Voraus auf deren Erbanlagen ein. Zwischen zwei Inkarnationen vergehen dabei gewohnlich Jahrhunderte, im Allgemeinen ist ein Wechsel des Geschlechts damit verbunden, und auch die ethnische Zugehorigkeit wechselt von Inkarnation zu Inkarnation, so dass im Laufe vieler Verkorperungen alle Aspekte des Menschseins durchlebt werden konnen.
Steiners Reinkarnationslehre weist Ubereinstimmungen mit entsprechenden theosophischen und platonischen Vorstellungen auf, zeichnet sich jedoch durch ein besonders hohes Maß an Systematisierung und durch den Versuch aus, Reinkarnation und Karma in einen christlichen Kontext zu integrieren. Trotz ihrer Komplexitat und auch mancher enthaltenen Widerspruche avancierte sie laut Helmut Zander „zum vermutlich wirkungsmachtigsten Reinkarnationsmodell im deutschen Sprachraum“. Von vergleichbaren hinduistischen und buddhistischen Lehren unterscheidet sie sich nach Willmann wie folgt:
Sie betrachtet das irdische Leben als Moglichkeit, sich zu immer hoheren Bewusstseins-Stufen zu entwickeln.
Sie bejaht die Kontinuitat des Ich-Bewusstseins und versucht diese – innerhalb einer Inkarnation, aber auch von Inkarnation zu Inkarnation – zu bewahren statt zu uberwinden.
= Christologie =
Ein zentrales Thema der Anthroposophie sind Steiners Darstellungen uber Jesus und Christus, mit denen er sich energisch gegen die damalige protestantische Leben-Jesu-Forschung von Adolf von Harnack, David Friedrich Strauß und anderen wendete, die Jesus nur als historische Person betrachtete, ihm einen gottlichen Status absprach und lediglich einen Propheten in ihm sah. Steiner unterschied zwischen dem Menschen Jesus und einem als „Christus“ bezeichneten hohen geistigen Wesen, das sich bei der Taufe am Jordan in diesem Menschen inkarniert habe. Christus wird in diesem Zusammenhang als der gottliche Logos oder auch als der Geist der Sonne bezeichnet. Beim Kreuzestod auf Golgatha habe sich dieser Christus-Geist mit der gesamten Erde verbunden, und seither sei er von jedem Menschen – unabhangig von außerlichen Konfessionen – in einer inneren, mystischen Schau erfahrbar. Dieses „Mysterium von Golgatha“ bezeichnete Steiner als das zentrale Ereignis der Menschheitsgeschichte. Die Menschheit sei den Machten des Bosen unterworfen worden, wodurch der Mensch erst zu einem sterblichen Wesen geworden sei. Ubereinstimmend mit anderen christlichen Lehren betont auch Steiner, dass Christus sich selbst geopfert habe, indem er am Kreuz starb, um die Menschheit zu erlosen.
Als zentrales Ereignis der Menschheitsgeschichte hat das Mysterium von Golgatha laut Steiner eine komplexe und weit zuruckreichende Vorgeschichte. So habe es zwei verschiedene „Jesusknaben“ mit verschiedener Herkunft gegeben, die im Lukas- und Matthaus-Evangelium beschrieben seien. Steiner bezeichnete sie als den nathanischen und den salomonischen Jesus, nach den beiden Sohnen Davids, von denen sie abstammen sollen. Der nathanische Jesus (des Lukas-Evangeliums) soll Adam Kadmon wiederverkorpern, eine Individualitat, die den Sundenfall nicht mitgemacht habe und daher in volliger Unschuld verblieben sei. Der salomonische Jesus (des Matthaus-Evangeliums) dagegen sei eine Reinkarnation Zarathustras. Dem unschuldigen nathanischen Jesus brachten die Schafer ihre Opfer dar. Zum salomonischen seien die drei Weisen aus dem Morgenland gekommen, die als ehemalige Schuler Zarathustras bezeichnet werden. Als beide Knaben zwolf Jahre alt waren, sei Zarathustras Ich auf den nathanischen Jesus ubergegangen, wodurch der unschuldige Junge plotzlich einer der weisesten Menschen war (Tempelszene des Lukasevangeliums) und von seinen Eltern nicht mehr erkannt wurde.
Auch das Bose tritt bei Steiner in zwei Erscheinungsweisen auf, die er als Luzifer und Ahriman bezeichnet. Luzifer versucht, die Menschheit durch eine Beschleunigung ihrer Entwicklung von der Erde zu losen. Er wirkt durch die Macht der Fantasie, der Imagination, der Begeisterung und der Sympathie. Er ist der Teufel, der fur den Sundenfall verantwortlich war, wodurch der Mensch sterblich und egoistisch wurde, aber auch die Freiheit erhielt, unabhangig von Gott Entscheidungen zu treffen. Ahriman hingegen will die Menschheit durch eine Verzogerung ihrer Entwicklung an die Erde fesseln. Er wirkt durch die Macht des kalten, materialistischen Intellekts, durch das Streben nach Herrschaft und durch Antipathie. Wahrend Luzifer die Menschen zu Vogel- oder Engel-artigen Wesen ohne eine wirkliche Beziehung zur Erde machen will, versucht Ahriman, die Erde in eine tote Maschine zu verwandeln. Christus strebt danach, dieses zweifache Bose nicht auszuloschen, sondern zu verwandeln und zu erlosen, indem er als Welten-Ich die Gegensatze ausgleicht und in Harmonie bringt. Dieses manichaische Motiv ist auch in Steiners Holzplastik Menschheitsreprasentant enthalten, die sich im Goetheanum in Dornach befindet. Dies impliziert, dass auch das Bose eine positive Rolle in der Entwicklung der Menschheit hat. So brachte Luzifer dem Menschen die Freiheit, aber Christus eroffnet ihm die Moglichkeit, diese Freiheit zu nutzen, um willentlich Gutes zu tun. In diesem Zusammenhang unterschied Steiner auch zwischen einem hoheren und einem niederen „Ich“ des Menschen. Das niedere Ich ist die Gabe Luzifers und verleiht uns das Ego-zentrierte Alltagsbewusstsein. Im hoheren Ich lebt Christus als das universelle Ich, das die Menschheit wieder vereint und mit dessen Hilfe wir das Himmlische Jerusalem der Apokalypse erschaffen konnen. Hiermit steht Steiner dem Pelagianismus der fruhmodernen spirituellen Alchemie und dem Rosenkreuzertum nahe.
In ahnlicher Weise wie Jakob Bohme ubernahm Steiner auch den Begriff der gottlichen Trinitat (Vater, Sohn und Heiliger Geist), wobei er diese einerseits zu der Dreiheit der Seelentatigkeiten (Wollen, Fuhlen und Denken) und damit zu seiner Dreigliederungs-Lehre (siehe oben) in Beziehung brachte und andererseits eine Verbindung zu den von Pseudo-Dionysius Areopagita ubernommenen himmlischen Hierarchien herstellte. Die erste und hochste Hierarchie, bestehend aus den Thronen, den Cherubim und den Seraphim, entspricht demnach dem gottlichen Vater und dem menschlichen Willen, die zweite oder mittlere Hierarchie (Kyriotetes, Dynameis und Exusiai) entspricht dem Sohn und dem menschlichen Fuhlen, die dritte und niedrigste (Archai, Erzengel und Engel) dem Heiligen Geist und dem menschlichen Denken. Besondere Aufmerksamkeit widmete Steiner der dritten Hierarchie, die dem Menschen am nachsten steht. Nach seiner Darstellung hat jeder Mensch einen personlichen Engel, der ihn im Einklang mit seinem Schicksal fuhrt, wahrend die Erzengel sich um ganze Volker oder historische Zeitraume kummern und die Archai die Entwicklung der Menschheit insgesamt lenken. Unter den Erzengeln wiederum nimmt Michael als Trager der kosmischen Intelligenz eine Sonderstellung ein. Dieser kosmische Intellekt wurde in antiker Zeit den Menschen verliehen, wodurch sie in die Lage kamen, Wissenschaft zu betreiben. Ahriman, symbolisiert als der Drache, den Michael aus dem Paradies verbannte, versucht die Menschen dazu zu verleiten, diese Intelligenz nur fur seine materialistischen und menschenfeindlichen Zwecke einzusetzen. Demgegenuber fordert Michael uns auf, die Intelligenz zu „christianisieren“, indem wir in Freiheit das klare Denken fur die Gestaltung einer harmonischen und gerechten Welt nutzen. Im Besonderen ist Michael der fuhrende Erzengel in der gegenwartigen Epoche der Menschheitsentwicklung (Michael-Zeitalter), die 1879 begann und das „Finstere Zeitalter“ (Kali-Yuga) abloste, in dem es nach Steiner nur unter großen Schwierigkeiten moglich war, Zugang zur geistigen Welt zu bekommen. In diesem Zusammenhang nannte Steiner auch die Anthroposophie insgesamt „michaelisch“.
Gerhard Wehr sieht in Steiners Christusanschauung den Ausgangspunkt der gesamten Anthroposophie und rechnet diese daher als Ganzes zur christlichen Esoterik. Im Besonderen sei sie vergleichbar mit dem „Logos-Christentum“ des Evangelisten Johannes, der kosmischen Christologie des Apostels Paulus, der Mystik Jakob Bohmes und des Rosenkreuzertums, in neuerer Zeit vor allem mit der Mystik und Weltdeutung Pierre Teilhard de Chardins.
= Kosmische Evolution, Menschheitsentwicklung und Kulturepochen =
Steiners Geschichtsbild war stark essentialistisch gepragt. Nach seiner Auffassung ist Geschichte nicht nur in klar begrenzte Abschnitte unterteilt, sondern er schrieb ihr auch einen Sinn und einen Zweck zu. Die Entwicklung der Menschheit stellte er in den Kontext einer kosmischen Evolution, in deren Verlauf unser gesamtes Planetensystem und mit ihm die Menschheit eine Reihe von „Wiederverkorperungen“ durchmacht. Dabei orientierte sich Steiner eng an entsprechenden Darstellungen theosophischer Autoren und insbesondere Blavatskys, von der er die Terminologie weitgehend ubernahm. Die fruheren Verkorperungen des Planetensystems nannte er „Alter Saturn“, „Alte Sonne“ und „Alter Mond“, die kunftigen „Jupiter“, „Venus“ und „Vulkan“. Die Entwicklung der Menschheit beginnt nach seiner Darstellung bereits in der Zeit des Alten Saturn, auf dem der physische Leib des Menschen erschaffen wurde, und setzte sich auf der Alten Sonne und dem Alten Mond mit der Erschaffung des Atherleibes und des Astralleibes fort. Zwischen diesen kosmischen Entwicklungsstufen ging die Menschheit und das ganze Planetensystem jeweils durch Phasen rein geistiger Existenz (Pralaya) hindurch.
Auch Steiners Beschreibung der bisherigen Menschheitsentwicklung auf der Erde lehnte sich eng an theosophische Vorbilder an. Zunachst habe die Menschheit und das ganze Planetensystem die vorangegangenen Verkorperungen in gewisser Weise rekapituliert. Diese Wiederholungen nannte Steiner die polarische, die hyperboraische und die lemurische Epoche, auf welche die atlantische Epoche folgte. Gnostischen Vorstellungen folgend, wird die Menschheitsentwicklung als Abstieg des Geistes in die Materie beschrieben, dem ein kunftiger Wiederaufstieg ins Geistige folgen werde: Unsere gegenwartige Epoche bezeichnete er als die erste nachatlantische Epoche; dieser sollen zwei weitere Epochen folgen, bevor alles wieder in ein Pralaya ubergeht. In der lemurischen Epoche habe der Sundenfall, die Verfuhrung durch Luzifer, stattgefunden. Auch die Trennung von Erde und Mond legt Steiner in diese Zeit. In der atlantischen Zeit habe entsprechend Ahriman einen Teil der Menschheit verfuhrt. Beide Epochen endeten daher mit einer großen Katastrophe, deren letztere Steiner mit der biblischen Sintflut gleichsetzte. Diese datierte er auf etwa 10000 v. Chr.
Unsere gegenwartige erste nachatlantische Epoche untergliederte Steiner wiederum in sieben Abschnitte, welche er „Kulturepochen“ nannte. Die vier bereits vergangenen Kulturepochen bezeichnete er als die uralt-indische, die altpersische, die agyptische und die griechisch-romische Epoche, wobei die uralt-indische und die altpersische weit vor den altesten historischen Uberlieferungen in jenen Landern gelegen haben sollen. In der altpersischen Epoche sei die Landwirtschaft entwickelt und mit dem Bau von Stadten begonnen worden. Die drei darauffolgenden Epochen parallelisierte Steiner mit der Ausbildung der drei oben beschriebenen Seelenglieder. Demnach sei in der agyptischen Epoche die Empfindungsseele ausgebildet worden, in der griechisch-romischen Zeit die Verstandesseele, und unsere gegenwartige Epoche, die im 15. Jahrhundert begonnen habe, bezeichnete er entsprechend als das Zeitalter der Bewusstseinsseele. Die verschiedenen Kulturepochen oder Wurzelrassen werden dabei hierarchisiert, das heißt, sie werden nicht als gleichwertig gedacht. Reprasentant der gegenwartigen Epoche sei die „weiße Menschheit“, von der es heißt, sie stehe an der Spitze der Menschheitsentwicklung und garantiere deren Fortgang.
Die ursprunglich angeblich rein geistige Menschheit wird dabei als alter gedacht als die gesamte Tierwelt, die sich in degenerativen Prozessen aus ihr entwickelt habe. In Umkehrung der darwinschen Evolutionstheorie behauptet Steiner: „Die ganze Summe der irdischen Lebewesen stammt also in Wahrheit vom Menschen ab“.
= Schulungsweg =
Steiner verstand unter Anthroposophie in erster Linie einen „Erkenntnisweg“, nicht eine zu verbreitende Lehre. Diesen Weg der hoheren, „geistigen“ Erkenntnis konne jeder „normal organisierte“ Mensch beschreiten, die Anlage dazu – Steiner sprach in seiner 1904 und 1905 verfassten Aufsatzserie Wie erlangt man Erkenntnisse der hoheren Welten? von „Hellseherorganen“ – sei potenziell in jedermann vorhanden. Dies erfordere im Allgemeinen eine grundliche und systematische Schulung der notwendigen Fahigkeiten sowie die Erfullung gewisser Voraussetzungen: Diese Fahigkeit lasse sich durch geistige Ubungen und Meditationen trainieren wie ein Muskel, sodass der Geheimschuler nach und nach die geistige Welt, Vergangenes und Zukunftiges, in intuitiver Schau erfasse. Dazu bedurfe es aber der Anleitung eines erfahrenen Geistesforschers, mit dessen Hilfe und auf der Grundlage von dessen bisherigen Forschungen sich wahre Erkenntnisse uber die hoheren Welten von bloßen Einbildungen unterscheiden ließen. Die Ergebnisse dieser Schau seien fur jedermann nachvollziehbar, nachprufbar seien sie aber nur fur Menschen, die ebenfalls ihre hellseherischen Fahigkeit ausgebildet hatten.
Steiner erhob fur diese anthroposophische „Geistesforschung“ in der ubersinnlichen Welt den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, da sie in methodischer Weise durchgefuhrt wurde und uberprufbar sei. Daher bezeichnete er seine esoterische Lehre als „Geisteswissenschaft“ oder „Geheimwissenschaft“. Die Gefahr, eigene Phantasien mit wahrhaftigen Ergebnissen ubersinnlichen Schauens zu verwechseln, sah Steiner durchaus: 1904/1905 empfahl er, den „gesunden Sinn“ zur Unterscheidung von Wahrheit und Tauschung zu pflegen, was aber das Problem nur verschob, da er keine Unterscheidungskriterien fur einen gesunden bzw. ungesunden Sinn nannte. Diese „lebensphilosophisch getonte Evidenz“ erganzte er 1909 durch den „Huter der Schwelle“, ein Geisteswesen, das er aus Edward Bulwer-Lyttons Roman Zanoni (1842) ubernommen hatte: Ihn zu kontaktieren wurde vor Tauschungen in der ubersinnlichen Welt schutzen. Außerdem empfahl er verschiedene Ubungen zur Selbstkritik. Helmut Zander bezeichnet all diese Antworten Steiners auf die Probleme ubersinnlicher Wahrnehmung als „unbefriedigend“.
Um die geistige Welt erforschen zu konnen, sind nach Steiner sechs einfache Ubungen erforderlich: Konzentration, Willenskontrolle, Gleichmut, positives Denken, Offenheit fur neue Erfahrung und Vermeidung vorschneller Kritik sowie die Wiederholung der ersten funf Ubungen: Die ersten beiden sollten zu bestimmten Tageszeiten praktiziert werden, die anderen kontinuierlich im Alltag.
= „Anwendungs-Anthroposophie“ =
Steiner zielte durchaus nicht nur auf Innerlichkeit, sondern griff zahlreiche Anregungen der Lebensreformbewegung auf. Dabei zielte er in den Worten des Historikers Ulrich Linse auf „Weltwandel durch praktische Arbeit“. Die „Anwendungs-Anthroposophie“, die er in vielen Bereichen anregte, tragt bis heute zur Attraktivitat der anthroposophischen Bewegung bei. Hierzu zahlen unter anderem die Anthroposophische Architektur, die Waldorfpadagogik, die anthroposophische Medizin, die Naturkosmetik der Marke Weleda, die biologisch-dynamische Landwirtschaft unter der Sammelmarke „Demeter“, die Eurythmie und Die Christengemeinschaft. Auch die Soziale Dreigliederung beeinflusst zahlreiche praktische Initiativen der Anthroposophen, etwa durch Kapitalneutralisierung, Kollegiale Selbstverwaltung, Schenkungsgeld, Leihgemeinschaften und ahnliche Ideen.
Bekannte Anthroposophen Pietro Archiati, ehemaliger katholischer Priester und ehemaliger Dozent an einem katholischen Priesterseminar
Friedrich Benesch, Geistlicher und Priesterseminar-Leiter der Christengemeinschaft, Vortragsredner und Autor
Joseph Beuys, Kunstler und Kunsttheoretiker
Hans Buchenbacher, Philosoph und Anthroposoph
Michael Ende, Schriftsteller
Ernst Robert Fiechter, Bauforscher und Architekt
Friedrich Glasl, Okonom und Konfliktforscher
Michaela Glockler, Kinderarztin und Schriftstellerin
Gerald Hafner, ehemaliges MdB, ehemaliges MdEP (jeweils fur Bundnis 90/Die Grunen) und ehemaliger Waldorflehrer
Judith von Halle, Architektin und Schriftstellerin
Benediktus Hardorp, Wirtschaftsprufer und Steuerberater
Werner Georg Haverbeck, deutscher Priester der Christengemeinschaft, der unter dem Verdacht des Neo-Nazismus stand
Richard Karutz, Arzt und Ethnologe
Michael Kiske, Rocksanger
Harald Matthes, Geschaftsfuhrer und arztlicher Direktor des anthroposophischen Gemeinschaftskrankenhauses Havelhohe
Christian Morgenstern, Dichter und Ubersetzer
Konrad Schily, ehemaliges MdB fur die FDP und Mitbegrunder der Universitat Witten-Herdecke
Otto Schily, ehemaliges MdB, zunachst fur Die Grunen, spater dann fur die SPD, von 1998 bis 2005 deutscher Innenminister
Peter Schnell, Informatiker und Grunder der Software AG, sowie der Software AG - Stiftung
Peter Selg, Hochschuldozent, Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller
Peter Tradowsky, Kaspar-Hauser-Forscher und Schriftsteller
Viktor Ullmann, Komponist
Hans-Hasso von Veltheim, Reiseschriftsteller
Arfst Wagner, ehemaliges MdB fur Bundnis 90/Die Grunen und ehemaliger Waldorflehrer
Mathias Wais, Psychologe und Schriftsteller
Bruno Walter, Dirigent, Pianist und Komponist
Gotz Werner, Begrunder der Drogeriemarkt-Kette dm
Kritik = Fehlende Wissenschaftlichkeit =
Steiners Anspruch, seine „Geisteswissenschaft“ sei eine exakte Wissenschaft mit empirisch uberprufbaren Ergebnissen wie auch die Naturwissenschaften, wird von verschiedener Seite kritisiert. Der schwedische Philosoph Sven Ove Hansson schreibt 1991, dass Steiner als intersubjektives Kriterium zur Uberprufung der auf ubersinnlichem Wege erlangten Erkenntnisse die Ubereinstimmung mit den Erkenntnissen eines Lehrers definiert habe, das heißt, mit seinen eigenen. Dieses Autoritatskriterium werfe aber die Frage auf, woran denn der erste, der Geisteswissenschaft in diesem ubersinnlichen Sinne betrieben habe, seine Erkenntnisse gemessen habe; auch ließe sich dadurch nicht entscheiden, welche von zwei sich gegebenenfalls widersprechenden ubersinnlichen Erkenntnissen alterer Lehrer die richtige sei. Zudem habe nach Steiners Tod 1925 kein Anthroposoph Steiners Grad an Hellsichtigkeit erreicht, und anscheinend habe z. B. keiner wie er in der Akasha-Chronik lesen konnen, einer Art atherischem Weltgedachtnis, in dem alles Wissen uber Vergangenheit und Zukunft gespeichert sein soll. Hansson schrieb weiter, dass Steiner behauptet habe, die konventionelle Wissenschaft werde mit der Zeit die „Wahrheiten“ seiner Geisteswissenschaft etwa zur Atomphysik, zur Speziellen Relativitatstheorie und zur Syphilistherapie, bestatigen. Das sei jedoch nicht eingetreten. Insgesamt kommt Hansson zu dem Ergebnis, dass die Behauptung „Anthroposophie ist eine Wissenschaft“ nicht gerechtfertigt ist.
Die Farbenlehre Goethes, die auch heute noch Thema an den Waldorfschulen ist, wird eng mit der Interpretation Steiners verknupft.
Der deutsche Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich bemerkt, dass Steiners (von Goethe ubernommenes) „essentiales“ Wissenschaftsverstandnis, das den Anspruch erhebe, das „Wesen“ einer Sache ganzheitlich und abschließend zu erfassen, mit der Forschungspraxis und dem epistemologischen Selbstverstandnis der modernen Wissenschaft unvereinbar sei. Wissenschaft sei heute „ein sich standig weiter ausdifferenzierender und sich revidierender Diskurs“, das „Konzept der Einheitswissenschaft und die Moglichkeit eines abschließenden, einheitlichen Weltbildes“, wie es Steiner vorgeschwebt habe, sei damit nicht mehr vereinbar.
In dieselbe Richtung argumentiert der Erziehungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth, der die Anthroposophie Steiners pointiert und noch scharfer wie folgt kritisiert: „Steiners Geisteswissenschaft ist [...] nach meinem Eindruck nichts anderes als ein geschlossenes, komplettes Wahnsystem und hat mit Wissenschaft nichts zu tun [...].“
Ein prinzipielles Problem der biologisch-dynamischen Methode, die sich ebenfalls auf die Anthroposophie grundet, ist, dass sie keinerlei Angaben zum Wirkmechanismus der von ihr vorgeschlagenen Behandlungsmethoden machen kann, der im Einklang mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen stunde; dies wird auch von Befurwortern der Methode durchaus eingeraumt.
= Rassismus und Antisemitismus =
In Steiners weitausgreifendem Werk finden sich an etlichen Stellen Aussagen uber Menschenrassen. Dabei handelt es sich einerseits um anthropologische Untergliederungen der heutigen Menschheit in drei, vier oder funf Rassen und andererseits um die theosophische Lehre von den „Wurzelrassen“, welche aufeinanderfolgende Stadien der Entwicklung der ganzen Menschheit darstellen sollen. Bei den anthropologischen Untergliederungen der Menschheit griff Steiner rassentheoretische Ansatze von Carl von Linne, Carl Gustav Carus und Ernst Haeckel auf. Die Wurzelrassen-Lehre ubernahm er vor allem von dem Theosophen William Scott-Elliot, wobei er die Bezeichnung „Wurzelrasse“ aber bald aufgab und durch „Epoche“, „Hauptzeitraum“ oder „Zeitalter“ ersetzte.
Nachdem in den 1980er Jahren verschiedene Publikationen die Rezeption der Wurzelrassenlehre in der volkischen Bewegung des fruhen 20. Jahrhunderts und damit in der Vorgeschichte des Nationalsozialismus untersucht hatten, ordnete die ehemalige Grunen-Politikerin Jutta Ditfurth in ihrer 1992 erschienenen Schrift Feuer in die Herzen unter Bezugnahme auf die Wurzelrassen die Anthroposophie (neben dem New Age und anderen esoterischen Stromungen) als extrem rassistisch ein. Daran knupften seither zahlreiche Autoren an.
In den Niederlanden kam es 1996 zu einem Eklat, als ein Vorstandsmitglied der dortigen Anthroposophischen Gesellschaft in einer Radiosendung versuchte, einschlagige problematische Außerungen Steiners zu verteidigen. Die Anthroposophische Gesellschaft reagierte auf die dadurch ausgeloste Emporung, indem sie eine Fachkommission unter Leitung des international tatigen Menschenrechtsanwaltes Ted A. van Baarda damit beauftragte, das gesamte, etwa 300 Bande umfassende Œuvre mit 89.000 Textseiten systematisch auf entsprechende Aussagen hin zu uberprufen. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, zwolf Textstellen seien nach Inhalt und Formulierung derart diskriminierend, dass sie nach der heutigen Rechtslage in den Niederlanden wahrscheinlich strafbar waren. Weitere 50 Stellen seien aufgrund ihrer zeitgebundenen Wortwahl aus heutiger Sicht rassistisch interpretierbar oder bei mangelnder Kenntnis des werkimmanenten (anthroposophischen) Kontextes so missverstandlich. Dennoch wurde in Bezug auf Steiners Menschenbild abschließend festgehalten, dass die Grundlage die Gleichwertigkeit aller Individualitaten sei und nicht die Uberlegenheit einer Rasse uber eine andere. Es befanden sich zwar eine Reihe sehr problematischer Außerungen in Steiners Werk, die allerdings fur die Anthroposophie nicht konstitutiv seien. Den Vorwurf des Antisemitismus wies die Kommission zuruck. Sie erklarte, dass sich Steiner stets gegen Antisemitismus eingesetzt habe, wenngleich er dessen Verbreitung anfangs schwer unterschatzt und erst um 1900 sein Urteil revidiert habe. Anfang des Jahrhunderts war Steiner Mitglied im Verein zur Bekampfung des Antisemitismus. Steiner bezog in den Mitteilungen des Vereins, unter anderem in einer Artikelserie unter dem Titel Verschamter Antisemitismus wiederholt Stellung. Den Antisemitismus bezeichnete er als „Gefahr sowohl fur Juden als fur Nichtjuden“ und als „Kulturkrankheit“, die aus einer Gesinnung hervorging, „gegen die nicht deutlich genug Stellung bezogen werden kann“. Insgesamt herrschen uber die Tragweite der entsprechenden Textstellen geteilte Ansichten: Wahrend einige darin dennoch den Beweis einer antisemitischen Gesinnung Steiners sehen, argumentieren andere, dass allein die quantitative Auflistung (unter ein Promille) zeige, dass die Außerungen nicht zentral fur Steiners Werk gewesen sein konnten, zudem habe er sich in seinem Werk an anderen Textstellen deutlich gegen antisemitische Gesinnungen ausgesprochen.
Steiner ging davon aus, dass „Vererbungs- und Blutzusammenhange“ in einigen tausend Jahren verschwinden wurden. So bezeichnete er 1909 die Wurzelrassenlehre als eine „Kinderkrankheit“ der theosophischen Bewegung. Daraus ergebe sich aber, so die Kulturwissenschaftlerin Jana Husmann-Kastein, dass Steiner den Rassebegriff fur die Vergangenheit und fur seine Gegenwart durchaus fur relevant hielt. Die Grundstruktur seines neognostischen Evolutionsmodells, wonach der Geist sich zunehmend verstoffliche, um sich danach wieder zu vergeistigen, habe er auf die Menschenrassen seiner Zeit angewandt. Außereuropaer habe er mit Begriffen wie „dunkle Materie“, „Verhartung“, „Verknocherung“ und „Degeneration“ beschrieben, die als weiß bezeichneten Europaer wurden bei ihm dagegen mit geistiger Potenz und die Entwicklung hin zu zukunftiger Vergeistigung in Verbindung gebracht. So lasse sich auch Steiners viel zitierte Aussage verstehen: „Die weiße Rasse ist die zukunftige, ist die am Geiste schaffende Rasse“.
Aufgrund der rassentheoretischen Passagen in seinem Werk wird Steiner teilweise der Volkischen Bewegung zugerechnet. So schreibt etwa der romisch-katholische Theologe und Religionshistoriker Helmut Zander, Steiner habe eine Reihe seiner Begriffe dem volkischen Diskurs entnommen. Zwar relativiert Zander die Zugehorigkeit zum volkischen Diskurs selbst wieder, sieht bei Steiner aber eine unaufgeloste Ambivalenz. Der Historiker resumiert: „Neben und in den humanistischen Vorstellungen unter Anthroposophen findet sich weiterhin die volkische Tradition.“ Der Journalist Wolfgang Purtscheller bezeichnet Steiner als „Nationalisten volkischer Pragung mit verschworungstheoretischem Hintergrund“.
Der Historiker Clemens Esser dagegen bestreitet, dass Steiner uberzeugter Rassentheoretiker und Antisemit gewesen sei. Zwar gebe es namentlich aus den Jahren bis 1918 verschiedene entsprechende Außerungen von ihm, doch habe der Eklektiker Steiner immer Anleihen bei anderen Publizisten gemacht, etwa bei Ernst Haeckel, der Darwins Abstammungslehre in Deutschland popularisierte. Wenn man ihm diese Ubernahmen nicht anrechne, verliere „auch der oft traktierte Antisemitismusvorwurf an die Adresse Steiners einiges von seiner Dramatik“. Der Theologe Matthias Pohlmann weist darauf hin, dass diese relativierende Erklarung von Steiners rassentheoretischen Aussagen als bloße Anleihen an die zeitgenossische Publizistik im Widerspruch steht zu seinem Anspruch, seine Aussagen wurden auf Erkenntnissen basieren, zu denen er auf ubersinnlichem Weg gekommen sei und die daher uberzeitliche Gultigkeit beanspruchen konnten. Pohlmann sieht in der Praxis an Waldorfschulen auffallige Allianzen mit Reichsburgern und Rechtsextremen; im anthroposophischen Milieu seien bis in die Gegenwart rassetheoretische Implikationen der steinerschen Aussagen und insbesondere Verschworungstheorien verbreitet.
Als Reaktion auf die Kritik verabschiedete die Mitgliederversammlung des Bundes der Freien Waldorfschulen am 28. Oktober 2007 in Stuttgart die sogenannte Stuttgarter Erklarung.
= Christologie =
Neben der Lehre von Reinkarnation und Karma ist die anthroposophische Christologie Gegenstand der konfessionellen Kritik. Sie wird von den christlichen Kirchen als nicht mit der Botschaft des Neuen Testaments vereinbar angesehen und mit der antiken Gnosis, die ebenfalls als haretisch eingestuft wurde, verglichen. Oft wird in diesem Zusammenhang schon die Mitgliedschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft als nicht mit dem Christsein vereinbar bezeichnet.
= Impfgegnerschaft =
Im November 2021 stellte der Journalist Mathieu von Rohr die These auf, dass die deutschsprachigen Staaten die niedrigsten Raten vollstandig gegen SARS-CoV-2 Geimpfter der westlichen Lander aufweisen, sei zuruckzufuhren auf „Spatfolgen der Deutschen Romantik: Anthroposophie, Homoopathie, Impfgegnertum.“ Diese These wurde kontrovers diskutiert: So verwahrte sich die Gesellschaft Anthroposophischer Arzte in Deutschland e. V. (GAAD) gegen den Verdacht, die anthroposophische Medizin sei eine Anti-Impfbewegung und nicht wissenschaftsorientiert. Impfungen seien vielmehr durchaus sinnvoll, um lebensbedrohliche Erkrankungen zu vermeiden, man musse aber individualisierte Impfschemata finden, etwa was den Zeitpunkt der Impfung betreffe. Der Dachverband Anthroposphischer Medizin in Deutschland (DAMiD) befurwortet in der Corona-Pandemie eine Impfung, besonders bei Risikogruppen. Steiner sprach sich seinerzeit fur die Pockenimpfung aus.
Allerdings sind viele Personen, die sich als Anthroposophen verstehen, Impfgegner. Die Anthroposophische Medizin mochte Menschen dahin fordern, sich selbst regulieren zu lernen durch einen gesunden Lebensstil, um so ihre Resilienz zu erhohen, wodurch Impfungen uberflussig seien. Gegner von Impfungen stutzen sich haufig auf die Lehren Steiners, wonach Krankheiten nicht unterdruckt, sondern durchlebt werden sollten. Dies kann aus der von Steiner vertretenen Lehre der Reinkarnation abgeleitet werden, die unter anderem besagt, dass Krankheiten auch dazu dienen konnen, Verfehlungen aus einem vorherigen Leben zu neutralisieren, und es Kindern somit erleichtert wird, sich in einem neuen Korper einzurichten. Die Basisdemokratische Partei Deutschland, die 2020 im Umfeld der Proteste gegen Schutzmaßnahmen zur COVID-19-Pandemie in Deutschland gegrundet wurde, stutzt sich auf die anthroposophische Weltanschauung. Der ehemalige Waldorf-Ausbilder Christoph Hueck gilt als Vordenker der Querdenker-Szene. Jutta Ditfurth meint deshalb, Anthroposophen seien eine „tragende Saule der Corona-Querfront“. Die Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey, Robert Schafer und Nadine Frei stellten in ihrer soziologischen Analyse der Querdenkerbewegung eine starke Ubereinstimmung mit anthroposophischen und esoterischen Uberzeugungen fest. Frei differenziert jedoch, dass dies nur fur Sudwestdeutschland gelte. In Ostdeutschland, Osterreich und der Schweiz sei die Impfskepsis weniger anthroposophisch-esoterisch als grundsatzlich staatsskeptisch bzw. rechtsextrem motiviert.
Es gibt auch anthroposophische Mediziner, die sich fur Corona-Impfungen einsetzen, wie zum Beispiel das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhohe in Berlin.
Literatur Heiner Barz: Anthroposophie im Spiegel von Wissenschaftstheorie und Lebensweltforschung. Zwischen lebendigem Goetheanismus und latenter Militanz. Deutscher Studien-Verlag, Weinheim 1994, ISBN 3-89271-458-4.
Kurt E. Becker: Anthroposophie – Revolution von innen. Leitlinien im Denken Rudolf Steiners. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1984, Reprint 2015, ISBN 978-3-596-23336-6.
Ulrich Linse: Theosophie/Anthroposophie. In: Metzler Lexikon Religion. Gegenwart – Alltag – Medien. Band 3, J. B. Metzler, Stuttgart / Weimar 2005, S. 490–495.
Thomas Marti: Anthroposophie – heute noch modern? Ideen – praktische Arbeitsfelder – Perspektiven. Eine kritische Wurdigung. LIT, Munster 2008, ISBN 978-3-8258-0724-5.
Helmer Ringgren: Anthroposophie In: Theologische Realenzyklopadie. Band 3, De Gruyter, Berlin 1978, ISBN 978-3-11-017132-7, S. 8–20.
Rahel Uhlenhoff (Hrsg.): Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-8305-1930-0.
Gerhard Wehr: Anthroposophie. Diederichs, Kreuzlingen 2004, ISBN 3-7205-2529-5.
Gerhard Wehr: Rudolf Steiner – Leben – Erkenntnis – Kulturimpuls. Kosel Verlag, Freiburg i.Br. 1987, ISBN 3-466-34159-0.
Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945. Zwei Bande. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2007, ISBN 978-3-525-55452-4 (Rezension auf H-Soz-u-Kult).
Helmut Zander: Die Anthroposophie. Rudolf Steiners Ideen zwischen Esoterik, Weleda, Demeter und Waldorfpadagogik. Ferdinand Schoningh Verlag, Paderborn 2019, ISBN 978-3-506-79225-9.
Adolf Baumann: ABC der Anthroposophie – Ein Worterbuch fur jedermann. Hallwag Verlag, Bern – 9 1986, ISBN 3-444-10324-7.
Christoph Strawe: Marxismus und Anthroposophie. Klett-Cotta, Stuttgart 1986, ISBN 3-608-91407-2, (Habilitationsschrift).
Marek B. Majorek: Rudolf Steiners Geisteswissenschaft. Mythisches Denken oder Wissenschaft? Verlage narr francke attempto, Tubingen 2015, 1586 S. in 2 Banden, ISBN 978-3-7720-8563-5.
Andre Sebastiani: Anthroposophie – Eine kurze Kritik. 2. Auflage, Alibri, Aschaffenburg 2019, ISBN 978-3-86569-122-4.
Peter Selg: Anthroposophie, Religion und Kultus. Rudolf Steiners Kurs fur Theologiestudenten – Stuttgart, Juni 1921. Verlag am Goetheanum, Dornach 2021, ISBN 978-3-7235-1690-4.
Joseph Huber: „Astral-Marx“. Uber Anthroposophie, einen gewissen Marxismus und andere Alternatiefen. In: Kursbuch 55: Sekten (1979), S. 139–164.
Weblinks = Allgemein =
Jochen Breyer auf ZDFzoom (20. Januar 2023, 00:28): Anthroposophie - gut oder gefahrlich?
Online-Katalog der Bibliothek der Anthroposophischen Gesellschaft Stuttgart
www.anthromedia.net Anthroposophisches Informationsportal
Rudolf-Steiner-Handbuch mit Inhaltsangaben aller Bande der Gesamtausgabe
Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft
Kommission „Anthroposophie und die Frage der Rassen“, Ted van Baarda (Hrsg.): „Selektive Emporung“: Rudolf Steiner rassistisch und antisemitisch? Kommission prasentiert die Fakten. In: waldorf.net. 7. April 2000, archiviert vom Original (nicht mehr online verfugbar) am 16. September 2016; abgerufen am 10. April 2019.
Georg Otto Schmid: Anthroposophie. In: Relinfo.ch. 1999; abgerufen am 10. April 2019 (evangelische Informationsstelle).
Linkkatalog zum Thema Anthroposophie bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Tagungsdokumentation „Anthroposophie – kritische Reflexionen“. (PDF; 1,2 MB) Humboldt-Universitat Berlin, 21. Juli 2006; abgerufen am 10. April 2019.
Lorenzo Ravagli: Zur Geschichte der anthroposophischen Gesellschaft und Bewegung. In: anthroweb.info. Abgerufen am 10. April 2019
Rudolf Steiner, Waldorf-Padagogik und Anthroposophie – „Da steckt massiv Religion drin“ auf deutschlandfunk.de, 6. November 2019
= Anthroposophie in der Diskussion =
Mysterium Anthroposophie. – Sternstunde Philosophie vom 15. Februar 2009, Der Historiker Helmut Zander im Gesprach mit Norbert Bischofberger (Video ca. eine Stunde)
Gerard Kerkvliet: Gutachten. Rudolf Steiner uber das Judentum (Memento vom 9. Oktober 2009 im Internet Archive). In: info3, 1999, (im Internet Archive; Zusammenfassung des 720 Seiten umfassenden Abschlussberichtes der Kommission Anthroposophie und die Frage der Rassen).
Sven Ove Hansson: Ist die Anthroposophie eine Wissenschaft? (Memento vom 9. November 2013 im Internet Archive)
Petrus van der Let, Christoph Lindenberg: Diskriminierende Ausserungen von Rudolf Steiner und ihr Einfluss auf die Anthroposophie. (Memento vom 15. Januar 2008 im Internet Archive) In: infosekta.ch, 1999 (gedruckt erschienen in: Tangram. Bulletin der Eidgenossischen Kommission gegen Rassismus. Nr. 6, Marz 1999, S. 50–56).
Ramon Brull, Jens Heisterkamp (Hrsg.): Rudolf Steiner und das Thema Rassismus. Frankfurter Memorandum. 2., um ein Vorwort erganzte Auflage. Info3 Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-95779-092-7.
Colin Goldner: Ather-, Astral- und Ich-Leiber. Die obskure Welt von Anthroposophie und Waldorf-Padagogik (Memento vom 6. Januar 2012 im Internet Archive) In: E. Ribolits, J. Zuber (Hrsg.): Karma und Aura statt Tafel und Kreide. Der Vormarsch der Esoterik im Bildungsbereich. Schulhefte-Verlag, Nr. 103, Wien 2001, ISBN 3-901655-23-9.
Andreas Lichte: Hitler, Steiner, Mussolini – Anthroposophie und Faschismus, gestern und heute. In: Ruhrbarone. 24. Februar 2012.
Jochen Breyer: Anthroposophie - gut oder gefahrlich?, ZDFzoom
Einzelnachweise und Anmerkungen
|
Als Anthroposophie (von altgriechisch ανθρωπος anthropos „Mensch“ und σοφια sophιa „Weisheit“) werden eine von Rudolf Steiner (1861–1925) begrundete, weltweit vertretene spirituelle und esoterische Weltanschauung sowie der zugehorige Ausbildungs- und Erkenntnisweg bezeichnet. Die Anthroposophie verbindet Elemente des deutschen Idealismus, der Weltanschauung Goethes, der Gnosis, christlicher Mystik, fernostlicher Lehren sowie der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zu Steiners Zeit miteinander. Eine Hauptquelle der anthroposophischen Lehre bildet die okkulte „Geheimwissenschaft“,
die Rudolf Steiner nach eigenen Aussagen aus Erforschungen einer fur ihn bestehenden geistigen Welt, mit Hilfe von „Hellseherorganen“, erlangt habe.
Ein zentraler Aspekt war und ist eine Anwendung des Evolutionsgedankens auf die spirituelle Entwicklung. Dabei verarbeitete Steiner evolutionare Ansatze sowohl des Darwinisten Ernst Haeckel als auch der modernen Theosophie, wie sie Helena Petrovna Blavatsky vertrat. Die Anthroposophie sucht – im Gegensatz zu Vertretern eines rein sakular naturwissenschaftlich orientierten Fortschrittsgedankens – die Menschheit und ihre Entwicklung spirituell und ubersinnlich zu verstehen, setzt sich dabei aber von der Theosophie und ihrer Orientierung an der ostlichen Religiositat ab. Die Einbeziehung und Neuinterpretation der Evolution fuhrte ebenso wie bei Haeckel und anderen Zeitgenossen Steiners zu Kontroversen um mogliche sozialdarwinistische und rassistische Aspekte.
Angeregt von Steiners Ideen existiert in vielen Bereichen eine „Anwendungs-Anthroposophie“, zum Beispiel die Anthroposophische Architektur, die Waldorfpadagogik, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die anthroposophische Medizin, anthroposophische Naturkosmetik und Die Christengemeinschaft.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Anthroposophie"
}
|
c-13963
|
Die Natronlokomotive ist eine feuerlose Dampflokomotive. Sie wurde 1883 von Moritz Honigmann entwickelt und beruht auf einem fur die Dampfgewinnung kaum verwendeten Prinzip.
Das Verfahren wurde von Honigmann am 8. Mai 1883 unter der Patentnummer 24993 in Berlin geschutzt. Der Titel des Patents lautete: Uber das Verfahren zur Entwicklung gespannten Dampfes durch Absorption des abgehenden Maschinendampfes in Atznatron oder Atzkali von Moritz Honigmann in Grevenberg bei Aachen.
Funktionsweise Wasserdampf wird in konzentrierte Natronlauge geleitet, dabei wird der Dampf bei Temperaturen von 130 °C und daruber vollkommen in die Losung aufgenommen. Durch den Losungsvorgang wird die Lauge durch das Wasser verdunnt. Gleichzeitig wird Warme (Kondensationsenthalpie und Losungsenthalpie) frei und die Losung erhitzt sich. Diese erhitzte Losung wird dann zur Beheizung des eigentlichen Dampfkessels benutzt. Die Losung wird mit der Zeit warmer und wassriger, bis sie kein Wasser mehr aufnehmen kann und selbst anfangt zu sieden. Prinzipiell sind fur dieses Verfahren auch andere Losungen als Natronlauge denkbar.
Die Standardbildungsenthalpie von festem Natriumhydroxid (NaOH) betragt −426,7 kJ/Mol; die von gelostem NaOH −469,6 kJ/mol. Bei der vollstandigen Auflosung von NaOH werden 42,9 kJ/mol in Form von Warme freigesetzt. Festes NaOH hat eine molare Masse von 39,997 g/mol (entspricht 25,002 mol/kg). Es werden also je Kilogramm vollstandig gelostem Feststoff 1072,6 kJ (= 298 Wh) frei. Es konnte jedoch nur ein Teil dieser Energie genutzt werden, da sich das Natriumhydroxid bereits beim Befullen der Lokomotive in Losung befand.
An der Fullstation wurde die Lok mit 900 kg 180 °C heißer 83%iger Natronlauge befullt. Der Energiegehalt wurde spater mit „je Pferdestarkenstunde ein Fullungsgewicht von 20 kg“ beschrieben. Aus dieser Angabe ist jedoch nicht eindeutig nachvollziehbar, ob es sich um die mechanische Leistung der Dampfmaschine oder die Warmeleistung des Kessels handelt. Der Wert entspricht einer Energiedichte von etwa 36,8 Wh/kg Lauge, bei 900 kg ergibt sich eine „Tankkapazitat“ von rund 33,1 kWh. Ein moderner Bleiakkumulator kommt auf bis zu 60 Wh/kg, Benzin hat im Vergleich dazu eine Energiedichte von 12 kWh/kg, also mehr als das Dreihundertfache.
Zusatzlich zu der aus der Losung gewonnenen Warme wurde die Kondensationsenthalpie des Abdampfes genutzt und ging nicht verloren. So konnte die Verdampfungsenthalpie des Speisewassers aus dem Abdampf gewonnen werden und nur die zur Verrichtung von Arbeit notwendige Energie musste durch den Speicher bereitgestellt werden.
Honigmann brachte auf seinen Lokomotiven einen Natronkessel a (Bild rechts) an, uber welchem ein Wasserkessel b steht. Vom Boden des Wasserkessels geht eine große Anzahl Siederohre c bis fast zum Boden des Natronkessels. Ein Rohr d fuhrt von dem oberen, dampfgefullten Teil des Wasserkessels zu den Dampfzylindern f, ein zweites e von diesen in den unteren Teil des Natronkessels. Ist nun von vornherein der Dampfdruck in b groß genug, um die Maschine anzutreiben, so gelangt der verbrauchte Dampf durch e in die Natronlauge, lost sich dort und erhitzt durch Warmeabgabe die Losung. Diese wiederum lasst durch den Warmeubergang der Siederohre c genugend Wasser in b verdampfen, um die Maschine in Gang zu halten. Die Heizung des Wasserkessels reguliert sich von selbst. Je mehr die Maschine leistet, je mehr Dampf sie also verbraucht, desto mehr Dampf wird auch der Natronlauge zugefuhrt und desto mehr Warme wird entwickelt.
Nach etwa vier bis funf Stunden wurde die Natronlauge durch Verdunnung unwirksam. Dann musste sie abgelassen und wieder eingedampft werden. Der Kessel wurde mit frischer, konzentrierter Losung gefullt. Das in b verdampfende Wasser wurde durch eine Dampfstrahlpumpe aus einem Wasservorratskasten g ersetzt.
Natronkessel, Siederohre und Abdampfpfannen mussen aus korrosionsbestandigem Material hergestellt werden (damals war das vor allem Kupfer), weil Eisen von der Natronlauge bei hohen Temperaturen angegriffen wird. Die Natronlokomotive hat gegenuber der Dampfspeicherlokomotive einen komplizierteren und aufwandiger herzustellenden Kessel sowie ein Wasserreservoir. Dagegen ist sie nicht nur feuer- und rauchlos, sondern auch ohne Dampfausstromung. Auch zeichnet sie sich durch eine langere Leistungsdauer nach einer Fullung aus, so dass gleichzeitig die Gefahr des Liegenbleibens des Fahrzeugs mitten auf der Strecke vermindert wird.
Geschichte Honigmann ließ eine Maschine dieser Bauart fur die Aachener und Burtscheider Pferdebahngesellschaft in Aachen bauen. Sie wurde vom Juni 1884 bis zum Marz 1885 auf einer einen Kilometer langen Strecke betrieben. In der Nahe von Aachen wurden zwei derartige Lokomotiven im Kohlebergbau betrieben. In Berlin-Charlottenburg fuhr ebenfalls versuchsweise eine Straßenbahn mit Natronlokomotive. Die Leipziger Pferdeeisenbahn-Gesellschaft fuhrte ab Ende Februar 1886 Probefahrten zwischen der Innenstadt und dem Depot in Plagwitz mit einer von der Halleschen Maschinenfabrik gelieferten Natronlokomotive „System Honigmann“ mit 11 t Betriebsgewicht durch.
Wie auch der Probebetrieb in Leipzig, fiel schon die Bilanz des Versuchseinsatzes in Aachen eigentlich recht positiv aus. So heißt es: „Die Bewegung der Maschine war eine so ruhige und gleichmaßige, daß die Passagiere gerne mit der derselben fuhren.“ Die Steigung von 3 % bewaltigte die Natronlokomotive im Unterschied zur Pferdebahn ohne Probleme. Wahrend ein Fahrkilometer mit der Pferdebahn die Betreiber 25 Pfennig kostete, verursachte die Natronbahn nur Kosten von 16 Pfennig.
Probleme gab es aber offensichtlich beim Wiedereindampfen der verdunnten Natronlauge. In Aachen hatte man dafur Kupferkessel im Einsatz, von denen es heißt, sie waren von der Natronlauge mit der Zeit aufgelost worden. Versuche dazu wurden allerdings von den mit der Beurteilung der Technik beauftragten Prof. Alois Riedler und seinem Assistenten Gutermuth von der TU Munchen mit einem Kessel aus Gusseisen durchgefuhrt. Hier war eine gewisse Verminderung der Wanddicke durch die Natronlauge zu verzeichnen, aus der die beiden berechneten, dass der Kessel der Eindampfanlage alle ein bis zwei Jahre ausgetauscht werden musste. Diese Kosten scheuten die Verantwortlichen. Honigmann entwickelte jedoch ein System, um die Natronlauge unter Vakuum einzudampfen. Dafur hatten ca. 80 °C ausgereicht. Bei dieser Temperatur sollten die gusseisernen Kessel viertausendmal langer halten. Mit solch einer Apparatur wurde die Natronlauge in der Honigmann’schen Sodafabrik eingedampft.
Die Verantwortlichen verwiesen auch auf eine Gleisanlage, die das Gewicht der Natronlokomotive auf die Dauer nicht tragen konnte, und brachen den Versuch nach acht Monaten ab.
Trotz ihrer Vorteile, vor allem gegenuber der damaligen Konkurrenz von Pferdebahnen und fruhen Dampflokomotiven, deren Einsatz in bebautem Gebiet durch Rauch- und Dampfemissionen nicht ohne Probleme war, konnte sich diese Bauweise nicht durchsetzen.
Diese Form des thermochemischen Warmespeichers ist jedoch fur die Warmespeicherung, z. B. in Verbindung mit Solaranlagen, Ende des 20. Jahrhunderts wieder genutzt worden.
Literatur C. S.: Eine Locomotive, die mit ihrem eigenen Dampfe geheizt wird. In: Die Gartenlaube. Heft 46, 1883, S. 755 (Volltext [Wikisource]).
Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Jahrgang 1883, S. 730.
Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure, Jahrgang 1884, S. 69 und S. 978.
Engineering vom 27. Februar 1885.
Zeitschrift fur das gesammte Local- und Strassenbahn-Wesen, Jahrgang 1885, S. 74.
Christian Mahr: Die Natronlok. In: Vergessene Erfindungen. 1. Auflage, 2002. / 2. Auflage, DuMont Buchverlag, Koln 2006, ISBN 978-3-8321-7744-7, S. 27–46.
Weblinks Geschichte der Lok (auf Englisch)
Einzelnachweise
|
Die Natronlokomotive ist eine feuerlose Dampflokomotive. Sie wurde 1883 von Moritz Honigmann entwickelt und beruht auf einem fur die Dampfgewinnung kaum verwendeten Prinzip.
Das Verfahren wurde von Honigmann am 8. Mai 1883 unter der Patentnummer 24993 in Berlin geschutzt. Der Titel des Patents lautete: Uber das Verfahren zur Entwicklung gespannten Dampfes durch Absorption des abgehenden Maschinendampfes in Atznatron oder Atzkali von Moritz Honigmann in Grevenberg bei Aachen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Natronlokomotive"
}
|
c-13964
|
Der Schlebuscher Erbstollen (ursprunglich Trapper Erbstollen genannt) ist mit seiner Verlangerung, dem Dreckbanker Erbstollen, der langste Erbstollen im Steinkohlen-Bergbau des Ruhrgebiets (Ruhrbergbau). Der Stollen beginnt sudlich der Ruhr in der Gemarkung Wengern, einem Stadtteil von Wetter (Ruhr), von wo aus er mit leichter Steigung nach Sudwesten in Richtung Haßlinghausen vorgetrieben wurde.
Benannt ist der „Schlebuscher Erbstollen“ nach der Schlebuscher Gewerkschaft, die ihn erbaut hat. Der Name „Dreckbanker Erbstollen“ weist dagegen auf die Gewerkschaft Dreckbank hin.
Geschichte Erbaut wurde der Stollen ab den 1780er Jahren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Der untere Teil des Stollens wurde bereits 1765 begonnen. Er diente einzig dem Zweck, die an ihn angeschlossenen Zechen wasserfrei zu halten, ohne dass das Wasser abgepumpt werden musste. Im Jahr 1804 erreichte der Stollen die Zeche Trappe und damit auch die Kohlenfelder. In den nachsten Jahren wurde der Stollen durch die Berechtsame der Zeche Trappe weitergebaut und hinter Gevelsberg verstuft. Hier endet der Schlebuscher Erbstollen. Im Jahr 1841 setzte eine andere Gewerkschaft den Stollen als Dreckbanker Erbstollen fort, um die Sprockhoveler Zechen zu entwassern und enterbte dadurch den Herzkamper Erbstollen.
Der Stollen erreichte eine Gesamtlange von etwa 13 km und reichte bis zur heutigen Stadtgrenze bei Wuppertal in der Nahe von Sprockhovel-Herzkamp. Sein Mundloch liegt auf 87 Metern uber NN, er entwassert 38 km² kohlefuhrende Gesteinsschichten. Mit seiner Hilfe verschafften sich die Bergleute noch in 140 Metern Tiefe Zugang zur Steinkohle. Eine weitere Aufgabe des Stollens war die Heranfuhrung frischer Luft (frische Wetter) zu den Arbeitsplatzen der Bergleute. Der „Schlebuscher Erbstollen“ ist seit nunmehr 250 Jahren in Betrieb, obwohl die angeschlossenen Bergwerke langst stillgelegt sind. Aus seinem Mundloch stromen große Mengen Wasser, die in etwa einem Kilometer Entfernung in die Ruhr munden. Nach starken Regenfallen wird seine Wasserfuhrung so groß, dass die benachbarte Wiese komplett uberschwemmt wird.
1986 wurde der Stollenmundlochbereich mit Gezahekammer und Fahrschachtzugang unter Denkmalschutz gestellt. Er ist als Baudenkmal Nr. 113 in der Baudenkmalliste von Wetter eingetragen.
Siehe auch Schlebusch-Harkorter Kohlenbahn
Quellen Joachim Huske: Die Steinkohlenzechen im Ruhrrevier. Daten und Fakten von den Anfangen bis 1997 (= Veroffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum 144). 2. uberarbeitete und erweiterte Auflage. Selbstverlag des Deutschen Bergbau-Museums, Bochum 1998, ISBN 3-921533-62-7.
Wilhelm Hermann, Gertrude Hermann: Die alten Zechen an der Ruhr. Vergangenheit und Zukunft einer Schlusseltechnologie. Mit einem Katalog der „Lebensgeschichten“ von 477 Zechen (= Die blauen Bucher). 6. um einen Exkurs erweiterte und aktualisierte Auflage. Langewiesche, Konigstein im Taunus 2008, ISBN 978-3-7845-6994-9, S. 300.
Literatur Oliver Glasmacher: Schlebuscher Erbstollen (Wetter/Ruhr). Montanhistorische Einordnung und Erforschung in: Tagungsband (Alt) Bergbau- und -Forschung in NRW 2012 [1]
Weblinks Beschreibung aller Standorte auf dieser Themenroute als Teil der Route der Industriekultur
Der Schlebuscher Erbstollen Geschichte und Gegenwart (zuletzt abgerufen am 5. November 2012)
ruhrkohlenrevier.de zum Schlebuscher Erbstollen / Dreckbanker Erbstollen (zuletzt abgerufen am 5. November 2012)
|
Der Schlebuscher Erbstollen (ursprunglich Trapper Erbstollen genannt) ist mit seiner Verlangerung, dem Dreckbanker Erbstollen, der langste Erbstollen im Steinkohlen-Bergbau des Ruhrgebiets (Ruhrbergbau). Der Stollen beginnt sudlich der Ruhr in der Gemarkung Wengern, einem Stadtteil von Wetter (Ruhr), von wo aus er mit leichter Steigung nach Sudwesten in Richtung Haßlinghausen vorgetrieben wurde.
Benannt ist der „Schlebuscher Erbstollen“ nach der Schlebuscher Gewerkschaft, die ihn erbaut hat. Der Name „Dreckbanker Erbstollen“ weist dagegen auf die Gewerkschaft Dreckbank hin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Schlebuscher_Erbstollen"
}
|
c-13965
|
Als Bergwerk werden alle uber- und untertagigen Betriebseinrichtungen und -anlagen an einem Standort zur Gewinnung, Forderung und Aufbereitung von Bodenschatzen bezeichnet. Bergwerke werden auch Grube oder Zeche genannt. Zu einem Bergwerk zahlen alle Bauwerke, Anlagen und Einrichtungen uber Tage, die der Forderung, Aufbereitung, Lagerung und Verladung von Rohstoffen und Bergematerial dienen, sowie Anlagen und Einrichtungen zur Verwaltung wie z. B. die Schichtenkontrolle und fur die Mitarbeiter. Zudem gehoren zu einem Bergwerk alle zugehorigen untertagigen Anlagen und Einrichtungen, insbesondere alle Schachte, Strecken und Stollen, die als Grubenbau bezeichnet werden. Im weiteren Sinne gehoren auch Grabungen „uber Tage“ (Tagebau) und Tiefbohrungen dazu.
Grundlagen Um als Privatmann ein Bergwerk errichten und betreiben zu konnen, braucht der Betreiber eine staatliche Genehmigung. Im Bergbau wird dies als Verleihung bezeichnet. Des Weiteren benotigt ein Bergwerksbetreiber, je nach Große des Bergwerks, eine mehr oder minder große Kapitalmenge. Dieses kann er entweder aus eigenem Vermogen aufbringen oder aus Anleihen. Da er das Kapital in der Regel nicht allein aufbringen kann, beteiligt er weitere Geldgeber finanziell an dem Bergwerk: fruher in Form einer Gewerkschaft und heute in einer anderen Form einer Kapitalgesellschaft. Zum Betrieb des Bergwerks wird eine, je nach Große und Umfang des Bergwerks, bestimmte Anzahl an Arbeitnehmern benotigt. Diese arbeiten dann je nach Betriebsgroße und fachlicher Qualifikation als Aufsichtspersonen (Betriebsfuhrer, Steiger) oder Arbeiter (Hauer) auf dem Bergwerk. Außerdem wird eine erhebliche Menge Material benotigt, das fur den Ausbau der Grubenbaue, fur den Bau von Gebauden oder den Bau der Forderanlagen verwendet wird. Eine der wichtigsten Materialien fur ein Bergwerk war, insbesondere in der fruhen Montanindustrie, das Holz, das in Form von Grubenholz fast uberall auf dem Bergwerk verwendet wurde. Hinzu kommt eine Vielzahl von Werkzeugen und Bergwerksmaschinen. Werden in einer Stadt eines oder mehrere Bergwerke betrieben, so siedeln sich im Umfeld dieser Bergwerke meist weitere Wirtschaftszweige an. Fur die umliegenden Stadte und Regionen sind Bergwerke wichtige Einkaufer und Investoren. Die Bedeutung eines Bergwerks fur eine Stadt oder eine Region spiegelt sich in dem Satz: „Alles kommt vom Bergwerk her“ wider.
Historische Entwicklung Das bislang alteste entdeckte Bergwerk ist ein Feuersteinbergwerk im oberagyptischen Nazlet Khater, wo bereits vor uber 30.000 Jahren untertagig Feuerstein abgebaut wurde. Bereits 3000 v. Chr. trieben die Agypter bedeutenden Bergbau und hatten Bergwerke, mit denen sie nach Kupfer- und Eisenerzen gruben. Um die Bergwerke betreiben und die Erze abbauen zu konnen, wurden eine Vielzahl von Kriegsgefangenen, Verbrechern, Schuldgefangenen, in Ungnade gefallenen oder sogar auch Unschuldige zur Bergarbeit in den Erzbergwerken gezwungen. In der Antike ließ sich die Massenproduktion von Metallen meist nur durch staatlich organisierte Großunternehmen und Sklaven- oder Zwangsarbeit organisieren. Auch Privatunternehmer waren als Pachter tatig, wie in Laurion. Dort wurden (teils unter Tage, teils auch im Tagebau) verschiedene Erze, u. a. auch Silber, gefordert und dafur insgesamt wohl 20.000 Sklaven und Gefangene beschaftigt.
In Deutschland begann der Bergbau etwa 5500 v. Chr. ebenfalls mit steinzeitlichen Feuersteinbergwerken. In der Bronzezeit hatte es erste bergbauliche Aktivitaten in den Erzlagerstatten des Harzes gegeben. Ab der Latenezeit wurde im Siegerland in kleinen Bergwerken, sogenannten Mollkauten, nach Eisenerz gegraben. Am Rammelsberg bei Goslar wurde etwa um das Jahr 968 Erzbergbau betrieben. Ab dem 16. Jahrhundert bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Bergwerke im Oberharz bedeutende Silberproduzenten in Deutschland. Das wohl bedeutendste Harzer Bergwerk, der Rammelsberg, wurde 1992 zusammen mit der Goslarer Altstadt als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt.
Bauarten Das Wort „Bergbau“ bedeutet „bauen im Berg“ und wird davon abgeleitet, dass der Ursprung der Rohstoffgewinnung in gebirgigen Gegenden begann, wo verstarkt Ausbisse der Lagerstatten vorkommen. Ein Bergwerk bauen bedeutet entweder, sich anteilmaßig an einem Bergwerk zu beteiligen oder eine ganze Grube auf seine Kosten anzulegen. Beim Bergbau wird zwischen Tagebau, Untertagebau und Bohrlochbergbau unterschieden. Welche der drei Bauarten angewendet wird, um eine Lagerstatte auszubeuten, hangt hauptsachlich von den naturlichen Gegebenheiten ab. Entsprechend der Art ihrer Gewinnung unterteilte man die bergbaulichen Orte und Anlagen ein in Bergwerke, Grabereien und Steinbruche. Allerdings ist hierbei keine eindeutige und klare Trennung der Begriffe moglich, da es auch Ubergange zwischen den Bauarten gibt.
= Untertagebergwerke =
Beim Untertagebau unterscheidet der Bergmann den Stollenbau und den Tiefbau. Entsprechend werden die Untertagebergwerke unterteilt in Stollenbergwerke und Tiefbaugruben. Die Stelle, an der der Ubertagebereich in den Untertagebereich ubergeht, nennt der Bergmann Tagesoffnung. Jedes Untertagebergwerk muss mindestens zwei solcher Zugange haben. Der Eingang in den Untertagebereich von Stollenbergwerken nennt der Bergmann Stollenmundloch. Die Positionierung dieses Einganges hat einen entscheidenden Einfluss auf die Bauhohe des Stollens. Bei Tiefbaugruben erfolgt der Ubergang in den Untertagebereich uber einen Schacht. Die zu Tage tretende Schachtoffnung nennt der Bergmann Schachtmund. Anstelle eines Schachtes kann der Ubergang in den Untertagebereich auch uber einen Forderberg erfolgen. Stollenanlagen werden zur Versorgung mit frischen Wettern oftmals mit kleinen Schachten versehen, die der Bergmann als Lichtloch bezeichnet.
Die Erschließung einer Lagerstatte durch ein Untertagebergwerk beginnt mit der Ausrichtung und dem folgenden Abteufen der Schachte oder dem Auslangen der Stollen. Sie sind die Verbindung zwischen Erdoberflache und der Lagerstatte vor Ort und fur die Schacht- bzw. Streckenforderung von Abbau, Versatz und Material, die Fahrung von Personen sowie die Wasserhaltung und Wetterfuhrung notwendig.
Die Wahl der Schachtstandorte beeinflusst die Herstellungs- und Betriebskosten des Untertagebergwerks. Von den Schachten gehen die Strecken (Richtstrecken und Querschlage) zu den Lagern (Floze, Gange, Stocke) der zu fordernden Rohstoffe ab. Die Gesamtheit aller unterirdischen Hohlraume wird Grubengebaude genannt. Die Tagesanlagen eines Bergwerks, also die „uber Tage“ befindlichen Teile sind: Forderturm, Kaue, Anlagen zur Be- und Entluftung (Bewetterung), zur Wasserhaltung und -reinigung und die Aufbereitungsanlagen.
= Tagebaue =
Im Tagebau erfolgt die Gewinnung von Massenrohstoffen, die von Natur aus unter freiem Himmel liegen. Des Weiteren werden Lagerstatten im Tagebau abgebaut z. B. fossile Brennstoffe, wenn deren Uberdeckung wirtschaftlich und kostengunstig abgeraumt werden kann. Aufgrund der modernen Bergtechnik konnen mittlerweile auch Lagerstatteninhalte im Tagebau abgebaut werden, die in einer Teufe von 500 Metern und mehr vorkommen. Je nach Lagerstatte erfolgt der Abbau als Abbau nach der Teufe, als flachenhafter Abbau oder als Hang und Hugel Abbau. Die Gewinnung der Rohstoffe erfolgt durch große Bagger (Radlader, Schaufelradbagger, Eimerkettenbagger, o. A.). Neben diesen Gewinnungsmaschinen werden zum Teil auch zur kontinuierlichen Gewinnung Fraswalzen wie der Continuous Surface Miner eingesetzt. Durch diese Maschinen lassen sich auch dunne, von Zwischenmitteln durchzogene Floze, prazise und wirtschaftlich im Tagebau gewinnen. Der Abtransport der hereingewonnenen Rohstoffe erfolgt mit Muldenkippern oder uber Bandforderanlagen.
Bei der Gewinnung von Rohstoffen werden Großtagebaue insbesondere fur die Rohstoffe Braunkohle, Olschiefer, Olsand und Erze verwendet. Probleme bei dieser Form des Tagebaus sind die bergbaubedingten Umsiedlungen von zum Teil ganzen Ortschaften. Erfolgt der Tagebau in „Gruben“ wie z. B. Kiesgruben oder Sandgruben, spricht man auch von Grabereien. Eine weitere Form des Tagebaus sind „Kuhlen“, z. B. Lehmkuhle oder Tongruben, in denen Lehm oder Ton abgebaut wird. Fur den ubertagigen Abbau von Festgestein werden „Bruche“ wie z. B. Steinbruche oder Kalkbruche genutzt. Der obertagige Abbau von Torf erfolgt durch Torfstechen oder Torfstich. Zum Tagebau gehort auch das Schurfen nach gediegenen Edelmetallen in Seifenlagerstatten. Im weitesten Sinne gehoren auch Baggerseen dazu, bei denen mit Hilfe von Schwimmbaggern Massenrohstoffe vom Grund eines Sees gewonnen werden. Bei dieser Form der Rohstoffgewinnung muss besonders auf den Schutz des Grundwassers Rucksicht genommen werden.
= Bohrungen =
Der Bohrlochbergbau ist eine Form der Gewinnung von flussigen oder gasformigen Rohstoffen durch Erstellung von Bohrlochern mittels Tiefbohrung bis in die Lagerstatte. Hauptsachlich sind dies Bohrungen nach Erdol und/oder Erdgas. Hierzu gehort auch die Gewinnung von Erdgas aus unkonventionellen Lagerstatten mittels Hydraulic Fracturing. In einigen Landern zahlen auch Brunnenbohrungen nach Grundwasser oder Thermalquellen dazu. Die Nutzung der Tiefen Geothermie fallt nicht unter das Bergrecht, da anders als bei Thermalbadern die Weiterverarbeitung des Wassers entfallt. Letztendlich zahlen auch Bohrungen zum Aussolen von Salzstocken mittels Bohrspulwerk dazu.
Bergwerksgeschichte Die Geschichte eines Bergwerks verlauft in mehreren unterschiedlichen Phasen, die sich grob einteilen lassen in Aufsuchung, Aufschließen und Abbau der Lagerstatte. Am Ende der Geschichte eines Bergwerks steht die Stilllegung und in der Regel die Schließung des Bergwerks. Wahrend der gesamten Zeit muss das jeweils gultige Bergrecht auf das Bergwerk angewendet werden.
= Aufsuchung =
Am Anfang der Bergwerksgeschichte steht die Aufsuchung, um dadurch die Ausdehnung der jeweiligen Lagerstatte und die Menge der darin enthaltenen Bodenschatze zu untersuchen. Hierbei bedient man sich verschiedener bergmannischer Untersuchungsmethoden, aber auch verschiedener geologischer Untersuchungsmethoden. Hierbei werden Methoden wie die Fernerkundung, geophysikalische Untersuchungen und Kartierung angewendet. Dabei bedient man sich auch Methoden wie der als Flugprosperation bezeichneten Untersuchung der Lagerstatte mittels Hubschrauberflug. Im Rahmen der weiteren Exploration werden Bohrungen in der Lagerstatte und auch Schurfe und Testgruben erstellt. Alle diese Tatigkeiten haben den Zweck, das spatere mogliche Bergwerk im Vorfeld genau zu erkunden und einen moglichst genauen Uberblick uber die Lagerstatteninhalte zu erhalten. Durch Probenahmen und darauf folgende Laboruntersuchungen werden weitere Erkenntnisse gewonnen. Alle hieraus gewonnenen Daten werden fur die anschließende Bergwerksplanung benotigt.
Bergwerksplanung Die aus der Aufsuchung und Exploration gewonnenen Daten fließen ein in die Bergwerksplanung. So lassen sich anhand der gewonnenen Erkenntnisse Ruckschlusse uber die Menge der vorhandenen Bodenschatze und durch Berechnung die gewinnbaren Mengen berechnen. Außerdem lassen sich bereits im Vorfeld Lagerstattenteile, die sich als nicht bauwurdig erweisen, vom spateren Abbau ausschließen. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse uber den Lagerstatteninhalt lassen sich erste Berechnungen uber die erzielbaren Erlose und somit den Wert des Bergwerks erstellen. Bei der Planung wir auch festgelegt, ob der Rohstoff mittels Tagebau oder mittels Untertagebau abgebaut werden soll. Des Weiteren mussen die erforderlichen Tagesanlagen geplant werden. Im Laufe der Bergwerksplanung werden fur die weiteren Phasen Betriebsplane erstellt.
= Aufschließen =
Der erste Arbeitsgang beim Aufschließen einer neuen Lagerstatte ist das Aufschlagen, auch Neuschurfen genannt. Zunachst muss das Gebiet, in dem das Bergwerk betrieben werden soll, vom naturlichen Bewuchs und einer eventuell vorhandener Bebauung „befreit“ werden. Danach erfolgt die Ausrichtung der Lagerstatte und die Vorrichtung der Abbaubetriebspunkte. Zeitgleich erfolgt der Bau und die Errichtung der erforderlichen Tagesanlagen.
= Abbau der Lagerstatte =
Zum Abbau der Lagerstatte kommen, je nach Lagerstatte, unterschiedliche Abbauverfahren zur Anwendung. Zudem werden unterschiedliche Maschinen, die fur das jeweilige Abbauverfahren geeignet sind, eingesetzt. Details uber die Gewinnung des Rohstoffes werden im Gewinnungsbetriebsplan festgelegt und eingetragen. Zwecks Uberprufung von Kosten und Nutzen mussen auch wahrend der Abbauphase regelmaßige Berechnungen uber den Wert des Bergwerks durchgefuhrt werden. Die hereingewonnenen Rohstoffe werden uber Forderbander oder mittels anderer Transportmittel vom Abbaubetriebspunkt zur Tagesoffnung gefordert. Dort werden die Rohstoffe mittels Schachtforderung oder uber Forderberge zur weiteren Aufbereitung und Verwendung nach uber Tage gefordert. Damit die Bergleute zu ihrem untertagigen Arbeitsplatz gelangen, werden sie mittels Seilfahrt nach unter Tage gebracht und dort mittels Personenzug oder Bandfahrung zu ihrem Einsatzort gebracht. Eine Besonderheit, um die Bergleute von oben nach unten zu befordern, wird in einigen Salzbergwerken in Form der Rutsche genutzt.
= Stilllegung und Schließung =
Wenn ein Bergwerk nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden kann oder die Lagerstatte abgebaut ist, dann wird das Bergwerk stillgelegt. Bergwerksstilllegungen konnen aber auch politische Grunde haben, wie z. B. bei den Steinkohlebergwerken und Braunkohletagebauen in Deutschland. Nach der Stilllegung werden noch nutzbarer Grubenausbau und Betriebsmittel zwecks Weiterverwendung geraubt. Im Anschluss daran mussen die vorhandenen Tagesoffnungen wie z. B. Stollenmundlocher oder Schachte verwahrt werden. Die Tagesanlagen werden weitestgehend abgerissen und das Bergwerksgelande muss fur eine weitere Nachnutzung aufbereitet werden. Nach dem Abschalten der Wasserhaltung kommt es zu einem Anstieg des Grubenwassers. Ein ungehinderter Anstieg des Grubenwassers fuhrt dazu, dass Teile des Grubengebaudes oder das gesamte Grubengebaude absaufen. Handelt es sich bei dem ansteigenden Grubenwasser um stark kontaminiertes Wasser, muss dieses vor der Ableitung in ein oberflachiges Gewasser mittels einer Grubenwasserreinigungsanlage von allen Schadstoffen gereinigt werden. Tagebaue mussen nach der bergbaulichen Nutzung wieder rekultiviert werden.
Nachnutzung Ein Teil der Bergwerke in Deutschland wurde Jahre nach ihrer Schließung zu Besucherbergwerken umgebaut und so einer Nachnutzung zugefuhrt. Einige Bergwerke, wie z. B. das Besucherbergwerk Fell, dienen Fledermausen als Zufluchtsraum und als Winterquartier. Zudem gibt es ehemalige Stollenbergwerke, von denen heute Teile des Grubengebaudes als Heilstollen dienen. Das Grubengebaude von Bergwerken kann unter bestimmten Voraussetzungen (ausreichende Teufe, passendes Gestein) zur Energiespeicherung dienen.
Einteilung Bergwerk nach Bodenschatz Die Aufgabe eines jeden Bergwerkes ist die Gewinnung der nutzbaren Bodenschatze der jeweiligen Lagerstatte. Nutzbare Bodenschatze, die in Bergwerken gewonnen werden, sind zunachst einmal mineralische Brennstoffe wie Steinkohle oder Braunkohle. Des Weiteren werden Metallerze, Steinsalz, Kalisalz und sonstige Nichterze wie Kalkstein, Flussspat, Gips und Dachschiefer in Bergwerken abgebaut. Zudem werden sogenannte sonstige Industrieminerale in Bergwerken abgebaut. Aber auch Edelsteine und Halbedelsteine werden bergmannisch gewonnen. Zudem gibt es Bergwerke, auf denen neben dem Hauptrohstoff z. B. Zinnerz auch Nebenprodukte wie z. B. Seltene Erden gefordert werden. In China werden auf Eisenbergwerken als Nebenprodukte des Eisenabbaus Seltene Erden abgebaut. Aber nicht nur Erze kommen mit Begleitmineralien vor, auch bei Steinkohlen kommt es vor, dass diese z. B. Eisenerze als Nebenprodukt enthalten.
= Steinkohlenbergwerk =
Die Steinkohle ist bereits seit 100 Jahren v. Chr. bekannt, wurde jedoch erst viele hundert Jahre spater bergmannisch gewonnen und als Brennmaterial genutzt. Der erste Abbau der Steinkohle in Form der Kohlengraberei ist auf dem europaischen Festland fur die erste Halfte des 12. Jahrhunderts datiert. Die erste systematische Gewinnung der Steinkohle wurde in Großbritannien um das Jahr 1150 getatigt. Im 16. Jahrhundert wurden erste Stollenbergwerke betrieben, um die Steinkohlen im Stollenbau abzubauen. Die Gewinnung der Steinkohle erfolgte mit einfachem bergmannischen Gezahe wie z. B. der Spitzhacke. Abgebaut wurden die Kohlen in diesen Stollenzechen auf teilweise sogar drei Sohlen. Der Betrieb dieser Stollenzechen fand sehr geordnet statt und war zu der damaligen Zeit der Standard eines Bergwerks. Allerdings brachte der Betrieb der Steinkohlenzechen neue Gefahren fur Bergleute in Form von schlagenden Wettern und der daraus resultierenden moglichen Gefahr einer Schlagwetterexplosion mit sich. Des Weiteren mussen die Bergleute in den Steinkohlenbergwerken darauf achten, dass moglichst wenig Kohlenreste in den Abbauen verbleiben, da diese zu Selbstentzundungsbranden und als Folge davon zu Grubenbranden fuhren konnten. Neben diesen Gefahren besteht in einem Steinkohlenbergwerk auch noch die Gefahr, dass feiner Kohlenstaub zu einer Kohlenstaubexplosion fuhrt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden die ersten Tiefbaugruben in Betrieb genommen. Voraussetzung fur den Betrieb einer Tiefbaugrube ist im Wesentlichen eine leistungsstarke Wasserhaltungsmaschine, um das anfallende Grubenwasser abpumpen zu konnen. Des Weiteren war eine leistungsstarke Fordermaschine, die erst mit Erfindung der Dampfmaschine realisiert werden konnte, erforderlich, um das Material und die gewonnene Steinkohle in oder aus der Grube zu fordern. In der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wurde auf einigen Steinkohlenbergwerken neben der Gewinnung der Steinkohle auch in großerem Umfang Kohleneisenstein gewonnen. Ab den 1930er Jahren kam es auf den Bergwerken zur verstarkten Mechanisierung und Technisierung der Arbeitsprozesse. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in einigen Bergrevieren auf als „Zeche Eimerweise“ bezeichneten Kleinzechen mittels Nachlesebergbau noch anstehende Restpfeiler, die von vorher stattgefundenem Bergbau stehen geblieben waren, abgebaut. Auf heutigen modernen Steinkohlenbergwerken wird die Steinkohle mit modernen Gewinnungsmaschinen wie dem Walzenschramlader oder dem Kohlenhobel gewonnen. Auf amerikanischen Bergwerken kommen als Gewinnungsmaschinen Continuous Miner zum Einsatz. Als Abbauverfahren nutzt man auf Steinkohlebergwerken je nach Lagerstatte den Strebbau oder den Orterbau. Nachdem die Rohkohle zutage gefordert worden ist, muss sie vor der weiteren Nutzung in der Kohlenwasche vom tauben Gestein getrennt werden.
= Braunkohlenbergwerk =
Bereits im Jahr 1382 wurde in der Stadt Lieskau der vermutlich erste Abbau von Braunkohle im Tagebau durchgefuhrt. Hinweise auf oberflachennahe Braunkohlevorkommen in Ostbrandenburg stammen aus dem 18. Jahrhundert. Beim Abbau von Braunkohle bestehen Brandgefahren, da die Braunkohle, ahnlich wie die Steinkohle, unter bestimmten Voraussetzungen zur Selbstentzundung neigt. Braunkohle wird entweder in Tiefbaugruben oder in Tagebauen oder einer Kombination aus beiden abgebaut. Die ersten Tiefbaugruben entstanden in der Lausitz im Jahr 1780. Der Anteil der in Deutschland in Tiefbaugruben abgebauten Braunkohle lag 1885 bei etwa 75 Prozent und sank bis zum Jahr 1934 auf 12,5 Prozent ab. Die Erschließung der Lagerstatte durch Tiefbaugruben erfolgte durch seigere und zum Teil auch durch tonnlagige Schachte. Auf den Tiefbaubergwerken im Rheinland wurde einige Jahre als Abbauverfahren fur die Braunkohle der Tummelbau angewendet. Wegen der großen Gefahren fur die Bergleute und der Unwirtschaftlichkeit durch die hohen Abbauverluste wurde das Verfahren von der zustandigen Bergbehorde verboten. In der Regel baute man die einzelnen Braunkohlefloze mittels Kammer-Pfeiler-Bruchbau ab. Abgebaut wurde die Braunkohle mit einfachen Werkzeugen von Hand. Unterstutzt wurde diese manuelle Arbeit, insbesondere bei sehr fester Kohle, durch Bohr und Schießarbeit. Eine modernere Methode ist der Abbau mittels Pfeilerbruchbau, bei dem durch maschinelle Unterstutzung durch eine Teilschnittmaschine bis zu 150 Meter lange Pfeilerstrecken abgebaut werden. Da das Hangende stark wasserhaltig ist, ist es fur den Grubenbetrieb vorteilhaft, wenn das Hangende kontinuierlich entwassert wird. In Deutschland spielt die Gewinnung von Braunkohle in Tiefbaugruben seit Beginn des 20. Jahrhunderts nur noch eine untergeordnete Rolle. Eine andere Moglichkeit, die Braunkohle bergmannisch abzubauen, ist der Tagebau. Zunachst wurden die Braunkohlen nur dort mittels Tagebau abgebaut, wo das Deckgebirge nur eine geringere Machtigkeit hatte und aus Materialien bestand, die wenig standfest waren und ein Tiefbau wenig sinnvoll erschien. Ein damals gangiges Abbauverfahren war in der vorindustriellen Phase des Braunkohlebergbaus der Kuhlenbau. Seit dem Jahr 1885 wurden im Braunkohlentagebau Bagger zur Gewinnung der Braunkohle und zum Abtragen des Abraums eingesetzt. Seit den 1980er Jahren wird die Braunkohle weltweit uberwiegend im Tagebau gewonnen. Nachteilig beim Tagebau ist der hierfur erforderliche große Flachenbedarf. Die vom Braunkohlentagebau bergbaulich veranderten Flachen mussen nach dem Bergbau wieder rekultiviert werden. Da die Rohbraunkohle einen hohen Wassergehalt hat, muss sie vor der weiteren Nutzung entwassert werden. Fruher ließ man hierfur die gewonnene Braunkohle im Sommer einfach an der Luft trocknen. Heute wird die feuchte Rohbraunkohle in Mahltrocknungsanlagen aufbereitet und entwassert.
= Erzbergwerk =
Auf einem Erzbergwerk werden je nach Bergbauregion unterschiedliche Erze abgebaut und gefordert. Dabei unterscheidet man zwischen Eisenerzen und Nichteisenerzen. Entsprechend der hauptsachlich auf dem jeweiligen Erzbergwerk geforderten Erze benennt man das entsprechende Bergwerk z. B. als Eisenbergwerk, Kupferbergwerk, Silberbergwerk oder Bleibergwerk. In der Anfangszeit des Erzbergbaus begann man zunachst im Bereich der oberflachigen Ausbisse das Erz zu gewinnen. Hierzu suchte man gezielt nach den Ausbissen der Erzgange und fing dort an zu graben. Verwendet wurden dabei einfachste Handwerkzeuge. Spater folgte man den Erzgangen in die Tiefe. Eine weitere Form die Erze, insbesondere bei flozformigen Lagerstatten oder bei Knollen oder Nieren, abzubauen, war der Duckelbau. Problematisch bei diesen kleinen Bergwerken war oftmals von oben eindringendes Wasser, was haufig dazu fuhrte, dass der Weiterbetrieb des Abbaus unmoglich wurde und man die kleine Grube aufgab, um an einer anderen Stelle weiter nach Erz zu graben. In einigen Regionen kamen Metalle wie Zink oder Gold gediegen in Erzseife vor, die dann, wenn es sich lohnte, im Tagebau in Form des Seifenbergbaus gewonnen wurden. In bergigen Arealen trieb man im Laufe der Jahre Stollen in den Berg, um so an das Erz zu gelangen. Die Gewinnung und der Vortrieb der Stollen erfolgte auch hier mit einfachen Handwerkzeugen wie Schlagel und Eisen. Dort, wo das Gestein fest war und sich nur schwer bearbeiten ließ, nutzte man zur Unterstutzung der manuellen Bearbeitung das Feuersetzen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde auf den Bergwerken nach und nach die Schießarbeit eingefuhrt. Um das Erz abzubauen, nutzte man als Abbauverfahren zunachst den Weitungsbau. Spater ging man, je nach Lagerstatte, zum Strossenbau oder zum Firstenbau uber. Das gewonnene Erz wurde nach uber Tage gefordert und musste dort in einem Pochwerk zerkleinert werden, bevor es der weiteren Aufbereitung zugefuhrt wurde. Wenn der obere Lagerstattenteil eines Stollenbergwerks ausgeerzt war, ging man, um die tiefer liegenden Lagerstattenteile abzubauen, im Laufe der Jahre zum Stollentiefbau oder zum Tiefbau uber. Ein uber mehrere Jahrzehnte betriebenes Stollenbergwerk hatte mehrere Stollen und Hilfsstollen und je nach Ausrichtung auch tiefer liegende Sohlen. Im modernen Bergbau findet der Erzabbau zu etwa 65 Prozent im Tagebau statt. Beim Abbau von Eisenerzen liegt der Anteil der im Tagebau abgebauten Erze sogar bei 95 Prozent. Der Abbau im Untertagebau wird nur noch zu einem kleinen Prozentsatz durchgefuhrt. Zum Einsatz kommen im modernen Untertagebau Bohrwagen, brisanter Sprengstoff und Lademaschinen. Transportiert werden die abgebauten Massen mittels Schwerlastwagen mit einer Nutzlast von bis zu 42 Tonnen. Als Abbauverfahren wird, je nach Lagerstatte, der Kammerbau angewendet. Außerdem gibt es auch Erzbergwerke, auf denen das Erz mittels Teilsohlenbau mit Versatz abgebaut wird. Bruchbau findet nur noch in geringem Umfang statt. Die gewonnenen Erze werden uber Tage zunachst mittels Walzenbrecher zerkleinert und dann in einer umfangreichen Aufbereitungsanlage vom Nebengestein getrennt. Neben dem industriellen Abbau der Erze werden Erze in einigen Landern Afrikas auch heute noch auf kleinen Bergwerken mittels artinasalem Bergbau gewonnen. Etwa zehn Prozent der weltweiten Minengoldforderung stammt aus solchen Bergwerken. Aber auch Kupfer und Kobalt werden mittels artinalsalem Bergbau gewonnen.
= Salzbergwerk =
Bei den Salzbergwerken unterscheidet man zwischen Bergwerken fur Steinsalz und Kalibergwerken. Die bergmannische Gewinnung von Steinsalz ist dabei alter als die Gewinnung von Kalisalz. Bereits im 15. Jahrhundert v. Chr. wurde im Hallstatter Salzberg auf drei, teilweise zeitgleich im Betrieb befindlichen, Bergwerken aus einer maximalen Teufe von 170 Metern bergmannisch Salz gewonnen. Die bergmannische Gewinnung von Kalisalzen und Steinsalzen ist sehr ahnlich. Grundsatzlich unterscheidet der Bergmann beim Salzabbau zwei Methoden, den nassen Abbau und den Trockenabbau. Beim nassen Abbau gibt es die bergmannische Solegewinnung und die Bohrlochsolung. Bei der bergmannischen Solegewinnung erfolgt die Gewinnung mittels Sinkwerk. Bei dieser Methode muss die Lagerstatte zunachst bergmannisch mittels unterschiedlichen Grubenbauen ausgerichtet werden. Bei der Salzgewinnung mittels Bohrlochsolung erfolgt die Gewinnung uber ein Bohrspulwerk. Als Losungsmittel wird bei Steinsalz kaltes Wasser und fur Kalisalz heißes Wasser oder Loselauge verwendet. Hier kann es durch den Salzabbau entstandene großflachige Hohlraume zu Senkungen der Tagesoberflache kommen. Der Trockenabbau wurde als Methode zur Salzgewinnung von Hallstatter Bergleuten uberwiegend praktiziert. Hierbei wird zunachst die Lagerstatte uber zwei Schachte aufgeschlossen. Anschließend wird die Lagerstatte mittels Stollen, Strecken und Bergen weiter ausgerichtet. Die bergmannische Bearbeitung des Gesteins und des Salzes erfolgte fruher mit einfachen Werkzeugen wie der Keilhaue. Im modernen Salzbergbau erfolgt die Gewinnung entweder mittels Bohr- und Sprengarbeit oder mittels schneidender Gewinnung. Beim Sprengverfahren werden mit mobilen Großbohrgeraten moglichst lange Bohrlocher erstellt, die dann mit Sprengstoff gefullt werden. Hierfur werden moderne Sprengfahrzeuge genutzt. Anschließend wird das Salz aus der Lagerstatte gesprengt. Das losgesprengte Salz wird mit Frontschaufelladern oder Elektrohydraulik-Baggern auf Muldenkipper geladen und abgefordert. Bei der schneidenden Gewinnung erfolgt das Herauslosen des Salzes durch Umfangfrasen wie dem Continuous Miner. Die Abforderung des hereingewonnenen Salzes erfolgt uber Forderbandanlagen oder Gleislosfahrzeuge. Bei der schneidenden Gewinnung wird durch den Wegfall der Sprengarbeit die Arbeitssicherheit erhoht. Fur den Abbau von Salzen werden die Abbauverfahren standig technisch weiterentwickelt. Welches Abbauverfahren auf dem jeweiligen Bergwerk zur Anwendung kommt, hangt von der Machtigkeit und dem Einfallen der Lagerstatte ab. Bei flacher Lagerung wird der versatzlose Kammerbau mit Langspfeilern angewendet. Bei steiler Lagerung wird das Trichterbauverfahren angewendet. Eine weitere Moglichkeit bei steilstehenden Lagerstatten ist der Strossen-Kammerbau. Probleme entstehen, wenn das Deckgebirge uber der Lagerstatte nicht machtig genug ist oder wenn im Deckgebirge vorhandenes Wasser oder Oberflachenwasser in den Salzstock eindringt. Durch das eindringende Wasser konnen die Bergfesten derart geschwacht werden, dass die Abbauraume zu Bruch gehen. Da das eindringende Wasser in der Regel nicht gestoppt werden kann, bedeutet dies das Ende fur das betroffene Bergwerk. Aus diesem Grund muss bei Salzbergwerken unter allen Umstanden verhindert werden, dass Wasser in den Salzstock eindringen kann. Dazu muss bei der Wahl des Abbauverfahrens darauf geachtet werden, dass es bei Salzlagerstatten mit Wasser fuhrendem Deckgebirge an keiner Stelle durch Senkung zu Bruchen oder Rissen der wasserundurchlassigen Deckschichten kommt. Hierzu wird ein Salzversatz eingebracht, der bei etwaigem Wassereintritt das verfugbare Hohlraumvolumen verringern soll. Eine weitere Moglichkeit ist, dass ein Abbauverfahren gewahlt wird, bei dem zwischen den Abbaukammern großere Teile von Salz als Bergfesten stehen bleiben. Diese Pfeiler haben eine Breite von 35 Metern und sind zum Teil auch breiter.
= Tonbergwerk =
Ton als Rohstoff fur Gebrauchs- und Kultgegenstande wurde bereits von den Kelten und Romern verwendet. Auf Tonbergwerken wird, je nach Lagerstatte, unterschiedlicher Ton abgebaut. Erste Aufzeichnungen uber den Tonabbau gibt es, seit im 17. Jahrhundert die Gruben von den Landesfursten mit Steuern belastet wurden. Die abbauwurdige Machtigkeit liegt, je nach Tonart, zwischen wenigen Metern und bis zu 30 Metern. Der Ton wird, je nach geologischem Aufbau der Lagerstatte, auf den jeweiligen Bergwerken im Untertagebau oder Tagebau abgebaut. Der Aufschluss der Lagerstatte erfolgt beim Untertagebau entweder uber Stollen oder uber Schachte. Hierfur wurden zunachst kleine Reifenschachte in die Lagerstatte geteuft. Von diesen Reifenschachten wurden sohlige Strecken aufgefahren. Die Gewinnung des Tones erfolgte bei der Auffahrung der Strecken und durch mehrfaches Nachreißen der Strecken. Spater wurde der Ton dann mittels Kammerbau gewonnen. Ein weiteres angewendetes Abbauverfahren war der Pfeilerbruchbau. Es kam auch vor, dass diese Schachte im unteren Bereich glockenformig zu einem Glockenschacht erweitert wurden. Dabei wurde die Tonmasse im Bereich der Schachtsohle, je nach Festigkeit des Tones, bis zu zwolf Meter rings um den Schacht abgebaut. Zur Absicherung der Schachtwandung gegen Einsturz wurden die Schachte mit einer Reifenzimmerung versehen. Als Werkzeuge zum Abbau des Tons diente das einfache bergmannische Gezahe. Spater nutzte man auch, dort wo es moglich war, den Presslufthammer um den Ton abzubauen. Besonders harte Tone, wie z. B. Schieferton, wurden durch Schramen und Schießarbeit gewonnen. Das Grubengebaude dieser Tonbergwerke ist nicht sehr groß und umfasst oftmals nur wenige kurze Stollen oder Schachte. Beim Tagebau muss zunachst das Deckgebirge uber dem Ton abgetragen werden und anschließend kann der Ton gewonnen werden. In den Anfangsjahren wurden dafur kleine Gruben mit einer Abmessung von funf mal drei Metern gegraben und der Rohstoff aus der Lagerstatte gegraben. Es gab auch Tonbergwerke, bei denen der Ton zunachst im Tagebau abgegraben wurde und spater zum Tiefbau ubergegangen wurde. Als Werkzeug dienten Hacke, Stecheisen und Schaufel. Es gibt auch Lagerstatten, bei denen der Ton durch hydraulische Gewinnung mittels scharfem Wasserstrahl aus dem Gesteinsverband ausgespult wird. Heute wird der Ton entweder aus verschiedenen Tongruben oder großen Tagebauen gewonnen. Dazu nutzt man moderne Abbaumaschinen. Verwendet werden Eimerkettenbagger, Schaufelradbagger und Universalbagger. Nach der Gewinnung wird der Ton mittels nasser Aufbereitung von Verunreinigungen gereinigt.
= Uranbergwerk =
Obwohl das Uran bereits in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts entdeckt worden war, erfolgte der gezielte Abbau des Minerals erst im darauffolgenden Jahrhundert. Die ersten Funde von Uran erfolgten mehr zufallig bei der Suche nach Silber und Zinn. Auf Silberbergwerken im Erzgebirge wurde das Uranerz in Form der Pechblende haufig als zusatzliches Mineral zu Tage gefordert. Da man zu der damaligen Zeit fur die Pechblende keinerlei Verwendung hatte, wurde diese dann auf Abraumhalden geschuttet. Im 19. Jahrhundert fand man eine Verwendung fur die Pechblende, indem sie fur die Farbenherstellung genutzt wurde. Mit der Verwendung des Urans fur die Kernspaltung in Kernwaffen stieg der Bedarf und so wurden etwa ab der Mitte des 20. Jahrhunderts erste Uranbergwerke erbaut. Trotzdem wurde das Uran auch weiterhin als Zweitmineral auf Erzbergwerken gewonnen. Auch im 21. Jahrhundert gibt es z. B. in China Eisenbergwerke, auf denen neben dem Eisenerz auch Uranerz gefordert wird. Abgebaut wird Uran im Tagebau und im Untertagebau. Im Tagebau werden Bergwerke betrieben, deren Lagerstatte bei einer maximalen Teufe von bis zu 200 Metern liegt. Die Bergwerke, die im Tiefbau betrieben werden, erreichen Teufen von bis zu 1800 Metern. Hier werden haufig Erzgange mit geringer Machtigkeit abgebaut. Als Abbauverfahren wird hierbei der Firstenstoßbau angewendet. Bei Erzgangen mit großerer Machtigkeit wird der Kammerbau oder der Teilsohlenbau angewendet. Nach der bergbaulichen Gewinnung wird das Uranerz uber Tage in speziellen Aufbereitungsanlagen so aufbereitet, dass es eine hohere Urankonzentration erreicht. Nachteilig bei der Gewinnung von Uranerzen ist die Kontamination der Boden und des Wassers, was zu erhohten Werten von Radon im Trinkwasser fuhren kann.
= Strontianitbergwerk =
Das Mineral Strontianit wurde erstmals im 18. Jahrhundert entdeckt und nach seinem ersten Fundort Strontian benannt. Die erste bedeutende bergmannische Gewinnung von Strontianit erfolgte in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts im Munsterland. Die hier vorkommende Strontianitlagerstatte befindet sich uberwiegend im oberflachennahen Bereich und besteht aus unregelmaßigen Trummern und regelmaßigen Gangen. Strontianit unterlag nach deutschem Bergrecht nicht dem Bergregal, sondern war nach § 1 ABG ein Mineral, das dem Verfugungsrecht des Grundstuckseigentumers unterlag. Anfangs fand auf den ersten kleinen Bergwerken nur ungeregelter wilder Bergbau statt. Abgebaut wurde das Strontianit im Tagebau. Hierfur wurde die jeweilige Lagerstatte uber Steinbruche aufgeschlossen.
Spater ging man dazu uber, das Mineral im Untertagebau abzubauen. Im Laufe der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Gesellschaft, die den Namen Dessauer Gesellschaft trug, gegrundet. Zweck dieser Gesellschaft war die Ausbeutung der Strontianitlagerstatte in Tiefbauanlagen. Die Dessauer Gesellschaft ließ das Strontianit mittels planmaßiger bergmannischer Gewinnung im Tiefbau abbauen. Fur den untertagigen Abbau wurden mehrere hundert Bergwerke errichtet. Hierfur wurden eine Vielzahl von kleinen Schachten abgeteuft. Da sich die Lagerstatte im oberflachennahen Bereich befindet, hatten die Schachte nur eine geringe Teufe von 10 bis 50 Metern. In nur wenigen Jahren entstanden im Gebiet zwischen Munster, Ludinghausen, Oelde und Herzfeld uber 650 Tiefbaugruben. Alleine auf dem Gebiet der Stadt Drensteinfurt gab es etwa 180 Bergwerke. Einige der Bergwerke hatten ein Grubengebaude mit mehreren Sohlen. Von samtlichen Bergwerken hatten gerade einmal drei Bergwerke einen Schacht, der eine Teufe von uber 100 Metern hatte. Die Bergleute der jeweiligen Bergwerke stammten weitestgehend aus der landwirtschaftlichen Bevolkerung, die neben ihrer bergmannischen Tatigkeit auch noch Ackerbau auf einem kleinen Bauernhof betrieben. In der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts kam es amtlichen Berichten zufolge auf einigen Strontianitbergwerken des Munsterlandes, aufgrund von Ansammlungen von aus dem Liegenden austretendem Erdgas, wiederholt zu kleineren Grubengasexplosionen.
Wenige Jahre nach dem kurzfristigen Booms der Strontianitgewinnung ging der Bedarf an Strontianit rapide zuruck. Dies hatte verschiedene Ursachen. Zum einen wurden alternative Fertigungsmethoden eingefuhrt, die kein Strontianit mehr benotigten. Des Weiteren war Strontianit sehr teuer, da die Bergwerksbesitzer an die Grundstucksbesitzer haufig hohe Abgaben zahlen mussten. Letztendlich gab es im 20. Jahrhundert ein billigeres Ersatzprodukt, was den Einsatz von Strontianit in den meisten Produktionszweigen weitestgehend uberflussig machte. Dies hatte zur Folge, dass bereits in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts die meisten Bergwerke wieder schlossen. Das letzte Strontianitbergwerk, die Grube Wickesack, schloss im Jahr 1945. Von den damaligen Tiefbaubergwerken sind heute noch einige Grubenbaue vorhanden. Des Weiteren existieren auch noch eine großere Anzahl von Bergehalden. Die alten Untertageanlagen gehoren zum Altbergbau und werden durch die Bergbehorden mittels Monitoring uberwacht. Seit den 1980er Jahren wird wieder Strontianit gewonnen, und zwar auf Strontianitbergwerken in Tongling.
= Edelsteinbergwerk =
Auf Edelsteinbergwerken werden, je nach Lagerstatte, entweder Edelsteine oder Halbedelsteine gewonnen. Je nach Lagerstatte wird mittels Tagebau oder mittels Untertagebau abgebaut. Edelsteine und Halbedelsteine kommen am meisten in Trummerlagerstatten als Verwitterungsprodukte anderer Gesteine vor. Bei solchen Lagerstatten werden die Edelsteine durch Waschen, ahnlich wie bei Gewinnung von Golfseifen, vom Nebengestein abgetrennt. Um die Edelsteine zu gewinnen, wird zunachst ein Probeschacht gegraben und das dort abgebaute Material mittels Waschereianlage auf den Inhalt uberpruft, anschließend wird der uberliegende Boden abgetragen, um so an das Grundgestein zu gelangen. Das Auswaschen des Gerolls erfolgt meistens in extra errichteten Waschhausern oder offenen Schuppen. Je nach Waschverfahren werden unterschiedliche Reinheitsgrade des aufbereiteten Materials erzielt. Nach der Aufbereitung vor Ort wird das Waschgut in Stahlflaschen abgefullt und zur weiteren Aufbereitung in eine zentrale Aufbereitungsanlage transportiert. Vereinzelt gibt es auch Lagerstatten, in denen Edelsteine in ihrem Muttergestein verwachsen sind. Im Untertagebau werden die Edelsteine entweder auf kleinen Bergwerken mit nur wenigen Bergleuten abgebaut oder teilweise auch auf großeren Bergwerken mit mehreren hundert Mann Belegung. Bei dieser Form der Bergwerke erfolgt die Gewinnung, indem zunachst Grubenbaue in der Lagerstatte aufgefahren werden und das gewonnene Material uber Tage aufbereitet wird. Die Schachte erreichen, je nach Lagerstatte, oftmals eine Teufe von mehreren hundert Metern. Die Gewinnung erfolgt entweder mit einfachen Werkzeugen per Hand oder unter dem Einsatz von großen Maschinen. Bis in die zweite Halfte des 19. Jahrhunderts wurden auf den Edelsteinbergwerken in Afrika zum großten Teil Sklaven als Arbeiter eingesetzt.
= Sonstige Bergwerke =
Weltweit werden auch große Mengen an mineralischen Rohstoffen gewonnen, die als Naturwerksteine oder Massenrohstoffen fur die Bauindustrie mit dem Sammelbegriff Steine und Erden bezeichnet werden. Hierbei unterscheidet man zwischen Festgestein und Lockergestein. Bergwerke auf Steine und Erden unterliegen, je nach Region, unterschiedlich stark der Bergaufsicht.
Bergwerke in Festgestein Auf diesen Bergwerken wird technisch nutzbares Gestein abgebaut, das nicht zu den brennbaren Mineralien, leicht loslichen Mineralien oder verhuttbaren Bodenschatzen (Erze) zahlt. Die hier abgebauten Mineralien sind in erster Linie Naturwerksteine, zu denen Gesteine wie Granit, Marmor oder Sandstein zahlen. Diese Gesteine sind Eigentum des Grundstuckeigentumers und unterliegen somit seinem Verfugungsrecht. Die Gewinnung der Natursteine kann, bei einigen Gesteinsarten wie z. B. bei Granit, mittels Sprengung erfolgen. Ziel bei der bergmannischen Gewinnung von Naturwerksteinen ist es, moglichst große unbeschadigte Blocke aus dem Gesteinsverband herauszugewinnen. Aus diesem Grund mussen bei der Gewinnung von Naturwerksteinen teilweise besonders schonende Gewinnungsverfahren angewendet werden. Je nach Lagerstatte werden die Gesteine entweder im Tagebau oder im Untertagebau gewonnen. Der zu den edelsten Naturwerksteinen zahlende Marmor wird schon seit der Antike abgebaut und als Baumaterial fur den Bau von zahlreichen kulturhistorisch bedeutsamen Bauten verwendet. Marmor wird in Steinbruchen haufig mittels Seilsageverfahren oder mittels dem sogenannten Loch neben Loch Verfahren gewonnen. Als Werkzeuge kommen dabei Bohrhammer, Steinspaltgerate, aber auch Hammer und Meißel sowie Federkeile zum Einsatz. Beim Seilsageverfahren werden die Marmorblocke mit einer Seilsage aus dem Gesteinsmassiv geschnitten. Dabei werden Blocke mit einer Lange von bis zu drei Metern, einer Hohe von bis zu 1,9 Metern und einer Breite von bis zu 1,4 Metern herausgeschnitten. Beim Loch neben Loch Verfahren werden mittels Bohrhammern im Abstand von 15–30 Zentimeter, teilweise auch mit geringerem Abstand, ins Gestein gebohrt. Die Locher durfen dabei bis etwa 10–15 Zentimeter oberhalb einer naturlichen Trennflache im Liegenden gebohrt werden. In diese Locher werden anschließend Federkeile eingetrieben. Dadurch werden entsprechend große Marmorblocke aus dem Gesteinsmassiv herausgelost. Eine andere Gesteinsart, die ebenfalls sehr vorsichtig gewonnen werden muss, ist der Schiefer. Diese schiefrigen Gesteine haben die Eigenschaft, dass sie sich in parallelen Ebenen leicht zerteilen lassen. Erste Schieferbergwerke gab es vermutlich bereits in der Spatantike. So wurde in einer Schrift erwahnt, dass unter Bischoff Bonifazius die Kirche Raumland mit Raumlander Schiefer gedeckt wurde. Fruher wurde der Schiefer im Tagebau gewonnen, spater ging man zum Untertagebau uber. Abgebaut wird der Schiefer meistens in Stollenbergwerken. Als Abbauverfahren kommen, je nach Lagerstatte, der Kammerbau mit sagetechnischer Gewinnung oder der Kammerbau mit sprengtechnischer Gewinnung zur Anwendung. Die weitere Verarbeitung der Schieferblocke findet uber Tage statt.
Bergwerke in Lockergestein Als Lockergestein gelten verschiedene Sande, Kies, Kiessand oder Schluff. Des Weiteren gibt es auch vulkanische Lockergesteine wie z. B. Lavaschlacke. Lockergesteine gelten fur den Verwender als die wichtigste Gesteinsgruppe unter allen Gesteinen. Allein in Deutschland waren im Jahr 2012 etwa 500 Bergwerke zur Forderung von Kies und Kiessand und 313 Bergwerke zur Forderung von Quarz und Quarzsand in Betrieb. Abgebaut werden Lockergesteine im Tagebau durch Grabereien. Aber auch beim Abtragen der Abraummassen z. B. beim Braunkohlentagebau werden, je nach Lagerstatte, nebenbei Sande oder Kies gewonnen. Bei dieser als Gebundelte Gewinnung bezeichneten Methode kommt es jedoch, bedingt durch die raumliche Nahe zu dem Braunkohlenfloz, zu einer Verunreinigung des Quarzsandes durch die Braunkohle. Bei der Gewinnung der Lockergesteine unterscheidet man zwischen dem Trockenabbau und dem Nassabbau. Durch Trockenabbau werden die Lagerstatten oder Lagerstattenteile gewonnen, die oberhalb des Grundwasserspiegels anstehen. Bei dieser Gewinnung kommen Erdbaumaschinen wie Hydraulikbagger, Planierraupen und Radlader zum Einsatz. Beim Nassabbau werden die Lagerstattenteile z. B. in Baggerseen gewonnen, die unterhalb des Grundwasserspiegels anstehen. Hierbei kommen Maschinen wie Eimerkettenbagger, Saugbagger, Greifer oder Schrapperanlagen zum Einsatz. Nachdem das Lockergestein aus dem Boden gewonnen ist, wird es noch vor Ort in einer Aufbereitungsanlage gereinigt und in die jeweiligen geforderten Fraktionen zerteilt. Sowohl bei der Trocken- als auch bei der Nassgewinnung werden Abgrabungstiefen von bis zu 100 Metern erreicht. Problematisch ist bei der Gewinnung von Lockergestein die Gestaltung der Boschungssysteme, da diese aufgrund der Sicherheitsvorschriften der Aufsichtsbehorden eine moglichst hohe Standsicherheit haben mussen.
Literatur Das Wissen des 20. Jahrhunderts. Erster Band. Verlag fur Wissen und Bildung, Verlagsgruppe Bertelsmann, Gutersloh 1971.
Helmut Wilsdorf: Kulturgeschichte des Bergbaus. Ein illustrierter Streifzug durch Zeiten und Kontinente. Verlag Gluckauf, Essen 1987, ISBN 3-7739-0476-2.
Weblinks Literatur von und uber Bergwerk im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise Anmerkungen
|
Als Bergwerk werden alle uber- und untertagigen Betriebseinrichtungen und -anlagen an einem Standort zur Gewinnung, Forderung und Aufbereitung von Bodenschatzen bezeichnet. Bergwerke werden auch Grube oder Zeche genannt. Zu einem Bergwerk zahlen alle Bauwerke, Anlagen und Einrichtungen uber Tage, die der Forderung, Aufbereitung, Lagerung und Verladung von Rohstoffen und Bergematerial dienen, sowie Anlagen und Einrichtungen zur Verwaltung wie z. B. die Schichtenkontrolle und fur die Mitarbeiter. Zudem gehoren zu einem Bergwerk alle zugehorigen untertagigen Anlagen und Einrichtungen, insbesondere alle Schachte, Strecken und Stollen, die als Grubenbau bezeichnet werden. Im weiteren Sinne gehoren auch Grabungen „uber Tage“ (Tagebau) und Tiefbohrungen dazu.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bergwerk"
}
|
c-13966
|
Peter Cooper (* 12. Februar 1791 in New York City; † 4. April 1883) war ein US-amerikanischer Industrieller, Erfinder und Philanthrop.
Leben und Wirken Cooper war Sohn hollandischer Einwanderer, ging nur kurz zur Schule und wurde in die hausliche Hutfertigung integriert. Er erlernte den Beruf des Kutschenbauers. Seine handwerklichen Fahigkeiten ließen ihn jedoch bald Neues erschaffen. In den folgenden Jahren war er Besitzer einer Mobelfabrik und eines Kolonialwarengeschafts. 1828 grundete er eine erfolgreiche Unternehmung, um Leim und Hausenblase herzustellen. Dieses Verfahren ließ er 1830 patentieren und wurde damit reich. 1813 heiratete er Sarah Bedell. Sie hatten sechs Kinder, von denen jedoch nur Edward Cooper der spatere Burgermeister von New York City und Sarah Amelia uberlebten. Sarah heiratete Abram Hewitt.
Als Autodidakt ging Cooper in die Geschichte des Eisenbahnbaus ein, als er 1830 die erste amerikanische Lokomotive, die Tom Thumb konstruierte, die er in seinem Canton Eisenwerk bei Baltimore fertigen ließ. Die Lokomotive erlaubte einen Krummungshalbmesser von weniger als 100 Fuß zu durchfahren und konnte deswegen erfolgreich bei der Baltimore and Ohio Railroad eingesetzt werden.
1840 wurde er in den Stadtrat von New York gewahlt. Dabei tat er sich insbesondere durch die Korruptionsbekampfung hervor.
1845 reichte er das erste US-amerikanische Patent fur die Herstellung von Gelatine ein. Das Produkt wurde bald landesweit unter dem Handelsnamen Jell-O bekannt (deutsch: Wackelpudding). Im selben Jahr eroffnete er ein Walzwerk fur die Herstellung von Stahltragern in Trenton (New Jersey). Dort wurden auch die ersten standardisierten Stahltrager fur den Hochbau gewalzt.
Mit vier weiteren Personen grundete er die New York, Newfoundland and London Telegraph Company. 1858 gelang es ihm zusammen mit Samuel Morse das erste transatlantische Kabel auszubringen und so einen schnellen Nachrichtenverkehr zwischen den USA und Europa zu ermoglichen.
Cooper war sozial engagiert und finanzierte mehrere Projekte fur die Armenausbildung. So grundete er 1859 die Cooper Union fur Fortschritte in Wissenschaft und Kunst.
1876 nahm Cooper an den Wahlen zur US-Prasidentschaft teil, bei der er chancenlos die United States Greenback Party vertrat, die es sich zum Ziel gemacht hatte, die Notenpresse anzuwerfen, um so Farmern und anderen armen Bevolkerungsschichten die Ruckzahlung von Krediten zu erleichtern. Er erzielte lediglich 1 Prozent der Stimmen.
Cooper starb am 4. April 1883 im Alter von 92 Jahren und wurde auf Green-Wood Cemetery in Brooklyn, New York begraben.
Veroffentlichungen The political and financial opinions of Peter Cooper. With an autobiography of his early life. Edited by Prof. J. C. Zachos, Curator at the Cooper Union, New York. Publisher: Trow's printing and bookbinding company New York 1877
Letter from Peter Cooper to Governor Horatio Seymor. The death of slavery. Printed 1863
Answer and remonstrance of the American Telegraph Company to the memorial of the Magnetic Telegraph Company and the New England Union Telegraph Company. April 30, 1858 to the Senate and House of Representatives of the United States of America, in Congress assembled.
Good government. Appeal of Peter Cooper, now in the 91st year of his age, to all legislators, editors, religious teachers, and lovers of our country 1882
Literatur A Symbol in Brownstone. THE STORY OF THE FOUNDATION BUILDING OF THE COOPER UNION. by Dr. Edwin S. Burdell President, The Cooper Union Orginially published in the Cooper Union Alumni News, February 1953, Vol. XVII, Number 2.
Dokumente uber die Grundung der Cooper Union
Peter Cooper. A Tribute of Commemoration of the Hundredth Anniversary of his Birth Publisher: The Alumni Association of the Cooper Union, 1891
In Memoriam Peter Cooper. Meeting Monday, April 16, 1883 at 8 p.m. at Chickering Hall. Address of Chief Justice DALY Publisher: Journal of the American Geographical Society of New York, Volume 15
Rossiter W. Raymond: Peter Cooper. Publisher: Houghton, Mifflin Boston 1901
Peter Cooper in: William O. Stoddard: Men of business Publisher: Charles Scribner’s Sons New York 1893
Weblinks Peter Cooper in der Datenbank Find a Grave
Biography Peter Cooper
Founded by inventor, industrialist and philanthropist Peter Cooper in 1859 The Cooper Union for the Advancement of Science and Art offers education in art, architecture and engineering, as well as courses in the humanities and social sciences.
LOCAL INTELLIGENCE.; THE ATLANTIC TELEGRAPH ENTERPRISE. Meeting of Merchants at the Chamber of Commerce - Interesting Addresses by Cyrus W. Field, Peter Cooper, E.E. Morgan, the Mayor, A.A. Low and others--Subscriptions to the Capital Stock of the Company. „The New York Times“, March 5, 1863
Einzelnachweise Quelle: Dictionary of American Biography. Volume: 4 – S. 409–410 Edited by Alan Johnson and Dumas Malone Publisher: C. Scribner’s Sons New York, 1943
|
Peter Cooper (* 12. Februar 1791 in New York City; † 4. April 1883) war ein US-amerikanischer Industrieller, Erfinder und Philanthrop.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Cooper"
}
|
c-13967
|
Der Academy Award, offizieller Name Academy Award of Merit (englisch fur Verdienstpreis der Akademie), besser bekannt unter seinem Spitznamen Oscar, ist der bekannteste Filmpreis der Filmindustrie. Er wird alljahrlich von der US-amerikanischen Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) fur die besten Filme des Vorjahres verliehen. Wegen der Zulassungsprozedur dominieren in den Siegerlisten in der Regel US-Produktionen. Die aktuelle Ausgabe war die 97. Verleihung der Oscars und fand am 2. Marz 2025 statt.
Die Auszeichnung wurde am 12. Februar 1929 vom damaligen Prasidenten der MGM Studios, Louis B. Mayer, ins Leben gerufen, acht Jahre nach der Verleihung des Photoplay Awards, der als erster Filmpreis der Welt gilt. Der Oscar wird in einer gemeinsamen Zeremonie in derzeit uber 30 verschiedenen Kategorien vergeben; die Preistrager erhalten eine Statuette, die einen Ritter mit einem Schwert auf einer Filmrolle darstellt.
Geschichte Gegen Ende der 1920er Jahre befand sich die US-amerikanische Filmindustrie in einer Krise. Neue Erfindungen – zum Beispiel das Radio – fuhrten dazu, dass die Kinos weniger Besucher verzeichneten. Fur die Eigentumer der großen Studios wurde die Situation zunehmend schwieriger. Die Bildung von Gewerkschaften auch in der Filmindustrie fuhrte dazu, dass sie die Arbeiter in ihren Studios angemessen bezahlen mussten, was bis dahin unublich war. Im Rahmen von Demonstrationen wurden mehr Lohn und die Einfuhrung geregelter Arbeitsverhaltnisse gefordert. Eine weitere Schwierigkeit fur die Studios bestand durch die Zensur.
Der Leiter der damals sehr erfolgreichen und einflussreichen Metro-Goldwyn-Mayer-Studios (MGM), Louis B. Mayer, traf sich mit zwei guten Freunden, um sich mit dem Problem auseinanderzusetzen. Zusammen mit Conrad Nagel und Fred Niblo ersann er eine Institution, die die Kunst des Filmemachens verkorpern und eine zentrale Steuerung der Interessen der Filmschaffenden gewahrleisten sollte – eine Akademie schien diese Anforderungen zu erfullen.
Am 11. Januar 1927 wurde ein Galadinner veranstaltet, bei dem sich 33 einflussreiche und namhafte Filmgroßen trafen, um die „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ zu grunden. Unter ihnen befanden sich Beruhmtheiten wie Douglas Fairbanks, Mary Pickford, Cecil B. DeMille, die Warner Brothers und andere. Das erste offizielle Bankett der Akademie fand am 11. Mai 1927 statt.
In den ersten Akademie-Statuten wurde festgeschrieben, um welche Aufgaben sich die Akademie zu kummern hatte. Die Einfuhrung des Preises wurde Anfang 1928 beschlossen und erganzt. Am 16. Mai 1929 wurde der Akademiepreis zum ersten Mal vergeben, und zwar im Hollywood Roosevelt Hotel direkt am Hollywood Boulevard in Hollywood. Fotos, Film- oder Tonaufzeichnungen existieren von dieser Veranstaltung nicht. Die Verleihung fand vor 270 Veranstaltungsgasten statt. Die Oscar-Gewinner wurden drei Monate zuvor in der Presse angekundigt. Bereits im nachsten Jahr hielt die Akademie die Ergebnisse geheim und gab den Zeitungen ublicherweise erst am Vortag der Verleihung kurz vor Mitternacht eine Liste zur Veroffentlichung.
Die erste Schauspielerin, die mit dem „Academy Award of Merit“ ausgezeichnet wurde, war die amerikanische Schauspielerin Janet Gaynor. Der erste Schauspieler, der mit dem „Academy Award of Merit“ ausgezeichnet wurde, war der deutsche Schauspieler Emil Jannings. Er erhielt ihn in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“ fur seine Leistung im Film Der Weg allen Fleisches (1927; Regie Victor Fleming); von dem Film sind keine Kopien mehr auffindbar. Die Auszeichnung galt zugleich fur Jannings’ ein Jahr spater entstandenen Film Sein letzter Befehl (1928; Regie Josef von Sternberg). Der Preis wurde ihm 1929 vorzeitig ubergeben, da er auf dem Weg zuruck nach Deutschland war; von der Zeremonie existieren keine Bilder. Mit dieser Auszeichnung als bester Hauptdarsteller ist Jannings der bisher einzige deutsche Schauspieler, der in dieser Kategorie gewonnen hat. Die in Dusseldorf geborene Schauspielerin Luise Rainer gewann den Preis als beste Hauptdarstellerin sogar zweimal (1936, 1937). Als erster Osterreicher (mit Schweizer Herkunft) konnte 1961 Maximilian Schell fur Urteil von Nurnberg in dieser Kategorie gewinnen.
Ab Mitte der 1930er Jahre, als das Interesse an der Veranstaltung auch außerhalb der Filmbranche gestiegen war, wurde die Liste der Gewinner vor der Verleihung an die Presse gegeben. Nachdem aber die Los Angeles Times 1940 die Sperrfrist missachtet und die Gewinner schon vor Beginn der Verleihung gedruckt hatte, wurde 1941 die vorherige Pressemitteilung abgeschafft; die Namen der Preistrager werden seitdem in versiegelten Umschlagen verschlossen gehalten. Die Gewinner sind bis zur Bekanntgabe in der Veranstaltung nur den beauftragten Notaren der Wirtschaftsprufungsgesellschaft Price Waterhouse (seit 1998 PricewaterhouseCoopers) bekannt.
Das Interesse in der Offentlichkeit in der Folge nahm kontinuierlich zu. Die dritte Oscarverleihung dauerte sieben Minuten und 38 Sekunden und wurde als erste auf Film aufgenommen, 1953 wurde die Verleihung erstmals im Fernsehen ubertragen. Heute stimmen mehr als 5500 Mitglieder der Akademie in den einzelnen Kategorien ab; die Verleihung wird weltweit ubertragen und jahrlich von etwa 800 Millionen Menschen verfolgt.
Nach Bekanntgabe der Oscar-Nominierungen 2016 sah sich die Academy of Motion Picture Arts and Sciences wachsender Kritik ausgesetzt – alle Nominierungen in den Darsteller-Kategorien hatten wie schon im Vorjahr weiße Schauspieler erhalten, obwohl in der amerikanischen Filmpreissaison zuvor dunkelhautige Darsteller wie Idris Elba (Beasts of No Nation), Michael B. Jordan (Creed – Rocky’s Legacy) oder Will Smith (Erschutternde Wahrheit) Berucksichtigung gefunden hatten. Smiths Ehefrau, die Schauspielerin Jada Pinkett Smith und der Ehrenpreistrager Spike Lee kritisierten daraufhin offentlich diesen Mangel an ethnischer Diversitat und kundigten an, nicht zur Oscarverleihung zu erscheinen. Der Vorstand der Akademie unter der afroamerikanischen Prasidentin Cheryl Boone Isaacs stimmte daraufhin fur neue Regeln, um die Zahl von Frauen und Angehorigen ethnischer Minderheiten bis 2020 zu verdoppeln. Im April 2016 wurde die Aufnahme 236 neuer Mitglieder bekanntgegeben, unter denen sich auch Wissenschaftler und Kunstler befanden. Am 29. Juni 2016 wurden weitere 683 Personlichkeiten als Neumitglieder eingeladen. Hierunter befanden sich 46 Prozent Frauen und 41 Prozent Angehorige ethnischer Minderheiten. Unter den Neumitgliedern befinden sich Regisseure wie Ryan Coogler, Deepa Mehta und Abbas Kiarostami, aber auch die Schauspieler Emma Watson, Michael B. Jordan, Oscar Isaac, Regina King, Anthony Anderson, Adam Beach, Kate Beckinsale, Chadwick Boseman, John Boyega, Carmen Ejogo, Idris Elba, America Ferrera, Greta Gerwig, Carla Gugino, Luis Guzman, Tom Hiddleston, Patti LuPone, Rachel McAdams, Nate Parker, Anika Noni Rose und Marlon Wayans. Auch die Sangerin Mary J. Blige erhielt eine Einladung.
Zuletzt wurden Ende Juni 2017 insgesamt 774 neue Mitglieder ernannt, so viele wie nie zuvor. Nach Angaben der AMPAS waren 39 Prozent davon Frauen. Damit stieg der Frauenanteil auf 28 Prozent, der Anteil nicht-weißer Mitglieder auf 13 Prozent an. Zu den neuen Akademie-Mitgliedern gehoren neben u. a. Adam Driver und Gal Gadot auch die 2017 nominierten Lucas Hedges, Barry Jenkins, Ruth Negga und Justin Timberlake. Ebenfalls aufgenommen wurden die Deutschen Fatih Akin und Daniel Bruhl, die Osterreicherinnen Jessica Hausner und Monika Willi sowie die Schweizer Claude Barras, Giacun Caduff, Corinna Glaus, Max Karli, Michel Merkt und Timo von Gunten. Anfang Mai 2018 beschloss der Aufsichtsrat der Akademie Roman Polanski und Bill Cosby infolge von Vorwurfen sexuellen Missbrauchs als Mitglieder auszuschließen. Im Oktober 2017 hatte die Akademie bereits Harvey Weinstein aus demselben Grund ausgeschlossen.
Aufgrund der Coronavirus-Pandemie entschied sich die Academy of Motion im Jahr 2020 erstmals und laut eigener Darstellung einmalig auch Filme fur die Nominierung zuzulassen, die ausschließlich auf Streaming-Plattformen gezeigt wurden.
Im Rahmen des Hauptpreises Bester Film wird es ab 2024 wesentliche Neuerungen geben. Bewerber sind dann verpflichtet, mindestens zwei Vielfaltigkeits-Kriterien zu erfullen. Es kann aus vier verschiedenen Vorgaben gewahlt werden, die gewahrleistet sein mussen – so geht es um Besetzungen von Filmrollen oder Inhalte des Films. Beispielsweise sollen LGBT-Inhalte beleuchtet werden oder wichtige Rollen mit Schwerbehinderten besetzt werden. Durch die Reformen erhofft man sich mehr Diversitat im Wettbewerb.
Besondere Vorfalle Bei der Oscarverleihung 1938 wurde die Statuette fur die beste Nebendarstellerin vor aller Augen von der Buhne gestohlen. Die Preistragerin Alice Brady hatte sich den Fuß gebrochen und konnte daher nicht an der Verleihung teilnehmen. Die Auszeichnung wurde von einem Betruger entgegengenommen, der unerkannt verschwinden konnte und nie ermittelt wurde. Brady wurde spater eine Kopie des Preises uberreicht.
Mehrere Kunstler verweigerten die Annahme des Oscars. Als Erster lehnte Dudley Nichols bei der Oscarverleihung 1936 seine Auszeichnung fur das beste adaptierte Drehbuch zu Der Verrater ab, da er im Streit mit der Filmakademie lag. 1971 verweigerte der Schauspieler George C. Scott die Annahme der Auszeichnung fur die Hauptrolle in Patton – Rebell in Uniform und protestierte gegen die zunehmende „Fleischbeschau“ in der Filmindustrie. Marlon Brando weigerte sich 1973, den Preis fur die Hauptrolle in Der Pate entgegenzunehmen, aus Solidaritat mit der Bewegung der US-amerikanischen Ureinwohner, und schickte stattdessen Sacheen Littlefeather zur Veranstaltung. In der von Brando vorbereiteten Rede machte Littlefeather auf die Unterdruckung der Burgerrechte der amerikanischen Ureinwohner und besonders auf die Protestaktionen des American Indian Movement bei Wounded Knee aufmerksam. Littlefeather konnte aufgrund der begrenzten Redezeit nur ein improvisiertes Statement abgeben; sie verlas den gesamten Text erst hinter der Buhne vor den dort anwesenden Journalisten.
Bei der Oscarverleihung 1962 gelang es dem New Yorker Taxifahrer Stan Berman, sich auf die Buhne zu schleichen und einen selbstgemachten „Oscar“ fur Moderator Bob Hope zu prasentieren. Berman nannte einen Bezug auf das Jahr 1938, in dem Hope seine erste Rolle in einem abendfullenden Spielfilm (The Big Broadcast of 1938) hatte.
Bei der Oscarverleihung 1986 verstarb die Schauspielerin Sarah Cunningham wahrend der Show in der Lobby an einem Asthma-Anfall.
Bedingt durch die große Resonanz der Oscarverleihung war die Veranstaltung gelegentlich auch ein Podium fur offentlichkeitswirksame Auftritte mit politischem Anliegen. Bei der Oscarverleihung 1974 rannte der Flitzer Robert Opel nackt uber die Buhne und zeigte dabei das Friedenszeichen, als David Niven gerade eine Rede fur die Schauspielerin Elizabeth Taylor hielt. Michael Moore nutzte seine Dankesrede zu seinem Oscar fur Bowling for Columbine 2003, um US-Prasident George W. Bush wegen des amerikanisch-britischen Kriegs gegen das irakische Regime von Saddam Hussein scharf anzugreifen („Shame on you, Mr. Bush!“).
Im selben Jahr blieb der Rapper Eminem der Show fern, da er sich weigerte, mit einer „entscharften“ Version seines Gewinnersongs Lose Yourself aus dem Film 8 Mile aufzutreten.
Bei der Oscarverleihung 2010 kam es zu einem kleinen Eklat, als Music by Prudence als bester Dokumentar-Kurzfilm ausgezeichnet wurde. Gerade als Regisseur Roger Ross Williams zu seiner Dankesrede ansetzte, sturmte Elinor Burkett auf die Buhne und unterbrach die Rede. Die ursprungliche Idee zum Film stammte von ihr, sie war jedoch aufgrund von Differenzen bereits im Jahr zuvor von ihren Aufgaben bei dem Projekt entbunden worden.
Bei der Oscarverleihung 2017 prasentierten Warren Beatty und Faye Dunaway den Preistrager in der Kategorie Bester Film. Dunaway sprach nach Zogern von Beatty irrtumlich dem Musical La La Land die Auszeichnung zu; tatsachlich hatte aber das Drama Moonlight den Oscar gewonnen. Beatty war zuvor falschlicherweise der Umschlag mit der Gewinnerin der Kategorie Beste Hauptdarstellerin, Emma Stone in La La Land, ausgehandigt worden. Dies wurde erst nach den Dankesreden der La-La-Land-Produzenten Jordan Horowitz, Marc Platt und Fred Berger korrigiert. Im Jahr darauf gaben Beatty und Dunaway erneut den Oscar-Gewinner in der Kategorie Bester Film bekannt, diesmal ohne einen Fehler.
Wahrend der Oscarverleihung 2022 ohrfeigte Will Smith auf der Buhne Chris Rock. Dieser hatte zuvor einen Scherz uber die Frisur von Smiths Frau Jada Pinkett Smith gemacht, der krankheitsbedingt die Haare ausgefallen waren.
Der Name In den ersten Jahren der Verleihung wurde die Trophae noch ausschließlich als Academy Award of Merit bezeichnet. Wer der Pate fur den Namen Oscar war, ist heute nicht mehr mit Bestimmtheit zu klaren. Fest steht, dass der pragnantere neue Name seit Mitte der 1930er Jahre weitgehend verwendet wurde. Vier Personen werden immer wieder als „Taufpaten“ genannt:
Die ehemalige Vorstandssekretarin und spatere Leiterin der Akademie, Margaret Herrick, soll beim Anblick der Statue gesagt haben: „Der sieht ja aus wie mein Onkel Oscar!“, womit sie aber vermutlich ihren Cousin zweiten Grades Oscar Pierce meinte. In den Annalen der Akademie wird sie oft als offizielle Namensgeberin angefuhrt.
Der Filmkolumnist Sidney Skolsky verwendete 1934 den Namen „Oscar“ als erster Journalist in einem gedruckten Werk und trug dadurch maßgeblich zu dessen Popularisierung bei.
Bette Davis soll immer wieder betont haben, dass die Statue sie an ihren ersten Mann Harmon Oscar Nelson Jr. (1907–1975) erinnere.
Als eher unwahrscheinlich gilt die Theorie, nach der ein Mitglied der Academy vorgeschlagen habe, die Trophae „Oscar“ zu nennen. Walt Disney habe dies mitbekommen und geglaubt, dies sei nun der offizielle Name der Trophae. Er soll sich dann bei der Verleihung 1934 fur seinen „Oscar“ bedankt haben.
Obwohl bis heute immer wieder betont wird, Oscar sei nicht die offizielle Bezeichnung, ist auch dieser Name seit 1979 markenrechtlich geschutzt.
Die Trophae Der begehrte Filmpreis ist 34 cm groß, 3,85 kg schwer und besteht seit 2016 wieder, wie ganz zu Anfang, aus Bronze und ist elektrolytisch mit 24-karatigem Gold uberzogen. Bis 2015 bestand die Statue aus Britanniametall, einer Zinnlegierung, und war etwas leichter. Wahrend des Zweiten Weltkriegs wurden wegen Rohstoffmangels Ersatzmaterialien verwendet, diese Statuen wurden nach dem Krieg durch metallene ersetzt. In den Sockel der Statue werden erst nach der Verleihung die Namen des Preistragers, die dazugehorige Oscar-Kategorie und der Titel des Films eingraviert.
Der Entwurf zu der Statuette stammt vom Art Director der Metro-Goldwyn-Mayer (MGM), Cedric Gibbons. Die Grunder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences beauftragten Conrad Nagel mit der Gestaltung des Filmpreises. Mit einem Budget von 500 Dollar machte sich Nagel uber das Aussehen und die Art des Preises Gedanken. Eine schlichte Urkunde wurde fur nicht ausreichend befunden. Die Idee kam auf, den Preis durch eine Statuette zu symbolisieren. Nagel beauftragte Gibbons, einen Entwurf fur eine Statuette anzufertigen, die dem Filmpreis eine wurdige Form verleihen sollte. Gibbons entwarf daraufhin die beruhmt gewordene Figur eines goldenen Schwerttragers, der auf einer Filmrolle steht.
Seit 1950 mussen sich die Gewinner verpflichten, dass weder sie noch ihre Erben die Oscars verkaufen, ohne sie zunachst der Academy fur einen US-Dollar anzubieten. Verweigert ein Gewinner dies, behalt die Academy die Trophae. Der versuchte Verkauf des Oscars von Michael Todd durch seinen Enkel wurde von der Academy 1989 nach einem Rechtsstreit unterbunden. Mehrere vor Einfuhrung der Bestimmung verliehene Oscars wurden jedoch in Auktionen fur sechsstellige Summen verkauft. Im Dezember 2011 wurde Orson Welles’ Oscar fur Citizen Kane (1941) von seinen Erben in einer Auktion angeboten. Die Erben hatten ihn bereits 2003 verkaufen wollen, was zu einem Rechtsstreit mit der Academy gefuhrt hatte. Die Erben gewannen den Prozess, da Welles 1941 keine entsprechende Erklarung unterzeichnet hatte. Am 20. Dezember 2011 wurde der Oscar fur 861.542 US-Dollar an einen anonymen Bieter verkauft.
Veranstaltungsorte Im Laufe der Jahre wurden die Academy Awards in verschiedenen Raumlichkeiten vergeben:
The Blossom Room im Hollywood Roosevelt Hotel (1929)
The Coconut Grove im Ambassador Hotel (April 1930, 1940, 1943)
The Fiesta Room im Ambassador Hotel (November 1930, 1932, 1934)
The Sala D’Oro im Biltmore Hotel (1931)
The Biltmore Bowl im Biltmore Hotel (1935–1939, 1941, 1942)
Grauman’s Chinese Theatre (1944–1946)
The Shrine Civic Auditorium (1947, 1948, 1988, 1989, 1991, 1995, 1997, 1998, 2000, 2001)
The Academy Award Theater (1949)
The RKO Pantages Theatre (1950–1960)
The Santa Monica Civic Auditorium (1961–1968)
The Dorothy Chandler Pavilion (1969–1987, 1990, 1992–1994, 1996, 1999)
The Dolby Theatre (ehemaliges Kodak Theatre; 2002–2020, seit 2022)
The Los Angeles Union Station (2021)
Die 25. bis 29. Verleihung fand nicht nur in Los Angeles, sondern auch in New York statt:
NBC International Theatre (1953)
NBC Century Theatre (1954–1957)
Die Fernseh-Liveubertragung der Oscar-Nominierungen erfolgt aus dem Samuel Goldwyn Theater im 1975 errichteten Hauptgebaude der AMPAS.
Kategorien Die Akademie stellt fur jede Oscarverleihung neue Regeln auf und behalt sich die Einfuhrung neuer Kategorien bzw. die Abschaffung existierender Kategorien vor.
2024 gab die Academy die Einfuhrung einer Kategorie fur Casting-Direktoren ab 2026 bekannt. 2025 wurde eine Kategorie fur Stunt Design ab 2028 angekundigt.
= Regulare Auszeichnung =
Academy Awards werden jedes Jahr in den folgenden 23 regularen Kategorien vergeben:
= Ehemalige Kategorien =
Kategorien, die nicht mehr zum Programm der Academy Awards gehoren:
= Besondere Auszeichnungen =
Diese Preise werden nicht jedes Jahr verliehen bzw. nur nach Bedarf:
= Auszeichnungen fur Wissenschaft und Technik =
Diese Preise werden zum Teil nicht jedes Jahr verliehen bzw. nur nach Bedarf:
Das Verfahren = Vorauswahl – Bestimmung der Nominierten =
Jeder Spielfilm, der zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember eines Jahres im Gebiet von Los Angeles County erstmals mindestens sieben Tage lang in einem offentlichen Kino gegen Entgelt gezeigt wurde, ist fur die Oscars im darauffolgenden Jahr qualifiziert. Dabei wird der Begriff „Spielfilm“ definiert als ein Film, der
mindestens eine Lange von 40 Minuten aufweist und
als 35- oder 70-mm-Kopie oder als 24 bzw. 48 fps Digitalkinoformat (mit einer Mindestauflosung von 1280 × 720 Pixeln) gezeigt wurde.
Dabei ist es unerheblich, ob der Film US-amerikanischen oder auslandischen Ursprungs ist, sodass sich auch auslandische Filme außerhalb der Kategorie fur den besten fremdsprachigen Film qualifizieren konnen. Am Ende jedes Jahres stellt die Akademie eine Liste der infrage kommenden Filme zusammen.
In der Vorauswahlphase wahlen die Akademiemitglieder ihre zehn personlichen Favoriten in der Kategorie „Bester Film“; dabei sind alle Mitglieder stimmberechtigt. Zusatzlich schlagt jedes Mitglied funf Filme bzw. Personen seines Akademiezweigs zur Nominierung vor, d. h. Regisseure wahlen Regisseure, Schauspieler wahlen Schauspieler usw. Die zehn Filme mit den meisten Stimmen fur den besten Film bzw. die funf Vorschlage mit den meisten Stimmen in jeder Einzelkategorie werden dann von der Akademie offiziell als Nominierte verkundet.
Spezielle Regeln fur die Nominierung
Fur die Kategorien Animierter Spielfilm, Dokumentarfilm, Kurzfilm, Fremdsprachiger Film, Make-up, Tonschnitt und Visuelle Effekte gibt es spezielle Vorauswahljurys innerhalb der Akademie, die uber die Nominierung entscheiden.
Fur den besten fremdsprachigen Film gelten abweichende Qualifikationsregeln: Hier ist jeder Film zulassig, der in der Zeit vom 1. Oktober zwei Jahre vor der Preisverleihung bis zum 30. September des Jahres vor der Preisverleihung in seinem jeweiligen Land uraufgefuhrt wurde. Jedes Land darf dabei der Akademie nur einen Film zur Nominierung vorschlagen. Nach der Nichtnominierung des hochgelobten rumanischen Dramas 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage gab die Akademie am 19. Juni 2008 eine Anderung ihrer Auswahlrichtlinien bekannt: Nur noch sechs der neun zu nominierenden auslandischen Produktionen werden von einem Freiwilligenkomitee aus AMPAS-Mitgliedern bestimmt, die nur ein Minimum der eingereichten Beitrage sehen mussen; drei Nominierungen werden von einem zwanzigkopfigen Gremium fur fremdsprachige Filme, dem Foreign Language Film Award Executive Committee, ausgewahlt.
Auch fur die Dokumentarfilm-Oscars gelten abweichende Qualifikationsregeln: Hier muss der Film entweder in Los Angeles County oder im New Yorker Stadtteil Manhattan zwischen 1. September zwei Jahre vor der Preisverleihung und 31. August des Jahres vor der Preisverleihung gezeigt worden sein. Zusatzlich muss der Film in vier weiteren Stadten fur mindestens zwei Tage offentlich gezeigt worden sein.
Ebenfalls gibt es fur die Kurzfilm-Oscars abweichende Qualifikationsregeln: Hier ist jeder Film zulassig, der in der Zeit vom 1. Oktober zwei Jahre vor der Preisverleihung bis zum 30. September des Jahres vor der Preisverleihung entweder fur mindestens drei Tage in Los Angeles County gezeigt oder an einem in den Regeln festgelegten Filmfestival ausgezeichnet wurde.
Nachdem bei den Preisverleihungen 2007 und 2008 in der Kategorie Bester Filmsong jeweils eine Produktion drei der funf nominierten Musikstucke gestellt hatte, werden seit 2009 maximal zwei Stucke aus einem Film nominiert (bei der Vorauswahl gilt diese Grenze nicht; die vorauswahlberechtigten Akademiemitglieder durfen also weiterhin mehr als zwei Musikstucke aus einem einzelnen Film vorschlagen).
Die Kategorien „Animierter Spielfilm“ und „Make-up“ sind fakultativ. Sollten nach Ermessen der Akademie in einem Jahr zu wenige Filme fur einen Oscar infrage kommen, kann die Akademie den Vorauswahlprozess uberspringen und einzelne Filme direkt nominieren, direkt einen Sonderoscar fur einen Film vergeben oder auf die Verleihung in diesem Jahr uberhaupt verzichten.
Wenn ein Schauspieler fur zwei oder mehr Filme in der gleichen Kategorie (zum Beispiel „Bester Hauptdarsteller“) unter die funf Nominierten gewahlt wird, so wird er nur fur den Film nominiert, auf den die meisten Stimmen entfallen. Das Gleiche gilt, wenn sich die vorauswahlberechtigten Akademiemitglieder nicht einig sind, ob die betreffende Rolle eine Haupt- oder Nebenrolle ist und ein Schauspieler fur denselben Film als bester Haupt- und bester Nebendarsteller nominiert werden wurde. In beiden Fallen ruckt der Sechstplatzierte als Nominierter nach. Hingegen ist es moglich, dass ein Schauspieler im selben Jahr fur verschiedene Filme in unterschiedlichen Kategorien nominiert ist.
= Wahl der Preistrager aus den Nominierten =
In der zweiten Wahlphase haben die Mitglieder der Akademie nun die Moglichkeit, sich im akademieeigenen Filmtheater alle nominierten Filme kostenlos anzusehen. Zudem werden besondere DVDs mit den Filmen versandt. Diese Praxis wird von der Akademie allerdings kritisch gesehen, da im Jahr 2003 Exemplare dieser DVDs in Internettauschborsen aufgetaucht waren.
Bei der Wahl der Preistrager aus den Nominierten sind alle Mitglieder in allen Kategorien stimmberechtigt.
Die Stimmzettel, die spatestens eine Woche vor der Verleihung bei der Akademie eingegangen sein mussen, werden von drei vereidigten Notaren der Wirtschaftsprufungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers ausgezahlt. Der Oscar wird an denjenigen Nominierten verliehen, der die meisten Stimmen auf sich vereinen konnte. In dem Fall, dass zwei Nominierte die gleiche Stimmenanzahl erhalten, wird der Oscar an beide verliehen.
Spezielle Regeln fur die Vergabe
In der Kategorie Szenenbild werden neben dem Szenenbildner (Production Designer) auch der Ausstatter (Set Decorator) und der Filmarchitekt (Art Director) nominiert und ausgezeichnet.
Fur den besten animierten Spielfilm wird die hauptverantwortliche Kreativperson ausgezeichnet. Das ist in den meisten Fallen der Regisseur (und maximal ein zweiter Regisseur), kann aber auch ein Produzent sein.
In den Dokumentar- und Kurzfilm-Kategorien werden maximal zwei Oscars vergeben, darunter in jedem Fall an den Regisseur und einen weiteren Kreativen (in den meisten Fallen der Produzent).
Der Oscar fur den besten fremdsprachigen Film geht an den Film selbst, nicht an den Produzenten und nicht an den Regisseur. Letzterer nimmt den Oscar lediglich stellvertretend entgegen.
Der Oscar fur den besten Film geht an die Produzenten des Films, wobei hier nur maximal drei Produzenten nominiert und ausgezeichnet werden. Sofern mehr Produzenten im Abspann genannt werden, muss die Produktionsgesellschaft drei Produzenten benennen oder die Akademie bestimmt drei Produzenten.
Hochstens zwei Ehrenpreise werden ohne vorherige Nominierung vom Board of Governors vergeben. Da mehr als zwei verschiedene Ehrenpreis-Kategorien existieren, werden nicht alle Ehrenpreise jedes Jahr vergeben.
Die Oscars fur technische Verdienste werden ebenfalls ohne vorherige Nominierung durch besondere Auswahlkomitees verliehen. Diese Verleihung findet stets im Vorfeld der eigentlichen Oscar-Verleihung statt.
Kritik Mehrfach wurde kritisiert, dass nicht-amerikanische, insbesondere japanische Animationsfilme nahezu nie ausgezeichnet oder auch nur nominiert werden, trotz deren großen Erfolgs beim Publikum und positiver Presse- und Besucherstimmen. So war fur die Oscars des Jahres 2018 A Silent Voice sowie vier weitere Anime-Filme in der Vorauswahl fur eine Nominierung, aber keiner wurde nominiert, was angesichts der Nominierungen Gegenstand von Kritik wurde. Seit Chihiros Reise ins Zauberland von Hayao Miyazaki, der bei den Oscars 2003 den Preis gewinnen konnte, schafften es nur vier weitere japanische Animationsfilme – allesamt von Studio Ghibli –, eine Nominierung bei den Oscars zu erhalten. Als ein moglicher Grund wird eine Regelanderung genannt, die 2018 in Kraft getreten ist, die besagt, dass jedes Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences stimmberechtigt ist, wenn dieser zumindest zwei Drittel aller vorgeschlagenen Filme angesehen hat. Zudem besteht der Verdacht, dass die Mitglieder durch die Vorlieben ihrer Kinder beeinflusst sein konnten. Auch kulturelle Unterschiede und die demografische Zusammensetzung der Jury werden als Grunde angefuhrt.
Rekorde = Die erfolgreichsten Filme =
Lange Zeit war der Film Vom Winde verweht aus dem Jahr 1939 mit zehn Oscars der zahlenmaßig erfolgreichste Film in der Oscar-Geschichte; er wurde erst 1960 von Ben Hur mit elf Trophaen abgelost. Mit Ben Hur wiederum konnte erst im Jahr 1998 Titanic mit ebenfalls elf Auszeichnungen gleichziehen. Nur sechs Jahre sollte es dauern, bis sich mit Der Herr der Ringe: Die Ruckkehr des Konigs ein weiterer Film mit elf Oscars in diese Riege einreihte. Letzterer war gleichzeitig einer der wenigen Filme, die in allen nominierten Kategorien auch gewonnen haben. Insgesamt ist die Herr-der-Ringe-Trilogie die erfolgreichste Filmserie mit 17 Auszeichnungen bei 30 Nominierungen.
Die funf Sparten Bester Film, Beste Regie, Bester Hauptdarsteller, Beste Hauptdarstellerin sowie die Drehbuchsparten (Bestes Originaldrehbuch bzw. Bestes Drehbuch nach einer Vorlage) gelten als die wichtigsten Oscar-Kategorien und werden auch als die „Big Five“ bezeichnet. Bislang sind erst drei Filme in jeder dieser Kategorien ausgezeichnet worden: Es geschah in einer Nacht (1934), Einer flog uber das Kuckucksnest (1975) und Das Schweigen der Lammer (1991).
Alles uber Eva (1950), Titanic (1997) und La La Land (2017) teilen sich den Nominierungsrekord mit 14 Nominierungen, gefolgt von Vom Winde verweht, Verdammt in alle Ewigkeit, Mary Poppins, Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, Forrest Gump, Shakespeare in Love, Der Herr der Ringe: Die Gefahrten, Chicago, Der seltsame Fall des Benjamin Button, Shape of Water – Das Flustern des Wassers, Oppenheimer und Emilia Perez mit je 13 Nominierungen.
= Die erfolgreichsten Schauspieler und Filmschaffenden =
Bisher am haufigsten mit Darsteller-Auszeichnungen geehrt wurde die US-Amerikanerin Katharine Hepburn (1907–2003), die zwischen 1934 und 1982 viermal als beste Hauptdarstellerin honoriert wurde. Ihre Landsfrau Meryl Streep kann die meisten Darsteller-Nominierungen (21) auf sich vereinen. Bei den Mannern errangen Jack Nicholson, Daniel Day-Lewis und Walter Brennan (1894–1974) je drei Academy Awards. Nicholson halt gleichzeitig den Nominierungsrekord bei den mannlichen Darstellern (12 Nominierungen).
Die am haufigsten ausgezeichnete Person ist Walt Disney (1901–1966) mit 26 Oscars (inkl. 4 Ehrenoscars) und 37 weiteren Nominierungen. Zudem gewann er 1954 mit 4 Auszeichnungen die meisten Oscars in einem Jahr. 2020 erreichte Bong Joon-ho ebenfalls 4 Auszeichnungen, 2025 zog Sean Baker mit beiden gleich. Die am haufigsten ausgezeichnete Frau ist die Kostumbildnerin Edith Head (1897–1981) mit 8 Oscars und 27 weiteren Nominierungen. Die am haufigsten ausgezeichneten noch lebenden Filmschaffenden sind der Komponist Alan Menken (8 regulare Preise, u. a. fur Aladdin und Pocahontas) und Dennis Muren, der fur seine Visual Effects unter anderem fur Star Wars Episode V – Das Imperium schlagt zuruck, E.T. – Der Außerirdische und Indiana Jones und der Tempel des Todes insgesamt 8 Oscars (inkl. 3 Sonderpreisen; 15 Nominierungen) erhielt.
Mit sieben Auszeichnungen bei 13 Nominierungen sind die Zeichentrickfiguren Tom und Jerry die am haufigsten ausgezeichneten Trickfilmstars in der Geschichte der Oscars (siehe: Oscar/Bester animierter Kurzfilm).
Recht erfolgreich waren auch die beiden Schauspielerinnen Greer Garson (1904–1996) und Bette Davis (1908–1989), die als bislang einzige funf Jahre nacheinander fur den Oscar nominiert wurden.
Die am haufigsten ausgezeichneten beziehungsweise nominierten Personen hinter der Kamera
Regisseur John Ford (1894–1973) mit 4 Preisen fur die Beste Regie
Regisseur William Wyler (1902–1981) mit 3 Auszeichnungen bei 12 Nominierungen
Dokumentarfilm-Regisseur Charles Guggenheim (1924–2002) mit 3 Auszeichnungen bei 10 Nominierungen
Kameramanner Joseph Ruttenberg (1889–1983) und Leon Shamroy (1901–1974) mit jeweils 4 Preisen fur die Beste Kamera
Kameramanner Charles Lang (1902–1998) und Leon Shamroy mit jeweils 18 Nominierungen
Art Director Cedric Gibbons (1893–1960) mit 11 Preisen bei 39 Nominierungen fur das Beste Szenenbild
Maskenbildner Rick Baker mit 7 Preisen bei 11 Nominierungen fur das Beste Make-up, zuletzt 2011 fur Wolfman
Song-Writer und Musiker Sammy Cahn (1913–1993) mit 4 Preisen bei 26 Nominierungen fur den Besten Song
Komponist Alfred Newman mit 9 Preisen fur die Beste Filmmusik
Komponist John Williams ist mit 5 Preisen bei 54 Nominierungen fur die Beste Filmmusik die am haufigsten nominierte, derzeit noch lebende Person
Allrounder Woody Allen mit 3 Preisen bei 15 Nominierungen fur das Beste Originaldrehbuch
Auszeichnung furs Filmdebut
Beste Hauptdarstellerin: Shirley Booth (Kehr zuruck, kleine Sheba, 1952), Julie Andrews (Mary Poppins, 1964), Barbra Streisand (Funny Girl, 1968) und Marlee Matlin (Children of a Lesser God, 1986)
Bester Nebendarsteller: Harold Russell (Die besten Jahre unseres Lebens, 1946) und Haing S. Ngor (The Killing Fields – Schreiendes Land, 1984)
Beste Nebendarstellerin: Gale Sondergaard (Ein rastloses Leben, 1936), Katina Paxinou (Wem die Stunde schlagt, 1943), Mercedes McCambridge (Der Mann, der herrschen wollte, 1949), Eva Marie Saint (Die Faust im Nacken, 1954), Jo Van Fleet (Jenseits von Eden, 1955), Tatum O’Neal (Paper Moon, 1973), Anna Paquin (Das Piano, 1993), Jennifer Hudson (Dreamgirls, 2006), und Lupita Nyong’o (12 Years a Slave, 2013)
Bester Regisseur: Delbert Mann (Marty, 1955), Jerome Robbins (West Side Story, 1961), Robert Redford (Eine ganz normale Familie, 1980), James L. Brooks (Zeit der Zartlichkeit, 1983), Kevin Costner (Der mit dem Wolf tanzt, 1990) und Sam Mendes (American Beauty, 1999)
= Altersrekorde =
jungste Oscar-Gewinnerin: Sonderpreis Juvenile Award fur die sechsjahrige Shirley Temple (Herausragender Beitrag zur Filmunterhaltung 1934)
jungste Oscarpreistragerin (im Wettbewerb): beste Nebendarstellerin fur die zehnjahrige Tatum O’Neal (Paper Moon, 1973)
jungster Oscar-Nominierter (im Wettbewerb): bester Nebendarsteller fur den achtjahrigen Justin Henry (Kramer gegen Kramer, 1979)
jungste mehrfach nominierte Darstellerin: Angela Lansbury (1945 im Alter von 19 Jahren und 1946 im Alter von 20 Jahren.)
jungster Nominierter als Bester Hauptdarsteller: der neunjahrige Jackie Cooper (Skippy, 1931)
jungste Nominierte als Beste Hauptdarstellerin: die neunjahrige Quvenzhane Wallis (Beasts of the Southern Wild, 2012)
jungste Gewinnerin eines Hauptdarsteller-Oscars: die 21-jahrige Marlee Matlin (Gottes vergessene Kinder, 1986)
alteste Gewinnerin eines Hauptdarsteller-Oscars: die 80-jahrige Jessica Tandy (Miss Daisy und ihr Chauffeur, 1989)
altester Gewinner eines Hauptdarsteller-Oscars: der 83-jahrige Anthony Hopkins (The Father, 2020)
altester nominierter Schauspieler: bester Nebendarsteller fur den 88-jahrigen Christopher Plummer (Alles Geld der Welt, 2018)
jungster ausgezeichneter Regisseur: der 32-jahrige Damien Chazelle (La La Land, 2017)
jungster nominierter Regisseur: der 24-jahrige John Singleton (Boyz n the Hood, 1991)
altester ausgezeichneter Regisseur: der 74-jahrige Clint Eastwood (Million Dollar Baby, 2005)
altester nominierter Regisseur: der 81-jahrige Martin Scorsese (Killers of the Flower Moon, 2024)
altester Gewinner (im Wettbewerb): bestes adaptiertes Drehbuch fur den 89-jahrigen James Ivory (Call Me by Your Name, 2018)
altester Oscar-Nominierter (im Wettbewerb): beste Filmmusik fur den 91-jahrigen John Williams (Indiana Jones und das Rad des Schicksals, 2024)
alteste ausgezeichnete Person (vom Geburtsjahrgang): bester Darsteller fur George Arliss (* 10. April 1868; Disraeli, 1929)
alteste nominierte Person (vom Geburtsjahrgang): beste Darstellerin fur May Robson (* 19. April 1858; Lady fur einen Tag, 1933)
= Die meisten aufeinanderfolgenden Gewinne =
Bester Produzent: in der Sparte Bester animierter Kurzfilm gewann Walt Disney von 1932 bis 1940 achtmal nacheinander den Oscar, bei 15 Nominierungen im selben Zeitraum
Beste Hauptdarstellerin: Luise Rainer (Der große Ziegfeld, 1936 und Die gute Erde, 1937) und Katharine Hepburn (Rat mal, wer zum Essen kommt, 1967 und Der Lowe im Winter, 1968)
Bester Hauptdarsteller: Spencer Tracy (Manuel, 1937 und Teufelskerle, 1938) und Tom Hanks (Philadelphia, 1993 und Forrest Gump, 1994)
Bester Nebendarsteller: Jason Robards (Die Unbestechlichen, 1976 und Julia, 1977)
Bester Regisseur: John Ford (Fruchte des Zorns, 1940 und Schlagende Wetter, 1941), Joseph L. Mankiewicz (Ein Brief an drei Frauen, 1949 und Alles uber Eva, 1950) und Alejandro G. Inarritu (Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit), 2014 und The Revenant – Der Ruckkehrer, 2015)
Beste Kamera: Emmanuel Lubezki (Gravity, 2014, Birdman, 2015 und The Revenant – Der Ruckkehrer, 2016)
Beste Filmmusik:
Roger Edens (Osterspaziergang, 1948, Heut’ gehn wir bummeln, 1949 und Duell in der Manege, 1950)
Ray Heindorf (Yankee Doodle Dandy, 1942 und This Is the Army, 1943)
Franz Waxman (Boulevard der Dammerung, 1950 und Ein Platz an der Sonne, 1951)
Alfred Newman (Mit einem Lied im Herzen, 1952 und Madame macht Geschichte(n), 1953 sowie Alle Herrlichkeit auf Erden, 1955 und Der Konig und ich, 1956)
Adolph Deutsch (Eine Braut fur sieben Bruder, 1954 und Oklahoma!, 1955)
Andre Previn (Gigi, 1958 und Porgy und Bess, 1959 sowie Das Madchen Irma la Douce, 1963 und My Fair Lady, 1964)
Leonard Rosenman (Barry Lyndon, 1975 und Dieses Land ist mein Land, 1976)
Alan Menken (Die Schone und das Biest, 1991 und Aladdin, 1992)
Gustavo Santaolalla (Brokeback Mountain, 2005 und Babel, 2006)
= Die großten „Verlierer“ =
Die meisten Nominierungen fur einen Film, ohne einen Preis zu gewinnen
Am Wendepunkt (1977) und Die Farbe Lila (1985) mit jeweils elf Nominierungen
Gangs of New York (2002), True Grit (2010), American Hustle (2014), The Irishman (2019) und Killers of the Flower Moon (2023) mit jeweils zehn Nominierungen
Die meisten Nominierungen fur den Besten fremdsprachigen Film (nach Herkunftsland)
Israel mit neun Nominierungen
Die meisten Nominierungen fur eine Person uberhaupt
Tontechniker Kevin O’Connell mit 21 Nominierungen (erst bei seiner 21. Nominierung 2017 erhielt er seinen ersten Oscar in der Kategorie Bester Ton fur Hacksaw Ridge – Die Entscheidung)
Die meisten Nominierungen fur eine Darstellerin
Glenn Close (* 1947) insgesamt achtmal fur einen Darstellerpreis nominiert.
Die meisten Nominierungen fur einen Darsteller
Peter O’Toole (1932–2013) mit acht Nominierungen (erhielt 2003 den Ehrenoscar fur sein Lebenswerk)
Die meisten Nominierungen fur einen Regisseur
Clarence Brown (1890–1987) mit sechs Nominierungen
Die meisten Nominierungen fur einen Drehbuchautor
Federico Fellini mit sechs Nominierungen (neben dem Ehrenoscar 1993 fur sein Lebenswerk wurden seine Filme viermal mit dem Preis fur den besten fremdsprachigen Film ausgezeichnet)
Die meisten Nominierungen fur einen Filmkomponisten
Alex North und Thomas Newman mit 14 Nominierungen
Die meisten Nominierungen fur einen Kameramann
George J. Folsey und Roger Deakins mit 13 Nominierungen (Deakins konnte seine 14. Nominierung 2018 fur Blade Runner 2049 in seinen ersten Gewinn umsetzen)
Moderation In den Anfangsjahren wurde die Verleihungszeremonie haufig vom jeweiligen Prasidenten der Akademie moderiert. Ende der 1950er Jahre gab es erstmals eine ganze Riege gleichberechtigter Moderatoren fur eine Verleihung. Dies wurde in den 1970er Jahren nochmals aufgegriffen.
Seit Ende der 1970er Jahre fuhrt meist jeweils ein Moderator durch das Programm. Unterstutzt wird er dabei von zahlreichen Laudatoren. In den Darstellerkategorien sind dies im Regelfall die Gewinner des Vorjahres jeweils beim anderen Geschlecht.
Der bislang haufigste Oscar-Moderator ist der Entertainer Bob Hope – er moderierte die Veranstaltung neunzehnmal. Billy Crystal wurde fur seine Moderationen in den 1990er Jahren mehrmals mit dem Fernsehpreis Emmy ausgezeichnet. Im Jahr 2012 sprang er kurzfristig ein und moderierte die Oscars. Auch die Moderationen von David Niven wurden legendar. In der langen Geschichte der Verleihung gab es bis heute lediglich zwei Moderatorinnen, die alleine durch die Show fuhren durften: Whoopi Goldberg (vier Mal seit 1994) und Ellen DeGeneres (2007 und 2014).
Weitere Listen Oscar/Alle Filme
Liste deutscher Oscarpreistrager
Liste osterreichischer Oscarpreistrager
Verschiedenes Als eine Art Gegen-Oscar wird seit 1981 die Goldene Himbeere als Negativpreis am Abend vor der Oscarverleihung vergeben.
Als „Oscar-Fluch“ wird der Ruckgang der Karriere einiger Schauspieler nach dem Gewinn eines Oscars bezeichnet.
Literatur Norbert Stresau: Der Oscar. Alle preisgekronten Filme, Regisseure und Schauspieler seit 1929. Heyne, Munchen 1994, ISBN 3-453-07872-1.
Hans-Jurgen Kubiak: Die Oscar-Filme. Die besten Filme der Jahre 1927/28 bis 2004; die besten nicht-englischsprachigen Filme der Jahre 1947 bis 2004; die besten Animationsfilme der Jahre 2001 bis 2004. Schuren, Marburg 2005, ISBN 3-89472-386-6.
Deutsches Filmmuseum: And the Oscar goes to … 85 years of the best picture academy award. Frankfurt am Main 2012. ISBN 978-3-88799-082-4.
Bruce Davis: The Academy and the Award – The Coming of Age of Oscar and the Academy of Motion Picture Arts and Sciences. Brandeis University Press, Waltham 2022, ISBN 978-1-68458-119-1.
Weblinks Die Website zur aktuellen Oscarverleihung (englisch)
Die Website der Academy of Motion Picture Arts and Sciences (englisch)
AwardsDaily – Spekulationen um die jahrlich bevorstehende Oscar-Verleihung (englisch)
The Envelope – Oscar- und Filmpreis-Website der Los Angeles Times (englisch)
Gesa Mayr: Oscar-Aftershow-Planerin: „Wer sich daneben benimmt, fliegt raus“. In: Spiegel Online. 17. Februar 2015; abgerufen am 18. Februar 2015.
Denizcan Surucu: Stars, die sich uber einen Oscar freuten und dann verschwanden. In: GMX. 8. Marz 2024; abgerufen am 8. Marz 2024.
Einzelnachweise
|
Der Academy Award, offizieller Name Academy Award of Merit (englisch fur Verdienstpreis der Akademie), besser bekannt unter seinem Spitznamen Oscar, ist der bekannteste Filmpreis der Filmindustrie. Er wird alljahrlich von der US-amerikanischen Academy of Motion Picture Arts and Sciences (AMPAS) fur die besten Filme des Vorjahres verliehen. Wegen der Zulassungsprozedur dominieren in den Siegerlisten in der Regel US-Produktionen. Die aktuelle Ausgabe war die 97. Verleihung der Oscars und fand am 2. Marz 2025 statt.
Die Auszeichnung wurde am 12. Februar 1929 vom damaligen Prasidenten der MGM Studios, Louis B. Mayer, ins Leben gerufen, acht Jahre nach der Verleihung des Photoplay Awards, der als erster Filmpreis der Welt gilt. Der Oscar wird in einer gemeinsamen Zeremonie in derzeit uber 30 verschiedenen Kategorien vergeben; die Preistrager erhalten eine Statuette, die einen Ritter mit einem Schwert auf einer Filmrolle darstellt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Oscar"
}
|
c-13968
|
Der Kirschflecksalmler oder Perez–Salmler (auch Tetra Perez) (Megalamphodus erythrostigma, Synonym: Hyphessobrycon erythrostigma) ist ein Sußwasserzierfisch aus der Ordnung der Salmlerartigen. Er stammt aus dem Schwarzwasser des oberen Amazonasbeckens.
Merkmale Ausgewachsene Kirschflecksalmler erreichen eine Korperlange von etwa sechs Zentimetern. Der Korper zeigt eine typische langliche Rautenform und ist seitlich sehr zusammengedruckt. Die Flossen sind stark entwickelt, vor allem die Afterflosse. Die Ruckenflosse zeigt die charakteristische Form einer langlichen Sichel und ist von rotlich grauer Farbung. Basis und Spitzen sind dunkel gehalten. Die obere Partie des Korpers ist graubraun und wird durch rotliche Schattierungen belebt, wahrend der Bauch gelblich gefarbt ist. Die Reflexe des Schuppenkleides andern sich je nach Lichteinfall. In der Mitte des Korpers ist ein leuchtend rotes rundes Mal sichtbar.
Die Mannchen sind kleiner, aber bunter als die Weibchen. Sie sind auch durch ihre lang ausgezogene Rucken- und Afterflosse sehr gut von den Weibchen zu unterscheiden. Die Farbung des Kleides kann sich je nach Gemutsverfassung des Fisches andern.
Ahnliche Arten Neben dem eigentlichen Kirschflecksalmler gibt es noch zwei ahnliche Arten, die in der Aquaristik von Bedeutung sind: Socolofs Kirschflecksalmler (Megalamphodus socolofi) und der Rotrucken-Kirschflecksalmler (Hyphessobrycon pyrrhonotus).
Wahrend H. pyrrhonotus durch einen kraftigen roten Streifen auf dem Rucken noch sehr gut von M. erythrostigma und M. socolofi zu unterscheiden ist, da dieser bei den anderen nicht vorkommt, ist es zwischen M. erythrostigma und M. socolofi schon schwieriger. Sicherstes und auffalligstes Unterscheidungsmerkmal ist der weiße Streifen in der Afterflosse, der bei M. erythrostigma in den ersten zwei bis drei Flossenstrahlen verlangert ist und hier einen Haken bildet, so ahnlich wie bei H. pyrrhonotus. M. socolofi bleibt kleiner als die beiden anderen Arten.
Aquarienhaltung Dieser schone und friedliche Salmler sollte nur in Gruppen von mindestens zehn Tieren gehalten werden.
Ein Becken ab 80 Zentimeter Lange, Wassertemperatur 23–28 °C und weiches Wasser mit einem pH-Wert im Bereich 5,5–7,5 sollten bereitgestellt werden.
Ein dunkler Bodengrund und die Filterung uber Torf, mit einem damit verbundenen pH-Wert im leicht sauren Bereich (unter 7), lassen die Farben viel intensiver erscheinen.
Kirschflecksalmler halten sich vorwiegend in der mittleren Wasserzone auf. Von dort aus unternehmen sie aber auch Abstecher in die untere und obere Wasserzone. Die Gruppe „fallt“ dabei oft „auseinander“ – schließt sich aber, spatestens bei drohender Gefahr, wieder zusammen.
Die bisher nur selten in Gefangenschaft vermehrten Tiere bevorzugen eine abwechslungsreiche Ernahrung aus Trocken- und Lebendfutter. Lediglich die ahnlichen Socolofs Kirschflecksalmler (Hyphessobrycon socolofi), die aus dem Gebiet des Rio Negro stammen, wurden bisher in großeren Mengen nachgezuchtet.
Weblinks Kirschflecksalmler auf Fishbase.org (englisch)
AquaDings:Kirschflecksalmler
Zierfischverzeichnis.de
DATZ: Rosy Tetras 1
DATZ: Rosy Tetras 2
Blutende Herzen: Hyphessobrycon erythrostigma & Co.
|
Der Kirschflecksalmler oder Perez–Salmler (auch Tetra Perez) (Megalamphodus erythrostigma, Synonym: Hyphessobrycon erythrostigma) ist ein Sußwasserzierfisch aus der Ordnung der Salmlerartigen. Er stammt aus dem Schwarzwasser des oberen Amazonasbeckens.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Kirschflecksalmler"
}
|
c-13969
|
Als Amazonasbecken (portugiesisch Bacia do rio Amazonas), Amazonastiefland oder Amazonien wird das Einzugsgebiet des Amazonas bezeichnet. Es bedeckt einen Großteil der nordlichen Halfte des Kontinents Sudamerika. Der Amazonas hat weltweit mit Abstand die großte Wasserschuttung (siehe „Abfluss“ in der Liste der langsten Flusse der Erde).
Diese großte Stromebene Sudamerikas, eine aquatoriale Regenwald-Tiefebene, erhalt die sie formenden Wasser zuvorderst aus den Anden. Die Hauptflussrichtung weist dort zunachst nach Norden und wechselt dann quer uber den gesamten Kontinent nach Osten. Nordlich liegt die durch die Berglander Guayanas getrennte Orinoco-Ebene, wobei jedoch uber den Casiquiare eine Verbindung zwischen den Flusssystemen des Amazonas und des Orinoco besteht. Sudlich liegt die Ebene des Rio Paraguay und Parana.
Geographie Das Amazonasbecken liegt in einem etwa von den Stadten La Paz, Quito, Belem (Sud, Nord, Ost) umschriebenen Dreieck. Es umfasst Gebiete in den Staaten Brasilien, Franzosisch-Guayana, Suriname, Guyana, Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien. Es ist mit ca. 7 Millionen km², was etwa funf Prozent der gesamten Landflache der Erde entspricht, das großte zusammenhangende Landschaftsgebiet und damit auch der zweitgroßte zusammenhangende Wald unseres Planeten nach dem borealen Nadelwald.
Das Gebiet bezeichnet eine Landschaft, die durch das riesige Flusssystem des Amazonas gepragt ist und umfasst damit auch seine uber 1000 „großeren“ Nebenflusse. Der großte Teil des Amazonasbeckens (rund zwei Drittel der Flache) gehort zu Brasilien. Dabei ist nicht nur der Amazonas ein machtiger Fluss (genauer Strom), sondern auch viele seiner Nebenflusse. Zehn davon gehoren ihrerseits zu den funfundzwanzig wasserreichsten Flussen der Erde, darunter sogar ein Nebenfluss eines Nebenflusses, namlich der Rio Branco. Wahrend der Regenzeit sind große Teile des Amazonasbeckens uberflutet. An der Mundung hangen die in den Astuar Rio Para mundenden Flusse Rio Anapu und Rio Tocantins uber Gezeitenkanale mit dem Amazonas-Flusssystem zusammen.
Im Amazonasbecken sind inzwischen zahlreiche Naturschutzgebiete ausgewiesen, darunter das großte Perus, das zugleich das zweitgroßte des Amazonasbeckens ist, Pacaya-Samiria.
= Flusssystem =
Es wird geschatzt, dass im Amazonasbecken rund ein Funftel allen Sußwassers der Erde fließt. Dabei hat das Becken ein derart geringes Gefalle, dass die Flusse meist nur eine sehr geringe Fließgeschwindigkeit aufweisen. Fur den Amazonas gilt, dass das Gefalle rund funf Zentimeter pro Kilometer betragt. Je nach Jahreszeit werden weniger als 100.000 oder sogar uber 200.000 m³ Wasser pro Sekunde dem Atlantischen Ozean zugefuhrt.
Die großen Nebenflusse des Amazonas kann man an ihren Farben unterscheiden. Der Rio Negro gibt seine Farbe schwarz (Schwarzwasser) bereits im Namen an. Der Rio Madeira gilt als gelb-roter Fluss, der Rio Tapajos und der Rio Xingu haben klares Wasser (Klarwasser), das aus der Entfernung und aus dem Flugzeug blaugrun erscheint. Allgemein gilt, dass die dunklen Flusse (Schwarzwasserflusse) eher aus dem Norden (also linksseitig), die hellen (Schlamm- oder Weißwasser) eher aus dem Suden (also rechtsseitig) zufließen. Der Grund liegt in der Bodenbeschaffenheit und damit der Erosion der durchflossenen Regionen bzw. der Quellengebiete.
= Klima =
Es herrscht ausschließlich feucht-tropisches Tageszeitenklima im Amazonasbecken, das heißt, es ist ganzjahrig maßig heiß mit einer Luftfeuchtigkeit von haufig uber 90 %. Der tropische Urwald wirkt sich insgesamt maßigend auf das Klima aus, durch die sehr hohe Feuchtigkeit ist das Klima tagsuber jedoch schwul und druckend.
Es kommt fast taglich, typischerweise nachmittags, zu reichlichen Niederschlagen. Die jahrliche Niederschlagsmenge betragt an vielen Orten uber 2000 Millimeter, was dem zwei- bis dreifachen des in Deutschland erreichten Wertes entspricht. Diese meist heftigen Regenfalle bringen auch zusatzlich Nahrstoffe mit sich. Sie sind im Staub enthalten, der oft in tausenden Kilometer Entfernung (z. B. der Sahara) aufgewirbelt und dann mit dem Wind nach Amazonien getragen wurde. Dort wird er von den riesigen tropischen Gewittern angesaugt und gelangt mit dem Regen wieder zur Erde. Die im Staub enthaltenen Nahrstoffe werden dann in den Nahrstoffkreislauf des Regenwaldes eingebunden.
In den Tieflagen des Amazonasbeckens variieren die Durchschnittstemperaturen der einzelnen Monate eines Jahres nur sehr leicht zwischen 25 °C und 28 °C, in etwas hoher gelegenen Gebieten sind die Temperaturen entsprechend niedriger. Die Tageshochsttemperaturen im Urwald in Tieflagen liegen meistens zwischen 30 °C und 34 °C, wahrend nachts haufig Temperaturen zwischen 20 °C und 24 °C erreicht werden.
Flora und Fauna Die Regenwalder Amazoniens dehnten sich im Jahr 2007 noch auf einer Flache von rund 110 Mio. Hektar aus. Davon standen rund 22 Mio. Hektar (20 Prozent) unter staatlichem Schutz, rund 23 Mio. Hektar (21 Prozent) waren als indigenes Siedlungsgebiet ausgewiesen, rund 26,5 Mio. Hektar (24 Prozent) waren – mit teilweise zweifelhaften Eigentumsnachweisen – in Privatbesitz, und 38,5 Millionen Hektar (35 Prozent) waren „frei zuganglich“, das heißt ohne offiziellen Flachennutzungsplan.
= Flora =
Die Vegetation in Amazonien ist sehr heterogen. Eine grobe Unterteilung der meistverbreiteten Vegetationsformen umfasst: Dichte Walder, offene Walder mit Palmen, Lianenwalder, Trockenwalder, Bergwalder (vor allem am Andenabhang), Uberschwemmungswalder (Varzea), Sumpfwalder (Igapo), wobei die uberschwemmungsfreien Waldtypen zusammenfassend als Terra-Firme-Wald bezeichnet werden. Hinzu kommen lokale Formationen wie Mangrovenwalder, waldfreie Savannen (campos naturais), Caatinga etc. Wissenschaftler haben errechnet, das es in Amazonien etwa 16.000 Baumarten gibt, wobei die Halfte aller Einzelbaume in der Region nur zu 227 Arten gehoren.
Terra preta ist eine fruchtbare, anthropogene Schwarzerde, die in der Nahe des Amazonas und seiner Nebenflusse verbreitet ist.
= Fauna (Tierwelt) =
Die Amazonasregion zeichnet sich unter anderem durch ihre große Biodiversitat aus. Die Anzahl der tatsachlich in der Amazonasregion vorkommenden Spezies ist schwer zu schatzen, da erst ein Bruchteil von ihnen entdeckt und beschrieben wurde. Es wird von einer Zahl zwischen funf und zehn Millionen Arten ausgegangen. Von diesen wurden bislang etwa 1,4 Millionen beschrieben, darunter 750.000 Insektenarten, 40.000 Wirbeltiere, 250.000 Pflanzen und 360.000 Mikrobiota. Man geht davon aus, dass in der Region etwa ein Viertel der lebenden Tier- und Pflanzenarten ihr Habitat haben. Die Fischfauna wird auf 2.000 Arten geschatzt, mehr als in allen anderen Flussen der Welt zusammen.
Bevolkerung In der Amazonasregion leben etwa 22 Millionen Menschen. Davon gehoren circa eine Million einem der vielfaltigen indigenen Volker in der Region an. Im brasilianischen Teil der Amazonasregion werden 150 verschiedene indigene Volker unterschieden, dort leben auch einige der letzten sog. Isolierten Volker.
Weitere wichtige Bevolkerungsgruppen sind traditionelle Uferbewohner (Ribeirinhos), die zum Teil wahrend des Kautschukbooms in die Region kamen und vom Kautschukzapfen lebten. Spater kamen Siedler (colonos) hinzu, die im Rahmen von staatlichen Ansiedlungsmaßnahmen zur Erschließung der Region Grundstucke zum Ackerbau zugewiesen bekamen. Zwischen den Farmern und Viehzuchtern einerseits, welche durch großflachige Rodungen die Kautschukwalder gefahrden, und der Seringueiro-Bewegung andererseits, welche auf diese Walder als Lebensgrundlage angewiesen ist, entstanden in der Folge große Spannungen. Weitere Menschen kamen im Rahmen von Industrie und Handel in die Region, insbesondere in Manaus durch die Einrichtung einer Freihandelszone.
Großstadte uber 100.000 Einwohner in der Amazonasregion sind:
Belem
Manaus
Santarem
Iquitos (Peru)
Pucallpa (Peru)
Politik Die Anrainerstaaten des Amazonasbeckens haben 1978 ein Abkommen zur Zusammenarbeit in der Amazonasregion (Tratado de Cooperacion Amazonica, TCA) verabschiedet. Aus dieser ging im Jahr 2003 die Organisation des Amazonaspaktes (OTCA) mit Sitz in Brasilia hervor.
Kriminalitat Das Amazonasgebiet wird in Teilen von der großten Verbrecherorganisation Brasiliens, der Primeiro Comando da Capital, kontrolliert.
Okologische Probleme In den 1970er Jahren wurde mit dem Bau großer Fernverkehrsstraßen begonnen, an deren Trassen es in den Folgejahren zu einer weitflachigen Waldrodung durch Agrarkolonisten und spater durch Rinderzucht betreibende Großgrundbesitzer kam. Daruber hinaus kam es durch die bergbauliche Erschließung von Eisenerz-, Zinn-, Gold, Erdol- und Bauxitlagerstatten zu weiteren groß angelegten Rodungen des tropischen Regenwaldes. Diese Rodungen halten bis heute an und haben bereits zu okologischen Schaden mit Auswirkungen auf Flora und Fauna gefuhrt.
Siehe auch Kategorie:Fluss in Sudamerika
Liste von Flussen in Sudamerika
Liste der langsten Flusse der Erde
Literatur John Hemming: Tree of Rivers: The Story of the Amazon. [Geschichte von Amazonien, 1500–2006]. Thames & Hudson, 2009, ISBN 978-0-500-28820-7 (Paperback). (2012 auch als E-Book: ISBN 978-0-500-77123-5)
Dokumentationen Amazonien – Auf den Spuren versunkener Hochkulturen. TV-Dokumentation in HD von Marc Jampolsky, Marie Thiry, Stephen Rostain, Frankreich 2022 fur Arte France, deutsche Synchronfassung 2022 (permanent abrufbar auf youtube.com).
Weblinks Literatur von und uber Amazonasbecken im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Großprojekte im Amazonasbecken. In: amazonwatch.org
Sebastian Schoepp: Amazonas-Regenwald in Gefahr: Abholzen im Sekundentakt. In: Suddeutsche Zeitung. 17. Mai 2010; abgerufen am 31. Mai 2022.
Nicole Simon: Folge der Abholzung: Amazonas Regenwald konnte zur Savanne werden. In: Spiegel Online. 6. Februar 2008; abgerufen am 31. Mai 2022.
Website zum Amazonas. In: amazonas.de
Einzelnachweise
|
Als Amazonasbecken (portugiesisch Bacia do rio Amazonas), Amazonastiefland oder Amazonien wird das Einzugsgebiet des Amazonas bezeichnet. Es bedeckt einen Großteil der nordlichen Halfte des Kontinents Sudamerika. Der Amazonas hat weltweit mit Abstand die großte Wasserschuttung (siehe „Abfluss“ in der Liste der langsten Flusse der Erde).
Diese großte Stromebene Sudamerikas, eine aquatoriale Regenwald-Tiefebene, erhalt die sie formenden Wasser zuvorderst aus den Anden. Die Hauptflussrichtung weist dort zunachst nach Norden und wechselt dann quer uber den gesamten Kontinent nach Osten. Nordlich liegt die durch die Berglander Guayanas getrennte Orinoco-Ebene, wobei jedoch uber den Casiquiare eine Verbindung zwischen den Flusssystemen des Amazonas und des Orinoco besteht. Sudlich liegt die Ebene des Rio Paraguay und Parana.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Amazonasbecken"
}
|
c-13970
|
Vysoke Myto (deutsch Hohenmaut, auch Hohenmauth) ist eine Stadt im Okres Usti nad Orlici in Tschechien.
Geographie Vysoke Myto liegt etwa 18 km westlich von Wildenschwert (Usti nad Orlici) auf einer Hohe von 289 m. Die Stadt ist im Nordwesten durch die Hugel der Vrchu begrenzt, im Sudosten befinden sich die Hohen Buckova kopce und Vinice.
Der Ort liegt an der Mundung des Muhlenbaches (Mlynsky potok) in die Lautschna (Loucna) und im Osten tangiert die Stadt der Nejzbach (Blahovsky potok).
Geschichte Die Gegend um den Fluss Lautschna war bereits in der Steinzeit besiedelt. Seit dem 4. Jahrhundert waren hier Kelten und Germanen ansassig, denen im 9. Jahrhundert Slawen folgten.
Im 11. Jahrhundert ließ Herzog Vratislav II. die Burg Vraclav erbauen, die fur zwei Jahrhunderte Verwaltungssitz wurde. 1108 sollen auf der Burg die letzten Vrsovci ausgerottet worden sein. Den Handelsweg Trstenicka stezka von Bohmen nach Mahren beschutzte die Feste Hrutov.
Die Stadt wurde 1262 durch Premysl Ottokar II. als Konigsstadt gegrundet und drei Jahre spater befestigt. Sie ubernahm die Aufgaben der Militarverwaltung, die bis dahin auf der Burg Vraclav erledigt wurden. Im 14. Jahrhundert bluhte die Stadt wirtschaftlich auf. Nach der Zerschlagung der Hussiten schlug sich Hohenmaut auf die Seite des Kaisers Sigismund von Luxemburg und erhielt zum Dank zahlreiche Privilegien.
Im Dreißigjahrigen Krieg erlebte die Stadt einen wirtschaftlichen Niedergang. Da sich hier ein militarischer Stutzpunkt befand, wurde sie wiederholt angegriffen. Durch Feuersbrunste und die Pest ging die Einwohnerzahl stark zuruck, nahm jedoch durch den wirtschaftlichen Aufschwung ab dem 18. Jahrhundert wieder zu.
Ende des 19. Jahrhunderts war Hohenmauth Sitz einer Bezirkshauptmannschaft und eines Bezirksgerichts. Die Stadt war Garnison des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 98 (auch Bohmisches Infanterie Regiment "von Rummer" Nr. 98 seit 1883), der 51. Landwehrinfanteriebrigade (mit dem k.k. Landwehr Infanterie Regiment Nr. 30 seit 1899) und des k.k. Landwehr-Ulanenregiments Nr. 2 (seit 1883).
Nach dem Ersten Weltkrieg gehorte die Stadt zur neu gegrundeten Tschechoslowakei. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Garnison gehorte nun der Tschechoslowakischen Armee.
Mit der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch die deutschen Nationalsozialisten war der Ort ab dem Marz 1939 im Protektorat Bohmen und Mahren. 1941 wurde hier das Landesschutzen-Bataillon 983 in der Garnison aufgestellt. 1945 erfolgte die Befreiung von den Nazis durch die Rote Armee. Nach Kriegsende wurde die ansassige deutsche Bevolkerung vertrieben und des Landes ausgewiesen.
Die Garnison war nun wieder fur einige Jahre unter tschechoslowakischer Flagge. Mit der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Fruhlings im Sommer 1968 durch die Sowjetunion (UdSSR) und andere Staaten des Warschauer Pakts, zog nun die Rote Armee der UdSSR in die Garnison als neue Besatzungsmacht. Die Rote Armee und ihre Soldaten pragte von da an bis 1990 das Stadtbild.
1974 eroffnete das Autodrom Vysoke Myto, eine Motorsportrennbahn, am Rande der Stadt.
Mit der Samtenen Revolution in der Tschechoslowakei und der politischen Umwalzung in den anderen sozialistischen Satellitenstaaten der UdSSR, folgte eine soziale und kulturelle Liberalisierung in Politik und Gesellschaft. Im Januar 1990 demonstrierten bereits rund 3000 Menschen offentlich gegen die immer noch besetzende Rote Armee mit den unbeliebten „Russen“ in der Garnison. Bis zum 16. Juni 1990 wurden die Streitkrafte der Roten Armee schrittweise in die UdSSR zuruckgerufen. Die Garnison wurde daraufhin nicht wieder durch die Tschechoslowakische Armee bezogen, waren die Gebaude nach rund 30-jahriger Nutzung der Rotarmisten stark verwohnt.
Nach Abzug der sowjetischen Besetzer und Ende des Sozialismus lebte die Stadt auf und wurde nun saniert. Das ehemalige Gelande der Garnison wurde der Bevolkerung geoffnet und diversen neuen Zwecken zugefuhrt. Es entstand Wohnraum und es wurde neues Gewerbe, auch am Stadtrand, angesiedelt.
Sorgen bereite die Zukunft des traditionellen Karosa-Buswerks als Hauptarbeitgeber. 1994 folgte die Schrittweise Privatisierung mit Verkauf von Aktien durch den tschechischen Staat an Renault. 1999 ging der Markenname Karosa komplett verloren, die Busproduktion blieb erhalten und erhielt Bestatigung durch Erweiterungen des Werks. 2007 erfolgte die vollstandige Integration des Werks als Iveco Czech Republic als Teil von Iveco.
Wirtschaft und Verkehr Im 19. Jahrhundert war Hohenmauth ein Zentrum der Tuchweberei und spater des Kutschen und Fahrzeugbaues insbesondere Feuerwehrfahrzeuge (Firma Stratilek).
Heute befindet sich hier der Bushersteller Iveco Czech Republic (ehemals Karosa, davor Karosseriewerk Sodomka). Durch die Stadt fuhrt die Eisenbahnstrecke von Chotzen nach Leitomischl und die Fernverkehrsstraße Silnice I/35 (Europastraße 442). Die Autobahn D 35 soll bis 2026 als Umgehung der Stadt fur den Verkehr freigegeben werden und dabei die Stadt vom starken Transitverkehr entlasten. Es existiert eine Mikrobrauerei mit Ausschankgaststatte in der Nahe des Busbahnhofes.
Sehenswurdigkeiten Kirche des Hl. Laurentius von 1349 (Kostel sv. Vavrince)
Kirche der Hl. Dreifaltigkeit von 1543 (Kostel Nejsvetejsi Trojice)
Pestsaule (1714) auf dem Zentralplatz
Altes Rathaus
Glockenturm (16. Jahrhundert)
Bezirksmuseum (1871) und Museum des tschechischen Karosseriebaues insbesondere uber die Firma Sodomka
Stadtbefestigungen
Erhaltene Teile der Stadtmauer (1265) mit Klosterbastei und Wasserbastei
Chotzener Tor (13. Jh.)
Prager Tor (13. Jh.) (Prazska brana)
Leitomischler Tor (Litomyslska brana)
Stadtgliederung Zur Stadt Vysoke Myto gehoren die Ortsteile:
Brtec (Bertsch)
Chocenske Predmesti (Chotzener Vorstadt)
Domoradice (Domoraditz)
Knirov (Knirau)
Lhuta (Lhuta)
Litomyslske Predmesti (Leitomischler Vorstadt)
Prazske Predmesti (Prager Vorstadt)
Svaren (Swarschen)
Vanice (Wanitz)
Vysoke Myto – Mesto (Altstadt)
Sohne und Tochter der Stadt Johannes von Hohenmauth († um 1402), bedeutender Theologe; Rektor der Prager Karlsuniversitat
Friedrich Briedel (1619–1680), Jesuit und religioser Schriftsteller
Dismas Hatas (1724–1777), bohmischer Komponist
Jan Vaclav Hatas (1727– nach 1752), Komponist
Jindrich Kristof Hatas (1739– nach 1808), Komponist
Josef Lipavsky (1772–1810), bohmischer Komponist
Alois Vojtech Sembera (1807–1882), bohmischer Historiker und Ubersetzer
Josef Jirecek (1825–1888), bohmischer Literaturhistoriker, Sprachforscher und Politiker
Karel Skorpil (1859–1944), tschechisch-bulgarischer Archaologe
Frantisek Ventura (1894–1969), Springreiter
Siegbert Schneider (1913–unbekannt), sudetendeutscher Kommunalpolitiker (NSDAP)
Pravoslav Sovak (1926–2022), tschechischer Maler und Grafiker
Zdenek Mlynar (1930–1997), tschechischer Politiker
Jana Baricova (* 1953), slowakische Richterin
Tomas Jirsak (* 1984), tschechischer Fußballspieler
Partnerstadte Deutschland Korbach, Deutschland
Bulgarien Warna, Bulgarien
Polen Pyrzyce, Polen
Frankreich Annonay, Frankreich
Weblinks Offizielle Website (CZ)
Ostbohmen
Einzelnachweise
|
Vysoke Myto (deutsch Hohenmaut, auch Hohenmauth) ist eine Stadt im Okres Usti nad Orlici in Tschechien.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Vysoké_Mýto"
}
|
c-13971
|
Johann Wilhelm Haßler (* 29. Marz 1747 in Erfurt; † 29. Marz 1822 in Moskau) war ein deutscher Komponist und Organist.
Leben = Erfurter Zeit =
Haßler war der Sohn eines Mutzenfabrikanten und Strumpfwirkers. Er erlernte zunachst den letztgenannten Beruf, erhielt aber daneben eine musikalische Ausbildung bei seinem Onkel Johann Christian Kittel, einem Schuler Johann Sebastian Bachs. Bereits im Alter von 15 Jahren wirkte er erstmals als Organist an der Erfurter Barfußerkirche und trat damit die Nachfolge seines Onkels in dieser Funktion an. Es folgten Konzertreisen, auf denen er sich als Klaviervirtuose einen Namen machte. Zu Haßlers Schulern in Erfurt zahlte die Juwelierstochter Sophia Barbara Kiel (1761–1844), die seine Ehefrau wurde.
Im Jahre 1780 fuhrte er mit Unterstutzung des Statthalters zu Erfurt, Karl Theodor von Dalberg, die sogenannten Winterkonzerte als standige Einrichtung ein. Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe machte er auch die Bekanntschaft mit Goethe. Spater wurden die Konzerte von Haßlers Frau organisiert.
Wolfgang Amade Mozart beurteilte Haßlers Orgelspiel nicht positiv. In einem Brief vom 16. April 1789 an seine Frau Constanze, als er an der Silbermann-Orgel in der Dresdner Hofkirche auf Johann Wilhelm Haßler traf, meinte er: [...] Nun glauben die Leute hier, weil ich von Wien komme, daß ich diesen Geschmack und diese Art zu spielen gar nicht kenne. – ich setzte mich also zur Orgel und spielte. – der furst Lichnowsky (weil er Haßler gut kennt) beredet ihn mit vieler Muhe auch zu spielen; – die force von diesem Haßler besteht auf der Orgel in fussen, welches, weil hier die Pedale stuffenweise gehen, aber keine so große Kunst ist; ubrigens hat er nur Harmonie und Modulationen vom alten Sebastian Bach aus- wendig gelernt, und ist nicht im Stande eine fuge ordentlich auszufuhren – und hat kein solides Spiel – ist folglich noch lange kein Albrechtsberger. [...]
1790 begab Haßler sich nach London, wo er gemeinsam mit Joseph Haydn konzertierte.
= Russland =
Nach einem Konzert in Riga im September 1792 reiste er nach St. Petersburg weiter, wo ihn die Zarin Katharina der Großen zum Kaiserlich-Russischen Hofkapellmeister ernannte. Hier gab er Konzerte und wirkte bei der Grundung eines Musikverlages mit, der es sich zum Ziel setzte, die Werke deutscher Klassiker zu veroffentlichen und gleichzeitig zeitgenossische russische Komponisten zu animieren, ihre Werke ebenfalls auf diesem Wege der breiten Offentlichkeit bekanntzumachen.
1794 siedelte er nach Moskau um. Dort erwarb er mit seinen Orgel- und Klavierkonzerten große Anerkennung und rief Begeisterung hervor. Der Dichter Iwan Iwanowitsch Dmitrijew pries ihn in einem Gedicht: O Hassler, woher nahmst du deine zauberhafte Kunst? Du gibst dem Sterblichen welch ein Gefuhl. (...) Hassler machte Johann Sebastian Bach in Russland popular und beeinflusste den Musikgeschmack von Musikern und Zuhorern. Seine musikpadagogische und didaktische Tatigkeit als Klavierlehrer war von großer Bedeutung. Nach dreißigjahriger Wirksamkeit starb er in Russland.
Seine kompositorisches Werk umfasst Sonaten, Kantaten, Etuden und Instrumentalkompositionen, insbesondere fur Klavier.
Seine Tochter war die Opernsangerin Henriette Eberwein, sein Schwiegersohn Franz Carl Adelbert Eberwein.
Werke Charakterstuck op. 27 Nr. 2
„50 Stucke fur Anfanger“ op. 38
360 Praludien in allen Tonarten op. 47 (1817)
„Etudes en Vingt-quatre Valses“ op. 49
„Grand concerto“ op. 50
„Sechs leichte Sonaten“
Kantate „Erfurt“
Sonate fur Cembalo Nr. 3 d-Moll
Literatur Steffen Raßloff: Von Erfurt nach Moskau. Der Erfurter Musiker und Komponist Johann Wilhelm Haßler wirkte in den großen Metropolen Europas. In: Thuringer Allgemeine vom 17. Mai 2014.
Helga Bruck: Johann Wilhelm und Sophia Haßler. Eine Erfurter Musikerfamilie (Kleine Schriften des Vereins fur die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt. Bd. 8). Erfurt 2003.
Lothar Hoffmann-Erbrecht: Haßler, Johann Wilhelm. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin 1966, ISBN 3-428-00188-5, S. 454 (Digitalisat).
Heinrich Strobel: Johann Wilhelm Hasslers Leben und Werke. Ein Beitrag zur Geschichte der Klaviermusik der klassischen Periode. Munchen [o. O.] 1924, DNB 571270573 (228 S., Phil. Diss., 9. Marz 1922. Das Jahr der Veroffentlichung wird mit 1923 oder 1924 angegeben).
Robert Eitner: Haßler, Johann Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 11, Duncker & Humblot, Leipzig 1880, S. 20–22.
Constantin von Wurzbach: Haßler, Johann Wilhelm. In: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. 7. Theil. Kaiserlich-konigliche Hof- und Staatsdruckerei, Wien 1861, S. 184 f. (Digitalisat).
Ernst Ludwig Gerber: Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkunstler. Theil 1. Leipzig 1790. Sp. 575–577. (Digitalisat)
Andreas Rockstroh: Ein Erfurter Musiker wirkte in Russland. In Glaube und Heimat vom 27. Marz 2022, S. 8.
Weblinks Werke von und uber Johann Wilhelm Haßler im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Noten und Audiodateien von Johann Wilhelm Haßler im International Music Score Library Project
Anmerkungen und Einzelnachweise
|
Johann Wilhelm Haßler (* 29. Marz 1747 in Erfurt; † 29. Marz 1822 in Moskau) war ein deutscher Komponist und Organist.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wilhelm_Häßler"
}
|
c-13972
|
Ereignisse = Politik und Weltgeschehen =
Europa 16. Januar: In der Seeschlacht bei Kap St. Vincent wahrend der Belagerung von Gibraltar vernichtet eine britische Flotte unter Admiral George Rodney, 1. Baron Rodney ein spanisches Geschwader und kann Verstarkungen in das von Spaniern und Franzosen belagerte Gibraltar bringen. Von den neun spanischen Linienschiffen werden sechs erobert, ein weiteres versenkt.
2. Juni: Unter der Fuhrung von Lord George Gordon brechen in London die Gordon Riots aus. Die schweren Unruhen gegen die Emanzipation der Katholiken fordern bis zu ihrer endgultigen Niederschlagung am 17. Juni 285 Todesopfer.
20. November: Großbritannien erklart den Niederlanden den Krieg. Der vierte englisch-niederlandische Krieg dauert bis 1784.
29. November: Nach dem Tod der Kaiserin Maria Theresia wird ihr Sohn Joseph II. zum alleinigen Regenten des Habsburgerreiches.
Nordamerika April: Bei der Gouverneurswahl in New York wird George Clinton wiedergewahlt.
29. Mai: Im Gefecht von Waxhaw besiegen britische Kavalleristen unter dem Befehl von Banastre Tarleton eine Einheit der Kontinentalarmee Virginias.
15. Juni: Die Verfassung von Massachusetts wird beschlossen und tritt am 25. Oktober in Kraft. Massachusetts schreibt in seiner Verfassung eine Freiheitsklausel fest, die als Verbot der Sklaverei interpretiert wird.
16. August: Die Schlacht von Camden endet mit einem vollstandigen Sieg der britischen Truppen unter Charles Cornwallis uber eine zahlenmaßig uberlegene amerikanische Armee unter Horatio Gates.
18. August: In der Schlacht von Musgrove Mill besiegen etwa 300 Mann einer patriotischen Miliz eine aus 300 Mann loyalistischer Milizen und 300 Mann britischer Soldaten aus dem nahe gelegenen Fort Ninety Six bestehende Einheit. Die Schlacht stellt einen fruhen Wendepunkt auf dem sudlichen Kriegsschauplatz des Amerikanischen Unabhangigkeitskrieges dar.
2. Oktober: Der britische Offizier John Andre wird in Tappan, New York, als Spion gehangt.
7. Oktober: Im Amerikanischen Unabhangigkeitskrieg setzen sich in der Schlacht am Kings Mountain die Kolonisten gegen eine Einheit der britischen Truppen unter Patrick Ferguson durch.
Pennsylvania beschließt die stufenweise Freilassung aller Sklaven. Sklaven, die nach 1780 geboren sind, werden fortan bei der Vollendung des 28. Lebensjahres freigelassen.
Die Underground Railroad wird gegrundet, ein informelles Netzwerk aus Gegnern der Sklaverei in den Vereinigten Staaten, das fluchtigen Sklaven Schutz und Unterstutzung gewahrt.
Lateinamerika Ausbruch des großten andinen Indianeraufstandes unter Fuhrung von Jose Gabriel Condorcanqui, der sich nach dem letzten Inkaherrscher Tupac Amaru benennt. Der Aufstand erfasst großere Gebiete im heutigen Peru, Ecuador, Bolivien und im Norden Argentiniens.
= Wirtschaft =
1. Januar: In Preßburg erscheint die erste ungarische Zeitung Magyar himondo (Ungarischer Kurier).
12. Januar: Die von Salomon Gessner gegrundete Zurcher Zeitung erscheint mit ihrer Erstausgabe.
= Wissenschaft und Technik =
16. April: Die Universitat in Munster wird eroffnet.
4. Mai: Die American Academy of Arts and Sciences wird gegrundet.
Die Transylvania University in Lexington, Kentucky, wird gegrundet.
= Kultur =
Literatur 6. September: Johann Wolfgang von Goethe schreibt mit Bleistift an die Holzwand einer Jagdhutte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau in Thuringen Wandrers Nachtlied – Ein Gleiches.
Gotthold Ephraim Lessing veroffentlicht Die Erziehung des Menschengeschlechts.
Musik und Theater 7. April: In Bordeaux wird das von Victor Louis im Stil des italienischen Klassizismus errichtete Grand Theatre eroffnet, das von Zeitgenossen als großtes und schonstes Theater in Frankreich bezeichnet wird. Gespielt wird bei der Festveranstaltung Jean Racines Drama Athalie aus dem Jahr 1691.
4. Juni: Die Urauffuhrung der Oper La finta Amante von Giovanni Paisiello findet in Mogiljow am Dnjepr statt.
23. September: Die Oper Adelheit von Veltheim von Christian Gottlob Neefe wird in Frankfurt am Main uraufgefuhrt.
Johann Andreas Cramer, Kanzler der Christian-Albrechts-Universitat zu Kiel, gibt in Altona das Cramersche Gesangbuch heraus.
In einem englischen Kinderbuch wird erstmals das Weihnachtslied The Twelve Days of Christmas veroffentlicht.
Sonstiges 12. November: In Wolfersdorf, einem Ort in der Hallertau, missachten vier Bauernburschen ein Tanzverbot. Der Volkstanz Zwiefacher wird deshalb im Gerichtsprotokoll erstmals dokumentiert.
= Gesellschaft =
Der englische Zeitungsverleger und Sozialreformer Robert Raikes grundet in Gloucester die erste Sonntagsschule.
= Religion =
Die von Dominikus Zimmermann im Stil des Rokoko errichtete Frauenkirche in Gunzburg wird geweiht.
Der buddhistische Xumi-Fushou-Tempel, einer der Acht Außeren Tempel in Chengde in der chinesischen Provinz Hebei, wird im Baustil der Han-Chinesen und der Tibeter zur Feier des 70. Geburtstags des Kaisers Qianlong errichtet, zu der der VI. Penchen Lama der Gelug-Tradition des tibetischen Buddhismus, einer der beiden religiosen und politischen Fuhrer Tibets, seine Gluckwunsche uberbringen kommt.
= Katastrophen =
8. Januar: Die iranische Stadt Tabris und rund 400 Dorfer in der Region werden durch ein schweres Erdbeben zerstort, wobei mindestens 50.000 Menschen das Leben verlieren.
18. September: Einem schweren Stadtbrand in Gera fallt so gut wie die gesamte Altstadt zum Opfer.
10. bis 16. Oktober: Rund 22.000 Menschen sterben, als der Große Hurrikan von 1780 uber die Karibikinseln Martinique, St. Eustatius und Barbados hinwegfegt. Dazu verlieren tausende von Seeleuten ihr Leben in Seenot.
31. Oktober: Das britische Kriegsschiff Ontario versinkt mit 130 Menschen an Bord in einem Sturm im Ontariosee. Es gibt keine Uberlebenden.
= Natur und Umwelt =
19. Mai: Im Gebiet von Neuengland ist es untertags ungewohnlich dunkel. Die Grunde fur den Dark Day sind bis heute nicht genau geklart.
= Sport =
4. Mai: Das erste Derby im Pferdesport wird im englischen Epsom ausgetragen.
Historische Karten und Ansichten Geboren = Erstes Quartal =
03. Januar: Johann Christian Woyzeck, deutscher Peruckenmacher, Vorlage fur die Hauptfigur in Buchners Drama „Woyzeck“ († 1824)
04. Januar: Theophile Marion Dumersan, franzosischer Buhnenautor, Lyriker, Librettist und Numismatiker († 1849)
08. Januar: Franz Ludwig von Konitz, deutscher Offizier, Gutsbesitzer und Landtagsabgeordneter († 1840)
10. Januar: Martin Lichtenstein, deutscher Physiker, Forscher und Zoologe († 1857)
13. Januar: Vinzenz Adelmann, deutscher Mediziner († 1850)
13. Januar: Pierre Jean Robiquet, franzosischer Chemiker († 1840)
14. Januar: Henry Baldwin, US-amerikanischer Politiker und Jurist († 1844)
15. Januar: John Leeds Kerr, US-amerikanischer Politiker († 1844)
15. Januar: Cornelius P. Comegys, US-amerikanischer Politiker († 1851)
21. Januar: Rai San’yo, japanischer Historiker und Dichter († 1832)
28. Januar: Giovanni Battista Velluti, italienischer Opernsanger, letzter der großen Kastraten († 1861)
29. Januar: Gustav Kalixt von Biron, deutscher Generalleutnant in den Koalitionskriegen († 1821)
29. Januar: Marianne von der Mark, illegitime Tochter des preußischen Kurfursten Friedrich Wilhelm II. († 1814)
31. Januar: Ignaz Bruder, deutscher Orgelbauer († 1845)
02. Februar: Jan van den Bosch, niederlandischer Generalleutnant († 1844)
11. Februar: Karoline von Gunderrode, deutschsprachige Schriftstellerin († 1806)
13. Februar: Lewis David von Schweinitz, deutsch-amerikanischer Mykologe und Administrator und Geistlicher der Herrnhuter Brudergemeine († 1834)
14. Februar: Johann Friedrich Naumann, deutscher Naturkundler und Begrunder der Vogelkunde in Mitteleuropa († 1857)
18. Februar: Johann Georg Daniel Arnold, deutscher Jurist und Schriftsteller († 1829)
19. Februar: Rudolf Braendlin, Schweizer Unternehmer und Politiker († 1837)
19. Februar: Friedrich Heinrich von der Hagen, deutscher Germanist († 1856)
26. Februar: August Thieme, deutscher Dichter († 1860)
26. Februar: Christian Samuel Weiss, deutscher Mineraloge und Kristallograph († 1856)
08. Marz: Thomas Carr, US-amerikanischer Musikverleger, Komponist und Organist († 1849)
10. Marz: Eberhard Gottlieb Graff, deutscher Sprachforscher († 1841)
10. Marz: Juan Jose Landaeta, venezolanischer Komponist († 1814)
17. Marz: Thomas Chalmers, schottischer Schriftsteller und Begrunder der Freien Kirche Schottlands († 1847)
17. Marz: August Crelle, deutscher Mathematiker, Architekt und Ingenieur († 1855)
19. Marz: Milos Obrenovic, Furst von Serbien († 1860)
19. Marz: Franz Theremin, deutscher evangelischer Theologe († 1846)
20. Marz: Jose Joaquin de Olmedo, ecuadorianischer Jurist, Politiker und Chef der Ubergangsregierung von 1845 († 1847)
26. Marz: Julius Eduard Hitzig, deutscher Schriftsteller und Kammergerichtsrat († 1849)
27. Marz: Vincenz von Augustin, osterreichischer Feldzeugmeister († 1859)
29. Marz: Johann Georg Bausback, deutscher Jurist († 1851)
= Zweites Quartal =
07. April: William Ellery Channing, US-amerikanischer Redner, Theologe und Autor († 1842)
10. April: George Armistead, US-amerikanischer Lieutenant Colonel († 1818)
10. April: Leon Dufour, franzosischer Arzt und Naturforscher († 1865)
14. April: Joseph von Winiwarter, osterreichischer Jurist und Hochschullehrer († 1848)
16. April: Otto August Ruhle von Lilienstern, preußischer General († 1847)
23. April: Carl Anton Henschel, deutscher Unternehmer († 1861)
26. April: Gotthilf Heinrich von Schubert, deutscher Wissenschaftler († 1860)
29. April: Charles Nodier, franzosischer Schriftsteller († 1844)
30. April: Karl Christian Gottlieb Sturm, deutscher Agrarokonom († 1826)
01. Mai: Hubert Auer, Furstbischoflicher Delegat, Propst und Dompropst († 1836)
01. Mai: Christine Friederike Auguste, Kurfurstin von Hessen († 1841)
01. Mai: Philipp Konrad Marheineke, deutscher Theologe († 1846)
01. Mai: John McKinley, US-amerikanischer Politiker und Jurist († 1852)
09. Mai: William J. Duane, US-amerikanischer Politiker († 1865)
10. Mai: Angelica Catalani, italienische Opernsangerin († 1849)
11. Mai: Karl Benedikt Hase, deutscher Altphilologe und Bibliothekar († 1864)
14. Mai: Gian Menico Cetti, Schweizer Ubersetzer († 1817)
14. Mai: Jules de Polignac, Premierminister von Frankreich († 1847)
20. Mai: Bernardino Rivadavia, argentinischer Staatsmann und erster Prasident († 1845)
21. Mai: Elizabeth Fry, britische Reformerin des Gefangniswesens († 1845)
28. Mai: Antonie Brentano, moglicherweise Beethovens Geliebte († 1869)
02. Juni: Heinrich Leonhard Heubner, deutscher lutherischer Theologe († 1853)
16. Juni: Christian Gottlieb Kuhn, deutscher Bildhauer († 1828)
21. Juni: Martin D. Hardin, US-amerikanischer Politiker († 1823)
= Drittes Quartal =
01. Juli: Carl von Clausewitz, preußischer General und „Kriegsphilosoph“ († 1831)
01. Juli: Ludwig Philipp von Bombelles, osterreichischer Diplomat († 1843)
03. Juli: Friedrich Johann Gottlieb Lieder, deutscher Portratmaler und Lithograf († 1859)
05. Juli: Francesco Antommarchi, franzosischer Arzt († 1838)
06. Juli: Jean Baptiste Bory de Saint-Vincent, franzosischer Naturwissenschaftler, Botaniker und Oberst († 1846)
09. Juli: Ephraim Bateman, US-amerikanischer Politiker († 1829)
10. Juli: Franz Ignatz Cassian Hallaschka, mahrischer Naturforscher, Mathematiker, Physiker und Astronom († 1847)
15. Juni: Theodor Graf Baillet von Latour, osterreichischer Kriegsminister († 1848)
18. Juni: Michael Henkel, deutscher Komponist († 1851)
18. Juli: Bartolomeo Ferrari, italienischer Bildhauer († 1844)
25. Juli: Christian Theodor Weinlig, deutscher Musiklehrer, Komponist und Chordirigent († 1842)
30. Juli: Julius Friedrich Winzer, deutscher Ethikprofessor und evangelischer Theologe († 1845)
31. Juli: Ignatia Jorth, katholische Ordensgrunderin († 1845)
10. August: Friedrich Joseph Haass, deutsch-russischer Mediziner († 1853)
16. August: Jakob Joseph Wandt, von 1842 bis 1849 der dritte Bischof von Hildesheim († 1849)
17. August: Ignaz Paul Vitalis Troxler, Schweizer Arzt, Politiker und Philosoph († 1866)
19. August: Pierre-Jean de Beranger, franzosischer Dichter († 1857)
21. August: Jernej Kopitar, slowenischer Sprachwissenschaftler und Slawist († 1844)
29. August: Jean-Auguste-Dominique Ingres, franzosischer Maler des Klassizismus († 1867)
03. September: Georg Heinrich Lunemann, deutscher Altphilologe und Lexikograf († 1830)
03. September: Heinrich Christian Schumacher, danisch-deutscher Astronom († 1850)
08. September: Sebald Brendel, deutscher Jurist und Hochschullehrer († 1844)
08. September: George Troup, US-amerikanischer Politiker († 1856)
10. September: Johannes von Muralt, Schweizer Padagoge und reformierter Geistlicher († 1850)
22. September: Joseph Agricol Viala, franzosischer Nationalgardist († 1793)
23. September: Julie Philippine Clara Auguste Anschel, deutsche Schriftstellerin und Schauspielerin († 1826)
24. September: Hendrik Tollens, niederlandischer Schriftsteller flamischer Herkunft († 1856)
25. September: Charles Robert Maturin, irischer protestantischer Geistlicher († 1824)
28. September: Elie Decazes, franzosischer Staatsmann († 1860)
= Viertes Quartal =
01. Oktober: Goran Wahlenberg, schwedischer Botaniker († 1851)
05. Oktober: Benedict Arnold, US-amerikanischer Politiker († 1849)
06. Oktober: John Chambers, US-amerikanischer Politiker († 1852)
15. Oktober: Siegmund Peter Martin, deutscher Politiker († 1834)
17. Oktober: Ludwig Wilhelm Zimmermann, deutscher Chemiker, Mineraloge und Hochschullehrer († 1825)
20. Oktober: Pauline Bonaparte, Schwester von Napoleon Bonaparte († 1825)
22. Oktober: John Forsyth, US-amerikanischer Politiker († 1841)
23. Oktober: Joseph Alois Graf von Attems-Heiligenkreuz, osterreichischer Feldmarschalleutnant und Landkomtur des Deutschen Ordens († 1871)
25. Oktober: Freeman Walker, US-amerikanischer Politiker († 1827)
28. Oktober: Ernst Anschutz, deutscher Theologe, Padagoge und Dichter († 1861)
29. Oktober: Carl Friedrich Emil von Ibell, nassauischer Regierungsprasident des Herzogtums Nassau († 1834)
03. November: Victor Dourlen, franzosischer Komponist († 1864)
04. November: Philippe-Paul de Segur, franzosischer Oberst († 1873)
08. November: Samuel Foot, US-amerikanischer Politiker († 1846)
09. November: Martin Anwander, osterreichischer Orgelbauer († 1838)
12. November: Pieter Retief, burischer Voortrekker († 1838)
13. November: Ranjit Singh, erster Herrscher des geeinigten Punjab († 1839)
15. November: Heinrich Friedrich Theodor Kohlrausch, deutscher Padagoge und Historiker († 1867)
16. November: James FitzGibbon, britischer Offizier († 1863)
22. November: Conradin Kreutzer, deutscher Komponist († 1849)
26. November: Maria Teresa de Borbon y Vallabriga, Grafin von Chinchon und Markgrafin von Boadilla del Monte († 1828)
28. November: Karl Wilhelm Ferdinand Solger, deutscher Asthetiker († 1819)
01. Dezember: Bernhard Rudolf Abeken, deutscher Philologe und Schulmann († 1866)
02. Dezember: August von der Embde, deutscher Maler († 1862)
02. Dezember: Otto von Munchhausen, preußischer Landrat († 1872)
05. Dezember: Heinrich August Schott, deutscher lutherischer Theologe († 1835)
10. Dezember: Johann Friedrich von Turckheim, elsassisch-franzosischer Politiker († 1850)
13. Dezember: Johann Wolfgang Dobereiner, deutscher Chemiker († 1849)
14. Dezember: Karl Robert von Nesselrode, russischer Diplomat und Staatsmann († 1862)
16. Dezember: Iver Hesselberg, norwegischer Pfarrer und Autor († 1844)
20. Dezember: John Wilson Croker, englischer Parlamentsredner, Dichter und Journalist († 1857)
26. Dezember: Mary Somerville, schottische Astronomin und Mathematikerin († 1872)
29. Dezember: Jakob Moralt, deutscher Musiker († 1820)
30. Dezember: Johann Friedrich Heinrich Schlosser, deutscher Jurist und kaiserlicher Rat († 1851)
31. Dezember: Nehemiah R. Knight, US-amerikanischer Politiker († 1854)
31. Dezember: Gideon Tomlinson, US-amerikanischer Politiker († 1854)
= Genaues Geburtsdatum unbekannt =
Johann Adam Ackermann, deutscher Landschaftsmaler († 1853)
Michael Friedrich Adams, deutsch-russischer Botaniker und Naturwissenschaftler († 1838)
Francis Vyvyan Jago Arundell, britischer Geistlicher und Forschungsreisender († 1846)
Atcalı Kel Mehmet Efe, osmanischer Zeybek († 1830)
Daniel Martin, US-amerikanischer Politiker († 1831)
Ignaz Stupan von Ehrenstein, osterreichischer Hofrat († 1840)
Thomas Hill Williams, US-amerikanischer Politiker († 1840)
= Geboren um 1780 =
Friedrich Haberkorn, deutscher Sanger, Schauspieler und Theaterdirektor († 1826)
Gestorben = Erstes Halbjahr =
01. Januar: Johann Ludwig Krebs, deutscher Komponist und Organist (* 1713)
10. Januar: Francesco Antonio Vallotti, italienischer Komponist, Musiktheoretiker und Organist (* 1697)
21. Januar: Johann Gottlieb Frenzel, deutscher Jurist, Historiker und Philosoph (* 1715)
24. Januar: Hiraga Gennai, japanischer Gelehrter, Erfinder und Schriftsteller (* 1728)
24. Januar: Christian Ludwig von Hagedorn, deutscher Kunsttheoretiker und -sammler (* 1712)
31. Januar: Jonathan Carver, US-amerikanisch-englischer Entdecker (* 1732)
04. Februar: Giovanni Battista Passeri, italienischer Archaologe (* 1694)
14. Februar: William Blackstone, englischer Jurist (* 1723)
16. Februar: Johann Aloys I. zu Oettingen-Spielberg, Furst des Furstentums Oettingen-Spielberg (* 1707)
17. Februar: Alexius Scheltinga, russischer Forschungsreisender (* 1717)
18. Februar: Kristijonas Donelaitis, litauischer Schriftsteller (* 1714)
22. Februar: Francesco III. d’Este, Herzog von Reggio und Modena (* 1698)
03. Marz: Joseph Highmore, britischer Maler (* 1692)
22. Marz: Anna Maria Theresia von der Recke zu Steinfurt, Abtissin im Stift Nottuln (* vor 1723)
26. Marz: Karl I., Herzog von Braunschweig (* 1713)
29. Marz: Otto Ludwig von Stutterheim, preußischer Generalleutnant (* 1718)
02. April: Anna Wilhelmine, Prinzessin von Anhalt-Dessau (* 1715)
11. April: Moritz Wilhelm von der Asseburg, preußischer Generalmajor (* 1698)
21. April: Carl Deichman, norwegischer Fabrikbesitzer und Buchersammler (* 1700 oder 1705)
21. April: Ferdinand Zellbell, schwedischer Komponist (* 1719)
21. April: Johann Samuel Wiesner, deutscher evangelischer Theologe, Padagoge und Orientalist (* 1723)
23. April: Maria Antonia von Bayern, bayerische Kunstmazenin und Komponistin, Malerin und Dichterin (* 1724)
18. Mai: Charles Hardy, britischer Gouverneur der Provinz New York (* um 1714)
21. Mai: Franz Balthasar Schonberg von Brenkenhoff, preußischer Staatswirt (* 1723)
26. Mai: Hans von Ahlefeldt, deutscher Geheimrat und Amtmann (* 1710)
000Mai: Christian II. von Munch, deutscher Bankier in Augsburg (* 1724)
02. Juni: Jozef Baka, polnischer Jesuitenpater, Missionar, Prediger und Dichter (* 1707)
03. Juni: Thomas Hutchinson, letzter ziviler Gouverneur der Province of Massachusetts Bay (* 1711)
18. Juni: Johann Philipp Seuffert, deutscher Orgelbauer (* 1693)
19. Juni: Odano Naotake, japanischer Maler (* 1750)
20. Juni: Johann Gottlob Bohme, deutscher Historiker (* 1717)
30. Juni: Karl Paul Ernst von Bentheim-Steinfurt, deutscher Adliger (* 1729)
= Zweites Halbjahr =
01. Juli: Stephen Crane, Delegierter von New Jersey im Kontinentalkongress (* 1709)
04. Juli: Karl Alexander von Lothringen, deutscher Hochmeister des Deutschen Ordens (* 1712)
08. Juli: Gerhard Schoning, norwegischer Historiker (* 1722)
21. Juli: Friedrich Christian Struve, deutscher Mediziner und Hochschullehrer (* 1717)
03. August: Etienne Bonnot de Condillac, franzosischer Philosoph der Aufklarung (* 1714)
06. August: Joseph Wanton, Vizegouverneur der Colony of Rhode Island and Providence Plantations (* 1730)
17. August: Ferdinand Stosch, deutscher reformierter Theologe (* 1717)
19. August: Johann von Kalb, deutsch-US-amerikanischer General wahrend der Amerikanischen Revolution (* 1721)
27. August: Johann Wilhelm Fuhrmann, deutscher evangelischer Theologe und Hochschullehrer (* 1750)
04. September: John Fielding, britischer Richter, The Blind Beak of Bow Street (* 1721)
06. September: Francoise Basseporte, franzosische Malerin (* 1701)
08. September: Jeanne-Marie Leprince de Beaumont, franzosische Schriftstellerin (* 1711)
08. September: Enoch Poor, US-amerikanischer Brigadegeneral in der Kontinentalarmee im Amerikanischen Unabhangigkeitskrieg (* 1736)
15. September: Jacob Rodrigues Pereira, portugiesischer Gehorlosenlehrer, der erste Lehrer von tauben Schulern in Frankreich (* 1715)
16. September: Heinrich IX., Graf Reuß zu Kostritz (* 1711)
23. September: Ernst Friedrich III., Herzog von Sachsen-Hildburghausen (* 1727)
24. September: Georg August von Wangenheim, braunschweig-luneburgischer General (* 1706)
02. Oktober: John Andre, britischer Offizier (* 1750)
06. Oktober: Ignaz Sichelbarth, deutsch-bohmischer Jesuiten-Missionar und Maler (* 1708)
14. Oktober: Johann Georg Fischer, deutscher Orgelbauer (* 1697)
19. Oktober: Johann Heinrich Roth, deutscher Baumeister (* 1729)
12. November: Johann Gottfried Weller, deutscher evangelischer Geistlicher und Historiker (* 1712)
17. November: Bernardo Bellotto, italienischer Maler (* 1721)
29. November: Maria Theresia, romisch-deutsche Kaiserin, Erzherzogin von Osterreich, Konigin von Ungarn, Kroatien und Slawonien, Konigin von Bohmen sowie Herzogin von Parma, Mailand und Luxemburg (* 1717)
29. November: Hieronymus David Gaub, deutscher Mediziner und Chemiker (* 1705)
01. Dezember: Johan Ihre, schwedischer Sprachforscher (* 1707)
14. Dezember: Ignatius Sancho, englischer Komponist und Schriftsteller afrikanischer Herkunft (* 1729)
21. Dezember: Christiana Regina Hetzer, erste Hausherrin des Gohliser Schlosschen zu Leipzig (* 1724)
= Genaues Todesdatum unbekannt =
Heinrich Bernhard Austin, preußischer Beamter und Gutsbesitzer (* 1723)
Johann Friedrich Glocker, wurttembergischer Maler (* 1718)
Johann Baptist Georg Neruda, bohmischer Violinist, Dirigent und Komponist (* 1707)
Konrad Alexander Vrints von Treuenfeld, kaiserlicher Resident (Gesandter) und Postmeister in Bremen (* 1707)
Weblinks
|
Ereignisse = Politik und Weltgeschehen =
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/1780"
}
|
c-13973
|
Erfurt [ˈʔɛɐ.fʊɐt] ist seit 1991 die Landeshauptstadt des Freistaates Thuringen. Sie ist mit rund 220.000 Einwohnern (Stand: Dezember 2023) die großte Stadt Thuringens und eines der Oberzentren des Landes. Wichtigste Institutionen neben den Landesbehorden sind das Bundesarbeitsgericht, die Universitat und die Fachhochschule Erfurt, das katholische Bistum Erfurt, dessen Kathedrale der Erfurter Dom ist, sowie das Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Neben der Kramerbrucke ist das einzigartige Ensemble von Dom und Severikirche eine der Hauptsehenswurdigkeiten der Stadt. Daruber hinaus besitzt die Stadt einen knapp drei Quadratkilometer großen mittelalterlich gepragten Altstadtkern mit etwa 25 Pfarrkirchen, der barocken Zitadelle Petersberg, der altesten erhaltenen Synagoge in Mitteleuropa sowie zahlreichen Fachwerk- und anderen Burgerhausern.
Die Stadt liegt im weiten Tal der Gera im hugeligen, landwirtschaftlich intensiv genutzten sudlichen Thuringer Becken.
Erfurt wurde 742 im Zusammenhang mit der Errichtung des Bistums Erfurt durch Bonifatius erstmals urkundlich erwahnt – schon damals als Großsiedlung. Bereits kurz danach entwickelte es sich zum Zentrum des Thuringer Raumes, wenngleich es lange Zeitabschnitte politisch nicht Teil des Landes war. Im Mittelalter hatte die Stadt ein hohes Maß an Autonomie. Das anderte sich mit der gewaltsamen Unterwerfung durch die Mainzer 1664. Im Jahr 1802 wurde Erfurt Teil Preußens und blieb es (mit Ausnahme der Zeit von 1806 bis 1814, als es als Furstentum Erfurt direkt unter franzosischer Herrschaft stand) bis 1945. Die Universitat wurde 1392 eroffnet, 1816 geschlossen und 1994 neu gegrundet. Damit ist sie die dritte Universitat, die in Deutschland eroffnet wurde, kann dank eines Grundungsprivilegs von 1379 aber auch als alteste gelten. Martin Luther war ihr bekanntester Student.
Die Wirtschaft der Stadt ist von Verwaltung und Dienstleistung gepragt. Außerdem ist Erfurt Standort verschiedener Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Mikroelektronik. Ferner hat sich auf Grund der niedrigen Lohnkosten und der zentralen Lage in Deutschland eine bedeutende Logistik-Branche etabliert. Erfurt ist nach Leipzig die Stadt mit der zweitgroßten Messe in den ostdeutschen Landern. Mit ihrem Hauptbahnhof ist die Stadt wichtiger Eisenbahnknotenpunkt im Personenverkehr. Bekannt ist Erfurt auch fur seinen Gartenbau (egapark, Deutsches Gartenbaumuseum, Bundesgartenschau 2021) und als Medienzentrum (Sitz des Kindersenders KiKA, mehrerer Radiostationen sowie Tageszeitungen).
Mit der Entscheidung des Welterbekomitees der UNESCO von September 2023 wurde das judisch-mittelalterliche Erbe der Stadt in die Welterbeliste aufgenommen. Es umfasst die Alte Synagoge, die mittelalterliche Mikwe sowie das Steinerne Haus.
Geographie Erfurt liegt am Sudrand des Thuringer Beckens, im weiten Tal der Gera, eines Zuflusses der Unstrut. Im Suden wird das Stadtgebiet von den bewaldeten Hohen des Steigerwalds umgrenzt. Die großte Ausdehnung des Stadtgebiets betragt von Nord nach Sud 21 km und von Ost nach West 22,4 km. Durch die Lage der Stadt im Ubergang vom Thuringer Becken zum Vorland des Thuringer Waldes schwankt die Hohenlage im Stadtgebiet zwischen 158 m u. NHN im Norden und 430 m u. NHN im Sudosten. Das Stadtgebiet wird zu verschiedenen Flussen hin entwassert: die Nesse entwassert die westlichen Ortsteile zur Weser hin, wahrend Gera und Gramme die Mitte und den Osten der Stadt zur Elbe hin entwassern.
Nachbarstadte sind Weimar im Osten, Gotha im Westen, Arnstadt im Suden und Sommerda im Norden, jeweils etwa 20 Kilometer von Erfurt entfernt. Die nachsten Großstadte sind Leipzig (95 Kilometer nordostlich), Halle (85 Kilometer nordostlich), Jena (40 Kilometer ostlich), Kassel (110 Kilometer nordwestlich), Gottingen (95 Kilometer nordwestlich), Frankfurt am Main (180 Kilometer sudwestlich) und Nurnberg (160 Kilometer sudlich, Entfernungen in Luftlinie). Da Erfurt nur etwa 50 Kilometer sudostlich des Mittelpunkts Deutschlands liegt, ist es die zentrale Großstadt des Landes. Die Stadt besitzt wie die meisten ostdeutschen Großstadte keinen besonders ausgepragten Vorortgurtel und liegt auch nicht in einem Ballungsraum. Allerdings sind die Verflechtungen zu den großen Nachbarstadten Weimar und Jena in vielen Bereichen eng, was auch in verschiedenen Regionalkooperationen Ausdruck findet. Ein Begriff fur Stadte wie Erfurt, die kein Zentrum einer Metropolregion sind, aber auch mehr Funktionen als ein normales Oberzentrum haben, ist der der Regiopole.
Die relativ dichte Bebauung der Innenstadt kann darauf zuruckgefuhrt werden, dass in Erfurt im Zweiten Weltkrieg vergleichsweise wenige Gebaude zerstort wurden und diese Baulucken – im Gegensatz zu vielen anderen Großstadten – meist wieder bebaut wurden. Die Naherholungsgebiete befinden sich daher in Erfurt fast ausschließlich am Stadtrand, wie z. B. der Steigerwald, der Nordstrand oder der ega-Park. Neben dem Steigerwald gibt es zwei weitere Walder im Stadtgebiet, den Willroder Forst im Sudosten bei Windischholzhausen und die Walder im Schaderoder Grund oberhalb von Tiefthal im Nordwesten. Die ubrige unbebaute Flache dient vor allem der Landwirtschaft, da auf den fruchtbaren Boden ertragreicher Ackerbau betrieben werden kann. Die einzigen großeren Wasserflachen sind die Erfurter Seen, eine Reihe gefluteter Kiesgruben bei Stotternheim im Norden der Stadt.
= Ausdehnung des Stadtgebietes =
Bis zur Aufhebung der Festung Erfurt durch die preußische Regierung im Jahr 1873 lag das bebaute Stadtgebiet innerhalb der Stadtbefestigung aus dem 14. Jahrhundert. Die Stadtbefestigung umschloss Erfurt kreisformig und hatte zahlreiche Tore, die den sich spater außerhalb entwickelnden Vorstadten ihre Namen gaben. Zur Befestigungsanlage Erfurts gehorten außerdem noch die Zitadelle Petersberg und die Zitadelle Cyriaksburg sowie zwei Stadtgraben (die heute zugeschuttete Wilde Gera vor der inneren Mauer und der Flutgraben vor der außeren Mauer). Der Mittelpunkt dieses „alten Erfurts“ war der Fischmarkt. Zwischen 1873 und 1918 bildete sich um die Altstadt ein luckenloser Gurtel aus Grunderzeitvierteln, wobei die burgerlichen Viertel die Lober- und die Bruhlervorstadt im Sudwesten und die Arbeiterviertel die Krampfer- und die Johannesvorstadt im Nordosten waren. Daberstedt und die Andreasvorstadt waren teils burgerlich, teils von Arbeitern gepragt. Dieser Ring aus Altbauten im preußischen Stil ist noch heute vollstandig erhalten, was in Deutschland relativ selten vorkommt. Außerdem wuchs im Norden der Stadt der großte Vorort: Ilversgehofen mit uber 12.000 Einwohnern (1910), der 1911 eingemeindet wurde. In der Zeit bis 1945 entstanden im Norden und Sudosten weitere Wohnviertel, so dass aus der runden Stadt eine „langgezogene“ wurde.
Zu DDR-Zeiten wuchs die Stadt zunachst nach Norden, wo ab 1969 das Wohngebiet Erfurt-Nord, bestehend aus dem Rieth, dem Berliner Platz, dem Moskauer Platz und dem Roten Berg errichtet wurde. Ab 1979 entstand Erfurt-Sudost, bestehend aus dem Herrenberg, dem Wiesenhugel und Melchendorf mit den Plattenbaugebieten Drosselberg und Buchenberg. Nach der Wende entstanden auf dem Ringelberg und in den umliegenden Dorfern, die 1950 und 1994 eingemeindet worden waren, neue Siedlungen aus Einfamilien- und Reihenhausern. In den Plattenbaugebieten wurde ab 1990 ein Abwanderungstrend in die Innenstadt, umliegende Dorfer oder die alten Bundeslander spurbar, so dass in diesen Stadtteilen bereits mehrere Plattenbauten abgerissen wurden. An diesen Stellen entstanden neue Grunflachen.
= Nachbargemeinden =
Folgende Gemeinden grenzen an die Stadt Erfurt. Im Uhrzeigersinn, beginnend im Osten, sind das:
im Landkreis Weimarer Land: Grammetal sowie Klettbach (Letztere gehort zur Verwaltungsgemeinschaft Kranichfeld)
im Ilm-Kreis: Amt Wachsenburg
im Landkreis Gotha: Nesse-Apfelstadt sowie Nottleben, Zimmernsupra und Bienstadt (Verwaltungsgemeinschaft Nesseaue)
im Landkreis Sommerda: Witterda (erfullende Gemeinde ist Elxleben), Elxleben, Walschleben (Verwaltungsgemeinschaft Gera-Aue), Riethnordhausen (Verwaltungsgemeinschaft Straußfurt) sowie Noda, Alperstedt, Großrudestedt, Udestedt, Kleinmolsen und Großmolsen (alle Verwaltungsgemeinschaft Gramme-Vippach)
= Stadtgliederung und Bevolkerungsverteilung =
Das Stadtgebiet Erfurts gliedert sich in 53 Stadtteile. 44 davon bilden zugleich einen Ortsteil im Sinne des § 45 der Thuringer Kommunalordnung. Die Ortsteile wurden durch die Hauptsatzung der Stadt Erfurt eingerichtet. Dabei handelt es sich uberwiegend um raumlich getrennte Dorfer, die ehemals selbstandige Gemeinden waren. Fur 38 Ortsteile gibt es jeweils einen Ortsteilrat, der an einer Burgerversammlung gewahlt wird und abhangig von der Einwohnerzahl zwischen vier und zehn Mitglieder hat. Jeweils drei Ortsteile bilden mit benachbarten Ortsteilen einen gemeinsamen Ortsteilrat, unter dem Vorsitz eines ebenfalls gewahlten Ortsteilburgermeisters. Die Ortsteilrate sind zu allen den Ortsteil betreffenden Angelegenheiten zu horen und konnen in eigener Zustandigkeit uber Angelegenheiten entscheiden, deren Bedeutung nicht wesentlich uber den Ortsteil hinausgeht.
Die Erfurter Bevolkerung verteilt sich grob gesehen auf drei Siedlungstypen: (alt-)stadtische Stadtteile, Plattenbaugebiete und Dorfer (alle eingemeindeten Ortschaften mit Ausnahme Melchendorfs und Ilversgehofens). 2010 lebten in stadtischen Teilen 51,9 %, in Plattenbaugebieten 26,5 % und in den Dorfern 21,4 % der Bevolkerung. 1990 lebten 48 % der Einwohner in stadtischen Teilen, 40 % in Plattenbaugebieten und 12 % in Dorfern (die Eingemeindungen von 1994 sind hier bereits berucksichtigt). In den meisten stadtischen Stadtteilen sind allerdings zwei vollig unterschiedliche Siedlungstypen vereint: An die Altstadt angrenzend dicht bebaute Viertel aus Mietshausern (entstanden zwischen 1873 und 1940; die Bevolkerungsdichte dieser Gebiete liegt bei rund 15.000 Einwohnern je Quadratkilometer) sowie Altneubauten (etwa 1950 bis 1970), auf der anderen Seite etwas weiter stadtauswarts aber auch Einfamilienhaussiedlungen (entstanden ab etwa 1920) mit geringer Bevolkerungsdichte. Insgesamt ist Erfurt aber im Vergleich zu anderen deutschen Stadten gleicher Große sehr kompakt aufgebaut. So konzentriert sich die Mehrheit der Bevolkerung in der Altstadt und dem unmittelbar angrenzenden Grunderzeitgurtel aus Mietshausern. Diese Konzentration hin zur Stadtmitte nahm seit 2000 deutlich zu. Zum einen ebbte die durch die Wiedervereinigung ausgeloste Suburbanisierungswelle ab, zum anderen schritten die innerstadtischen Sanierungsmaßnahmen voran, und zum dritten schrumpfen die peripheren Plattenbaugebiete kontinuierlich. Auf der anderen Seite ist das zur Stadt Erfurt gehorige Gebiet sehr groß, weshalb die Bevolkerungsdichte bezogen auf die gesamte Stadtflache nach Wolfsburg und Salzgitter die drittgeringste unter den deutschen Großstadten ist. Der weitlaufige landliche Einzugsbereich Erfurts hat eine gewisse Tradition, so baute der stadtische Rat bereits im Mittelalter einen umfangreichen kommunalen Landbesitz auf, sodass die meisten heutigen Ortsteile schon die langste Zeit ihrer Geschichte (mit Unterbrechung im 19. und 20. Jahrhundert) dem Erfurter Rat unterstanden. In Erfurt gibt es acht Wohnungsbaugenossenschaften, die einen vergleichsweise hohen Anteil des Wohnungsbestands besitzen. Demgegenuber ist der Anteil von Einfamilienhausern niedrig. Im eigentlichen Stadtgebiet ohne die eingemeindeten Dorfer befanden sich 2009 von 91.011 Wohnungen 5784 (knapp 6,4 %) in Einfamilienhausern, wahrend es im Bundesdurchschnitt etwa 28,3 % waren. Der Anteil auslandischer Bevolkerung lag 2015 bei 6,1 % (2012 bei 3,8 %) mit Osteuropa, Zentralasien und Vietnam als Hauptherkunftsregionen.
Die Stadtmorphologie Erfurts fuhrt zu einer sehr hohen sozialen Segregation zwischen den Wohngebieten. So findet sich der gunstige Wohnraum im Plattenbau, der in Erfurt (anders als beispielsweise in Dresden oder Magdeburg) fast ausschließlich getrennt von anderen Bauformen und in raumlicher Konzentration an der Peripherie entstand und dadurch im Vergleich zum Altbau in Zentrumsnahe kaum attraktiv ausfallt. Eine Studie von 2018 ergab einen Segregationsindex von 38,9 bezogen auf Haushalte, die im Jahr 2014 auf Arbeitslosengeld II angewiesen waren. Damit nahm Erfurt gemeinsam mit Rostock, Erlangen und Potsdam die Spitzenposition unter den deutschen Großstadten ein, wobei der Durchschnitt aller Großstadte bei 26,6 lag. Die soziale Entmischung der Stadt nimmt weiterhin zu, so sank der Anteil der Haushalte, die auf Sozialleistungen angewiesen waren, von 2005 bis 2014 in altstadtischen Stadtteilen von 19,6 % auf 12,4 %, in den Plattenbaustadtteilen hingegen von 31 % auf 30,2 %. Auch die Segregation reicher Haushalte ist vergleichsweise hoch, diese konzentrieren sich in wenigen Wohnlagen der Stadtteile Bruhlervorstadt und Lobervorstadt sowie im gehobenen Neubau in Lucken der Altstadt.
= Klima =
Das Klima Erfurts wird gepragt durch seine Lage am Sudrand des Thuringer Beckens und der dieses umgebenden Mittelgebirge Harz und Thuringer Wald. Durch die Leewirkung dieser teilweise uber 1000 Meter hohen Gebirge ergibt sich ein fur Mitteleuropa recht trockenes Klima. Wahrend die relativ flachen Gebiete des Stadtzentrums und der nordlichen Teile der Stadt ein recht gleichmaßiges Klima haben, ergeben sich auf Grund der Hohenzuge Fahner Hohe und Steigerwald, die den Stadtkern um etwa 150 Meter uberragen, in den sudlichen Ortsteilen wie Bischleben oder Molsdorf lokale klimatische Besonderheiten.
Die Jahresdurchschnittstemperatur betrug in den Jahren 1961 bis 1990 in Erfurt 7,9 °C, wobei im Januar die mittlere Tageshochsttemperatur bei +2 °C und die mittlere Tiefsttemperatur bei −2 °C liegt. Im Juli betragt die mittlere Hochsttemperatur 24 °C und die mittlere Tiefsttemperatur 14 °C. Die durchschnittliche jahrliche Niederschlagsmenge betrug im genannten Zeitraum 500 mm, womit Erfurt gemeinsam mit Halle und Magdeburg zu den trockensten Großstadten Deutschlands gehort. Die Niederschlagssumme fallt in das untere Zwanzigstel der in Deutschland erfassten Werte. An nur einem Prozent der Messstationen des Deutschen Wetterdienstes werden niedrigere Werte registriert. Der trockenste Monat ist der Januar, die meisten Niederschlage fallen im Juni. Im Juni fallen 2,7 mal mehr Niederschlage als im Januar, womit die Niederschlage stark variieren. An 68 % der Messstationen werden niedrigere jahreszeitliche Schwankungen registriert. Die Zahl der jahrlichen Sonnenstunden betragt etwa 1600 und liegt, bedingt durch die Warmeentwicklung der Stadt, etwa 50 Stunden uber den Werten der unmittelbaren Umgebung. Die durchschnittliche Windgeschwindigkeit ist im Winter etwa 6 m/s, im Sommer geht sie auf 4 m/s zuruck. Die Hauptwindrichtung ist Sudwest. Die Werte stammen von der Erfurter Wetterstation im Ortsteil Bindersleben auf einer Hohe von 315 m u. NN, sie soll reprasentativ fur den Naturraum Thuringer Becken sein.
Geschichte = Fruhgeschichte =
Spuren erster Besiedlung im jetzigen Stadtgebiet finden sich bereits aus vorgeschichtlicher Zeit. So zeugen archaologische Funde im Norden Erfurts von menschlichen Spuren aus der Altsteinzeit um 100.000 v. Chr. Weitere Funde in der Grube von Erfurt-Melchendorf belegen eine Besiedelung in der Jungsteinzeit.
Westlich von Erfurt existierte in den Jahrhunderten n. Chr. eine große germanische Siedlung, die im Jahr 2000 beim Bau der Bundesautobahn 71 angeschnitten und von 2001 bis 2003 etwa zur Halfte ausgegraben wurde (Erfurt-Frienstedt). Fur 480 ist der germanische Sammelverband der Thuringer (Thuringi) aus Hermunduren, Angeln und Warnen im Erfurter Gebiet bisher durch Uberlieferungen belegt, ohne dass fur das 4. bis 10. Jahrhundert archaologische Funde nachgewiesen werden konnten. An kaiserzeitlichen Funden fanden sich hingegen knapp 200 Munzen, die bis in das 3. Jahrhundert reichen, dazu 150 romische Keramikfragmente und mehr als 200 Fibeln. Hinzu kommen elf Korpergraber der Haßleben-Leuna-Gruppe.
In der genannten germanischen Siedlung, dem Fundplatz Frienstedt bei Erfurt, wurde auf einem Kamm aus einem Opferschacht das alteste in Mitteldeutschland entdeckte, in Runenschrift geschriebene germanische Wort gefunden: „kaba“ (gesprochen: kamba; Kamm).
= Mittelalter =
Die alteste bekannte urkundliche Erwahnung von Erfurt findet sich in einem Brief des Bonifatius anno 742 als Missionserzbischof an Papst Zacharias II., in dem Bonifatius den Papst um die Bestatigung der von ihm geweihten Bischofe und eingerichteten Bistumssitze bittet, namlich „… den dritten in dem Ort (in loco), welcher ‚Erphesfurt‘ heißt, der schon vor Zeiten eine befestigte Siedlung (urbs) heidnischer Bauern gewesen ist…“ Die Gera, an der Erfurt entstand, hieß ursprunglich Erfes (auch Erphes, Erfis oder Erphis).
Das somit gegrundete Bistum Erfurt wurde bereits 755, nachdem Bonifatius im Jahr 754 bei Dokkum von den Friesen erschlagen worden war, mit dem von Mainz vereinigt. Die Grunde dafur sind unklar, moglicherweise spielte die Grenznahe zu den Sachsen und Slawen eine Rolle. Spatestens mit der Bistumsgrundung muss auch eine Bischofskirche vorhanden gewesen sein, und es ist anzunehmen, dass diese eine Vorlauferkirche des heutigen Domes auf dem Domberg war. Im Jahr 805 erklarte Karl der Große Erfurt zu einem der Grenzhandelsplatze, unweit der Grenze des damaligen Frankenreiches. Erfurt hatte unter den Karolingern und Ottonen eine Konigspfalz, die auf dem heutigen Petersberg als sicher angenommen wird. Im 10. Jahrhundert kam Erfurt unter die weltliche Herrschaft der Mainzer Erzbischofe, die bis zum Reichsdeputationshauptschluss im Jahr 1803 andauerte.
1184 kam es zum Erfurter Latrinensturz.
In Erfurt haben sich herausragende Zeugnisse judischer Kultur des hohen und spaten Mittelalters erhalten. Dazu zahlen die Alte Synagoge, deren Bau 1094 begann, womit sie die alteste erhaltene Synagoge Europas ist. Auch die benachbarte, aus dem 13. Jahrhundert stammende Mikwe zahlt zu den altesten in Europa. 1998 wurde bei Ausgrabungen in der Michaelisstraße ein judischer Schatz gefunden, dessen Inhalt zu den bedeutendsten Zeugnissen judisch-mittelalterlicher Kultur in Europa zahlt. Mit einem Pestpogrom im Jahr 1349 nahm die erste judische Gemeinde ein jahes Ende. Ab 1354 entstand eine zweite judische Gemeinde, bis der Erfurter Rat 1453/1454 den Juden den Schutz entzog und sie zur Abwanderung zwang. Erst im 19. Jahrhundert siedelten sich wieder Juden in der Stadt an.
Etappenort der „Brabanter Straße“
Erfurt war im Mittelalter Etappenort der einst bedeutenden Ost-West Fernhandels- und Messestraße, die von Leipzig uber Koln ins Herzogtum Brabant bis Antwerpen fuhrte, daher auch Brabanter Straße genannt.
Mit etwa 18.000 bis 20.000 Einwohnern entwickelte sich die Stadt im 14. und 15. Jahrhundert zu einer mittelalterlichen Großstadt, die an Große nur von Koln, Nurnberg und Magdeburg ubertroffen wurde. Erfurt erreichte damit den Gipfel seiner wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Entwicklung im Mittelalter und wurde der Mittelpunkt des Handels im mittleren Heiligen Romischen Reich. Dazu gehorte auch die bereits im 13. Jahrhundert einsetzende Entwicklung Erfurts zu einem der großten Waidmarkte des Reiches. 1331 erhielt Erfurt das Messeprivileg von Kaiser Ludwig IV.
Bereits im 13. Jahrhundert war die Stadt zu einem Bildungszentrum von weit ausstrahlender Bedeutung herangewachsen. Keine andere Stadt in Deutschland hatte in der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts mehr Studenten. In der ersten Halfte des 14. Jahrhunderts entwickelte sich das Erfurter Studium generale zur bedeutendsten Bildungsanstalt im Romisch-Deutschen Reich. 1392 offnete die Stadt – und nicht der Erzbischof – die dritte Universitat auf deutschem Boden, die mit ihrem Grundungsprivileg von 1379 auch als alteste gelten kann.
1463 grassierte die Pest in Thuringen, allein in Erfurt starben 28.000 Menschen.
= Fruhe Neuzeit =
Einer der bekanntesten Absolventen der Universitat Erfurt war Martin Luther, der hier von 1501 bis 1505 studierte und seinen Magister der philosophischen Fakultat erhielt. In der Reformationszeit wandte sich die Stadt mehrheitlich dem evangelischen Bekenntnis zu. 1521 wurde mit Georg Petz der erste evangelische Pfarrer ernannt. Der Rat zu Erfurt unterzeichnete die lutherische Konkordienformel von 1577.
Im Jahr 1597 wutete neben der Pest die Rote Ruhr in Erfurt, 7700 Menschen starben, darunter viele Professoren und Doktoren, fast 30 Magister und die meisten Studenten.
Am 21. April 1618 kam es zu einem Vertrag zwischen dem Mainzer Erzbischof Johann Schweikhard von Cronberg und der Stadt Erfurt, der die schon fruher zugestandene Religionsfreiheit bestatigte und sie ausdrucklich auf das Erfurter Landgebiet erweiterte. Zur rechtlichen Stellung der Stadt wurde festgelegt, dass sie Eigentum des Erzstifts Mainz sei und auf jegliche Reichsstandschaft verzichte. Der Dreißigjahrige Krieg schadigte die Stadt schwer. Erfurt wurde von 1632 bis 1635 und von 1637 bis 1650 von den Schweden besetzt. Der Westfalische Friede brachte der Stadt nicht die erhoffte Reichsfreiheit. Dadurch wurden wieder jahrelange Auseinandersetzungen ausgelost.
1664 eroberten franzosische und Reichsexekutionstruppen des Mainzer Kurfursten und Erzbischof Johann Philipp von Schonborn die Stadt. Damit wurde die kurmainzische Herrschaft wiederhergestellt. Erfurt wurde nun als Hauptstadt des Erfurter Staats zusammen mit dem Eichsfeld von einem Mainzer Statthalter regiert, der seinen Sitz in der Kurmainzischen Statthalterei (heutige Staatskanzlei) hatte. Um weiteren Aufstanden vorzubeugen und als Schutz gegen die protestantischen Machte ließ der kurmainzische Kurfurst und Erzbischof, Johann Philipp von Schonborn, auf dem Gelande des Petersberges eine Zitadelle errichten.
1682 und 1683 erlebte Erfurt die schlimmsten Pestjahre seiner Geschichte, allein 1683 erlag uber die Halfte der Bevolkerung der todlichen Krankheit. Siehe dazu Pesttaler#Beschreibung des Schautalers (Medaille) von Erfurt.
In Erfurt sind Hexenverfolgungen von 1526 bis 1705 bekannt. Prozessakten liegen nur unvollstandig vor. Zwanzig Menschen gerieten in Hexenprozesse, mindestens acht Menschen fanden den Tod. 1705 wurde die 42-jahrige Gansehirtin Anna Martha Hausburg aus Mittelhausen gefoltert, enthauptet und dann verbrannt. Ihre siebenjahrige Tochter Katharina Christina musste bei der Hinrichtung ihrer Mutter zusehen.
= 19. Jahrhundert =
Gemaß dem Reichsdeputationshauptschluss kamen Stadt- und Landgebiet Erfurt 1802 als Entschadigung fur verlorengegangene linksrheinische Gebiete zu Preußen. Nach dem Sieg Napoleons uber Preußen in der Schlacht bei Jena und Auerstedt besetzten franzosische Truppen am 16. Oktober 1806 die Festung kampflos nach deren Kapitulation. Napoleon erklarte 1807 Erfurt zusammen mit Blankenhain als Furstentum Erfurt zu einer kaiserlichen Domane, die nicht Teil des Rheinbunds war, sondern ihm direkt unterstand.
Im Jahr 1814 endete nach erfolgreicher Belagerung von Erfurt durch preußische, osterreichische und russische Truppen die franzosische Besetzung, und 1815 wurde Erfurt aufgrund des Wiener Kongresses wieder Preußen zugesprochen, das den großten Teil des Landgebietes und das Blankenhainer Gebiet an Sachsen-Weimar-Eisenach abtrat. Die damals herrschende Not wurde durch britische Hilfsgelder gemildert, die insbesondere auch Kriegswaisen zugutekamen und Teil der ersten großeren humanitaren Hilfskampagne uberhaupt waren.
Mit der Ansiedlung wichtiger Maschinenbaubetriebe wurde Erfurt im ausgehenden 19. Jahrhundert ein bedeutender Industriestandort. Besondere Bedeutung besitzen auch heute noch der Gartenbau und die Saatzucht. Diesem Umstand verdanken eingeborene Erfurter den Spitznamen „Puffbohne“. Eine wichtige Rolle spielt hier seit 1867 die Firma „N.L. Chrestensen“. Um 1900 besaß der Erwerbsgartenbau der „Blumenstadt“ Erfurt eine weltweite Fuhrungsstellung.
= 20. Jahrhundert =
1906 wurde Erfurt mit 100.000 Einwohnern Großstadt. Im Ersten Weltkrieg kamen 3579 Burger ums Leben. Als 1920 das Land Thuringen mit der Landeshauptstadt Weimar gebildet wurde, wurden die preußischen Gebiete Thuringens einschließlich Erfurts aufgrund des Widerstands der preußischen Regierung nicht miteinbezogen. Diese gehorten, wie Erfurt, teilweise zur Provinz Sachsen. Am 26. Juni 1921 fand das Thuringer Trachten- und Heimatfest in Erfurt statt.
Nach der Machtubernahme 1933 ubernahm das NS-Regime auch die Kontrolle uber Erfurt. Erfurt wurde durch die Aufrustung der Wehrmacht vor dem Zweiten Weltkrieg zu einer der großten Garnisonen des Deutschen Reiches.
In der Reichspogromnacht wurde die Große Synagoge niedergebrannt und die Verschleppung der etwa 800 judischen Bewohner begann. Das Gedenkbuch des Bundesarchivs fur die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Deutschland (1933–1945) verzeichnet namentlich 447 judische Einwohner Erfurts, die deportiert und großtenteils ermordet wurden.
Von 1939 bis 1945 mussten 10.000 bis 15.000 Kriegsgefangene sowie Frauen und Manner aus zahlreichen von Deutschland besetzten Landern in Erfurt Zwangsarbeit leisten, vor allem in Rustungsbetrieben.
Im Zweiten Weltkrieg erlebte Erfurt 27 britische und amerikanische Luftangriffe, nicht mitgerechnet die zahlreichen Angriffe von Jagdbombern im April 1945. 1100 Tonnen Bombenlast wurden abgeworfen. Ungefahr 1600 Zivilisten starben, 530 Gebaude wurden total zerstort, 2550 wurden schwer oder mittelschwer beschadigt. 17 % der Wohnungen wurden vollig zerstort und viele weitere schwer beschadigt. Besonders die historische Altstadt von Erfurt war betroffen. 23.000 Menschen wurden obdachlos. 100 Industriegebaude wurden zerstort oder schwer beschadigt. Wertvolle Profanbauten und Sakralbauten gingen verloren, so das Collegium Maius der alten Universitat und die Bibliothek des Augustinerklosters. Alle Kirchen der Innenstadt wurden durch Bomben und Artilleriebeschuss mehr oder weniger schwer getroffen. Die Ruine der am 26. November 1944 durch eine Luftmine zerstorten Barfußerkirche steht noch heute als Mahnmal. Fur den 3. und 4. April 1945 hatte die Royal Air Force ein Flachenbombardement fur Erfurt unter Einsatz von 2740 Tonnen Bombenlast vorgesehen. Der Angriff wurde wegen des raschen Vormarsches der US-Bodentruppen abgesagt.
Am 12. April 1945 besetzten Einheiten der 3. US-Armee unter Befehl von General George S. Patton Erfurt, nach Kampfen in der Stadt und ihrer Umgebung. Am 1. Juli stellte die preußische Bezirksregierung ihre Tatigkeit ein. Die Stadt wurde mit dem Regierungsbezirk Erfurt dem Land Thuringen zugeordnet. Am 3. Juli ubernahmen aufgrund des 1. Londoner Zonenprotokolls von 1944 und der Beschlusse der Konferenz von Jalta Einheiten der Roten Armee die Stadt; Erfurt wurde Bestandteil der sowjetischen Besatzungszone.
Erfurt begann, sich langsam von den Folgen des Krieges zu erholen. 30.000 Kubikmeter Schutt wurden aus den Straßen geraumt, die Straßenbahn und die Gasversorgung wieder in Betrieb gesetzt und die Schulen wiedereroffnet. Nach der mit dem alliierten Kontrollratsgesetz Nr. 46 auch juristisch vollzogenen Auflosung des Staates Preußen vom 25. Februar 1947 erklarte der Thuringer Landtag am 7. Juli 1948 Erfurt zur Landeshauptstadt Thuringens, bevor im Jahr 1952 das Land Thuringen aufgelost und in drei Bezirke eingeteilt wurde, wobei Erfurt Sitz des Bezirks Erfurt wurde.
Zur Zeit der DDR begann Ende der 1960er Jahre der großflachige Abriss des Krampferviertels am ostlichen Rand der Altstadt. Durch den Neubau von 11- bis 16-geschossigen sowie bis zu 120 Meter langen Plattenbauten wurde das bis dahin – trotz Kriegszerstorungen – relativ intakte und durch Kirchturme gepragte Stadtbild dauerhaft beeintrachtigt. Zusatzlich entstanden bis Ende der 1970er Jahre am Stadtrand neue Wohngebiete mit zusammen uber 17.000 Wohnungen.
Der Abriss des Andreasviertels konnte durch Burgerproteste und die Wende 1989 verhindert werden.
Im Marz 1970 war Erfurt Schauplatz des Erfurter Gipfeltreffens von Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Willi Stoph. Brandt zeigte sich unter anderem am Fenster des Hotels Erfurter Hof, das gegenuber dem Hauptbahnhof liegt. Die Menge begrußte ihn begeistert mit „Willy, Willy“- und „Willy Brandt ans Fenster!“-Rufen.
Im August 1975 kam es bei Ausschreitungen in Erfurt zu den ersten pogromartigen Vorfallen nach 1945 in Deutschland. Die Ereignisse vom 10. bis zum 13. August richteten sich gegen algerische Vertragsarbeiter, die seit Juni 1975 in verschiedenen Erfurter Betrieben beschaftigt waren. Wahrend dieses Zeitraums wurden Algerier von Deutschen mehrfach durch die Erfurter Innenstadt gejagt und unter anderem mit Eisenstangen und Holzlatten attackiert.
Im Herbst 1989 leiteten auch in Erfurt immer großere Demonstrationen die Wende und friedliche Revolution in der DDR ein. 1991 stimmten 49 von 88 Abgeordneten des Landtags fur Erfurt als Landeshauptstadt von Thuringen.
Im Jahr 1994 wurde die Universitat Erfurt neu gegrundet. Ebenfalls in diesem Jahr wurde das Bischofliche Amt Erfurt-Meiningen, das seit 1973 bestand, zum Bistum Erfurt erhoben.
= 21. Jahrhundert =
Das Bild der Stadt hat sich in den Jahren seit der Wende deutlich verandert. Viele Gebaude der historischen Altstadt wurden saniert, an manchen Stellen entstanden Neubauten. Die Neugestaltung des Fischmarktes wurde mit dem Sonderpreis des Deutschen Stadtebaupreises 2014 ausgezeichnet.
Am 26. April 2002 geriet Erfurt durch den sogenannten Amoklauf von Erfurt weltweit in die Medien. Der Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium war der erste durch einen ehemaligen Schuler verubte Amoklauf an einer Schule in Deutschland. Dabei kamen elf Lehrer, eine Referendarin, eine Sekretarin, zwei Schuler und ein Polizeibeamter ums Leben. Anschließend totete sich der 19-jahrige Amoklaufer selbst.
Seit den 1990er-Jahren konnte die organisierte Kriminalitat in Erfurt mit mehreren Mafiagruppierungen Fuß fassen, so die italienische ’Ndrangheta, aber auch die Armenische Mafia (Diebe im Gesetz). Es kam unter anderem zu einem Uberfall und einem Brandanschlag in der Gastronomie sowie 2014 zu einer Schießerei auf offener Straße. Auch die Rockergruppierung Hells Angels war in der Stadt aktiv.
2016 wurde Erfurt der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ durch die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa verliehen.
= Eingemeindungen =
Folgende Gemeinden und Gemarkungen wurden nach Erfurt eingemeindet:
= Einwohnerentwicklung =
1880 hatte Erfurt mehr als 50.000 Einwohner. 1906 uberschritt die Einwohnerzahl der Stadt die Grenze von 100.000, wodurch sie zur Großstadt wurde. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges am 1. Dezember 1945 hatte die Stadt 164.998 Einwohner, 1973 uberschritt sie die Grenze von 200.000 Einwohnern. 1989 erreichte die Bevolkerungszahl mit knapp uber 220.000 ihren historischen Hochststand. Nach der Wende in der DDR verlor die Stadt durch Abwanderung, Suburbanisierung und Geburtenruckgang trotz zahlreicher Eingemeindungen in den Jahren von 1994 bis 2002 insgesamt rund 20.000 Menschen. Seit 2003 steigt die Einwohnerzahl wieder an, sodass bisher etwa drei Viertel des Nachwende-Ruckgangs kompensiert wurden. Damit hat Erfurt unter den vergleichbar großen ostdeutschen Stadten (Magdeburg, Halle (Saale), Chemnitz und Rostock) seit 1990 die stabilste demografische Entwicklung genommen.
Am 31. Dezember 2019 konnten im Melderegister der Landeshauptstadt Erfurt insgesamt 214.417 Personen mit Hauptwohnsitz gezahlt werden. Diese teilen sich auf in 104.630 mannliche und 109.787 weibliche Personen. Die Zahl der in Erfurt lebenden auslandischen Einwohner betragt aktuell 18.811 Personen. Damit liegt der Auslanderanteil bei 8,8 Prozent. Das Durchschnittsalter der in Erfurt lebenden Bevolkerung betragt zu diesem Stichtag 44,3 Jahre.
= Konfessionsstatistik =
Das statistische Jahrbuch der Stadt Erfurt fuhrt keine dezidierten Zahlen der Religionszugehorigkeit der Stadt Erfurt. Die letztmalige Erhebung der Religionszugehorigkeit fand beim Zensus von 2011 statt:
Konfessionslose: 75,9 % – 151.680 Personen
evangelisch-reformiert: 14,8 % – 29.690 Personen
romisch-katholisch: 6,9 % – 13.810 Personen
andere Glaubensgemeinschaften: 2,4 % – 2.160 Personen
Im Zensus fur die Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahre 2022 wurde eine Sonderauswertung der Religionsgemeinschaften fur alle Stadte und Gemeinden durchgefuhrt. So verteilt sich die Religionszugehorigkeit (Stand: 15. Mai 2022) wie folgt:
Konfessionslose: 80,3 % – 175.254 Personen
evangelisch-reformiert: 11,5 % – 25.023 Personen
romisch-katholisch: 6,2 % – 13.556 Personen
andere Glaubensgemeinschaften: 2,0 % – 4.365 Personen
In einem Bericht des Bayerischen Rundfunks im Zuge des Katholikentages 2024 wurde eine Zahl von in der Stadt Erfurt lebenden Katholiken von etwa 13.000 angegeben. Dies entspricht 6 % der Bevolkerung. Laut kirchliche Statistik waren 11,3 % der Einwohner evangelisch (Stand 31. Dezember 2023).
Politik Erfurt wird seit 2025 von Bodo Ramelow (Die Linke) als Direktkandidat im Deutschen Bundestag vertreten. Von 2009 bis 2021 hatte Antje Tillmann (CDU) das Direktmandat inne. Bei der Bundestagswahl 2009 gewann sie das Direktmandat im Wahlkreis Erfurt mit 30,5 % der Stimmen. Bei den Bundestagswahlen 2013 und 2017 bestatigten die Wahler das Direktmandat. Bei den Bundestagswahlen 1998, 2002, 2005 und 2021 gewann Carsten Schneider (SPD) das Direktmandat.
= Stadtrat =
Dem Erfurter Stadtrat gehoren seit der Kommunalwahl am 26. Mai 2024 neben dem Oberburgermeister noch 50 Mitglieder an:
Bei Abstimmungen im Stadtrat bilden sich abhangig vom Thema unterschiedliche Mehrheiten quer uber die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg.
Bei den ersten freien Kommunalwahlen der DDR am 6. Mai 1990 wahlten die Erfurter noch eine 160-kopfige Stadtverordnetenversammlung – die großte in ganz Deutschland. Die Versammlung wiederum wahlte den Oberburgermeister. Seit 1994 finden Wahlen zum Stadtrat in seiner heutigen Konzeption statt.
= Oberburgermeister seit 1817 =
Erfurt besaß seit den 1820er-Jahren wieder mehr kommunale Selbstverwaltung und wurde am 1. Januar 1872 kreisfreie Stadt mit einem Oberburgermeister. Heute ist der Oberburgermeister Leiter der Stadtverwaltung Erfurt und reprasentiert die Stadt nach außen. Er ist hauptamtlich tatig und wird von der Bevolkerung direkt gewahlt.
Folgende Personen waren seit 1817 Oberburgermeister von Erfurt:
1817–1833: Wilhelm August Turk
1833–1850: Karl Friedrich Wagner
1850–1851: Hermann von Mallinckrodt
1851–1871: Freiherr Carl von Oldershausen
1871–1889: Richard Breslau
1890–1895: Gustav Schneider
1895–1919: Hermann Schmidt
1919–1933: Bruno Mann
1933–1934: Theodor Pichier (NSDAP)
1935–1936: Max Zeitler (NSDAP)
1936–1945: Walter Siegfried Kießling (NSDAP)
1945 (15. April bis 7. Juli): Otto Gerber (parteilos), kommissarisch
1945/6 (7. Juli 1945 bis April 1946): Hermann Jahn (KPD)
1946 (5. Mai bis September) Georg Boock (SED)
1946 (26. September bis Oktober) Paul Hach (LDPD)
1946–1961: Georg Boock (SED)
1961–1969: Rudolf-Dietrich Nottrodt (SED)
1969–1982: Heinz Scheinpflug (SED)
1982–1989: Rosemarie Seibert (SED)
1989–1990: Siegfried Hirschfeld (SED)
1990–2006: Manfred Ruge (CDU)
2006–2024: Andreas Bausewein (SPD)
seit 2024: Andreas Horn (CDU)
Der bisherige Oberburgermeister Andreas Bausewein war seit 2006 im Amt und wurde 2012 und 2018 wiedergewahlt, 2006 und 2018 jeweils per Stichwahl.
Auch bei der Oberburgermeisterwahl 2024 ging Bausewein in eine Stichwahl, nachdem er im ersten Wahlgang nur Zweitplatzierter hinter dem CDU-Kandidaten Andreas Horn wurde, der uberraschend 28,4 Prozent erhielt. Bei der Stichwahl am 9. Juni 2024 wurde Bausewein mit nur 35,8 Prozent der Stimmen als Oberburgermeister abgewahlt.
= Haushalt =
Die Schulden der Stadt Erfurt nahmen in den Nachwendejahren zu und erreichten im Jahr 2005 einen Hohepunkt mit 228 Mio. € (1.124 €/Einw.). Seitdem hat sich die Schuldensituation deutlich verbessert; der Schuldenstand sank bis zum Jahr 2022 auf 78,8 Mio. € (367 €/Einw.).
= Wappen und Flagge =
In der Hauptsatzung der Stadt Erfurt wird die Stadtflagge wie folgt beschrieben: „Die Flagge zeigt drei gleichbreite horizontale Streifen in den Farben Rot uber Weiß uber Rot und am Liek einen roten Vertikalstreifen, dessen Breite einem Drittel der Flaggenlange entspricht. In der Mitte dieses Streifens befindet sich das Rad des Stadtwappens in weiß. Breite und Lange der Flagge mussen mindestens ein Verhaltnis von 1 zu 2 haben und konnen in senkrechter oder waagerechter Form ... verwendet werden.“
Der Leitspruch der Stadt ist Rendezvous in der Mitte Deutschlands.
= Stadtepartnerschaften =
Erfurt unterhalt mit folgenden elf Stadten eine Stadtepartnerschaft:
= Mafia =
Generell gilt die Gastronomie als ein Betatigungsfeld der Italienischen Mafia in Deutschland und insbesondere in Erfurt als ein „Zentrum“ der italienischen Mafiaorganisation 'Ndrangheta, deren Hauptakteure aus San Luca in Kalabrien stammen: „Weite Teile der deutschen Finanzgeschafte ... uber Erfurt organisiert“. Im Zuge von riskanten Ermittlungen und Festnahmen der deutschen Polizei im Gefolge der Mafiamorde von Duisburg wurde um das Jahr 2000 ein verdeckter Ermittler in die mutmaßliche Erfurter Mafiazelle eingeschleust. Die umfangreichen Ermittlungen wegen Verdachts der Geldwasche wurden unter unklaren Umstanden eingestellt, und etliche der damals Beschuldigten mit „moglichen Verflechtungen von Politik, Justiz und Behorden“ sind heute noch aktiv.
Kultur und Sehenswurdigkeiten Mit der Entscheidung des Welterbekomitees der UNESCO vom 17. September 2023 wurde das judisch-mittelalterliche Erbe der Stadt in die Welterbeliste aufgenommen. Es umfasst die Alte Synagoge, die mittelalterliche Mikwe sowie das Steinerne Haus.
= Theater =
Das neue Gebaude des Erfurter Theaters im Bruhl wurde 2003 eroffnet. Es bietet Platz fur 800 Zuschauer und fuhrt jahrlich etwa 250 Veranstaltungen durch. Das Theater, zu dem auch das Philharmonische Orchester Erfurt gehort, veranstaltet außerdem jahrlich die Domstufen-Festspiele.
Neben dem Theater Erfurt gibt es mit der Schotte, der Theaterfirma Erfurt, dem Neuen Schauspiel Erfurt sowie dem Theater im Palais und dem Galli-Theater noch kleinere unabhangige Theater in Erfurt. Seit 1979 gibt es das Erfurter Kabarett Die Arche und seit 2003 mit dem Lachgeschoss noch ein zweites Kabarett. Das Theaterangebot umfasst zudem mit dem Theater Waidspeicher und dem Erfreulichen Theater zwei Puppentheater, die sowohl Stucke fur Kinder als auch fur Erwachsene auffuhren.
= Kino =
= Museen =
In Erfurt gibt es zahlreiche Museen mit unterschiedlichen Sammlungsschwerpunkten. In ihrem jeweiligen Gebiet haben sie uberregionale Bedeutung.
Das Stadtmuseum Erfurt befindet sich im Haus zum Stockfisch in der Johannesstraße im Osten der Altstadt. Seit 1974 wird dort die Stadtgeschichte prasentiert, wobei der Schwerpunkt auf der spatmittelalterlichen und fruhneuzeitlichen Geschichte um Martin Luther und Erfurt als Universitatsstadt liegt. Zum Stadtmuseum gehoren als Außenstelle das Museum Neue Muhle an der Schlosserbrucke mit einer funktionstuchtigen historischen Wassermuhle sowie die Wasserburg Kapellendorf bei Weimar, der Benaryspeicher am Gothaer Platz mit einem Druckereimuseum und ein Luftschutzkeller im Innenhof der Wigbertikirche.
Das Angermuseum befindet sich im Kurmainzischen Packhof am Anger und ist das kunsthistorische Museum Erfurts. Es zeigt die bedeutendste Sammlung mittelalterlicher Kunst aus Thuringen sowie zahlreiche Graphiken des 20. Jahrhunderts und eine umfangreiche Sammlung kunsthandwerklicher Gegenstande. Große Beruhmtheit erlangten außerdem die Lebensstufen des Expressionisten Erich Heckel. Es ist die einzige erhaltene Wandmalerei des Kunstlers. Das Angermuseum wurde 1886 aus dem Nachlass Friedrich Nerlys gegrundet und verfugt uber die Barfußerkirche und das in Bischleben gelegene Margaretha-Reichardt-Haus als Außenstellen.
Das Naturkundemuseum Erfurt liegt in einem ehemaligen Waidspeicher in der Großen Arche nahe dem Fischmarkt. Es wurde 1922 gegrundet und befindet sich seit 1995 am jetzigen Standort. Sammlungsschwerpunkt sind Flora, Fauna und Geologie Thuringens. Im Treppenhaus des Museums ist uber mehrere Etagen der Stamm einer 350 Jahre alten Eiche installiert.
Das Deutsche Gartenbaumuseum liegt in der ehemaligen Zitadelle Cyriaksburg am Westrand der Stadt hinter dem Gothaer Platz und gehort zum Gelande des egaparks. Sein Schwerpunkt ist die Entwicklung von Gartenbau und Gartenkunst in Mitteleuropa. Das Museum wurde 1961 eroffnet.
Das Museum fur Thuringer Volkskunde Erfurt zeigt Exponate der Alltags- und Gesellschaftskultur aus mehreren Jahrhunderten und befindet sich seit 1888 im Gebaude des ehemaligen Großen Hospitals am Juri-Gagarin-Ring im Osten der Altstadt.
Die Alte Synagoge befindet sich an der Waagegasse beim Fischmarkt. Sie wurde 2009 eroffnet und zeigt den Schatz von Erfurt sowie bedeutende judische Schriften des Mittelalters. Daneben kann auch die Kleine Synagoge besichtigt und an einer Fuhrung durch die mittelalterliche Mikwe teilgenommen werden.
Im Kommandantenhaus der Zitadelle Petersberg befindet sich eine militarhistorische Ausstellung. Zudem beginnen hier Fuhrungen durch die sogenannten Horchgange, ein unterirdisches Gangsystem hinter den Festungsmauern, welches dazu diente, nachtliche Angreifer bei Grabungs- oder Sprengarbeiten zu horen.
Im Erinnerungsort Topf & Sohne sudlich der Weimarischen Straße im Sudosten Erfurts behandelt die Dauerausstellung mit dem Titel Techniker der ‚Endlosung‘. Topf & Sohne: Die Ofenbauer von Auschwitz die Mittater- und Mitwisserschaft des Unternehmens am Holocaust. Die Eroffnung fand am 27. Januar 2011, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, statt.
Die Gedenk- und Bildungsstatte Andreasstraße erinnert an die dortige ehemalige MfS-Untersuchungshaftanstalt und bietet eine moderne Ausstellung zu Thuringen 1949 bis 1989.
Im heutigen Archiv der Stasi-Unterlagen auf dem Petersberg befindet sich ein Informations- und Dokumentationszentrum, welches die Struktur und Arbeitsweise des MfS sowie dessen geschichtliche Entwicklung thematisiert. Des Weiteren werden kostenfreie Archivfuhrungen angeboten.
In der Kunsthalle Erfurt im Haus zum Roten Ochsen am Fischmarkt finden Wechselausstellungen zeitgenossischer und moderner Kunst statt.
Im Stadtteil Molsdorf, etwa zehn Kilometer sudlich der Innenstadt, liegt das spatbarocke Schloss Molsdorf. Es bietet, neben der acht Hektar großen Parkanlage und dem Schloss selbst, eine Ausstellung des Nachlasses des Malers Otto Knopfer.
= Bauwerke =
Architektur des Stadtbilds Kern Erfurts ist die Altstadt, die sich in zwei Teile einteilen lasst: die innere Altstadt innerhalb der ersten Stadtbefestigung aus dem 10. Jahrhundert und die außere Altstadt innerhalb der zweiten Stadtbefestigung aus dem 14. Jahrhundert. Beide Mauerringe lassen sich heute noch gut nachvollziehen; der innere wird vom Juri-Gagarin-Ring und der außere vom Stadtring nachvollzogen. Dabei zeigt die innere Altstadt heute noch großtenteils ein mittelalterliches Bild, das von den uber 20 gotischen Pfarrkirchen und den sie umgebenden Fachwerk-, Burger- und Handelshausern gepragt wird. Sie stammen großtenteils aus der Zeit des 16., 17. und 18. Jahrhunderts (Renaissance/Barock). Punktuell wurden in der inneren Altstadt auch in spaterer Zeit neue Gebaude errichtet, was sich aber im Wesentlichen auf die Hauptgeschaftsstraßen beschrankte. Die außere Altstadt zeigt hingegen schon ein durchmischteres architektonisches Bild. Neben kleinen fruhneuzeitlichen Gebauden (z. B. im Bruhl) finden sich hier auch große Bauten aus der Grunderzeit (z. B. im Bahnhofsviertel) und nachfolgenden Epochen (vor allem entlang des Juri-Gagarin-Rings).
Erst 1873 verlor Erfurt seinen Status als Festungsstadt. Die Stadtbefestigungen wurden abgetragen und die Flachen außerhalb zur Bebauung freigegeben. Dadurch konnte sich die Stadt schnell, aber auch sehr regelmaßig entwickeln. Um die Altstadt entstand in den folgenden 60 Jahren ein Gurtel aus Wohnvierteln (die Erfurter Vorstadte). Die altesten Gebaude dieser Phase befinden sich an der Magdeburger Allee, und die jungsten sind die Wohnblocks der Neuen Sachlichkeit aus der Zeit um 1930 in der Krampfervorstadt. Dieser Gurtel musste weder unter Kriegsschaden noch unter spateren Umbaumaßnahmen leiden, so dass er heute noch vollstandig erhalten ist; einzig einige Industriebauwerke wurden nach der Wiedervereinigung abgerissen. Dennoch gibt es im Erscheinungsbild der Viertel große Unterschiede: So dominieren im Sudwesten der Stadt reich verzierte, einzeln stehende Villen, wahrend im Nordosten eher monotone Arbeiterviertel mit der typischen funfgeschossigen Block-Bauweise vorherrschen. Im Gegensatz zu vielen anderen Stadten Mitteldeutschlands sind diese Hauser unverputzt und ohne Fassadenschmuck, typischerweise aus rotem Ziegel (hergestellt in den Ziegeleien am Roten Berg im Norden der Stadt). Der Sanierungsstand hier ist relativ hoch, der Brachflachenanteil eher gering.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die weitere Entwicklung der Stadt durch die staatlichen Wohnungsbauprogramme in der DDR bestimmt. Dabei entstanden die beiden Großsiedlungen Erfurt-Nord und Erfurt-Sudost mit Hochhausern in Plattenbauweise. Nach der Wiedervereinigung schrumpfte die Einwohnerzahl der Stadt durch Wegzuge und Suburbanisierung. Suburbanisierungsgebiete waren vor allem der Ringelberg im Osten, Marbach im Westen und andere Dorfer in der Umgebung Erfurts. In der Stadt dominierte der Bau von Geschafts- und Verwaltungsbauten, um die Aufgaben der neuen Funktion als Landeshauptstadt zu erfullen. Zudem wurde eine weitgehende Sanierung des Altbaubestands in der Altstadt und den Vorstadten erreicht. In jungster Zeit entstanden auch vermehrt neue Wohnhauser auf Baulucken in der Altstadt.
Bedeutendstes romanisches Bauwerk der Stadt ist die Peterskirche. Aus der Zeit der Gotik stammen der Erfurter Dom sowie die Kloster- und Pfarrkirchen der Altstadt, etwa die Predigerkirche oder die Kaufmannskirche. Auch Profanbauten wie der Kornhofspeicher entstanden zu dieser Zeit. Die Renaissance ist in Erfurt durch den Bau reprasentativer Burgerhauser gepragt. Beispiele dafur sind das Haus zum Roten Ochsen am Fischmarkt oder das Haus zum Stockfisch in der Johannesstraße. Die Kurmainzische Statthalterei (heute Sitz der Staatskanzlei) entstand als Verwaltungsbau in zwei Phasen. Sie hat einen Renaissance- und einen Barock-Teil. Ein weiteres bedeutendes Barockbauwerk in der Stadt ist die Waage. Auch die große Zitadelle Petersberg entstand zur Zeit des Barock. Die folgende Epoche des Klassizismus war in Erfurt nicht besonders pragend, Gebaude dieser Zeit sind der Kaisersaal, die Kleine Synagoge oder auch der Alte Hauptbahnhof. Im Historismus entstanden neben zahlreichen Wohngebauden auch das Rathaus, das Gericht und die Thomaskirche. Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg entstanden beispielsweise die Lutherkirche (Art deco), die Thuringenhalle, das Jacobsenviertel oder der Landtag. Aus dem Jahr 1960 stammt die Gesamtanlage des egaparks und aus der Nachwendezeit die Messe, das Neue Theater oder auch die Gunda-Niemann-Stirnemann-Halle.
Die Liste der Kulturdenkmale in Erfurt umfasst mehr als 1600 unter Denkmalschutz stehende Objekte.
Sakralbauten Kirchen und Kloster Wegen seiner zahlreichen Kirchen und Kloster erhielt Erfurt im Mittelalter den Beinamen „Thuringisches Rom“. Heute gibt es in der Altstadt 22 Kirchen und 5 freistehende Kirchturme ehemaliger Kirchen. Außerdem gibt es in den anderen Stadtteilen 8 und in den eingemeindeten Dorfern 42 weitere Kirchen, womit Erfurt heute uber 77 historische Kirchengebaude verfugt. Fruher gab es in der Altstadt bis zu 38 Kirchen (inklusive der Klosterkirchen der 14 Erfurter Kloster). Bedingt durch Kirchenaustritte nimmt der Mitgliederverlust zu, was zur Folge hat, dass bis Ende 2026 vier von sieben katholischen Kirchen in der Stadt nicht mehr fur Gottesdienste genutzt werden.
Das Wahrzeichen der Stadt ist das einzigartige Ensemble von Mariendom und Severikirche auf dem Domberg. Beide Kirchen sind vom Domplatz aus uber die 70 Domstufen zu erreichen. Die großte Glocke des Domes, die Gloriosa, ist die großte freischwingende mittelalterliche Glocke der Welt. Die 1497 gegossene Glocke ist 2,57 Meter hoch, misst 2,54 Meter im Durchmesser und wiegt 11.450 Kilogramm. Sie wird heute noch zu besonderen Ereignissen und kirchlichen Feiertagen gelautet.
Die Barfußerkirche wurde 1231 errichtet und gehorte einst zum Kloster der Franziskaner. Bei einem Bombenangriff im Jahr 1944 wurde die Kirche weitgehend zerstort. In ihrer Ruine finden jahrlich im Sommer Theatervorstellungen unter freiem Himmel statt. Derzeit wird ein Umbau geplant. Die Kosten sollen sich auf zwei Millionen Euro belaufen. Dabei ist nicht an eine Restaurierung gedacht, wie bei der Frauenkirche in Dresden, sondern an einen Uberbau, um die verbliebene historische Substanz als Kulturerbe zu erhalten.
Die am Wenigemarkt beheimatete Agidienkirche wurde 1110 erstmals erwahnt. Sie war eine der zwei Bruckenkopfkirchen der Kramerbrucke, ist aber heute als einzige erhalten. Der Zugang zur Kramerbrucke verlauft durch ein begehbares Tor in der Kirche. Ihr Turm kann bestiegen werden und bietet eine einzigartige Aussicht uber die gesamte Erfurter Altstadt.
Die zwischen 1270 und 1450 erbaute Predigerkirche mit dem zugehorigen Predigerkloster ist eine dreischiffige kreuzrippengewolbte Basilika und eines der bedeutendsten Bauwerke der Bettelorden-Architektur in Deutschland. Dendrologische Untersuchungen ergaben, dass der ausschließlich aus Holz bestehende Dachstuhl von Thuringer Fichten stammt, die zwischen 1279 und 1285 geschlagen wurden. Damit besitzt das Predigerkloster den altesten Dachstuhl im deutschsprachigen Raum.
Der mit 60 Metern hochste Turm der Altstadt ist jener der Nikolaikirche in der Augustinerstraße. Weitere bekannte Kirchen sind die Peterskirche auf dem Petersberg, die Kaufmannskirche, St. Lorenz und die Schottenkirche.
Das 1277 erbaute Augustinerkloster ist vor allem als bedeutende Lutherstatte bekannt. Nach Beendigung seines Studiums in Erfurt schloss sich Martin Luther den Augustiner-Eremiten an. Hier lebte er von 1505 bis 1511 und wurde 1507 im Dom zum Priester geweiht. Heute wird das Augustinerkloster als internationale Begegnungsstatte genutzt. In den Sommermonaten finden im Renaissancehof des Klosters Konzerte und Theaterauffuhrungen statt.
Synagogen Im Erfurter Stadtgebiet gibt es drei Synagogen. Das einzig aktive Gotteshaus ist die im Jahr 1952 geweihte Neue Synagoge am sudlichen Juri-Gagarin-Ring. Die in der Nahe der Kramerbrucke gelegene Alte Synagoge (heute Museum) ist mit einem Alter von uber 900 Jahren eine der altesten erhaltenen Synagogen Europas. Zur alten Synagoge gehort die 2007 bei Bauarbeiten entdeckte, etwa 750 Jahre alte Mikwe. Die Kleine Synagoge liegt direkt an der Gera hinter dem Rathaus und wird seit 1993 als Kulturzentrum genutzt. Die Alte Synagoge gehort zusammen mit dem Steinernen Haus und der Mikwe seit dem 17. September 2023 zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Profane Bauwerke Erfurt besitzt einen der am besten erhaltenen und großten mittelalterlichen Stadtkerne Deutschlands. Ein bemerkenswertes Bauwerk ist die Kramerbrucke, die 1117 erstmals erwahnt und 1325 nach mehreren Branden aus Stein gebaut wurde. Das 120 m lange Bauwerk uberspannt die Gera und ist mit 32 Hausern bebaut. Damit ist die Kramerbrucke die langste komplett bebaute und bewohnte Brucke Europas. Einst befanden sich an beiden Zugangen Bruckenkopfkirchen, heute ist nur noch die Agidienkirche am Zugang Wenigemarkt erhalten.
Neben der Kramerbrucke waren im Mittelalter die Lehmannsbrucke, erstmals 1108 erwahnt und 1976 durch ein Spannbetonbauwerk ersetzt, die Schlosserbrucke und die Lange Brucke wichtige Brucken uber die Gera. Zu den altesten erhaltenen Natursteinbrucken der Stadt zahlt außerdem die Roßbrucke aus dem Jahr 1750.
Direkt neben dem Domplatz ragt der Petersberg empor, auf dem zwischen 1665 und 1707 die Zitadelle Petersberg errichtet wurde. Heute ist die Zitadelle die einzige weitgehend erhaltene barocke Stadtfestung Europas.
Auf dem Gelande des egaparks befindet sich die 1480 errichtete und im 17. Jahrhundert zur Zitadelle ausgebaute Cyriaksburg. Sie beherbergt heute das Deutsche Gartenbaumuseum und eine Aussichtsplattform auf einem der beiden Festungsturme.
Auf dem Fischmarkt, gelegen zwischen Anger und Domplatz, steht das Erfurter Rathaus. Der neogotische Bau wurde 1870 bis 1874 errichtet und in den 1930er Jahren erweitert. Er enthalt im Treppenaufgang zahlreiche Wandgemalde mit Szenen der Erfurter und Thuringer Geschichte. Gegenuber dem Rathaus steht die 1561 errichtete Statue eines romischen Kriegers, die den Stadtpatron Martin von Tours darstellen soll. Am Fischmarkt gibt es noch weitere sehenswerte Gebaude, so das 1562 erbaute Haus zum Roten Ochsen, das heute eine Kunstgalerie beheimatet. Links vom Rathaus steht das Haus zum Breiten Herd mit seiner reich verzierten Renaissance-Fassade. Rechts vom Rathaus findet sich das 1934/35 im Stil der Neuen Sachlichkeit errichtete Sparkassengebaude.
Weitere sehenswerte Bauwerke sind das Haus zum Guldenen Kronbacken, das Haus zum Sonneborn mit dem Standesamt, die Kurmainzische Statthalterei (heute Thuringer Staatskanzlei) und der Gebaudekomplex Engelsburg, Ursprung der Dunkelmannerbriefe. Das nahe Collegium Maius der alten Universitat in der Michaelisstraße wurde bis 2011 rekonstruiert und dient nun als Verwaltungssitz der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland.
Der Dachstuhl des Hauses Dacheroden am Anger brannte am 24. August 2006 vollstandig aus. Der Renaissancebau wurde danach fur 1,5 Millionen Euro saniert. Das Haus war im 18. und 19. Jahrhundert Treffpunkt fur Gelehrte, Schriftsteller und Kunstler. Goethe, Schiller, Dalberg und Wilhelm von Humboldt waren oft Gaste dieses Hauses. 1833 vereinigte der erfolgreiche Erfurter Unternehmer Sebastian Lucius die beiden Vorgangerbauten zum jetzigen „Haus Dacheroden“ und richtete dort sein Textilunternehmen ein. Am Anger 25 befindet sich ein Sparkassengebaude von 1930 im Stil der Neuen Sachlichkeit.
Das klassizistische Kultur- und Kongresszentrum Kaisersaal gehort als Statte von Napoleons Erfurter Furstenkongress 1808 und des Erfurter Parteitages der SPD 1891, mit zu den historisch bedeutsamsten Gebauden.
Im 1904 erbauten ehemaligen Hotel Erfurter Hof fand 1970 das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und Ministerratsvorsitzendem Willi Stoph statt. Das „Willy-Brandt-Zimmer“ erinnert an die spektakularen Ovationen der Erfurter fur Brandt.
Das 1912 erbaute Textilkontor wurde im Dezember 2014 abgerissen.
= Naherholungsgebiete und Parks =
Zoopark Erfurt Der Thuringer Zoopark Erfurt liegt im Norden von Erfurt am Roten Berg und stellt mit 63 ha den flachenmaßig drittgroßten zoologischen Garten in Deutschland dar. Der Zoopark bietet insbesondere großen Pflanzenfressern wie Elefanten, Giraffen und Nashornern ein Zuhause und beherbergt insgesamt etwa 1000 Tiere und 157 Arten. Der Zoopark wurde 1959 gegrundet.
Erfurter Gartenbauausstellung egapark Die Erfurter Gartenbauausstellung, der egapark, liegt am westlichen Stadtrand von Erfurt an der Zitadelle Cyriaksburg. 1961 fand auf dem Gelande die „I. Internationale Gartenbauausstellung (iga) sozialistischer Lander“ statt, die als iga verstetigt wurde. Das 36 Hektar große Areal steht unter Denkmalschutz und umfasst unter anderem das großte ornamental bepflanzte Blumenbeet Europas und den großten Spielplatz in Thuringen. Neben einem Rosengarten und einem Japanischen Garten gibt es im egapark zahlreiche Themenhauser, wie das Tropenhaus, das Schmetterlingshaus, das Kakteenhaus und das Orchideenhaus. Zudem befindet sich auf dem Gelande die Zitadelle Cyriaksburg, die unter anderem das Deutsche Gartenbaumuseum beherbergt. Der egapark ist außerdem Ort regelmaßiger Großveranstaltungen, wie dem Lichterfest im August und dem spatsommerlichen Biermarkt. Das deutschlandweit einzigartige Gartendenkmal der 1960er-Jahre wurde zur Bundesgartenschau 2021 saniert. Sie fand auf dem Petersberg, im Nordpark und im egapark statt.
Parkanlagen und Friedhofe Erfurt besitzt zahlreiche Parkanlagen, beispielsweise den Stadtpark in der Nahe des Hauptbahnhofes, den Sudpark neben dem Stadion und die großte Anlage, der romantische weitgehend naturbelassene Venedig-Park nordlich der Kramerbrucke, den Nordpark, in dem sich das Nordbad befindet, das nach Abriss und Neubau 2010 wieder eroffnet wurde. Ein weiterer Park ist der direkt an der Gera gelegene Luisenpark im Sudwesten Erfurts. Dort befindet sich auch, als terrassenformig angelegte Anlage, der botanisch-dendrologische Garten. Direkt neben der Altstadt liegt der 1,5 Hektar große Bruhler Garten. Der in sich abgeschlossene Garten steht unter Denkmalschutz und wurde 2001 neugestaltet. Im Suden der Stadt befindet sich der 700 Hektar große Steigerwald, der unter anderem 36 km Wanderwege bietet.
Ein Teil der Erfurter Parkanlagen ist aus Friedhofen hervorgegangen. Der heutige Erfurter Hauptfriedhof mit Gedenkstatten und Ehrengrabern hat ebenfalls parkartigen Charakter. Zahlreiche weitere Friedhofe gibt es in den Erfurter Ortsteilen, die fruher Dorfer waren.
= Regelmaßige Veranstaltungen =
Das seit 1975 jahrlich am dritten Wochenende im Juni stattfindende Kramerbruckenfest ist das großte Altstadtfest Thuringens und zieht regelmaßig eine sechsstellige Anzahl an Besuchern an. In der ganzen Altstadt werden Thuringer Kunsthandwerk und kulinarische Spezialitaten verkauft. Kleinkunst und ein Mittelaltermarkt runden das dreitagige Fest ab. Zeitgleich zum Kramerbruckenfest findet das New Orleans Music Festival statt, das auf der Buhne hinter dem Rathaus vom Jazz uber den Blues hin zum Boogie Woogie und Gospel die verschiedenen Musikstile aus New Orleans prasentiert.
Jahrlich am 10. November findet auf dem Domplatz das Okumenische Martinsfest statt, welches in der Stadt traditionell als Martini bezeichnet wird. Der Martinstag (Martini) wird in Erfurt einen Tag fruher begangen, da hier neben dem Todestag des Stadtheiligen Martin von Tours (11. November 397), auch der Geburtstag von Martin Luther (10. November 1483) gefeiert wird. Aus diesem Grund begehen die katholische und die evangelische Kirche das Fest gemeinsam. Am Abend der Festveranstaltung finden sich tausende Erfurter auf dem Domplatz ein, Kinder bringen Laternen mit, so dass der Domplatz hell erleuchtet ist. Nach der Festveranstaltung ist es in Erfurt ublich, dass die Kinder mit ihren Laternen singend von Haus zu Haus gehen und dafur Sußigkeiten erhalten.
Der Erfurter Weihnachtsmarkt findet jahrlich von Ende November bis 22. Dezember statt und wird dabei von rund zwei Millionen Menschen besucht, womit er zu den großten Weihnachtsmarkten in Deutschland zahlt. Er findet hauptsachlich auf dem Domplatz vor der Kulisse des beleuchteten Ensembles von Dom und Severikirche statt. Auf dem Anger, dem Willy-Brandt-Platz, dem Fischmarkt und dem Wenigemarkt gibt es kleinere Ableger des Weihnachtsmarktes.
Erfurt war in der DDR ab 1974 Austragungsort der Quadriennale des Kunsthandwerks sozialistischer Lander.
= Kulinarische Spezialitaten =
Die bekannteste kulinarische Spezialitat Erfurts ist die Thuringer Rostbratwurst. In der Innenstadt werden an mehreren Standen taglich Rostbratwurste verkauft, die traditionell mit Senf gegessen werden. Weitere Spezialitaten sind die Thuringer Leberwurst und Rotwurst, die bei verschiedenen Erfurter Fleischern angeboten werden. Die Bezeichnungen aller drei Wurstprodukte sind als geografische Herkunftsbezeichnung (g. g. A.) geschutzt. Des Weiteren gehoren Salate und Suppen basierend auf Puffbohnen und Brunnenkresse zu typischen Vorspeisen der Erfurter Kuche und zeugen von der langen Gartenbautradition der Stadt.
Weitere Spezialitaten sind die Martinsgans zusammen mit Thuringer Kloßen und Rotkohl sowie das Martinshornchen, eine suße Blatterteigtasche, die traditionell zum Martinstag am 10. November gegessen werden. Außerdem wird in der Adventszeit das Erfurter Schittchen, ein Weihnachtsstollen, gebacken. Das Geback wurde 1329 erstmals urkundlich erwahnt und gilt als altester Christstollen Deutschlands.
= Musik und Nachtleben =
Im 17. und 18. Jahrhundert wirkten in Erfurt zahlreiche Mitglieder der Familie Bach, die seit den 1630er Jahren uber ein ganzes Jahrhundert das musikalische Leben der Stadt derart beherrschten, dass noch 1793 alle Erfurter Stadtpfeifer „Bache“ genannt wurden, obwohl damals langst kein Musiker dieses Namens mehr in Erfurt lebte. Von 1678 bis 1690 war Johann Pachelbel als Organist an der Predigerkirche angestellt. Bedeutendste Figur des Musiklebens der Stadt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war Richard Wetz, der zwischen 1906 und 1925 den Erfurter Musikverein leitete und dessen kompositorische Hauptwerke hier entstanden. Unter den Musikern der Nachkriegszeit ist besonders Johann Cilensek zu nennen, der ebenfalls den Großteil seiner Werke in Erfurt komponierte.
Heute hat Erfurt eine lebhafte Musikszene, fast an jedem Wochenende gibt es Livekonzerte. Große Veranstaltungen finden in der Messehalle oder der Thuringenhalle statt. Fur kleinere Konzerte stehen das Haus der sozialen Dienste (im Volksmund Gewerkschaftshaus), der Stadtgarten, die Alte Oper und der Museumskeller zur Verfugung. Im Erfurter Jazzclub am Fischmarkt finden außerdem an vielen Wochenenden Jazzkonzerte statt. Außerdem veranstalten das zum Theater Erfurt gehorende Philharmonische Orchester Erfurt und die Stadtharmonie Erfurt regelmaßig Konzerte.
In der Predigerkirche findet im Sommerhalbjahr jeden Mittwoch ein Konzert an der Schuke-Orgel statt. Im Dom St. Marien finden samstags von Mai bis August die „Internationalen Orgelkonzerte Dom zu Erfurt“ statt, die etwa ab Ende Juli an der barocken Volckland-Orgel der Cruciskirche fortgefuhrt werden. In Zusammenarbeit mit der Hochschule fur Musik „Franz Liszt“ in Weimar wird seit 2008 alle drei Jahre der „Internationale Bach/Liszt-Orgelwettbewerb Erfurt-Weimar-Merseburg“ veranstaltet, der aus dem „Internationalen Orgelwettbewerb zu Erfurt Domberg-Prediger“ hervorgegangen ist. Die Stadt Erfurt bleibt jedoch der wichtigste Austragungsort dieses Wettbewerbes. Außerdem stehen auf dem Programm der Kirchenmusik beispielsweise Nachtkonzerte im Augustinerkloster und Auffuhrungen großer Oratorien durch Augustinerkantorei und Andreas Kammerorchester sowie durch den Dombergchor in Zusammenarbeit mit verschiedenen Orchestern, oft mit dem Thuringischen Kammerorchester Weimar. Die Erfurter Kirchenmusiktage im September sind eine okumenische Konzertreihe, die im Wesentlichen auf dem Domberg (kath.) sowie in der Predigerkirche (ev.) und dem Augustinerkloster (ev.) stattfindet.
Des Weiteren gehort Erfurt zu den Austragungsorten der Jazzmeile Thuringen. Außerdem fand zwischen 1997 und 2009 einmal im Jahr am nahegelegenen Stausee Hohenfelden das Highfield-Festival, eines der großten Rock- und Alternative-Festivals Deutschlands, statt. Am letzten Schultag vor den Sommerferien fand in Erfurt von 1999 bis 2012 jedes Jahr das Festival Mega Rock in die Ferien statt, das mit bekannten Popmusik-Acts das junge Publikum ansprach. Erfurt ist auch die Heimat verschiedener Sanger und Bands, etwa Clueso, Northern Lite, Chapeau Claque, Boogie Pimps, Norman Sinn, Ryo oder Yvonne Catterfeld.
Das Erfurter Nachtleben bietet neben Livemusik auch ein breites Spektrum an Clubs und Diskotheken. Eine klassische Großraumdiskothek ist der Musikpark im Erfurter Hof, der sich an alle Mainstream-Genres und Altersklassen richtet. In der historischen Hauptpost am Anger befindet sich das Cosmopolar mit Schwerpunkt auf House- und Electro-Musik. Zu den altesten Diskotheken gehort der Presseklub am Karl-Marx-Platz mit wechselnden Veranstaltungen. Die Engelsburg ist ein Studentenclub in der Altstadt.
= Veranstaltungsorte =
Die Stadt Erfurt verfugt uber mehrere Veranstaltungsorte fur Großveranstaltungen. Dazu gehort die sudlich gelegene Thuringenhalle, das Messegelande im Westen der Stadt sowie fur Open-Air-Veranstaltungen der Domplatz mit den Domstufen in der Altstadt. Außerdem existiert das Steigerwaldstadion im Suden Erfurts, das bis Anfang 2017 zur multifunktionalen Veranstaltungsstatte ausgebaut wurde.
= Sport =
In Erfurt befinden sich zahlreiche Sportanlagen, auf denen nationale und internationale Wettkampfe stattfinden. Außerdem sind in der Stadt mehrere uberregional aktive Vereine beheimatet. Zahlreiche Olympiasieger, Welt- und Europameister sowie Weltrekordler hatten ihre sportliche Heimat ebenfalls in Erfurt.
Eissport Erfurt ist eine Hochburg des Eissports. Besonders erfolgreich sind die Erfurter Eisschnelllauferinnen, die stets zur Weltspitze gehorten. Insbesondere sind hier Gunda Niemann-Stirnemann, Heike Warnicke, Franziska Schenk, Sabine Volker, Daniela Anschutz-Thoms und Stephanie Beckert zu nennen.
Im Eiskunstlauf war der Erfurter Stefan Lindemann international erfolgreich. Außerdem waren in Erfurt seit Jahrzehnten Eishockeymannschaften beheimatet. Die aktuell erfolgreichste Mannschaft, die Black Dragons Erfurt, spielen seit der Saison 2010/11 in der Oberliga und sind aktuell seit der Saison 2015/16 in der Oberliga Nord eingegliedert.
Im Jahr 2001 wurde die Gunda-Niemann-Stirnemann-Halle fertiggestellt. Sie besitzt eine 400-m-Eisbahn und ist sowohl fur den Leistungssport, als auch als Freizeitanlage nutzbar. In der Halle, die fur 4000 Zuschauer Platz bietet, fanden unter anderem die deutschen Meisterschaften, Weltcuprennen, sowie die Europameisterschaft im Eisschnelllauf statt.
Fußball Der 1895 gegrundete SC Erfurt war einer der ersten Fußballvereine Thuringens und Grundungsmitglied des DFB. Zwischen 1903 und 1910 war der Verein der fuhrende Club im Thuringer Raum und gewann in diesen Jahren regelmaßig die Meisterschaft der Gauliga Nordthuringen im Verband Mitteldeutscher Ballspiel-Vereine (VMBV). Großter Erfolg des SC ist das Erreichen des Halbfinals der Deutschen Fußballmeisterschaft 1908/09. Wie auch die Stadtrivalen VfB Erfurt und SpVgg Erfurt wurde der SC 1945 aufgelost.
Der heute bedeutendste Fußballverein der Stadt ist der FC Rot-Weiß Erfurt, der in der Saison 2024/25 in der Regionalliga-Nordost spielt. Zu DDR-Zeiten spielte Rot-Weiß Erfurt fast immer erstklassig und gewann 1954 und 1955, noch als SC Turbine Erfurt, die DDR-Meisterschaft. Der Verein nahm 1991 am UEFA-Pokal teil und spielte 1991/92 sowie 2004/05 in der 2. Bundesliga. Die Heimspiele tragt der Club im großten Stadion der Stadt, dem Steigerwaldstadion aus, das Platz fur 18.599 Zuschauer bietet und von 2015 bis 2017 fur uber 41 Millionen Euro umfassend saniert und zu einer multifunktionalen Veranstaltungsstatte umgebaut wurde. In der letzten Zweitligasaison besuchten durchschnittlich rund 12.000 Zuschauer die Spiele des Vereins.
Auf Stadtebene ist die Kreisoberliga gemeinsam mit dem Kreis Sommerda die hochste Spielklasse. Der Meister steigt direkt in die Landesklasse auf. Unter der Kreisoberliga sind die Kreisliga Nord, sowie die ersten und zweiten Kreisklassen eingereiht.
Erfurt war 2001 einer der funf Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft der Frauen. Zudem war Erfurt auch einer der zwolf mitteldeutschen Austragungsorte der U-17-EM 2009. Erfurt ist Sitz des Thuringer Fußball-Verbandes.
Radsport Erfurt ist außerdem eine Hochburg im deutschen Radsport und besitzt im Andreasried eine Radrennbahn. Die 1925 eroffnete Bahn gilt als die alteste heute noch genutzte Radrennbahn der Welt. Nach dem letzten Umbau im Jahr 2009 hat die Bahn eine Lange von 250 m, bietet Platz fur rund 4000 Zuschauer und ist komplett uberdacht. Im Dezember 2009 wurde die Radrennbahn mit der Silbernen Plakette ausgezeichnet, der hochsten Auszeichnung fur Sportanlagen durch das Internationale Olympische Komitee und die Internationale Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtungen. Damit ist die Bahn eine von weltweit 28 herausragenden Sportstatten, die diese Auszeichnung bekam.
Bei den Olympischen Spielen 2004 gewann der Erfurter Bahnradsportler Rene Wolff die Goldmedaille. Bei der Tour de France 2005 standen mit Daniel Becke, Sebastian Lang und Stephan Schreck drei Erfurter Radsportler am Start. Erfurt ist zudem Zielort des traditionsreichen Radrennens Rund um die Hainleite, das 1907 erstmals ausgetragen wurde und jahrlich deutsche und internationale Spitzenfahrer anzieht.
Leichtathletik Große Erfolge der Erfurter Sports verkorperte in der DDR der SC Turbine Erfurt, dessen Sektion Leichtathletik zahlreiche Spitzenathleten, Olympiateilnehmer, Europameister und Weltrekordler hervorbrachte (Manfred Matuschewski, Jurgen May, Siegfried Herrmann, Klaus Richtzenhain, Dieter Fromm). Bei den Olympischen Spielen in Montreal 1976 wurde Johanna Klier Olympiasiegerin uber 100 m Hurden, Sigrun Siegl und Christine Laser gewannen Gold und Silber im Funfkampf. Volker Beck errang bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau uber 400 m Hurden die Goldmedaille, Johanna Klier uber die 100 m Hurden Silber.
Den großten Erfolg nach der Wiedervereinigung errang der in Erfurt trainierende Nils Schumann im Jahre 2000 mit dem Olympiasieg uber 800 m in Sydney.
Mit dem Erfurter LAC, dem Laufclub Erfurt und dem ASV Erfurt hat die Stadt heute drei Vereine, die zu den besten 50 Leichtathletikklubs Deutschlands gehoren. In der Vereinsrangliste des Deutschen Leichtathletik-Verbandes rangiert der LAC 2007 auf Rang elf. Alle drei Vereine zusammen wurden deutschlandweit lediglich von Bayer 04 Leverkusen geschlagen.
Im Steigerwaldstadion fanden 1994, 1999, 2007 und im Juli 2017 die deutschen Leichtathletik-Meisterschaften sowie 2005 die Leichtathletik-U23-Europameisterschaften statt.
Erfurt war Heimat und Trainingsstatte zahlreicher erfolgreicher Leichtathleten; unter anderem trainierten hier die Olympiasieger Johanna Klier, Heike Drechsler, Silke Renk, Sigrun Siegl, Hartwig Gauder und Nils Schumann.
Schwimmsport Mit der Erfurterin Jutta Langenau stellte Erfurt die erste Europameisterin der DDR im Schwimmen. Uber 100 m Schmetterling errang sie diesen Titel in Weltrekordzeit 1954 in Turin.
Der in den 60er- und 70er-Jahren bekannteste Erfurter Schwimmer war der vierfache Olympiasieger, mehrfache Welt- und Europameister und Weltrekordler (21×) uber die Ruckenstrecken Roland Matthes. In dieser Zeit wurde er insgesamt siebenmal Sportler des Jahres der DDR. Er gilt noch heute als der bislang erfolgreichste Ruckenschwimmer.
Handball Der Thuringer Handball Club Erfurt/Bad Langensalza spielt seit 2005 in der Handball-Bundesliga der Frauen, in der der Verein in der Saison 2010/11 mit dem Gewinn der deutschen Meisterschaft sowie des DHB-Pokals im Frauenhandball Erfolge verzeichnete. Seine Heimspiele tragt der Verein in Bad Langensalza und der Erfurter Riethsporthalle aus. Entstanden ist der Verein 1996 aus einer Fusion des HC Erfurt und dem SV Empor Bad Langensalza.
Bei den Mannern ist die Landeshauptstadt durch den HSC Erfurt vertreten. Zum 1. Januar 2004 losten sich die Handballer aus dem SSV Erfurt Nord heraus und bildeten den eigenstandigen Verein HSC Erfurt. 2006 kam es zur Bildung einer Spielgemeinschaft mit dem THC Erfurt/Bad Langensalza, die 2008 wieder aufgelost wurde. In der Saison 2010/11 belegte der HSC den 1. Platz in der Thuringenliga und spielt ab der Saison 2011/12 in der Mitteldeutschen Oberliga.
Bergsport In Erfurt sind zwei Sektion des Deutschen Alpenvereins ansassig, die Sektion Thuringer Bergsteigerbund und die Sektion Erfurt Alpin. Die Sektion Erfurt Alpin gehort mit uber 2100 Mitgliedern zu den mitgliederstarksten Vereinen in Erfurt. Im Norden von Erfurt befindet sich die Kletter- und Boulderhalle „Nordwand“ mit ein Sportflache von uber 1500 m². Im Kressepark befindet sich die Boulderhalle „Blockpark“. Im Jugendbereich nehmen Athleten aus Erfurt teils an nationalen Wettkampfen teil.
Tennis Der Erfurter TC Rot-Weiß wurde 2005 Meister der 2. Bundesliga Nord im Tennis. Die Anlage des Vereins mit sechs Sandplatzen befindet sich in der Martin-Andersen-Nexo-Straße.
Volleyball Das SWE Volley-Team Erfurt spielte in der Saison 2010/11 in der Frauen-Volleyball-Bundesliga und in den folgenden vier Jahren in der Zweiten Bundesliga Sud. Seit dem Aufstieg 2016 tritt das Team wieder in der Bundesliga an.
Inklusion 2021 bewarb sich die Stadt als Host Town fur die Gestaltung eines viertagigen Programms fur eine internationale Delegation der Special Olympics World Summer Games 2023 in Berlin. 2022 wurde sie als Gastgeberin fur Special Olympics Monaco ausgewahlt. Damit wurde sie Teil des großten kommunalen Inklusionsprojekts in der Geschichte der Bundesrepublik mit mehr als 200 Host Towns.
= Schutzgebiete =
Im Stadtgebiet befinden sich drei ausgewiesene Naturschutzgebiete (Stand Januar 2017).
Wirtschaft und Infrastruktur Im Zukunftsatlas 2016 belegte die kreisfreie Stadt Erfurt Platz 177 von 402 Landkreisen, Kommunalverbanden und kreisfreien Stadten in Deutschland und zahlt damit zu den Regionen mit „ausgeglichenem Chancen-Risiko Mix“ fur die Zukunft.
Im Jahre 2016 erbrachte Erfurt, innerhalb der Stadtgrenzen, ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 8,063 Milliarden € und belegte damit Platz 44 innerhalb der Rangliste der deutschen Stadte nach Wirtschaftsleistung. Der Anteil an Thuringens Wirtschaftsleistung betrug 13,5 %. Das BIP pro Kopf lag im selben Jahr bei 38.284 € (Thuringen: 27.674 € / Deutschland 38.180 €) und damit uber dem regionalen und nationalen Durchschnitt.
= Arbeitsmarkt =
Zum 30. Juni 2017 gab es in Erfurt 109.414 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplatze und 82.419 Einwohner der Stadt waren sozialversicherungspflichtig beschaftigt. Daraus ergibt sich ein Einpendleruberschuss von 26.995 Personen, was hinter Dresden und Leipzig den dritthochsten Wert in den neuen Bundeslandern darstellt und die Wichtigkeit Erfurts als Arbeitsstandort fur ganz Thuringen unterstreicht. Dabei standen 49.586 Einpendlern 22.696 Auspendler gegenuber, wobei 27.033 aus Mittelthuringen, 14.163 aus den ubrigen Thuringer Regionen und 8.390 sozialversicherungspflichtig Beschaftigte aus anderen Bundeslandern und dem Ausland in Erfurt arbeiteten. Demgegenuber hatten 11.579 Erfurter ihren Arbeitsplatz in den anderen Kreisen Mittelthuringens, 3.906 im ubrigen Bundesland und 7.211 in einem anderen Bundesland. Der durchschnittliche Bruttostundenlohn betrug im Jahr 2011 16,97 Euro, das liegt im Landesdurchschnitt und 24 % unterhalb des Bundesdurchschnitts (2005 betrug der Abstand 26 %). Die Arbeitslosenquote betrug im April 2024 6,6 %, was etwa 0,6 Prozentpunkte uber dem Bundesdurchschnitt liegt. Auf Leistungen zur Erganzung des Lebensunterhalts nach SGB II („Hartz IV“) waren im September 2016 21.348 Personen, das sind etwa 10,14 % der 210.504 Einwohner (Hauptwohnsitzer), angewiesen. Durch den Aufschwung seit etwa 2005 hat sich die Arbeitsmarktsituation insgesamt verbessert.
= Unternehmen =
Erfurt war vor der Wende ein bedeutender Industriestandort, jedoch mussten nach 1990 viele alte Betriebe, wie das Optima Buromaschinenwerk Erfurt, schließen. Dieser Strukturwandel brachte das Ende alter Unternehmen und die Grundung neuer Firmen mit sich. Das wirtschaftliche Profil der Stadt wandelte sich vom Industriestandort zum Dienstleistungszentrum.
Eines der traditionsreichen Unternehmen ist die heutige Maschinenbaufirma Andritz Schuler Pressen GmbH, deren Werk in Erfurt aus dem ehemaligen Zweigwerk der Berlin-Erfurter Maschinenfabrik Henry Pels & Co. an der Schwerborner Straße, 1902 von Henry Pels gegrundet, hervorgegangen ist. Anfangs produzierte der Betrieb Scheren, Lochstanzen und kombinierte Maschinen, spater auch Pressen. Im Dritten Reich wurde das Werk 1936 als judisches Eigentum zwangsweise an die Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG von Gunther Quandt verkauft. Bis 1939 wuchs die Belegschaft auf 1000 Beschaftigte an. 1946 wurde sie in eine Sowjetische Aktiengesellschaft umgewandelt. Ab 1953 hieß der Betrieb „VEB Pressen- und Scherenbau Henry Pels“. 1970 entstand daraus das „Kombinat Umformtechnik“, eine Zusammenfassung von 19 Betrieben des Umformmaschinenbaus. Das Werk in Erfurt war 1985 mit 5500 Mitarbeitern einer der großen Arbeitgeber Erfurts. 1990 wurde daraus die Treuhandfirma Umformtechnik GmbH. 1994 erhielt diese einen neuen Besitzer, den Skoda-Konzern aus Pilsen. 2001 ubernahm die Muller Weingarten AG die Firma, die spater im Schuler-Konzern aufging. Zurzeit hat das Werk ungefahr 500 Mitarbeiter und ist im Pressenbau fur die Automobilindustrie tatig.
Zu erwahnen ist außerdem das 1936 von der Telefunken GmbH gegrundete Werk fur Sender- und Empfangerrohren. Nach der Verstaatlichung hieß es VEB Funkwerk Erfurt und baute weiterhin Rundfunkrohren und Messtechnik. 1978 ging es im Kombinat VEB Mikroelektronik „Karl Marx“ auf und begann mit der Produktion von Halbleitern. 1989 hatte das Werk 8700 Mitarbeiter. 1992 wurde aus dem VEB unter anderem die Thesys Gesellschaft fur Mikroelektronik mbH gegrundet, die heute als X-FAB Semiconductor Foundries GmbH in Erfurt-Windischholzhausen mit etwa 600 Mitarbeitern Halbleiterprodukte produziert. Das Industriegebiet am Urbicher Kreuz ist in den 2010er Jahren kontinuierlich gewachsen. Neben X-FAB entstanden hier das Reha-Zentrum Sportklinik Erfurt und weitere Unternehmen.
Auch die Fabrik der Condomi AG fur die Produktion von Kondomen beruht auf einer alteingesessenen Erfurter Firma, der Gummiwarenfabrik Richter & Kaufer, die schon 1929 Latexprodukte produzierte. Nach dem Krieg wurde das Unternehmen unter dem Namen VEB Plastina verstaatlicht. Die Produktpalette umfasste damals neben Kondomen auch Badekappen und Babysauger. 2005 wurde die Condomi AG von ihrer polnischen Tochterfirma Unimil ubernommen. Derzeit gehort die Erfurter Produktionsgesellschaft zum Ansell-Konzern.
Die Erfurter Malzwerke am Nordbahnhof grunden auf einer der großten und altesten Malzfabriken Deutschlands, der 1869 gegrundeten Malzfabrik Wolff. Seit 1993 ist Getreide AG Rendsburg neuer Eigentumer.
Die Braugold Brauerei in der Schillerstraße hatte ihre Wurzeln in den Erfurter Brauereien Buchner und Baumann, die 1920 mit der Riebeck Brauerei aus Leipzig zur Riebeck Brauerei Erfurt fusionierten. Diese wurde 1948 als VEB verstaatlicht und produzierte ab 1956 Bier mit dem neuen Markennamen „Braugold“. 1969 wurde die Braugold Brauerei Stammbetrieb des VEB Getrankekombinat Erfurt. Seit 1990 hatte die Braugold-Brauerei wechselnde Eigentumer. Der Braubetrieb wurde im Jahr 2010 eingestellt.
Seinen Ruf als Blumenstadt hat Erfurt unter anderem der seit 1867 ansassigen Firma N.L. Chrestensen zu verdanken. Neben Blumen- und Gemusesamen, gehoren auch Blumenzwiebeln und Samen fur Heil- und Gewurzkrauter zu den Produkten des Unternehmens, welches Gartner und Handelspartner in der ganzen Welt beliefert.
Das großte Energiedienstleistungsunternehmen Thuringens ist die Thuringer Energie AG, die in Thuringen uber 1500 Mitarbeiter beschaftigt.
Die Bosch Solar Energy AG (vormals ErSol Solarstrom GmbH & Co. KG) wurde 1997 in Erfurt gegrundet und betrieb Standorte fur die Wafer- und Solarzellenfertigung in Erfurt sowie in Arnstadt. Bis zur Schließung der beiden Standorte hatte Bosch Solar 1800 Mitarbeiter und erwirtschaftete einen Jahresumsatz von 439 Millionen Euro (Geschaftsjahr 2012). Nachdem Bosch die Solarsparte eingestellt hatte, ubernahm im Marz 2014 die Solarworld AG das Werkgelande in Arnstadt und wurde nach deren Insolvenz an den chinesischen Batteriehersteller CATL weiterveraußert. CATL will bis 2025 rund 1,8 Milliarden Euro investieren, um auf einem 70 Hektar großen Gelande am Autobahnkreuz Erfurt ein Werk fur Lithium-Ionen-Batterien zu errichten. Langfristig sollen hierdurch 2000 Arbeitsplatze geschaffen werden. Mit dem Bau dieses zweiten Standorts wurde im Oktober 2019 begonnen. Der Produktionsstart war ursprunglich fur Ende 2020 geplant.
Erfurt weist eine hohe Dichte an Medienunternehmen (KiKA, MDR Thuringen,) auf sowie mehrere IT-Dienstleister, wie zum Beispiel Computacenter, IBM Deutschland Customer Support Services, T-Systems und DB Systel.
Mit 251 Beschaftigten ist die Milchwerke Thuringen GmbH, die zum Deutschen Milchkontor gehort, einer der großten Arbeitgeber in Erfurt. Neben Trinkmilch gehoren Kase, Sahne, Joghurt, Quark und Desserts zum Produktionsprogramm. In den neuen Bundeslandern werden die Erzeugnisse unter dem Markennamen Osterland vertrieben, in den westlichen Bundeslandern firmieren die Produkte unter dem Namen Ravensberger.
Mit der GeAT AG hat das großte Thuringer Unternehmen fur Leiharbeit seinen Sitz in Erfurt.
Das Gelande der Messe Erfurt befindet sich am Stadtrand in unmittelbarer Nachbarschaft zum MDR Landesfunkhaus Thuringen und zum egapark, es umfasst neben einer Mehrzweckhalle zwei Messehallen und ein Congress Center. Die Messe wird neben Ausstellungen, Tagungen und Kongressen auch fur Konzert-, TV- und Sportereignisse genutzt. Die Mehrzweckhalle hat ein Fassungsvermogen von bis zu 12.000 Zuschauern. Im September 2020 wurde mit dem Neubau eines Hotels begonnen, welches 2022 unter der Marke Legere eroffnet wurde.
Die Landesbank Hessen-Thuringen (Helaba) hat einen ihrer beiden Hauptsitze in Erfurt und beschaftigt dort uber 200 Mitarbeiter. Erfurt ist auch Sitz der Thuringer Aufbaubank. Daneben haben als regionale Kreditinstitute die Sparkasse Mittelthuringen sowie die Erfurter Bank eG ihren Sitz in der Stadt.
Die Siemens AG betreibt in Erfurt ein Generatorenwerk mit ca. 800 Beschaftigten (Stand: 2015). Das Werk geht auf eine Grundung als Reparaturabteilung der Thuringenwerk AG im Jahr 1945 zuruck.
= Regionalkooperation =
Seit 1999 gibt es Bemuhungen um eine Kooperation der Stadte Erfurt, Weimar und Jena mit dem Ziel einer abgestimmten Wirtschaftsforderung und Tourismusvermarktung unter der Marke „Die ImPuls-Region“. Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sind z. B. der 2006 bei den offentlichen Verkehrsmitteln eingefuhrte Verbundtarif Mittelthuringen und das touristische Themenjahr bauhaus 2009.
= Verkehrsanbindung =
Schienenverkehr Erfurt erhielt im Jahr 1847 einen Anschluss an die Thuringer Bahn von Halle (Saale) und Leipzig nach Bebra. Weitere Strecken fuhren nach Sangerhausen, Nordhausen, Kassel, Wurzburg, Ilmenau und Saalfeld.
Von 1882 bis Ende 1993 war Erfurt Sitz einer Eisenbahndirektion, anfangs der Koniglichen Eisenbahndirektion und ab 1920 der Reichsbahndirektion Erfurt. Heute ist die Stadt noch Sitz einer Außenstelle des Eisenbahn-Bundesamtes sowie Sitz der DB-Regio-AG-Verkehrsbetrieb Thuringen.
Im Erfurter Hauptbahnhof halten Fernzuge der ICE-Linie 50 (Dresden – Erfurt – Wiesbaden) und der ICE-Sprinter-Linie 15 (Frankfurt – Erfurt – Berlin). Zudem verkehren drei Zugpaare der Intercity-Linie 51 (Koln/Dusseldorf – Erfurt – Jena – Gera). Die ICE-Zuge verkehren nahezu ausnahmslos uber die Neubaustrecke Erfurt – Leipzig/Halle (Saale) (VDE 8.2). Mit Inbetriebnahme der Neubaustrecke Erfurt – Ebensfeld (VDE 8.1) am 10. Dezember 2017 wurde der Erfurter Hauptbahnhof zu einem wichtigen ICE-Drehkreuz im innerdeutschen Bahnverkehr. Es verkehren nun zusatzlich folgende Fernverkehrslinien: ICE-Linie 18 (Munchen – Erfurt – Halle (Saale) – Berlin – Hamburg), ICE-Linie 28 (Munchen – Erfurt – Leipzig – Berlin – Hamburg), ICE-Sprinter-Linie 29 (Munchen – Erfurt – Berlin) und ICE-Linie 11 (Munchen – Stuttgart – Frankfurt – Erfurt – Berlin). Es bestehen somit umsteigefreie Fernverbindungen in folgende nationale und internationale Großstadte: Basel, Berlin, Bochum, Dresden, Dortmund, Duisburg, Dusseldorf, Essen, Frankfurt am Main, Graz, Halle (Saale), Hamburg, Heidelberg, Karlsruhe, Koln, Leipzig, Linz, Mainz, Mannheim, Munchen, Nurnberg, Salzburg, Stuttgart, Wien und Wiesbaden.
Im Regionalverkehr bestehen Regional-Express-Verbindungen in Richtung Sommerda – Sangerhausen – Magdeburg, Jena – Gera – Altenburg / Glauchau, Gotha – Muhlhausen – Leinefelde – Gottingen, Muhlhausen – Leinefelde – Kassel, Arnstadt – Suhl – Schweinfurt – Wurzburg, Arnstadt – Grimmenthal – Meiningen, Arnstadt – Saalfeld/Saale und Straußfurt – Sondershausen – Nordhausen. Neben der wichtigen Verbindung Eisenach – Gotha – Erfurt – Weimar – Apolda – Naumburg (Saale) – Weißenfels – Halle (Saale) fahren Regionalbahnen nach Sommerda – Sangerhausen und Straußfurt – Nordhausen. Die beiden Linien uber Arnstadt nach Ilmenau sowie Meiningen werden von der Sud-Thuringen-Bahn, einer Tochtergesellschaft der Erfurter Bahn (EB) und der Hessischen Landesbahn (HLB), betrieben.
Weitere Personenbahnhofe an der Thuringer Bahn haben die Stadtteile Vieselbach und Bischleben. An der Strecke nach Nordhausen besteht der Bahnhof Erfurt Nord sowie Stationen in Kuhnhausen und Gispersleben, nach Sangerhausen halten Personenzuge in Erfurt Ost und Stotternheim. Außerdem gab es die Kleinbahn Erfurt–Nottleben mit weiteren sieben Stationen im Erfurter Stadtgebiet, auf der 1967 der Personenverkehr eingestellt wurde. Von 1976 bis 1995 wurde auf dem 8,6 km langen Abschnitt von Erfurt Berliner Straße bis zum Hauptbahnhof eine S-Bahn-Linie betrieben. Der Nordhauser und der Sangerhauser Bahnhof als Endpunkte jener Strecken sind heute nicht mehr vorhanden. So sind heute acht der 17 Erfurter Bahnhofe in Betrieb.
Straßenverkehr Erfurt hat Anschluss an die Bundesautobahnen A 4 (nach Frankfurt am Main im Westen und Dresden im Osten) und A 71 (nach Schweinfurt im Suden und Sangerhausen im Norden), die sich am Erfurter Kreuz im Sudwesten der Stadt treffen. Gemeinsam mit der Osttangente umschließen beide Autobahnen die Stadt und bilden den Erfurter Ring. Innerhalb des Rings sind die Bundesstraßen aufgehoben worden. Die Bundesstraße B 7 verbindet Erfurt außerhalb mit Gotha im Westen und Weimar im Osten. Die B 4 fuhrt nurmehr nach Nordhausen im Norden, wahrend sie in sudlicher Richtung durch die Autobahnen A 71 und A 73 ersetzt wurde. Weitere wichtige Straßenverbindungen sind die am Andislebener Kreuz abzweigende Bundesstraße 176 in Richtung Muhlhausen/Gottingen sowie die Landesstraßen nach Buttelstedt (entlang der historischen Via Regia) im Nordosten, Kranichfeld im Sudosten und Arnstadt im Suden (ehemalige B 4).
Als Schnellstraße ist die Hannoversche Straße ausgebaut, die am Binderslebener Knie am Innenstadtrand beginnt und nach 14 Kilometern am Andislebener Kreuz endet. Weitere wichtige Straßen des innerstadtischen Verkehrs sind der Erfurter Stadtring und der Juri-Gagarin-Ring, die den Verlaufen der ehemaligen außeren bzw. inneren Stadtmauer folgen und um 1900 angelegt wurden, und die Nordquerverbindung zwischen Hannoverscher Straße im Westen und Osttangente im Osten. Die wichtigsten Radialstraßen sind (im Uhrzeigersinn) die Magdeburger Allee, die Eugen-Richter-Straße, die Leipziger Straße, die Weimarische Straße, die Clara-Zetkin-Straße, die Arnstadter Straße, die Gothaer Straße, die Binderslebener Landstraße, die Hannoversche Straße und die Nordhauser Straße.
Offentlicher Personennahverkehr Der Offentliche Personennahverkehr wird von den Erfurter Verkehrsbetrieben (EVAG), einem Eigenbetrieb der Stadtwerke, durchgefuhrt. Die 1883 als Pferdebahn eroffnete und zwischen 1997 und 2007 erheblich ausgebaute Straßenbahn deckt dabei einen Großteil des Beforderungsbedarfs ab, da das 87,2 km lange Netz nahezu alle stadtischen Quartiere erschließt. Auf den sechs Linien kommen heute ausschließlich Niederflurbahnen (Typ Combino und MGT6D) zum Einsatz, die zwischen 6 und 18 Uhr im Zehnminutentakt verkehren.
Neben dem Straßenbahnnetz (in der Eigendarstellung der Stadtwerke als Stadtbahn bezeichnet) besteht ein Stadtbusnetz aus 24 Linien. Die Linie 9 verkehrt ebenfalls im Zehnminutentakt, da sie die von der Stadtbahn wenig erschlossenen Quartiere Johannesplatz und Daberstedt anbindet. Die anderen Stadtbuslinien haben meist eine Zubringerfunktion und binden die eingemeindeten Vororte an die Straßenbahn an. Sie verkehren entsprechend seltener.
Zusatzliche Regionalbuslinien werden sowohl von der EVAG als auch von zahlreichen weiteren Busunternehmen betrieben. Sie fuhren meist zum Busbahnhof, welcher sich direkt neben dem Hauptbahnhof befindet.
Im Abendnetz zwischen 20:00 und 01:00 Uhr verkehren die Straßenbahnlinien alle 20 Minuten und treffen am Anger aufeinander, um Anschlusse ohne Wartezeiten in alle Richtungen anbieten zu konnen. In der Nacht (zwischen 01:00 und 04:00 Uhr) wird lediglich am Wochenende ein (eingeschrankter) Straßenbahnverkehr angeboten, ebenfalls mit Treffpunkt am Anger.
Insgesamt beforderten die Bahnen und Busse der EVAG im Jahr 2015 knapp 48,3 Millionen Fahrgaste. Andere Verkehrsmittel wie etwa die Eisenbahn spielen in Erfurt fur den innerstadtischen OPNV nur eine untergeordnete Rolle. Nicht mehr in Betrieb sind der Oberleitungsbus Erfurt und die S-Bahn Erfurt.
2008 wurden etwa 23,8 % aller Wege in Erfurt mit offentlichen Verkehrsmitteln zuruckgelegt, was unter den deutschen Großstadten einen Spitzenplatz bedeutet. Ein Grund dafur ist zum einen das gut ausgebaute Netz, zum anderen auch die vergleichsweise kompakte Siedlungsstruktur Erfurts, die eine hohe Flachendeckung ermoglicht, sowie die hugelige Topografie und das schlecht ausgebaute Radwegenetz, die den Anteil des Fahrradverkehrs im Vergleich zu anderen Großstadten niedrig halten.
Flugverkehr Der erste Flugplatz wurde 1924 am Roten Berg im Norden von Erfurt eroffnet. Wie zur damaligen Zeit ublich, verfugte er uber eine 730 Meter lange Graspiste und es wurden unter anderem regelmaßige Verbindungen nach Berlin, Frankfurt und Munchen durchgefuhrt. Der zivile Luftverkehr endete durch den Zweiten Weltkrieg, da die Luftwaffe der Wehrmacht dort eine Fliegerhorstkommandantur errichtete. In der Nachkriegszeit wurde der Flugplatz nur noch durch Sportflieger genutzt, bevor in den 1970er Jahren das Gelande mit der Plattenbausiedlung Roter Berg uberbaut wurde.
Der heutige Flughafen Erfurt-Weimar befindet sich im Stadtteil Bindersleben und wird seit 1956 fur die zivile Luftfahrt genutzt. Vor der Deutschen Wiedervereinigung bestanden noch regelmaßige Linienfluge ins Inland sowie ins kommunistische Ausland. Diese wurden jedoch aufgrund der Olkrise und geringer Auslastung in den 1980er Jahren nach und nach eingestellt.
Nach der Wiedervereinigung wurde die Infrastruktur des Flughafens stark ausgebaut. Ziel war es, die Passagierzahlen auf rund 800.000 Fluggaste pro Jahr zu steigern. Doch trotz Fordermitteln in Hohe von etwa 200 Millionen Euro konnte sich der Flughafen nie fest etablieren. Die zwischenzeitlich gewonnenen Fluggesellschaften Ryanair (2005), Cirrus Airlines (2011) und Air Berlin (2012) zogen sich – oft nach Einstellung der Subventionen – wieder vom Flughafen zuruck. Die letzte verbliebene Linienverbindung nach Munchen wurde im Zuge der Insolvenz der Berliner Fluggesellschaft Germania im Jahr 2019 ebenfalls eingestellt.
Im Jahr 2019 konnten am Flughafen Erfurt-Weimar insgesamt 156.326 Passagiere abgefertigt sowie 3.297 Tonnen Luftfracht umgeschlagen werden, womit er der passagierarmste Verkehrsflughafen Deutschlands ist.
Derzeit (Stand 2020) werden lediglich Charterverbindungen, vorrangig in die Urlaubsregionen rund um das Mittelmeer, durchgefuhrt. Daneben nutzen die Logistik-Unternehmen TNT Express und Schenker den Flughafen fur den Luftfrachtverkehr.
Radverkehr Erfurt liegt am Gera-Radweg und am Radfernweg Thuringer Stadtekette, sie verbinden die Stadt mit Gebesee (Unstrut-Radweg) im Norden, Weimar (Ilmtal-Radweg) im Osten, dem Rennsteig-Radwanderweg im Suden und Eisenach (Werra-Radweg) im Westen.
Im Stadtverkehr liegt der Radanteil bei etwa 9 % (2009). Es gibt insgesamt 167,4 km Radwege. Dennoch ist der Radwegeanteil an den Hauptstraßen vergleichsweise gering und/oder luckenhaft. So ist beispielsweise die Universitat nicht uber Radwege erreichbar. Auch der Zustand der Radwege ist nicht uberall zufriedenstellend, oft sind sie gepflastert und nicht asphaltiert, an Kreuzungen fehlen Ampeln fur Radfahrer und die Wege fuhren uber Bordsteinkanten. Auch Baume und parkende Fahrzeuge schranken vielerorts die Sichtverhaltnisse auf und an den Radwegen ein. Die meisten Radwege an Straßen sind Teil des Gehsteigs und nicht der Fahrbahn, was das Unfallrisiko zwischen Fußgangern und Radfahrern erhoht.
= Medien =
Erfurt ist Sitz des Fernsehsenders KiKA, in der Stadt finden sich einige bekannte Figuren des Kinderfernsehens. Außerdem ist in Erfurt das Landesfunkhaus des MDR ansassig, dort befindet sich auch ein Studio fur Liveproduktionen und Aufzeichnungen, unter anderem wird das tagliche Lokalnachrichtenformat Thuringen Journal hier produziert.
Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) betreibt in Erfurt sein Landesstudio fur Thuringen. Von hier aus liefern die Mitarbeiter Berichte und Hintergrunde aus Thuringen fur alle aktuellen ZDF-Sendungen.
Thuringer Allgemeine (TA) und Thuringische Landeszeitung (TLZ) berichten mit eigenen Lokalredaktionen aus Erfurt. Die Ostthuringer Zeitung (OTZ) betreibt in Erfurt ein Regionalburo. Alle drei Zeitungen gehoren seit 1990 uber die Zeitungsgruppe Thuringen (ZGT) zur WAZ-Gruppe. Sie sind nach langjahriger redaktioneller Trennung seit 2010 zunehmend miteinander verwoben worden. So sind die Internetangebote inzwischen deckungsgleich und auch in den Printausgaben werden mittlerweile Artikel untereinander ausgetauscht. Die unter den Printmedien auflagenstarkere TA sowie der MDR erheben den Anspruch, in der Region Meinungsfuhrer zu sein.
Außerdem gibt es mit hEFt, t.akt, DATEs, Blitz und Rampensau verschiedene kostenlose Stadtmagazine, in denen Veranstaltungshinweise und Kulturbeitrage rund um Erfurt und Thuringen zu finden sind. Weiterhin erscheint viermonatlich das Literaturjournal Wortwuchs.
Neben MDR Thuringen sendet Radio F.R.E.I. aus Erfurt und ist eines von sechs Thuringer Burgermedien sowie das einzige freie Radio in Thuringen, das im Bundesverband Freier Radios organisiert ist.
Seit 2004 haben die Kommission fur Jugendmedienschutz (KJM) und die Thuringer Landesmedienanstalt (TLM) ihren Sitz in Erfurt.
= Offentliche Einrichtungen =
Seit dem 22. November 1999 ist Erfurt der Sitz des Bundesarbeitsgerichtes, des obersten Gerichtes der Arbeitsgerichtsbarkeit und damit eines der funf obersten Gerichtshofe des Bundes in Deutschland. Die Bedeutung der Stadt als Gerichtsstandort wird dadurch unterstrichen, dass auch das Thuringer Landesarbeitsgericht, das Thuringer Landessozialgericht, das Arbeitsgericht Erfurt, das Landgericht Erfurt und das Amtsgericht Erfurt ansassig sind.
Als Landeshauptstadt ist Erfurt zudem Sitz des Thuringer Landtages und der Staatskanzlei. Zudem haben zahlreiche Landesamter und das Landeskriminalamt (LKA) dort ihren Sitz.
Außerdem sitzen in Erfurt die Handwerkskammer, das Hauptzollamt, die Industrie- und Handelskammer (IHK) und die Thuringer Landesfinanzdirektion. Die Bundeswehr ist mit zwei Kasernen (die Loberfeldkaserne mit Karrierecenter der Bundeswehr sowie die Henne-Kaserne, in welcher auch das Landeskommando Thuringen liegt) vertreten. Seit 2013 ist Erfurt Sitz des Logistikkommandos der Bundeswehr, dem etwa 15.000 Bundeswehrangehorige unterstehen, davon etwa 850 in der Zentrale in der Loberfeldkaserne. Die Bundesnetzagentur fur Elektrizitat, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen sowie das Bundesamt fur Guterverkehr unterhalten jeweils eine Außenstelle. Ferner gibt es eine Filiale der Deutschen Bundesbank im Sudwesten der Stadt.
= Gesundheitswesen =
Die Landeshauptstadt besitzt zwei Krankenhauser, das zu den Helios Kliniken gehorende Klinikum Erfurt sowie das Katholische Krankenhaus St. Johann Nepomuk (KKH).
Das Klinikum Erfurt liegt im Norden der Stadt in Nachbarschaft zur Universitat Erfurt; es ist ein Krankenhaus der Maximalversorgung mit ca. 1300 Betten. Das Krankenhaus wurde 1880 als Stadtisches Krankenhaus gegrundet. Es war Wirkungsstatte verschiedener beruhmter Arzte, wie zum Beispiel Ferdinand Sauerbruch (als junger Assistenzarzt), Alfred Machol und Egbert Schwarz. Von 1954 bis 1993 war es die Medizinische Akademie Erfurt, die dann als Hochschule abgewickelt wurde. Im Jahr 2012 beschaftigte das Helios-Klinikum ca. 1800 Mitarbeiter.
Das Katholische Krankenhaus befindet sich im sudostlichen Ortsteil Windischholzhausen und ist ein Krankenhaus der Schwerpunktversorgung mit ca. 450 Betten. Das Krankenhaus geht auf eine Stiftung im 18. Jahrhundert zuruck und lag bis zum Ende des 20. Jahrhunderts im Kartauserviertel der Altstadt. Das KKH hatte 900 Mitarbeiter im Jahr 2014.
Des Weiteren arbeiten ca. 500 niedergelassene Arzte mit Kassenzulassung und ca. 230 Zahnarzte in der Stadt. Außerdem bestehen ca. 50 Apotheken. Die Landeskrankenhausgesellschaft Thuringen hat ihren Sitz im Suden von Erfurt.
= Bildung und Wissenschaft =
Hochschulen Die 1392 eroffnete und 1994 neu errichtete Universitat Erfurt kann dank ihres Grundungsprivilegs von 1379 als die alteste Universitat im heutigen Deutschland gelten und war zeitweise sogar die großte Universitat des Landes. Martin Luther studierte hier zwischen 1501 und 1505 und erhielt den Magister artium der philosophischen Fakultat. Diese Universitat, die haufig auch Hierana (lateinisch fur die an der Gera liegende) genannt wurde, wurde 1816 geschlossen.
In ihrer Tradition sah sich die 1954 gegrundete Medizinische Akademie Erfurt. Diese – 1992 in Medizinische Hochschule Erfurt umbenannt – bildete bis 1996 Medizinstudenten der klinischen Semester zu Arzten und Zahnarzten aus, betrieb anerkannte Forschungsarbeit und hatte das Promotions- und Habilitationsrecht. Diese akademische Einrichtung wurde nie in die neu gegrundete Universitat Erfurt uberfuhrt bzw. eingegliedert. Ende 1993 wurde sie aufgehoben und die Kliniken und Bereiche in ein Krankenhaus der Maximalversorgung (Helios-Klinikum Erfurt) uberfuhrt. Seit 2021 hat mit der HMU Health and Medical University wieder eine Medizinische Hochschule ihren Sitz in Erfurt.
Die Universitat wurde unter Wirken der aus einer Burgerinitiative 1987 gebildeten Universitatsgesellschaft Erfurt im Jahr 1994 neu gegrundet. Die seit 1969 bestehende Padagogische Hochschule Erfurt ging in der neu gegrundeten Universitat auf. Geboten werden gegenwartig 30 Studiengange an vier Fakultaten (Staatswissenschaftliche, Philosophische, Erziehungswissenschaftliche und Katholisch-Theologische Fakultat), wobei alle Studiengange mit der Graduierung als Bachelor oder Master abschließen. Derzeit sind zirka 5200 Studenten in Erfurt immatrikuliert. Besondere Einrichtungen der Universitat sind das Max-Weber-Kolleg fur kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, sowie die Willy Brandt School of Public Policy. Die 1999 eroffnete Universitats- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha verfugte uber einen Bestand von 750.000 Banden, sowie im benachbarten Gotha weiteren 550.000 Banden, vorwiegend aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Seit 2018 sind die Universitatsbibliothek Erfurt und die Forschungsbibliothek Gotha wieder eigenstandige Einrichtungen der Erfurter Universitat.
An der Fachhochschule Erfurt studieren 2011 uber 4600 Studierende in den Fachrichtungen Angewandte Informatik, Architektur, Bauingenieurwesen, Bildung und Erziehung von Kindern, Forstwirtschaft, Gartenbau, Gebaude- und Energietechnik, Konservierung und Restaurierung, Landschaftsarchitektur, Soziale Arbeit, Stadt- und Raumplanung, Verkehrs- und Transportwesen sowie Wirtschaftswissenschaften. Die FH ist eine Neugrundung des Landes Thuringen und besteht seit 1991. Dabei folgt die Hochschule einer langjahrigen Tradition, geht sie doch auf die 1946 und 1901 gegrundeten Ingenieurschulen fur Gartenbau und Bauwesen zuruck.
Im Jahr 2007 wurde neben den staatlichen Bildungseinrichtungen die private Adam-Ries-Fachhochschule gegrundet mit den dualen Studiengangen Tourismuswirtschaft sowie Steuern und Prufungswesen. Es konnte der Abschluss als Bachelor of Arts absolviert werden. 2013 wurde die Hochschule geschlossen und durch einen Studienstandort der Internationale Hochschule Bad Honnef Bonn|Internationalen Hochschule Bad Honnef Bonn ersetzt. Als IUBH Internationale Hochschule verlegte die Hochschule 2019 ihren Sitz nach Erfurt und benannte sich 2021 in IU Internationale Hochschule um.
Ebenfalls seit 2007 war Erfurt Standort zweier Wirtschaftsforschungsinstitute. Das Wilhelm-Ropke-Institut sowie die Thuringer Niederlassung des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut hatten in Erfurt ihren Sitz. Heute besteht nur noch das Ropkeinstitut in Erfurt.
Das Priesterseminar Erfurt ist die einzige Ausbildungsstatte fur angehende Priester aus den romisch-katholischen Diozesen Ostdeutschlands. Derzeit gehoren circa 35 Seminaristen zum Haus.
Weiteres Des Weiteren gibt es 30 Grundschulen (darunter die Regenbogen Freie Schule Erfurt und die Montessori-Integrationsschule), 10 Regelschulen, 3 Gesamtschulen (darunter die Freie Waldorfschule Erfurt), 9 Gymnasien (darunter ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Spezialschulteil sowie das Sportgymnasium Pierre-de-Coubertin-Gymnasium), 9 Gemeinschaftsschulen, 16 Berufsschulen, 1 Volkshochschule, 7 Forderschulen (darunter die Christophorus-Schule und das Christliche Jugenddorf Erfurt – Rehabilitationszentrum), die Evangelische Gemeinschaftsschule Erfurt, 2 Musikschulen und 2 Malschulen (je eine stadtisch und eine privat).
Der Verein fur die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt erforscht und verbreitet die Geschichte der Stadt in Zusammenarbeit mit Schulen, Hochschulen und Institutionen.
Erfurt wurde als „Stadt der UN-Dekade Bildung fur nachhaltige Entwicklung (BNE)“ fur die Jahre 2008/09 ausgezeichnet.
= Tourismus =
Der Stadtetourismus ist in Erfurt – wie in ganz Deutschland – eine wachsende Branche, wobei Erfurt besonders durch sein historisches Stadtbild viele Besucher anzieht. So gab es 2012 etwa 4800 Hotelbetten in der Stadt, die von fast 450.000 Gasten genutzt wurden. Die Zahl der Ubernachtungen lag bei uber 700.000, wobei der Anteil auslandischer Besucher vergleichsweise gering ist. Wichtige Anziehungspunkte fur Touristen sind der Erfurter Weihnachtsmarkt mit jahrlich etwa zwei Millionen Besuchern oder das Kramerbruckenfest im Sommer. Unter den stadtischen Museen wies die Alte Synagoge mit 50.000 Besuchern die hochste jahrliche Besucherzahl auf.
= Puffbohnen =
Geburtige Erfurter werden auch als Puffbohnen bezeichnet. Die Hulsenfrucht wurde bereits im Mittelalter auf den Erfurter Feldern angebaut und war zu dieser Zeit ein wichtiges Nahrungsmittel fur die Bevolkerung. Legenden erzahlen, dass die Erfurter zur damaligen Zeit immer einen kleinen Vorrat der Bohnen dabei hatten, um sie unterwegs aus der Tasche zu essen.
Bis heute bilden Puffbohnen die Grundlage von typischen Erfurter Gerichten, wie der Puffbohnensuppe und dem Puffbohnensalat. Des Weiteren stellt die Thuringer Steiner Spielwarenfabrik aus Georgenthal Puffbohnen aus Plusch her, die seit mehreren Jahren erfolgreich uber die Erfurt Tourismus und Marketing GmbH vertrieben werden.
Des Weiteren erhalten alle Neugeborenen eine echte Erfurter Puffbohne. Jungen bekommen eine hellblaue und Madchen eine in der Farbe Rosa. Die Puffbohnen sollen die neuen Erfurter willkommen heißen und Gluck bringen. Man kann diese Bohnen nicht kaufen. Es gibt aber die Moglichkeit, eine grune Puffbohne in verschiedenen Varianten zu kaufen.
Personlichkeiten Zu Personen, die in Erfurt geboren wurden bzw. dort besonders gewirkt haben:
In Erfurt leben und wirken zahlreiche Kunstschaffende. Die Stadt stiftete 1966 einen Kulturpreis, der alle zwei Jahre an Kunstler verliehen wird, die „entweder durch die Person oder durch das Werk in Zusammenhang mit der Landeshauptstadt Erfurt stehen“.
Namenspatenschaften Die Korvette Erfurt der Deutschen Marine (Braunschweig-Klasse) tragt den Namen der Stadt und wurde zwischen 2005 und 2007 in der Nordseewerke GmbH in Emden erbaut. Am 28. Februar 2013 wurde das Schiff in Dienst gestellt und dem Marinestutzpunkt Warnemunde in Rostock zugeordnet.
Weiterhin existiert ein ICE-T (Triebzug 1104) der Deutschen Bahn sowie ein Airbus A350-900 (Luftfahrzeugkennzeichen: D-AIXJ) der Lufthansa mit dem Namen der Stadt. Die Namenstaufen des Zuges und des Flugzeugs erfolgten 2002 bzw. 2018. Außerdem besteht ein Erholungsgebiet in der Stadt Shawnee im US-Bundesstaat Kansas, das seit 2015 offiziell den Namen Erfurt Park besitzt.
Erfurt philatelistisch Baudenkmaler, Sehenswurdigkeiten und Ereignisse in Erfurt gaben immer wieder Veranlassung zur Herausgabe amtlicher Briefmarken. Den ersten Briefmarken einer privaten Erfurter Stadtpost von 1888 – nach Protest der Reichspost bald wieder eingestellt – folgte erst 1955 eine Sondermarke der Deutschen Post der DDR mit der Abbildung des Erfurter Doms. Die 1961 eroffnete Internationale Gartenbauausstellung (IGA) fand ihren Niederschlag auf mehreren Sondermarkenserien mit Blumenmotiven. Drei Sondermarken erschienen im gleichen Jahr anlasslich des IV. Pioniertreffens in Erfurt, bei dem SED-Chef Walter Ulbricht Ehrenpionier wurde. Neben denkmalgeschutzten Gebauden wurde auch dem Zoopark Erfurt 1975 eine Sondermarke gewidmet. Im wiedervereinigten Deutschland wurden 1992, 2001 und 2004 Briefmarken mit Darstellungen Erfurter Bauwerke herausgegeben. Der 1998 entdeckte Erfurter Schatz fand mit dem dabei gefundenen judischen Hochzeitsring eine Abbildung auf einer 2010 erschienenen Sondermarke der Deutschen Post AG.
2021 wurde zur Bundesgartenschau eine 80 Cent Sonderbriefmarke aufgelegt.
Literatur Mitteilungen des Vereins fur die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt (MVGAE). Band 1–53 (1865–1941), Band 54 ff. (1993 ff.)
Alfred Overmann: Erfurt in zwolf Jahrhunderten. Eine Stadtgeschichte in Bildern. Erfurt 1929, DNB 361275498; Nachdruck: Verlag-Haus Thuringen in der Verlag und Dr. Fortschritt Erfurt, Erfurt 1992, ISBN 3-86087-076-9 (in Fraktur).
Erfurter Heimatbrief. Brief fur die Erfurter in der Bundesrepublik mit West-Berlin und im westlichen Ausland. Heft 1–64 (1961–1992) der Vereinigung „Heimattreue Erfurter“ (in Berlin-Wilmersdorf).
Geschichte der Stadt Erfurt. Hrsg. im Auftrag der Stadt Erfurt von Willibald Gutsche. Weimar 1986, ISBN 3-7400-0000-7.
Thomas Ott: Erfurt im Transformationsprozeß der Stadte in den neuen Bundeslandern. Ein regulationstheoretischer Ansatz. Erfurt 1997, ISBN 3-9803607-5-X.
Martin Bauer: Erfurter Personalschriften 1540–1800. Beitrage zur Familien- und Landesgeschichte. Degener, Neustadt an der Aisch 1998, ISBN 3-7686-4151-1 (973 Kurzbiografien zu Personen, fur die Erfurter Personalschriften vorliegen).
Stadt und Geschichte. Zeitschrift fur Erfurt (SuG). Hrsg. von Stadt und Geschichte e. V., ISSN 1618-1964, Heft 1 ff. (1998 ff.).
Stefan Wolter: Erfurt – Leben in der Blumenstadt 1900–1989. Sutton, Erfurt 2000, ISBN 3-89702-241-9.
Steffen Raßloff: Flucht in die nationale Volksgemeinschaft. Das Erfurter Burgertum zwischen Kaiserreich und NS-Diktatur (= Veroffentlichungen der Historischen Kommission fur Thuringen. Kleine Reihe 8). Bohlau, Koln/Weimar/Wien 2003, ISBN 3-412-11802-8.
Helmut Wolf: Erfurt im Luftkrieg 1939–1945 (= Schriften des Vereins fur die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt. Band 4). Glaux, Jena 2005, ISBN 3-931743-89-6; 2. Auflage, Zella-Mehlis 2013.
Stephanie Wolf: Erfurt im 13. Jahrhundert. Stadtische Gesellschaft zwischen Mainzer Erzbischof, Adel und Reich. Koln/Weimar/Wien 2005, ISBN 3-412-12405-2.
Jahrbuch fur Erfurter Geschichte. Gesellschaft fur Geschichte und Heimatkunde von Erfurt, Erfurt 2006 ff., ISSN 1863-1266.
Steffen Raßloff: Burgerkrieg und Goldene Zwanziger. Erfurt in der Weimarer Republik. Sutton, Erfurt 2008, ISBN 978-3-86680-338-1.
Jurgen Valdeig: Erfurt – Schlaglichter zur Stadtgeschichte. Mit einem historischen Uberblick von Steffen Raßloff. Weimar 2011.
Martin Baumann, Steffen Raßloff (Hrsg.): Blumenstadt Erfurt. Waid – Gartenbau – iga/egapark. Erfurt 2011, ISBN 978-3-86680-812-6.
Steffen Raßloff: Geschichte der Stadt Erfurt. Sutton, Erfurt 2012, ISBN 978-3-95400-044-9; 5. Auflage. 2019.
Christoph Kreutzmuller, Eckart Schorle: Stadtluft macht frei? Judische Gewerbebetriebe in Erfurt 1919 bis 1939. Berlin 2013, ISBN 978-3-942271-97-4.
Steffen Raßloff: 100 Denkmale in Erfurt. Geschichte und Geschichten. Mit Fotografien von Sascha Fromm. Klartext Verlag, Essen 2013, ISBN 978-3-8375-0987-8.
Rolf Schneider: Erfurt. Ein Spaziergang durch Geschichte und Gegenwart. be.bra verlag, Berlin 2015, ISBN 978-3-86124-689-3.
Steffen Raßloff: Kleine Geschichte der Stadt Erfurt. Rhino Verlag, Ilmenau 2016, ISBN 978-3-95560-045-7; 2. Auflage 2020.
Norbert Gotz, Frank Palmowski: Humanitare Hilfe im Zeitalter Napoleons. Burgerliche Gesellschaft und transnationale Ressourcen am Beispiel Erfurts. In: Historische Zeitschrift. Band 305, 2017, S. 362–392, doi:10.1515/hzhz-2017-0029.
Steffen Raßloff: Erfurt. 55 Highlights aus der Geschichte. Sutton, Erfurt 2021, ISBN 978-3-96303-271-4.
Manfred Linck: Die Artillerie der Stadt Erfurt im Jahrhundert zwischen 1348 und 1448. OCLC 1034534291.
= Historisch =
Jakob Dominikus: Erfurt und das erfurtische Gebiet. Nach geographischen, physischen, statistischen, politischen und geschichtlichen Verhaltnissen. 2 Teile. Karl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, OCLC 311331764, OCLC 614950927 (Faksimile des Ersten Teils; Faksimile des Zweiten Teils in der Google-Buchsuche); Faksimile und Kommentarband, Rolf-Dieter Dominicus. Hain Verlag, Rudolstadt 2001.
Constantin Beyer: Neue Chronik von Erfurt oder Erzahlung alles dessen, was sich vom Jahr 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Denkwurdiges ereignete. 1. Band. Keysersche Buchhandlung, Erfurt 1821, OCLC 831560369 (Faksimile in der Google-Buchsuche); Reprint Bad Langensalza 2002, ISBN 3-936030-31-6.
Constantin Beyer: Nachtrage zu der neuen Chronik von Erfurt 1736–1815. 2. Band. Erfurt 1823, OCLC 831560395; Reprint Bad Langensalza 2002, ISBN 3-936030-32-4.
F. Hasenstein: Die Stadt Erfurt: Ein getreuer und zuverlassiger Wegweiser fur Einheimische. Gotthilf Wilhelm Korner, Erfurt/Langensalza/Leipzig 1848, OCLC 179831444 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
Die Hauser-Chronik der Stadt Erfurt. Hrsg. von Bernhard Hartung. Hennings und Hopf, Erfurt 1861, OCLC 258557969 (Digitalisat in der Google-Buchsuche), (Digitalisat).
Kai Brodersen (Hg.): Matthaeus Dresser: Zum Lob von Erfurt (1567 und 1606). Zweisprachige Ausgabe. Speyer: KDV 2024. ISBN 978-3-939526-74-2
Weblinks Offizielle Website der Landeshauptstadt Erfurt
Literatur von und uber Erfurt im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Linkkatalog zum Thema Erfurt bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Einzelnachweise
|
Erfurt [ˈʔɛɐ.fʊɐt] ist seit 1991 die Landeshauptstadt des Freistaates Thuringen. Sie ist mit rund 220.000 Einwohnern (Stand: Dezember 2023) die großte Stadt Thuringens und eines der Oberzentren des Landes. Wichtigste Institutionen neben den Landesbehorden sind das Bundesarbeitsgericht, die Universitat und die Fachhochschule Erfurt, das katholische Bistum Erfurt, dessen Kathedrale der Erfurter Dom ist, sowie das Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Neben der Kramerbrucke ist das einzigartige Ensemble von Dom und Severikirche eine der Hauptsehenswurdigkeiten der Stadt. Daruber hinaus besitzt die Stadt einen knapp drei Quadratkilometer großen mittelalterlich gepragten Altstadtkern mit etwa 25 Pfarrkirchen, der barocken Zitadelle Petersberg, der altesten erhaltenen Synagoge in Mitteleuropa sowie zahlreichen Fachwerk- und anderen Burgerhausern.
Die Stadt liegt im weiten Tal der Gera im hugeligen, landwirtschaftlich intensiv genutzten sudlichen Thuringer Becken.
Erfurt wurde 742 im Zusammenhang mit der Errichtung des Bistums Erfurt durch Bonifatius erstmals urkundlich erwahnt – schon damals als Großsiedlung. Bereits kurz danach entwickelte es sich zum Zentrum des Thuringer Raumes, wenngleich es lange Zeitabschnitte politisch nicht Teil des Landes war. Im Mittelalter hatte die Stadt ein hohes Maß an Autonomie. Das anderte sich mit der gewaltsamen Unterwerfung durch die Mainzer 1664. Im Jahr 1802 wurde Erfurt Teil Preußens und blieb es (mit Ausnahme der Zeit von 1806 bis 1814, als es als Furstentum Erfurt direkt unter franzosischer Herrschaft stand) bis 1945. Die Universitat wurde 1392 eroffnet, 1816 geschlossen und 1994 neu gegrundet. Damit ist sie die dritte Universitat, die in Deutschland eroffnet wurde, kann dank eines Grundungsprivilegs von 1379 aber auch als alteste gelten. Martin Luther war ihr bekanntester Student.
Die Wirtschaft der Stadt ist von Verwaltung und Dienstleistung gepragt. Außerdem ist Erfurt Standort verschiedener Unternehmen im Maschinen- und Anlagenbau sowie in der Mikroelektronik. Ferner hat sich auf Grund der niedrigen Lohnkosten und der zentralen Lage in Deutschland eine bedeutende Logistik-Branche etabliert. Erfurt ist nach Leipzig die Stadt mit der zweitgroßten Messe in den ostdeutschen Landern. Mit ihrem Hauptbahnhof ist die Stadt wichtiger Eisenbahnknotenpunkt im Personenverkehr. Bekannt ist Erfurt auch fur seinen Gartenbau (egapark, Deutsches Gartenbaumuseum, Bundesgartenschau 2021) und als Medienzentrum (Sitz des Kindersenders KiKA, mehrerer Radiostationen sowie Tageszeitungen).
Mit der Entscheidung des Welterbekomitees der UNESCO von September 2023 wurde das judisch-mittelalterliche Erbe der Stadt in die Welterbeliste aufgenommen. Es umfasst die Alte Synagoge, die mittelalterliche Mikwe sowie das Steinerne Haus.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Erfurt"
}
|
c-13974
|
Das Heidelberger Spargelessen (auch: Heidelberger Spargelaffare, Heidelberger Mockage) war eine ab dem 21. Mai 1935 in Heidelberg gegen Adolf Hitler gerichtete Reihe offentlicher Bekundungen Heidelberger Corpsstudenten, die den Auflosungsprozess der Studentenverbindungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich beschleunigte. Mitglieder des Corps Saxo-Borussia ubten Kritik an Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus.
Vorgeschichte Seit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 herrschte zwischen den Studentenverbindungen einerseits und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und ihrem studentischen Ableger, dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB), andererseits ein gespaltenes Verhaltnis: Einerseits waren zahlreiche Verbindungsstudenten Anhanger von nationalsozialistischen Ideen, Zielen oder Anschauungen; andererseits widersprach die Traditionsverbundenheit der Verbindungen dem revolutionaren Habitus der Nationalsozialisten, ihre elitare Ausrichtung der Idee der Volksgemeinschaft, ihre innere Selbstverwaltung dem Fuhrerprinzip und ihre Unabhangigkeit den nationalsozialistischen Gleichschaltungsbestrebungen.
Dies fuhrte zu uneinheitlichen Vorgehensweisen: Wahrend sich manche Verbindungen dem Alleinvertretungsanspruch des NSDStB unterwarfen und das alte Verbindungswesen aufgaben, suchten andere die offene Konfrontation mit den neuen Machthabern; wieder andere versuchten, durch eine Anpassungsstrategie den Druck zu lindern und so ihr Uberleben durch Stillhalten zu sichern. Vor allem die Corps galten als reaktionar, also den Absichten und den Gleichschaltungswunschen des NSDStB ablehnend gegenuberstehend.
Die Gottinger Krawalle im Juni 1934 und die Gottinger Maibaumaffare Mitte Mai 1935 wurden vom NS-Regime bzw. von staatlichen Institutionen genutzt, um ein Verbot der Korporationen voranzutreiben.
Ereignis Am 21. Mai 1935 betraten Mitglieder des Corps Saxo-Borussia das Heidelberger Stammlokal der Corps, den „Seppl“, wahrend im Radio Hitlers „Friedensrede“, am 17. Mai 1933 im Reichstag gehalten, ubertragen wurde. Sie storten die Ubertragung durch lautes Gegrole, erzahlten sich in uberlautem Ton Hitlerwitze und bliesen auf einer leeren Sektflasche Melodien, zu denen sie Spottlieder uber die Nationalsozialisten sangen.
Am folgenden Tag wurden Stimmen laut, sie hatten sich ungebuhrlich verhalten und die Gaste im „Seppl“ beim Horen der Rede gestort. Daraufhin entschuldigte sich das Corps Saxo-Borussia beim NSDStB in Heidelberg und der von ihm dominierten Studentenschaft und ihrem Fuhrer Gustav Adolf Scheel (Angehoriger des Vereins Deutscher Studenten in Tubingen) sowie beim Rektor der Universitat Wilhelm Groh (Alter Herr des Corps Suevia Freiburg), die die Entschuldigung annahmen und keine weiteren Handlungen veranlassten.
Durch die in den folgenden Tagen in der gleichgeschalteten Presse veroffentlichte Emporung angestachelt, wurden weitere Provokationen durchgefuhrt: So unterhielten sich Angehorige desselben Corps am 26. Mai 1935 bei einem Spargelessen im Heidelberger Lokal „Hirschgasse“, dem traditionellen Mensurlokal der Heidelberger Verbindungen, daruber, ob „der Fuhrer Spargel mit Messer, Gabel oder Pfoten“ und ganz allgemein commentgemaß aße; schließlich einigten sich die Corpsstudenten darauf, Hitler besitze „ein so großes Mundwerk, dass er den Spargel quer essen konnte“.
Folgen Umgehend nach den Geschehnissen wurde das Corps Saxo-Borussia verboten, die beteiligten Corpsstudenten wurden von der Universitat relegiert, der Senior Henning v. Quast wurde zeitweilig verhaftet. Andere Verbindungen reagierten unterschiedlich: Wahrend mancherorts eigene Aktionen durchgefuhrt wurden – etwa das Auftreten eines Hitler-Imitators auf der Terrasse eines Marburger Corpshauses oder die Anbringung eines Hitler-Abbildes auf der Fechtattrappe einer Verbindung –, außerten sich andere Verbindungen emport uber die Zurschaustellungen, teils aus Uberzeugung, teils aus Furcht, von den erwarteten Repressionen mitbetroffen zu werden. Die Deutsche Sangerschaft etwa erklarte:
In Zeitungsartikeln und Karikaturen wurden Verbindungsstudenten im Allgemeinen und Corpsstudenten im Besonderen als „reaktionar“, „dumm“ und „bourgeois“ dargestellt. Der Reichsjugendfuhrer Baldur von Schirach veroffentlichte einen „Aufruf und Befehl“, in dem er konstatierte:
Im Folgenden befahl er am 7. Juli 1935 allen Mitgliedern der Hitlerjugend (HJ), die zugleich einer Studentenverbindung angehorten, entweder ihre Korporation oder die HJ zu verlassen. Eine Mitgliedschaft in einer Verbindung war als HJ-Mitglied nun nicht mehr moglich.
Hitler selbst sprach sich am 15. Juli 1935 fur den „langsamen Tod“ der Verbindungen aus. In rascher Folge kam es danach zu Verboten und Selbstauflosungen von Verbindungen und ihren Dachverbanden.
Weblinks Manja Altenburg, Francoise Droulans, Arne Lankenau, Kilian Schultes: Das Heidelberger Spargelessen 1935: Ausstellung im Universitatsarchiv Heidelberg. Historisches Seminar, Zentrum fur Europaische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Ruprecht-Karls-Universitat Heidelberg, 30. Oktober 2007; abgerufen am 21. Mai 2020.
Graf zu Eulenburg: Stellungnahme der Altherrenschaft des Corps Saxoborussia zu den Vorfallen am 21. und 26. Mai 1935 in Heidelberg. (PDF; 1,7 MB) 18. Juli 1935; abgerufen am 21. Mai 2020 (wiedergegeben auf corpsarchive.de).
Literatur Lutz Hachmeister: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. C. H. Beck, Munchen 2004, ISBN 978-3-423-34390-9, S. 121 ff.
Michael Gruttner: Studenten im Dritten Reich. Schoningh, Paderborn 2000, ISBN 3-506-77492-1.
Rosco G. S. Weber: Die deutschen Corps im Dritten Reich. SH-Verlag, Koln 1998, ISBN 3-89498-033-8.
Rolf-Joachim Baum (Hrsg.): „Wir wollen Manner, wir wollen Taten!“ Deutsche Corpsstudenten 1848 bis heute. Siedler-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-88680-653-7, S. 193 ff.
Fußnoten
|
Das Heidelberger Spargelessen (auch: Heidelberger Spargelaffare, Heidelberger Mockage) war eine ab dem 21. Mai 1935 in Heidelberg gegen Adolf Hitler gerichtete Reihe offentlicher Bekundungen Heidelberger Corpsstudenten, die den Auflosungsprozess der Studentenverbindungen im nationalsozialistischen Deutschen Reich beschleunigte. Mitglieder des Corps Saxo-Borussia ubten Kritik an Adolf Hitler und dem Nationalsozialismus.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Heidelberger_Spargelessen"
}
|
c-13975
|
Unter dem Begriff der Studentenverbindung oder Korporation wird im weitesten Sinne jede organisierte Form traditioneller studentischer Sozialisation verstanden, wie sie seit der fruhen Neuzeit an europaischen Universitaten nachweisbar ist. Im engeren Sinne versteht man darunter einen im deutschen Sprachraum verbreiteten Verband von Studenten und Alumni einer Hochschule in Form einer Gesellschaft mit bruderschaftlichen und genossenschaftlichen Elementen, der Brauchtum und gewachsene Traditionen pflegt. In Deutschland sind weniger als ein Prozent aller Studierenden Mitglied in einer Studentenverbindung.
International bestehen heute uber 1.600 Studentenverbindungen mit uber 190.000 Mitgliedern nach deutschsprachigem Ursprung. In Deutschland gibt es insgesamt etwa 1000 Studentenverbindungen. Sie sind in rund 30 Korporationsverbanden organisiert und unterscheiden sich sehr stark voneinander. Gemeinsame Merkmale der Verbindungen im deutschsprachigen Raum sind der Convent und der Lebensbund. Lediglich Studentenverbindungen pflegen sogenannte studentische Kneipen. Traditionelle studentische Societaten außerhalb des deutschen Sprachraums pflegen teilweise ganz andere Traditionen. In Deutschland wurden Studentenverbindungen wahrend der Zeit des Nationalsozialismus – teils freiwillig, teils unfreiwillig – gleichgeschaltet und großtenteils aufgelost. Im Zuge der 68er-Bewegung erlitten Studentenverbindungen einen starken Ansehensverlust.
Uberblick In Studentenverbindungen gestalten Studenten ihre Studienzeit in einer organisierten Gemeinschaft, der aktive wie nicht aktive Mitglieder lebenslang verbunden bleiben. Zudem ist das Conventsprinzip, ein Organisationskonzept gepragt von Autonomie und basisdemokratischer Entscheidungsfindung, eine wichtige Gemeinsamkeit aller studentischen Korporationen.
In Deutschland sind Studentenverbindungen in der Regel in der Rechtsform des nicht eingetragenen Vereins organisiert. So gibt es etliche Studentenverbindungen, die vom Namen her zwar Vereine sind, trotzdem aber zu den Studentenverbindungen gezahlt werden. Neben dem Lebensbundprinzip und dem Conventsprinzip ist auch das Vorhandensein von Comments – traditionellen Regelwerken fur verschiedene Bereiche des Zusammenlebens – ein wichtiges Merkmal zur Unterscheidung zwischen Studentenverbindungen und -vereinen.
Ein Ziel des Lebensbundes ist es, Kontakte und Freundschaften zwischen den Generationen zu ermoglichen, die der Vernetzung dienen. Bei den meisten Verbindungen duzen sich alle Mitglieder unabhangig von ihrem Alter und beruflichen Status ohne besondere Vereinbarung von dem Moment an, in dem ein Student als „Fuchs“ der Verbindung beitritt. Studentische Verbindungen stellen ein außerst einflussreiches und weit verzweigtes Netzwerk dar, welches es den
Mitgliedern ermoglichen soll, Unterstutzung zu erfahren und beruflich schnell aufzusteigen. Das Lebensbundprinzip, d. h. die lebenslange Mitgliedschaft, tragt dabei maßgeblich dazu bei, dass solche Netzwerke von bestandiger Dauer sind.
Vor dem Erreichen des ersten akademischen Abschlusses sind studentische Mitglieder Teil der Aktivitas. Diese organisiert in der Regel im Rahmen ihres Semesterprogramms selbstverantwortlich Veranstaltungen: wissenschaftliche Weiterbildungen (Studium generale), Feste und Feiern, je nach Ausrichtung aber auch sportliche und musische Aktivitaten in der Freizeit, bzw. allgemein die Pflege des gesellschaftlichen Lebens, dazu gehort auch die Pflege von Studentenliedern.
Bei vielen traditionsorientierten Verbindungen ist das akademische Fechten, die Mensur, ein fester Bestandteil ihres Gemeinschaftslebens. Diese schlagenden Verbindungen erwarten die Ausubung der Mensur entweder von jedem Mitglied (pflichtschlagend) oder stellen sie ihm frei (fakultativ schlagend). Die Mehrzahl der deutschen Verbindungen ist heutzutage nichtschlagend.
Nach dem Studium folgt die Philistrierung: Fortan ist man in der Korporiertensprache „Alter Herr“ oder „Alte oder Hohe Dame“ und gehort zu einer eigenen, von der Aktivitas verschiedenen, Organisationsstruktur: dem Philisterium. Dieses unterstutzt aus seinen Mitgliedsbeitragen unter anderem die Verbindung finanziell; es hat in der Regel die Rechtsform eines eingetragenen Vereins (e. V.).
Das Brauchtum vieler Verbindungen entstand oft vor dem 19. Jahrhundert und stammt großenteils aus einer besonderen studentischen Kultur und Lebensweise, die seit dem Mittelalter bis in die erste Halfte des 19. Jahrhunderts fur alle Studenten ublich war. Ab etwa 1850 entwickelte sich daraus die Kultur der Studentenverbindungen, in der alte, in weiten Teilen der Studentenschaft vergessene ausgepragte Traditionen konserviert wurden. Dazu gehort bei vielen Verbindungen das Tragen von Farben, dem sogenannten Couleur, in Form von Studentenmutzen oder Bandern. Andere tragen diese nicht, sondern fuhren bei Zusammenkunften nur ihre farbigen Studentenwappen und Fahnen mit (farbenfuhrend im Gegensatz zu farbentragend). Wieder andere verzichten selbst darauf (schwarze Verbindungen). Im fruhen 20. Jahrhundert fuhrte die Jugendbewegung zu Erneuerungsbestrebungen auch im Verbindungsleben. Sprachliche Besonderheiten der Burschensprache haben teilweise auch den Weg in den Mainstream gefunden, manche sind bis heute auf den internen Gebrauch beschrankt. Die meisten Verbindungen nehmen traditionell nur Manner auf. 1899 wurden die ersten Damenverbindungen gegrundet, die nach 1945 aber allesamt nicht wieder Fuß fassen konnten. Um das Jahr 1970 wurden die ersten bis dahin rein mannlichen Verbindungen durch die Aufnahme von Frauen in „gemischte Verbindungen“ umgewandelt. Erst seit den 1980er Jahren gibt es auch wieder rein weibliche Studentenverbindungen; ihre Zahl hat seit 2000 stark zugenommen.
Ihre weiteste Verbreitung fanden Studentenverbindungen zur Zeit des deutschen Kaiserreiches, wo in großeren Universitatsstadten wie Berlin 25 % aller Studenten, in kleinen Universitatsstadten wie Bonn bis zu 60 % aller Studenten in Verbindungen organisiert waren.
Etwa 10 bis 15 % der deutschen Studentenverbindungen, vor allem Burschenschaften, halten auf ihren Hausern Veranstaltungen zur politischen Bildung ab. Im Mittelpunkt stehen hierbei vor allem Fragen der deutschen Einheit, des deutschen Volkstums, der deutschen Nation und der Freiheit. Bei osterreichischen Verbindungen (hauptsachlich katholischen) wird uber die Republik Osterreich in der Europaischen Union diskutiert.
1984 gehorten in der Bundesrepublik Deutschland etwa 2 bis 3 % aller Studenten einer Verbindung an. Damals bezeichneten sich etwa 170.000 bis 200.000 studierende oder berufstatige Personen in Westdeutschland und Osterreich als „Verbindungsstudenten“. Die Hochschulorte mit den meisten aktiven Verbindungen in Deutschland sind Munchen (84 Verbindungen), Berlin (63), Bonn (51), Gottingen (42) und Aachen (42), in Osterreich sind das Wien (118), Graz (43) und Innsbruck (42), in der Schweiz Zurich (26), Genf (20) und St. Gallen (18).
Verbindungsarten Legende:
Daruber hinaus gibt es Studentische Forstverbindungen und Nautische Kameradschaften sowie Verbindungen, die in die obigen Kategorien nur bedingt eingeordnet werden konnen, zum Beispiel die Verbindungen des Deutschen Wissenschafter-Verbandes, die Hutte in Berlin, Stuttgart und Karlsruhe, eine akademische Fliegerschaft, Segler- und Sportverbindungen, eine katholisch-bayerische Verbindung und weitere.
All diese Verbindungsarten unterscheiden sich betrachtlich durch ihre Prinzipien, ihre Geschichte und spezifischen Gebrauche. Trotz der Vielfalt treten bestimmte Formen besonders haufig auf, die in der beigefugten Tabelle benannt sind. Diese enthalt jedoch nicht alle Verbande und keine verbandsfreien Verbindungen. In der Liste der Korporationsverbande findet man ferner die erloschenen und heute noch aktiven Verbande und Dachverbande.
Von den 1880er Jahren bis 1933 (Deutsches Reich) bzw. 1938 (Osterreich) existierten auch judische Studentenverbindungen, die als Reaktion auf zunehmende antisemitische Ausgrenzungsversuche seitens der bestehenden Studentenverbindungen gegrundet wurden. Vorher konnten Juden in den meisten Verbindungen problemlos Mitglied werden. Prinzipienbedingte Ausnahmen galten fur die christlichen Studentenverbindungen. Nach dem Ende der Zeit des Nationalsozialismus kam es zu keinen Wiedergrundungen. Heute werden judische, aber auch muslimische Studenten regular Mitglieder in praktisch allen Studentenverbindungen, sofern diese nicht speziell christlich ausgerichtet sind.
Uber 120 Korporationen, also gut 10 % aller Verbindungen, haben seit den spaten sechziger Jahren die Geschlechtertrennung aufgehoben. Es gibt sportlich, religios, kulturell oder musisch ausgerichtete gemischte Studentenverbindungen (beispielsweise im Akademischen Turnerbund (ATB), im Sondershauser Verband und im Schwarzburgbund sowie im Miltenberg-Wernigeroder Ring (MWR)), in denen Manner und Frauen gleichberechtigte Mitglieder stellen. Im katholisch ausgerichteten Unitasverband konnen nur reine Damenverbindungen und reine Mannerverbindungen Mitglied werden.
Seit 1975 wurden zahlreiche Damenverbindungen neu gegrundet, da den Damenverbindungen aus Kaiserzeit und Weimarer Republik eine Neugrundung nach dem Krieg nicht gelang. Mittlerweile gibt es alleine in Deutschland uber 50 aktive Damenverbindungen. Bundesweite Dachverbande wurden bisher nicht gebildet, allerdings haben sich einige Damenverbindungen den bestehenden Dachverbanden Unitasverband, Sondershauser Verband und Schwarzburgbund angeschlossen. In Osterreich existieren derzeit reine Zusammenschlusse von Damenverbindungen. Seit 2017 existiert auch in Deutschland ein reiner Zusammenschluss von Damenverbindungen (Norddeutsche Kartell weiblicher Korporationen (NdK)).
Die Mehrzahl der Studentenverbindungen, in Deutschland etwa 85 %, nehmen nach wie vor nur Manner auf. Meist ist es aber so, dass weibliche Gaste bei diesen Verbindungen im Alltag oder auch auf Veranstaltungen prasent sind.
Aktivitas und Conventsprinzip Eine Verbindung gliedert sich in studierende und berufstatige Mitglieder. Die studierenden Mitglieder sind in der Aktivitas organisiert. Sie ist meist als nicht eingetragener Verein organisiert, der nicht rechtsfahig ist. Die Aktivitas besteht aus den Aktiven und den Inaktiven (bekleiden keine offiziellen Amter mehr und unterliegen nur noch einer eingeschrankten Anwesenheitspflicht). Sie treffen ihre Entscheidungen in Conventen. Die Aktiven wahlen dort aus ihren Reihen in jedem Semester einen mindestens dreikopfigen Vorstand (oft auch: Chargia, Chargenconvent, Chargenkabinett). Diese Chargierten bekleiden die Chargen: Vorsitzender (auch: Sprecher, Senior), den Fechtverantwortlichen (auch Fechtwart, 2. Sprecher oder auch Consenior) und den Kassenwart (auch Aktuar oder Sekretar, oder auf zwei Aktive verteilt Quastor, Scriptor; Kassier, Schriftfuhrer). Hinzu kommt ein Fuchsmajor (FM), der fur die Neulinge (Fuchse) verantwortlich ist und der auch ein Inaktiver sein kann. Alle Amtsinhaber konnen jederzeit abgewahlt werden.
Aus historischen Grunden sehen die Convente fur sich auch eine Art Aufsichtspflicht fur ihre Mitglieder (siehe Comment), die bei Verstoßen gegen gemeinsam und demokratisch festgesetzte Regeln Bestrafungen vorsieht. Dazu gehoren geringfugige Geldstrafen in die Gemeinschaftskasse (Beireitungen, Frequenzen, Beifuhren, Poen, Ponale), aber auch protokollarische Strafen (Verweise) sowie den zeitweiligen oder endgultigen Ausschluss aus der Verbindung (Dimission). Das Conventsprinzip wird heute haufig mit dem jungeren Begriff Basisdemokratie umschrieben.
Besonders in großen Dachverbanden ist es ublich, dass einzelne Verbindungen mit mehreren Verbindungen an jeweils anderen Studienorten befreundete Verhaltnisse abschließen – durchaus schriftlich mit Vertrag. So erhalten die Aktiven die Gelegenheit, bei gegenseitigen Besuchen andere Universitatsstadte in anderen geographischen Regionen kennenzulernen und ihren Horizont zu erweitern. Viele Arten von Verbindungen erlauben ihren Mitgliedern, nach Studienortwechseln bei anderen Verbindungen (in der Regel desselben Dachverbandes, vorzugsweise bei befreundeten Verbindungen) weitere Mitgliedschaften einzugehen. Bei farbentragenden Verbindungen werden dann lebenslang die Couleur-Bander gleichzeitig getragen (Zweifarbenbruder, Zweibandermann, Mehrbanderleute). Einige Verbindungen (Lebenscorps) schließen weitere Mitgliedschaften grundsatzlich aus.
Aufgrund ihres Selbstverstandnisses als selbstverwaltete studentische Zusammenschlusse sehen sich die Convente der Studentenverbindungen als autonom an. Sie betrachten sich als unabhangig von staatlichen und universitaren Autoritaten, von Parteien und anderen politischen oder gesellschaftlichen Gruppen. Das hat in der Geschichte auch zu Konflikten mit dem Staat gefuhrt. So waren die Verbindungen im Zuge der Karlsbader Beschlusse von 1819 bis 1848 verboten, ebenso ab 1935 in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Deutschen Demokratischen Republik.
Die meisten Verbindungen verfugen uber ein Korporationshaus oder eine Wohnung. Die ubrigen treffen sich in offentlichen oder gemieteten Versammlungsraumen (in Deutschland Konstante, in Osterreich Studentenbude genannt). Der Erwerb und der Betrieb der Immobilien wird von den Alten Herren finanziert, was niedrige Mieten fur Studentenzimmer ermoglicht.
Fuchsenzeit und Burschenzeit Personen, die einer Verbindung beitreten mochten, werden bis zum Eintritt oft „Spefuchse“ (von lat. spes: Hoffnung) genannt. Beim Eintritt in eine Verbindung macht der Student oder die Studentin eine Probezeit durch. Als Fuchs oder Fux bezeichnet, kann er/sie die Verbindung mit weniger Rechten, aber auch weniger Pflichten unverbindlich kennenlernen. Er/sie wird mit den Traditionen und Werten der Verbindung vertraut gemacht und lernt befreundete Verbindungen kennen. Das dauert im Regelfall ein bis zwei Semester und endet mit der Burschung. In manchen Dachverbanden wird sie Reception, Burschifikation oder Entfuxifizierung genannt. Damit wird man als Bursche oder Corpsbursche Vollmitglied. Im Progress spielte die Gleichberechtigung von Fuchsen eine zentrale Rolle. Bei vielen gemischten Verbindungen wird „der Fuchs“ (oder Bursch) als nicht geschlechtsspezifischer Status (wenn nicht als Neutrum) betrachtet; deshalb werden auch Frauen „geburscht“.
Diese Vollmitglieder ubernehmen die Hauptverantwortung des Aktivenlebens: Chargen und Amter, Gastgeber bei Veranstaltungen und Leitung von Conventen. In dieser Zeit werden in „schlagenden“ Verbindungen die Mensuren gefochten. In lernintensiven Phasen kann der aktive Verbindungsstudent beurlaubt werden. Als Inaktiver kann er sich personlichen Neigungen oder auch dem Studienabschluss widmen.
Suspension/Vertagung In der Regel benotigt eine Verbindung mindestens drei „aktive“ Mitglieder zur Aufrechterhaltung des aktiven Betriebs. Wenn diese Zahl unterschritten wird und durch Reaktivierung von Inaktiven nicht ausgeglichen werden kann, suspendiert, sistiert oder vertagt sich die Verbindung. Der aktive Betrieb wird eingestellt oder von den verbliebenen Aktiven in stark eingeschranktem Maß weiterbetrieben. Die Altherrenschaften bestehen weiter. Die Suspension reduziert im Regelfall die Pflichten gegenuber dem betreffenden Korporationsverband. Wenn wieder genugend Nachwuchs vorhanden ist, kann sich die Verbindung rekonstituieren, reaktivieren oder die Vertagung aufheben und den aktiven Betrieb wieder aufnehmen. Das ist manchmal noch nach jahrzehntelanger Suspension moglich. Es kommt dabei vor, dass in diesem Rahmen auch der Hochschulort gewechselt wird.
Alte Herren und Lebensbund Eines der wichtigsten gemeinsamen Prinzipien der Studentenverbindungen im deutschsprachigen Raum ist das Lebensbundprinzip. Das Lebensbundprinzip bedeutet eine lebenslange Verpflichtung, fur alle Mitglieder der eigenen Verbindung einzustehen. Entgegen ursprunglichen Konzeptionen des Lebensbundes aus der Zeit um 1800 sind spatestens seit dem Inkrafttreten des BGB am 1. Januar 1900 jedoch auch freiwillige Austritte durch einseitige Erklarung des Austretenden moglich oder – bei schwerwiegendem Fehlverhalten – der zeitweilige oder endgultige Ausschluss aus der Verbindung auf Grundlage der Constitution.
Ehemalige Studenten heißen unabhangig von ihrem Lebensalter „Alter Herr“ bzw. „Alte Dame“ oder „Hohe Dame“. Sie bilden gemeinsam die Altherrenschaft bzw. das „Philisterium“. Dabei handelt es sich meist um eingetragene Vereine. Fur die Aufnahme ist in der Regel ein Studienabschluss oder auch eine gesicherte Lebensstellung Voraussetzung, das heißt, der oder die Betreffende sollte eine feste Arbeitsstelle gefunden haben.
Alte Herren haben zwar aufgrund von Familie und Beruf weniger Zeit als die Aktiven, konnen den Bund aber finanziell unterstutzen: durch Jahresbeitrag und Spenden, vor allem aber durch den Unterhalt des Korporationshauses. Besonders Engagierte konnen auch Amter im Altherrenverband und im Dachverband ubernehmen. Alte Herren und aktive Studenten treffen sich auf Veranstaltungen des eigenen Bundes, etwa beim Stiftungsfest oder bei Tagungen des jeweiligen Dachverbandes.
Verbande Die meisten Studentenverbindungen sind in Verbanden zusammengeschlossen, deren Zweck die gemeinsame Erreichung von festgelegten Zielen ist. Dazu gibt es verschiedene Arten: Manche Verbande sind lockere Zusammenschlusse, die ihren Einzelverbindungen weitreichende Freiheiten lassen. Andere dienen hauptsachlich der Wahrung gemeinsamer, demokratisch festgelegter Prinzipien. Wieder andere verstehen sich als ein großer Bund mit Dependancen in verschiedenen Universitatsstadten. Daneben gibt es „verbandsfreie Verbindungen“, die keinem Verband angehoren.
Einige deutsche Verbande haben sich wiederum zu Dachverbanden vereint: Der Convent Deutscher Korporationsverbande (CDK) umfasst die Aktivenverbande von 5 Korporationsverbanden und damit etwa 100 Studentenverbindungen mit etwa 1.300 Studenten. Im Convent Deutscher Akademikerverbande (CDA) finden sich die Altherrenschaften von 5 Korporationsverbanden, zusammen. Er vertritt etwa 100 Altherrenschaften mit etwa 7.000 Mitgliedern.
Zum christlichen Europaischen Kartellverband (EKV) gehoren aus Deutschland die katholischen Korporationsverbande CV, KV, RKDB, TCV und der UV sowie Dachverbande aus Belgien (Flandern, KVSR), der Schweiz (StV), Osterreich (OCV, OKV, KOL, RKAB, VCS, MKV, VfM). Weitere Verbindungen aus Liechtenstein, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Rumanien, Italien, Frankreich und Osterreich sind in der Kurie der freien Vereinigungen zusammengefasst ebenfalls Mitglied des EKV.
Kennzeichen Studentenverbindungen verfugen traditionell uber eine Anzahl an Accessoires, mit denen ihre Mitglieder sich offentlich zur Mitgliedschaft bekennen.
= Farben =
Als farbentragend werden Studentenverbindungen bezeichnet, deren Mitglieder (zumindest bei offiziellen Veranstaltungen) ein Band und eine Kopfbedeckung (Studentenmutze) in den Farben ihrer Verbindung (Couleur) tragen.
Die von vielen Burschenschaften, aber auch einigen anderen Verbindungstypen haufig getragene Farbkombination Schwarz-Rot-Gold ist historischer Ausdruck des Wunsches nach Einigung der deutschen Lander in einem demokratischen Staat und wurde erstmals 1815 von der Urburschenschaft verwendet.
Daneben existieren seit 1857 sogenannte farbenfuhrende Verbindungen, deren Mitglieder kein Couleur tragen. Ihre Farben finden sich haufig in dem Wichs und in Couleurgegenstanden wie den sogenannten Zipfeln. Manche nichtfarbentragende Verbindungen in Suddeutschland und in Osterreich tragen zwar ein Band, aber keine Studentenmutze. Schwarze Studentenverbindungen tragen und fuhren keine Farben.
= Zirkel =
Der Zirkel ist eine monogrammartige Verschlingung von Buchstaben und enthalt in der Regel die Anfangsbuchstaben des Verbindungsnamens und des Wahlspruchs der Verbindung. Oft sind die Buchstaben v, c und f enthalten, was sich aus lateinisch Vivat circulus fratrum („Es lebe der Kreis der Bruder“) bzw. Vivat, crescat, floreat („Es lebe, wachse, gedeihe“) zusammensetzt. Die Zirkel der heutigen Studentenverbindungen haben ihren Ursprung in kryptographischen Kurzeln, mit denen die Mitglieder der Studentenorden des 18. Jahrhunderts in schriftlichen Dokumenten ihre Ordenszugehorigkeit zum Ausdruck brachten.
= Wappen =
Das Studentenwappen ist eine nicht streng den heraldischen Regeln folgende Form der Wappen und kam um das Jahr 1800 in Gebrauch. Oft wird der Schild in vier Felder geteilt, bei Burschenschaften meist durch ein Kreuz. Diese Felder werden mit verschiedenen nichtheraldischen Identitatssymbolen der Verbindung ausgefullt, zum Beispiel mit den Farben der Verbindung, mit dem Bundeszeichen, dem Zirkel, mit Hinweisen auf die Universitatsstadt, aber auch mit regionalen heraldischen Elementen. Dazu kommen weitere Symbole fur Freundschaft und Ewigkeit, die teils aus der Freimaurerei, teils direkt aus der Antike ubernommen wurden.
= Farbenlied, Farbenstrophe =
Als weiteres Zeichen der Zusammengehorigkeit haben farbenfuhrende Verbindungen ein Bundeslied oder/und eine Farbenstrophe, die eine ahnliche Rolle spielt wie die jeweilige Nationalhymne fur einen Staat. In einem Farbenlied werden meist die Verbindungsfarben gedeutet und Zusammengehorigkeit, Freundschaft und die lebenslange Treue der einzelnen Mitglieder zur Verbindung (Lebensbundprinzip) beschworen. Die Farbenstrophe ist bei Corps zumeist eine Zusatzstrophe zum Lied „So punktlich zur Sekunde“. Katholische Verbindungen singen uberwiegend ihre Farbenstrophe zur Melodie von „Wenn wir durch die Straßen ziehen“. Das Farbenlied bzw. die Farbenstrophe wird grundsatzlich im Stehen und haufig a cappella gesungen, meist zum Abschluss einer Kneipe oder eines Kommerses.
Feiern Verbindungen legen von jeher großen Wert auf gesellschaftliche Veranstaltungen und Feiern aller Art fur ihre Mitglieder. Studenten lebten schon fruher oft weit von ihren Familien entfernt und konnten ihre frei verfugbare Zeit selbststandiger gestalten und ohne elterliche Aufsicht mit ihren Vorlieben ausfullen. Ein wichtiger Erwerbszweig in Universitatsstadten war daher schon immer die Gastronomie. Der alltagliche Konsum alkoholischer Getranke war fur die meisten Studenten ublich und wurde im Laufe der Jahrhunderte zu einem beliebten Klischee in Literatur und (Volks-)Kunst. Im 19. Jahrhundert erschienen Bucher, die Rituale und Standards fur den Bierkonsum enthielten und als Bierkomment bezeichnet werden. Viele dieser Rituale, wie der „Bierjunge“, der als Persiflage des studentischen Duells und der Mensur entstand, oder die „Bierstaffette“ beinhalten Wettbewerbselemente und das schnelle Trinken großer Mengen an Bier. In vielen Verbindungshausern gibt es eigene Kotzbecken zum Erbrechen nach ubermaßigem Alkoholkonsum.
Traditionelle Namen fur spezielle studentische Veranstaltungsformen sind etwa „Kneipe“ und „Kommers“, aber auch heute in Vergessenheit geratene Begriffe wie „Hospicium“ oder „Kranzchen“. Essen, Trinken und Rauchen waren darin bis zum fruhen 19. Jahrhundert gleich wichtig.
Heute hat fast jede Verbindung alle oder mehrere der folgenden Veranstaltungen in ihrem Semesterprogramm:
Kneipe: Dies ist eine traditionelle Feier, die in einem festgelegten Rahmen (Bier-Comment) gestaltet wird. Es werden Reden gehalten und Lieder gesungen sowie meist Bier, manchmal auch Wein getrunken. Im sogenannten inoffiziellen Teil einer Kneipe werden meist auch „Biermimiken“ von den Teilnehmern der Kneipe vorgetragen; dies sind amusante Reden, Dialoge oder Dichtungen.
Kommers: Dies ist die festliche und reprasentative Form der studentischen Kneipe. Kommerse finden typischerweise bei Stiftungsfesten, Stadt- oder Universitatsjubilaen statt. Dabei wird zu besonderen Anlassen ein „Landesvater gestochen“. Hohepunkt ist die Festrede, die meist von einem prominenten Kommersteilnehmer gehalten wird, der nicht unbedingt einer Verbindung angehoren muss.
Stiftungsfest: Dies ist die Feier zu jedem Jahrestag der Grundung einer Studentenverbindung. Gesellschaftlicher Hohepunkt dabei ist der Stiftungsfestball.
Kongress/Verbandsfest/Verbandstagung: Dies ist die zentrale Veranstaltung eines Dachverbandes mit Arbeitssitzungen und gesellschaftlichen Bestandteilen (meist Kommersen und Ballen), die meist einmal jahrlich oder alle zwei Jahre stattfindet.
Diese traditionellen Veranstaltungsformen finden bei einigen Verbindungen ohne weibliche Gaste bzw. bei Damenverbindungen ohne mannliche Gaste statt, dies variiert jedoch betrachtlich nach Verbindung und/oder Verband. Veranstaltungen der traditionellen Art sind heute ohnehin in der Minderzahl gegenuber gemischten Veranstaltungen. Den Semesterverlauf fullen heutige Verbindungen uberwiegend mit modernen Formen zwangloser Feste, die in der Regel mit Partnern und anderen Gasten in kleinem oder großerem Kreis stattfinden. Inzwischen laden viele Verbindungen mindestens einmal im Jahr alle Studenten zu einer großen Party ein, die dann oft mit mehreren hundert Teilnehmern gefeiert wird. Dazu wird das Korporationshaus, uber das heute praktisch alle deutschen Verbindungen verfugen, fur nichtkorporierte Besucher geoffnet.
Weitere Veranstaltungen sind primar auf die jeweiligen Schwerpunkte der Studentenverbindung ausgerichtet. So veranstalten Burschenschaften und wissenschaftliche Studentenverbindungen eine Reihe von wissenschaftlichen Abenden, musische Verbindungen Gesangsabende oder Konzerte, sportlich orientierte Verbindungen (wie Akademische Seglervereine oder Ruderverbindungen) sportliche Aktivitaten und christliche Studentenverbindungen religiose Feiern.
Geschichte = Entstehung der fruhen Corps =
Studentenverbindungen im heutigen Sinne entwickelten sich an deutschsprachigen Universitaten seit etwa 1800. Aus dem 18. Jahrhundert wurde auch das studentische Fechten ubernommen, weitergefuhrt und im Laufe des 19. Jahrhunderts zur Mensur weiterentwickelt.
Die Corps, die fruheste Form der heutigen Verbindungen, verbanden gegen Ende des 18. Jahrhunderts außere Elemente der Studentenorden – straffes Reglement, verbindliche Zusammengehorigkeit, geheime Identitatssymbole – mit denen der alten Landsmannschaften – lateinische Landesnamen, farblich einheitliche Kleidung (Vorlaufer der Couleurs). Das Streben nach Verbindlichkeit und demokratischen Strukturen im Sinne des deutschen Idealismus legte den Grundstein fur die Entwicklung der fur den deutschen Sprachraum typischen Studentenverbindungen.
= Urburschenschaft und Karlsbader Beschlusse =
Innerhalb der fruhen Corps regten sich nach den Befreiungskriegen Bestrebungen, die landsmannschaftliche Gliederung der Studenten an den Universitaten abzuschaffen und alle Studenten („Burschen“) in einer einheitlichen „Burschenschaft“ zusammenzufuhren. Auch in der Politik sollte die Kleinstaaterei zugunsten eines vereinten Deutschlands abgeschafft werden. Die Bewegung breitete sich ab 1815 von Jena uber den gesamten deutschen Raum aus und stellte sich in Gegensatz zu den fruhen Corps. Auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817 trat sie zum ersten Mal offentlich auf. Bald zeichnete sich aber ab, dass ein deutschlandweiter Zusammenschluss aller Studenten nicht gelingen konnte.
Einen politischen Mord durch den Burschenschafter Sand nahm der Deutsche Bund 1819 zum Anlass, alle selbstverwalteten studentischen Zusammenschlusse zu verbieten. Diese Karlsbader Beschlusse wurden erst 1848 aufgehoben. Sie hinderten jedoch weder die Corps noch die Burschenschaften wirksam an ihrer Ausbreitung und Weiterentwicklung.
= Entstehung der Katholischen Studentenverbindungen =
Katholische Studenten traten in den ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nicht in organisierter Weise hervor. Dies hat seine Grunde auch im noch nicht gegrundeten katholischen Vereinswesen. Erst durch die Ausstellung des heiligen Rockes in Trier 1844 wurden katholische Vereine initiiert und infolgedessen der Katholikentag gegrundet. Die Grundung von Katholischen Studentenverbindungen war jedoch hauptsachlich eine Reaktion auf die Unterdruckung der katholischen Bevolkerung durch die protestantisch dominierten Regierungen der deutschen Lander.
Folglich mussten katholische Studenten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, insofern sie einer Korporation beitreten wollten, bei einer der bestehenden Burschenschaften, Corps oder Landsmannschaften aktiv werden. Als die katholischen Verbindungen mehr und mehr an Bedeutung gewannen, reagierten die etablierten Verbindungen ablehnend. So wurde den katholischen Studentenverbindungen in Deutschland und Osterreich von den schlagenden Verbindungen in der Geschichte oft der Vorwurf des so genannten Ultramontanismus gemacht.
= Veranderungen um 1848 und im Kaiserreich =
Schon vor den Revolutionen von 1848 bildeten sich die ersten betont christlichen Studentenverbindungen. Denn zumindest die katholischen Studenten waren vielerorts durch Repressionen und Ausgrenzungen dazu gezwungen, sich eigenstandig zu organisieren. Sie waren auch die ersten, die das studentische Fechten ablehnten. 1836 verzichtete die neu gegrundete Uttenruthia zu Erlangen von Beginn an auf Duell und Mensur. Das war damals geradezu revolutionar.
Zugleich bildete sich im Umfeld der politischen Emanzipation des Burgertums die so genannte „Progressbewegung“ an den Hochschulen, die die studentischen Traditionen abschaffen bzw. an die burgerliche Kultur der Zeit anpassen wollte. Aus ihnen bildete sich zum einen eine neue Art von Landsmannschaften, zum anderen beforderte der Progress aber auch das Entstehen eines nichtkorporativen Vereinswesens an den Hochschulen. Durch eine „Korporatisierungsbewegung der akademischen Vereine“ ausgangs des 19. Jahrhunderts wurden sie zu den Wurzeln vieler nichtfarbentragender Verbindungen. Insbesondere entstanden infolge des Progresses in den 1850er und 1860er verstarkt akademische Turn- und Gesangvereine.
1848 hob die Frankfurter Nationalversammlung die Karlsbader Beschlusse auf. Aus verbotenen „Untergrundorganisationen“ wurden Zusammenschlusse der akademischen Elite, die sich zur heute existierenden Vielfalt fortentwickelten. Auch die „ehemaligen Mitglieder“ bekannten sich nun zu ihrem fruheren Studentenbund. Die so mogliche engere Verbindung war die Basis fur die spateren Altherrenvereine. An den Gymnasien und Oberrealschulen formierten sich in der dieser Zeit verstarkt Schulerverbindungen, die die studentischen Verbindungen in Inhalt und Form nachahmten.
Ab etwa 1850 entwickelte sich aus dem studentischen Duellwesen die Bestimmungsmensur, ein Fechten mit scharfen Waffen, das nicht mehr der Bereinigung von Ehrenhandeln diente, sondern der Charakter- und Personlichkeitsbildung.
Zum Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich auch die nicht-korporierten Freistudenten in so genannten Finkenschaften als „Verein der Vereinslosen“ zu organisieren und die Einrichtung gesamtstudentischer Vertretungen auf der Basis allgemeiner Wahlen einzufordern. Antisemitismus und Nationalismus ergriffen auch die meisten Studentenverbindungen. Nachdem viele von ihnen judische Studenten ausgeschlossen hatten, wurden erste judische Studentenverbindungen gegrundet.
Um 1900 wurden schrittweise auch Frauen zum regularen Universitatsstudium zugelassen. Das Frauenstudium stellte den mannlich dominierten Konsens an den Universitaten und damit auch in den Studentenverbindungen in Frage. Die mannlichen Strukturen hatten sich in den Verbindungen so stark verfestigt, dass Anderungen daran gar nicht erst diskutiert wurden. Zwar wurde die Frage des Frauenstudiums in den Verbindungen breit diskutiert, allerdings wurde in keiner Korporation die Frage nach der Aufnahme von Frauen ernsthaft in Betracht gezogen. An Stelle von gemischtgeschlechtlichen Verbindungen entstanden Damenverbindungen. 1899 bildeten sich die ersten Damenverbindungen.
= Weimarer Republik =
Die Studentenverbindungen bekannten sich auch nach der Ausrufung der Republik weiterhin zu konservativen und nationalistischen Ideen und hatten einen starken Zulauf. Der Anteil der Korporierten an der gesamten Studentenschaft stieg von etwa 30 % (1919) auf fast 60 % (1929). Ein großer Teil der Mitglieder lehnte die neue Republik spatestens seit Beginn der 1920er Jahre ab. Parteipolitische Aktivitaten blieben jedoch Sache des Einzelnen. Gleichzeitig verscharfte sich die antisemitische Grundhaltung der meisten Studentenverbindungen. Die Mehrheit der Korporationsverbande untersagte seit 1919 in ihren Statuten ausdrucklich die Aufnahme von Juden. 1921 beschlossen schlagende und nichtschlagende Studentenverbindungen das Erlanger Verbande- und Ehrenabkommen. Dieses bot erstmals eine Basis zur Beilegung von Streit zwischen diesen Gruppen. Die Kontakte zwischen Damenverbindungen und dem Teil der Studentenverbindungen, die lediglich Manner organisierten, blieben sehr gering.
Die NSDAP bemuhte sich fruh um studentische Mitglieder und grundete 1926 den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB). 1931 ubernahm dieser die Fuhrung in der Deutschen Studentenschaft.
= Zeit des Nationalsozialismus =
Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung setzte in den Studentenverbindungen ein Prozess der Selbstgleichschaltung ein. Ein Großteil der studentischen Mitglieder schloss sich einer nationalsozialistischen Organisation an. Die „Corpsstudentischen Monatshefte“ sprachen Anfang 1934 nicht ohne kritischen Unterton von einem regelrechten „Wettlauf der Verbande in das siegreiche nationalsozialistische Lager“. Der NS-Studentenbund strebte zeitweise die Kasernierung aller Anfangssemester in einem „Kameradschaftshaus“ an. Dafur sollten die Verbindungen ihre Hauser zur Verfugung stellen. Daruber hinaus sollten nach dem Willen der Nationalsozialisten alle Verbindungen sich von jenen Alten Herren trennen, die „nichtarisch“ oder „nichtarisch versippt“ waren. Das widersprach auf fundamentale Weise dem Lebensbundprinzip. Einige betroffene Verbindungen versuchten sich dem zu entziehen, so dass ihnen zum Schluss nur noch die freiwillige Einstellung des Aktivenbetriebes (Suspension) ubrig blieb. Nachdem Rudolf Heß 1936 allen NSDAP-Mitgliedern die Mitgliedschaft in einer Studentenverbindung untersagt hatte, losten sich die Studentenverbindungen entweder selbst auf oder wurden zwangsweise aufgelost. Ubrig blieben lediglich die Altherrenvereine. Als Alternative grundete der NS-Studentenbund „Kameradschaften“. Da die Nationalsozialisten zur Finanzierung und Unterbringung der Kameradschaften die Alten Herren und die Korporationshauser brauchten, entwickelten sich einige dieser Kameradschaften in den folgenden Jahren unter dem Einfluss der Alten Herren zu verkappten Studentenverbindungen.
Von den 1207 Abgeordneten im Reichstag (Zeit des Nationalsozialismus) waren 67 korporiert.
= Nachkriegszeit und Studentenbewegung =
Im besetzten Deutschland ließen die alliierten Militarregierungen die Neugrundung von Studentenverbindungen zunachst nicht zu. Wahrend die westlichen Militarregierungen spater davon abruckten, blieb das Verbot in der SBZ und spater der DDR in Kraft.
Wenige Wochen nach Grundung der Bundesrepublik Deutschland erklarte im Oktober 1949 die Westdeutsche Rektorenkonferenz (WRK) in ihrem Tubinger Beschluss: „Im Bilde der kommenden studentischen Gemeinschaft wird kein Platz mehr sein fur Veranstaltungen von Mensuren, die Behauptung eines besonderen Ehrbegriffs, die Abhaltung geistloser und larmender Massengelage, die Ausubung einer unfreiheitlichen Vereinsdisziplin und das offentliche Tragen von Farben.“ Viele Universitaten anderten ihre Hochschulordnungen entsprechend der Forderungen der WRK. Das Verbot von Korporationen durch Universitaten wurde einige Jahre spater vor Gericht fur unrechtmaßig erklart.
Aufgrund der Schwierigkeiten und der ablehnenden Haltung von verschiedenen Seiten wurden die ersten Mensuren nach dem Zweiten Weltkrieg dann auch heimlich und mit ungeklarter Rechtslage gefochten. Der Gottinger Mensurenprozess, eine gerichtliche Auseinandersetzung, die bis vor den Bundesgerichtshof getragen wurde, schaffte 1953 Klarheit. Die Mensur ist seitdem straffrei, wenn sie nicht zum Austragen von Ehrenhandeln dient und wenn die verwendeten Schutzwaffen sicherstellen, dass todliche Verletzungen ausgeschlossen sind. Der Verzicht auf die Austragung von Ehrenhandeln mit der Waffe wurde dann auch gegenuber dem damaligen deutschen Bundesprasidenten Theodor Heuss bei einem personlichen Treffen 1953 von den Delegationen aller maßgeblichen mensurschlagenden Verbande bestatigt.
In der DDR galten die Studentenverbindungen als Relikte der alten herrschenden Klassen und wurden nicht geduldet. Der Marxismus-Leninismus bestimmte Studieninhalte und die Grundsatze des studentischen Lebens. Erste zaghafte Bestrebungen, alte studentische Traditionen wiederzubeleben, gab es in den 1960er Jahren. In den fruhen 1980er Jahren grundeten sich meist unter dem Deckmantel historischer oder Fechtvereine und unter strenger Beobachtung durch das Ministerium fur Staatssicherheit die ersten Studentenverbindungen in der DDR.
Mit der seit 1965 aufkommenden Studentenbewegung erwuchs den Verbindungen starke Konkurrenz durch politische Studentenverbande. Die Rebellion der 68er Generation richtete sich gegen den „Muff“ des Bildungsburgertums, gegen die mangelnde Bewaltigung und Aufklarung des Nationalsozialismus und gegen die Verstrickung eines Teils des universitaren Lehrkorpers in diese totalitare Herrschaft.
An diesen Bestrebungen hatten die konservativen deutschen Studentenverbindungen keinen Anteil. Auch ihre Vergangenheit, ihr Verhalten besonders in der Zeit des Aufstiegs der NSDAP, aber auch ihre sonstigen Sitten und Gebrauche wurden Ziel studentischer Kritik. Darauf reagierten einige Verbindungen umso mehr mit der Bewahrung studentischer Traditionen. Daraus stammt ein Teil der heutigen Vorbehalte an manchen Universitaten gegen Studentenverbindungen.
Diese mussten seit 1968 einen relativ starken Ruckgang des Anteils an Korporierten und der absoluten Mitgliederzahlen hinnehmen. Viele Verbindungen mussten sich vertagen. Einige, die bisher nur Manner aufnahmen, versuchten sich durch die Aufnahme von Frauen zu stabilisieren. Dies scheiterte jedoch in den meisten Fallen. Die rucklaufige Entwicklung kam aber in den 1980er Jahren zu einem Stillstand und kehrte sich schließlich um. Viele Verbindungen, die seit 1970 vertagt wurden, haben ihren Aktivenbetrieb wieder aufgenommen. Zum Teil konnten sie hierbei von der Dienstleistungsorientierung der Sportbewegung lernen.
= Die deutsche Einheit, Europaisierung und Globalisierung =
Nach der Wende von 1989 wurde es auch auf dem Gebiet der DDR wieder moglich, die fruher hier ansassigen Studentenverbindungen, die in der Nachkriegszeit in den Westen gegangen waren, an den Heimatuniversitaten neu zu beleben. Viele Verbindungen gingen diesen Weg; es kam aber auch zu einigen Neugrundungen.
Mittlerweile gibt es auch Bestrebungen auf europaischer Ebene, mit Studentenverbindungen in anderen Landern zusammenzuarbeiten. Beispiele hierfur sind der 1975 gegrundete Europaische Kartellverband, der erste Weltkorporationstag 2002 sowie der jahrlich stattfindende „Gesamtbaltische Volkerkommers“.
Landesspezifische Besonderheiten Auch wenn sich die Studentenverbindungen im deutschsprachigen Raum uber die Landesgrenzen hinweg stark ahneln, so gibt es dennoch einige Besonderheiten.
= Osterreich =
Die Studentenverbindungen in Osterreich sind im Großen und Ganzen mit den Verbindungen in Deutschland vergleichbar. Untereinander sind sie aber tief in konfessionelle (vor allem katholische) und schlagende, national-freiheitliche Verbindungen gespalten. Gemeinsame Auftritte bei universitaren oder allgemein gesellschaftlichen Veranstaltungen sind nach wie vor außerst selten.
Auffallend ist eine parteipolitische und weltanschauliche Nahe zwischen katholischen Korporationen und der Osterreichischen Volkspartei (OVP) einerseits sowie zwischen Burschenschaften und Freiheitlicher Partei Osterreichs (FPO) anderseits. Die meisten Bundeskanzler aus der OVP sowie aus deren Vorgangern Christlichsoziale Partei und Vaterlandische Front gehorten katholischen CV- bzw. OCV-Verbindungen an. In der FPO gibt es hingegen traditionell zahlreiche Mitglieder von schlagenden Verbindungen, insbesondere Burschenschaften. In der Sozialdemokratischen Partei Osterreichs (SPO) sind heute, anders als bei ihrer Grundung, Mitglieder von Studentenverbindungen kaum vertreten.
Als Eigenart des osterreichischen Couleurstudententums mag der Akademische Bund Katholisch-Osterreichischer Landsmannschaften gelten, der in der Tradition der legitimistischen Studentenverbindungen steht und noch heute enge Verbindungen mit dem Haus Habsburg pflegt.
= Schweiz =
Studentische Gesellschaften sind in der Schweiz seit dem 18. Jahrhundert belegt. Die einzige Schweizer Universitat war die 1460 gegrundete Universitat Basel; sonst gab es in der deutschsprachigen Schweiz nur kleinere Bildungseinrichtungen im Range von Akademien und Kollegien ohne Promotionsrecht. Daher pragte sich die studentische Kultur dort weniger stark aus.
Viele Schweizer gingen zum Studium nach Deutschland, wo sie im fruhen 19. Jahrhundert viele landsmannschaftlich ausgerichtete Corps namens Helvetia grundeten. Als in den fruhen 1830er Jahren die protestantischen Universitaten Zurich und Bern gegrundet wurden, kamen viele Schweizer Studenten wieder in ihr Land zuruck und brachten die studentischen Brauche aus Deutschland mit. In diesen Jahren begannen die ersten Schweizer Verbindungen Couleur zu tragen und Mensuren zu fechten.
Das Korporationswesen in der Schweiz ahnelt heute dem in Deutschland und Osterreich, die drei großen Korporationsverbande der Schweiz (Schweizerischer Zofingerverein, Studentenverbindung Helvetia und Schweizerischer Studentenverein) entstanden allerdings nicht aus Zusammenschlussen einzelner Verbindungen, sondern wurden von Anfang an als Verbande gegrundet. Außerdem gehoren ihnen sowohl Studenten- als auch Schulerverbindungen an. Die schlagenden Verbindungen der Schweiz sind zum großten Teil im Schweizerischen Waffenring (SWR) organisiert.
In der Romandie existieren franzosischsprachige Verbindungen nach deutschem Vorbild. Neben mehrsprachigen Verbanden gibt es mit der Stella Helvetica und der Societe d’Etudiants de Belles-Lettres auch rein franzosischsprachige.
= Liechtenstein =
In Liechtenstein gibt es zwar vier Hochschulen (Universitat Liechtenstein, Private Universitat im Furstentum Liechtenstein, Internationale Akademie fur Philosophie, Liechtenstein-Institut), die meisten Studenten absolvieren ihr Studium aber im Ausland, vorwiegend in Osterreich und der Schweiz.
In Liechtenstein gibt es zum einen die als Ferialverbindung gegrundete Korporation L.A.V. Rheinmark, zum anderen besteht an der Universitat Liechtenstein die Landsmannschaft Invictus zu Vaduz.
Verbindungen außerhalb des deutschen Sprachraums Auch außerhalb des deutschen Sprachraums gibt es Studentenverbindungen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen den Verbindungen Mittel- und Osteuropas, die mit den deutschsprachigen eine gemeinsame Tradition haben, Sonderfallen wie Chile und Japan, wo es ebenfalls Studentenverbindungen „deutscher Tradition“ gibt, und anderen Landern mit Studentenverbindungen und -vereinen eigenstandiger Traditionen.
Die bekanntesten Studentenvereine in anderen Landern sind:
Fraternities und Sororities in Nordamerika;
Tunas, Vereinigungen von Studenten in Spanien, Portugal und verschiedenen Landern Lateinamerikas;
Goliarden in Italien (ehemals auch in der italienischen Schweiz), die seit dem 19. Jahrhundert traditionelle studentische Brauche pflegen;
Studentnationen an den traditionsreichen Universitaten in Schweden und Finnland: Uppsala, Lund und Helsinki;
Corps aus dem Baltikum oder Corpos aus Frankreich, die inhaltlich keine Ahnlichkeit mit den deutschen Corps haben,
und die katholischen Korporationen des Aller Heiligen Convents in den Niederlanden.
Liste der Listen von Verbindungen In der Liste der Listen von Studentenverbindungen sind die Studentenverbindungen und Schulerverbindungen nach Stadt, Korporationsart, Korporationsverband oder Korporationsnamen verzeichnet.
Aktuelle Kontroversen = Haufige Kritikpunkte =
Hierarchische Strukturen Der Politik- und Geschichtslehrer Dietrich Heither attestiert den Verbindungen ein „hierarchisches Gesellschaftsbild, das ein naturliches Oben und Unten kennt“. Kritisiert wird dabei, dass „weniger fachliches Konnen oder Leistung, also wissenschaftliche Autoritat, […] das korporierte Autoritatsverstandnis [bestimmen], vielmehr Vorstellungen von Herrschaftsgewalt und Machtbesitz“. Die Unterordnung ziele seit der Kaiserzeit auf die Formung der Personlichkeitsstruktur des Einzelnen, welche „eine hohe Abhangigkeit des individuellen Gewissens von der Meinung anderer Menschen“ impliziere. Diese, so Heither weiter, sei „nicht nur fur das Militar funktional, sondern fur eine autoritare Gesellschaft bzw. eine hierarchisch gegliederte Gesellschaftsordnung schlechthin“. Herausragende Bedeutung komme dabei der Mensur zugute.
Bildung von Seilschaften Von Teilen der Kritiker wird das Lebensbundprinzip von Studentenverbindungen als ein System dargestellt, mit dem gezielt Aufstiegschancen fur Jungakademiker beeinflusst wurden. Statt der eigenen Leistung seien dort aufgebaute Beziehungen maßgeblich fur die spatere Karriere eines Mitglieds. Heither spricht in diesem Zusammenhang von „Gunstlingswirtschaft“. Bei einem Beratungsinstitut fur junge Akademiker heißt es lapidar: „Hauptzweck der Verbindungen ist, sich gegenseitig in Posten zu hieven“. Das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin schreibt:
Der Vorwurf der Seilschaften wird von den Studentenverbindungen jedoch zuruckgewiesen. In der modernen Arbeitswelt sei es nicht moglich, Menschen mit unzureichenden Qualifikation allein durch Netzwerke auf wichtige Posten zu hieven. Solche Versuche wurden jedoch auf die Studentenverbindung zuruckfallen. Außerdem wurde ein solches Verhalten den Grunduberzeugungen von Studentenverbindungen widersprechen, dass Menschen selbst die Verantwortung fur ihr eigenes Leben ubernehmen sollen. Netzwerke innerhalb der Studentenverbindungen konnen jedoch helfen, Praktikumsstellen zu vermitteln oder auf Jobgesuche aufmerksam zu machen.
Frauenbild Traditionell gibt es nur wenige gemischtgeschlechtliche Verbindungen und auch vergleichsweise wenige Damenverbindungen. Alexandra Kurth bezifferte 2004 die Anzahl der Verbindungen, die potentiell Frauen aufnahmen, auf 10 %. Den gesamten Anteil von Frauen aller Verbindungen inklusive der reinen Damenverbindungen schatzte sie auf zwischen 1 % und 5 %. Seit 2000 gab es jedoch eine "Art Grundungsboom", sodass es mittlerweile uber 100 aktive und vertagte Damenverbindungen allein in Deutschland gibt (siehe auch: Liste der Damenverbindungen). Laut einer Schatzung von Anne Mielke lag der Anteil von Frauenverbindungen 2022 bei ca. 5 %.
Das Prinzip des Mannerbundes sei laut Heither seit dem 18. Jahrhundert kultiviert und zum Teil im Comment verbindlich gemacht worden. Anfang des 19. Jahrhunderts habe sich ein „patriotisch-militarischer Mannlichkeitsentwurf“ in den Studentenverbindungen durchgesetzt.
Laut Diana Auth und Alexandra Kurth sei die Mensur auch dazu bestimmt gewesen, „Verweichlichung“ und „Verweiblichung“ aus den Verbindungen herauszuhalten. Sie bemangeln, dass bei Mannerbunden Frauen lediglich als „schmuckendes Beiwerk“ galten, das nur zu festlichen Anlassen im Verbindungshaus erscheinen solle. Befurworter halten dem entgegen, dass die Geschlechtertrennung primar historische Grunde habe, da zu dem Zeitpunkt, als die altesten heute noch bestehenden Verbindungen entstanden, Frauen noch gar nicht zum Studium zugelassen waren (siehe auch: Frauenstudium), und diese Regelung aufgrund der „Sitten und Gebrauche auf dem Haus“ geboten sei. Andere Verbindungen haben sich aufgrund verschiedener Grunde (meist Mitgliedermangel) seit den 1968ern und auch in den letzten Jahren (Stand 2024) Frauen geoffnet, d. h. sie sind zu gemischten Verbindungen geworden (siehe auch: Liste der gemischten Studentenverbindungen).
Rechtsextreme Tendenzen Das Dokumentationsarchiv des osterreichischen Widerstandes (DOW) und Spiegel Online sehen bei einzelnen Burschenschaften der Burschenschaftlichen Gemeinschaft (BG) ideologische und personelle Bezuge zum Rechtsextremismus. Jens Mecklenburg und Dietrich Heither sahen in den 1990er Jahren auch bei manchen Verbindungen des Coburger Convents, den Vereinen Deutscher Studenten und dem Wingolfbund rechtsextreme Tendenzen, etwa den Anspruch auf ehemalige deutsche Ostgebiete und Auslanderfeindlichkeit. Beim Wingolfbund wurden entsprechende Verbindungen wegen Unvereinbarkeit mit den Grundprinzipien des Bundes inzwischen ausgeschlossen. Kritiker verweisen unter anderem darauf, dass Mitglieder einiger Burschenschaften auch rechtsextremen Gruppen angehorten und einige Verbindungshauser Raume und Publikum fur Vortrage bekannter rechter Ideologen anboten. Diese betrachteten die Burschenschaften als Schnittstelle zur burgerlichen Rechten und hatten sich entsprechend in rechtsextremen Publikationen geaußert. Manche Verfassungsschutzamter bestatigen solche Kontakte.
Die Bundesregierung antwortete 2007 auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, ob sie bei der DB „Anzeichen fur eine inhaltliche Nahe zur extremen Rechten“ sehe:
Im Jahr 2011 sorgte ein auf dem Burschentag der Deutschen Burschenschaft eingebrachter Antrag fur große mediale Aufmerksamkeit, der den Ausschluss der Burschenschaft Hansea Mannheim forderte, weil diese einen chinesischstammigen Deutschen als Mitglied aufgenommen hatte. Der Antrag wurde nicht verhandelt. Aufgrund der starker werdenden rechten Tendenzen in der Deutschen Burschenschaft traten in den folgenden Jahren uber 40 Burschenschaften aus dem Dachverband aus.
Im Februar 2013 zitierte die Allgemeine Zeitung aus Mainz den verbindungskritischen Autor Stephan Peters, der auf einer Veranstaltung uber Studentenverbindungen im Allgemeinen sowie Burschenschaften im Speziellen referierte und dabei auf die Komplexitat des Themas verwies:
Eine Ursache dafur, dass sich in Burschenschaften und anderen schlagenden Studierendenverbindungen mit hoherer Wahrscheinlichkeit Anfalligkeit fur rechtsextreme Ideologie oder Elementen davon fanden, sieht die Politikwissenschaftlerin Alexandra Kurth in der dort praktizierten „Erziehung zur Harte, eine[r] Erziehung zur Gleichgultigkeit gegen den Schmerz, eine[r] Erziehung zu Empathielosigkeit“.
= Unvereinbarkeitsbeschlusse der SPD =
Am 25. Juni 1954 beschloss die SPD auf ihrem Berliner Parteitag, dass die Mitgliedschaft in akademischen Studentenverbindungen, die dem Convent Deutscher Korporationsverbande angehoren, unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD sei. 1967 beschloss der Parteivorstand der SPD nach Gesprachen mit studentischen Verbanden, diese Unvereinbarkeit wieder aufzuheben.
Vor allem die Jungsozialisten hielten jedoch an der Distanz zu den Verbindungen fest; ihre Hochschulgruppen schlossen Verbindungsmitglieder aus ihren Reihen aus. Im Bundestagswahlkampf 2005 kritisierten sie Auftritte prominenter Parteimitglieder wie Friedhelm Farthmann und Egon Bahr bei Veranstaltungen von Verbindungen:
Der Bundesparteitag der SPD in Karlsruhe beauftragte den Parteivorstand am 16. November 2005, zu prufen, ob die „Mitgliedschaft in einer studentischen Burschenschaft oder in einem Corps“ grundsatzlich fur unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD erklart werden konne. Am 27. Marz 2006 beschlossen Prasidium und Vorstand der SPD, dass die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft der Burschenschaftlichen Gemeinschaft (BG) nicht mit einer SPD-Mitgliedschaft vereinbar sei. Der Parteirat der Bundes-SPD stimmte diesem Beschluss am 24. April zu.
Im Juni 2007 wurde der Ausschluss eines Burschenschafters aufgrund dieses Beschlusses vom Landgericht Berlin aufgehoben, da das vom Parteiengesetz vorgesehene Verfahren nicht eingehalten wurde. Im Juni 2006 grundeten korporierte Sozialdemokraten den Lassalle-Kreis mit dem Ziel, positiv auf das Verstandnis zwischen Partei und Verbindungen einzuwirken. Am 23. Juni 2014 beschloss der SPD-Parteivorstand, dass auch die Mitgliedschaft in einer Burschenschaft der Deutschen Burschenschaft (DB) unvereinbar mit einer SPD-Mitgliedschaft sei.
= Gewalt gegen Studentenverbindungen =
Historisch sind gewaltsame Auseinandersetzungen unter Studenten wie auch insbesondere mit Handwerkern und anderen Gruppierungen belegt und mit einer der Grunde fur das Privileg des Waffentragens. Der Umgang mit sowie der Einsatz von handgreiflicher Gewalt ist seit den 1950er Jahren deutlich tabuisiert. Der relative Anteil der Verbindungsstudenten an der Studentenschaft ist deutlich gesunken.
Zu Beginn der 2010er Jahre wurden Anfeindungen und gewaltsame Ausschreitungen gegenuber Verbindungsstudenten vermehrt offentlich bekannt gemacht und thematisiert. Dabei sind teilweise erhebliche Gewalttaten gegen Menschen und Gegenstande wie auch systematische Storungen offentlicher Veranstaltungen in Couleur anzutreffen. In einigen Universitatsstadten waren Verbindungshauser Ziel von Vandalismus, wurden zum Beispiel mit Farbbeuteln und Steinen beworfen oder in Brand zu setzen versucht. Zusammenkunfte von Verbindungsstudenten in der Offentlichkeit mussten teilweise von der Polizei geschutzt werden. Eine kurzfristig abgesagte Fuxentaufe der Gottinger Burschenschaft Hannovera am Himmelfahrtstag 2011 hatte unter Polizeischutz gestellt werden sollen, nachdem Hinweise auf gewaltbereite Gegendemonstrationen vorlagen. Beim Marburger Marktfruhschoppen kam es jahrelang zu Storungen der Veranstaltung.
Im Januar 2011 prasentierte der Convent Deutscher Akademikerverbande (CDA) bei einer Pressekonferenz in Frankfurt erstmals eine eigene Statistik, die Gewalt gegen Studentenverbindungen thematisierte. Diese nannte fur das Jahr 2010 in Deutschland und Osterreich „uber 100 Straftaten gegen Mitglieder von Studentenverbindungen sowie gegen deren Eigentum“. In den meisten Fallen handelte es sich um Vandalismus, es habe aber auch zehn Falle von schwerer Korperverletzung und funf schwere Brandstiftungen an Verbindungshausern und Autos gegeben. Der Leiter des Zentralen Kriminaldienstes der Polizeiinspektion Gottingen bestatigte gegenuber der HNA, es wurde etwa einen Vorfall pro Monat geben. Laut dem Vorsitzenden des Convents Joachim Schon wurden „zum Teil nur widerwillig“ Strafanzeigen bei der Polizei aufgenommen. In der Statistik des CDA fur das Folgejahr wird eine Zunahme der Gewalttaten angegeben, insbesondere bei Brandstiftungen, deren Zahl von funf im Jahr 2010 auf 13 im Jahr 2011 gestiegen sei.
Bei einer Pressekonferenz zur Bilanz des osterreichischen Bundesamtes fur Verfassungsschutz und Terrorismusbekampfung (BVT) fur den Beobachtungszeitraum 2010 erklarte Peter Gridling, der Direktor des BVT, Korporationen wurden bei sogenannten „Burschenschaft-Safaris“ und „Run-Ins“ politischer Gegner ganz gezielt bei internen Veranstaltungen gestort und provoziert. Dabei komme es regelmaßig zu Gewaltanwendungen hauptsachlich gegenuber einschreitenden Polizisten.
Forschung Die Studentengeschichte ist ein Forschungsgebiet der Universitatsgeschichte und beschaftigt sich mit der Kultur- und Sozialgeschichte der Studenten vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Das Forschungsfeld war lange Zeit das Revier von Hobbyhistorikern aus dem Umfeld der Studentenverbindungen selbst. In jungerer Zeit finden studentenhistorische Fragestellungen verstarktes Interesse im akademischen Diskurs. So insbesondere im Institut fur Hochschulkunde in Wurzburg, wo auch einige Archive der Verbande untergebracht sind.
Die Betrachtungen beziehen auch informelle Zusammenschlusse im Gefolge etwa der politischen Wende in der DDR mit ein.
Im Wintersemester 2010/11 wie in den darauffolgenden Jahren fand an der TU Dresden unter dem Titel Fuxe, Kneipen und Couleur – Studentenverbindungen in Vergangenheit und Gegenwart eine erste Ringvorlesung an einer deutschen Universitat statt, die auf wissenschaftlichem Niveau der Thematik „Studentenverbindungen“ gewidmet war.
Das zunehmende Interesse und verbesserte Analyseinstrumente an und fur soziale Netzwerke schlagen sich ebenso in der Forschung zu den Verbindungen nieder. Beispiele umfassen die Geschichte des Maschinenbaus, wo die Zugehorigkeit zu Studentenverbindungen oft die engsten Relationen der untersuchten Universitatsprofessoren wiedergibt, wie auch die Forschung zu den amerikanischen Fraternities und Sororities.
Literatur Martin Biastoch: Studenten und Universitaten im Kaiserreich – Ein Uberblick. In: Marc Zirlewagen (Hrsg.): „Wir siegen oder fallen“. Deutsche Studenten im Ersten Weltkrieg. Koln 2008, (= Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 17), S. 11–24.
Edwin A. Biedermann: Logen, Clubs und Bruderschaften. Droste, Dusseldorf 2004, 2. Auflage 2007, ISBN 3-7700-1184-8.
Harm-Hinrich Brandt, Matthias Stickler: Der Burschen Herrlichkeit – Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens. Historia Academica, Band 36. Wurzburg 1998, ISBN 3-930877-30-9.
Jan Carstensen, Gefion Apel (Hrsg.): Schlagfertig! Studentenverbindungen im Kaiserreich. Reader und Ausstellungskatalog im Auftrage des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zur Ausstellung im Westfalischen Freilichtmuseum Detmold vom 15. August bis 31. Oktober 2006. Detmold 2006, ISBN 3-926160-39-X, ISSN 1862-6939
Ludwig Elm, Dietrich Heither, Gerhard Schafer (sg.): Fuxe, Burschen, Alte Herren – Studentische Korporationen vom Wartburgfest bis heute. Papyrossa, Koln 1993, ISBN 3-89438-050-0.
Paulgerhard Gladen: Gaudeamus igitur – Die studentischen Verbindungen einst und jetzt. Callwey, Munchen 1988, ISBN 3-7667-0912-7.
Hans-Ernst Folz: Studentische Vereinigungen. In: Christian Flamig u. a. (Hrsg.): Handbuch des Wissenschaftsrechts. Springer, Berlin 1982, ISBN 978-3-642-96660-6, S. 658–676.
Paulgerhard Gladen: Die deutschsprachigen Korporationsverbande. WJK, Hilden 2008, ISBN 3-933892-28-7.
Friedhelm Golucke, Bernhard Grun, Christoph Vogel: Die Fuxenstunde. Allgemeiner Teil. 4. Auflage. SH, 1996, ISBN 3-89498-010-9 (Hrsg.): Lothar Braun, Armin Gehlert und Bernhard Grun Gemeinschaft fur deutsche Studentengeschichte.
Bernhard Grun, Christoph Vogel: Die Fuxenstunde. Handbuch des Korporationsstudententums. Bad Buchau 2014, ISBN 978-3-925171-92-5.
Michael Gruttner: Die Korporationen und der Nationalsozialismus. In: Harm-Hinrich Brandt, Matthias Stickler (Hrsg.): Der Burschen Herrlichkeit. Geschichte und Gegenwart des studentischen Korporationswesens (Veroffentlichungen des Stadtarchivs Wurzburg, Band 8), Wurzburg 1998, ISBN 3-87717-781-6, S. 125–143.
Diana Auth, Alexandra Kurth: Mannerbundische Burschenherrlichkeit. Forschungslage und historischer Ruckblick. In: Christoph Butterwegge, Gudrun Hentges (Hrsg.): Alte und Neue Rechte an den Hochschulen. Agenda, Munster 1999, ISBN 3-89688-060-8.
Dietrich Heither, Gerhard Schafer: Studentenverbindungen zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus. In: Jens Mecklenburg (Hrsg.): Handbuch Deutscher Rechtsextremismus. Berlin 1996, ISBN 3-88520-585-8.
Konrad Jarausch: Students, Society, and Politics. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982.
Peter Krause: O alte Burschenherrlichkeit – Die Studenten und ihr Brauchtum. 5. Auflage. Graz 1997, ISBN 3-222-12478-7.
Alexandra Kurth: Manner – Bunde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800. Campus, Frankfurt 2004, ISBN 3-593-37623-7.
Hans Magenschab: Die geheimen Drahtzieher. Macht und Einfluss der Studentenverbindungen. Styria, Wien 2011, ISBN 978-3-222-13344-2.
Silke Moller: Zwischen Wissenschaft und „Burschenherrlichkeit“. Studentische Sozialisation im deutschen Kaiserreich. Frank Steiner, Stuttgart 2001, ISBN 3-515-07842-8.
Robert Paschke: Studentenhistorisches Lexikon. GDS-Archiv fur Hochschulgeschichte und Studentengeschichte, Beiheft 9. Koln 1999, ISBN 3-89498-072-9.
Gerhard Richwien: Student sein, eine kleine Kulturgeschichte. Gemeinschaft fur Deutsche Studentengeschichte (GDS), Kleine Schriften der GDS 15, SH, Koln 1998, ISBN 3-89498-049-4.
Matthias Stickler: Universitat als Lebensform? Uberlegungen zur Selbststeuerung studentischer Sozialisation im langen 19. Jahrhundert. In: Die Berliner Universitat im Kontext der deutschen Universitatslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910. (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 76). Hg. von Rudiger vom Bruch u. M. von Elisabeth Muller-Luckner. Munchen 2010, ISBN 978-3-486-59710-3 (Digitalisat), S. 149–186.
Lisa Fetheringill Zwicker: Dueling Students. Conflict, Masculinity, and Politics in German Universities, 1890–1914. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2011, ISBN 978-0-472-11757-4.
Henner Huhle: Die Entwicklung des Fechtens an Deutschen Hochschulen, Erstausgabe 1965.
Henner Huhle: Die Entwicklung des Fechtens an deutschen Hochschulen: Ein Beitrag zur Geschichte der Schlager- und der Sabelmensuren (Historia Academica). Studentengeschichtliche Verlag des CC e. V.; 2., unveranderte Edition 1976, ISBN 978-3-930877-03-4.
Detlef Frische (Hrsg.), Wolfgang Kumper (Hrsg.), Henner Huhle (Autor): Auf Mensur: Geschichte und Praxis des akademischen Fechtens (Historia Academica). 1976, ISBN 978-3-930877-53-9.
= Verzeichnisse =
Ernst-Gunter Glienke: Civis Academicus 2005–2006, Handbuch der deutschen, osterreichischen und schweizerischen Korporationen und studentischen Vereinigungen an Universitaten und Hochschulen sowie Schulerverbindungen. Redaktion: Ernst Thomas. SH, 2004, ISBN 3-89498-149-0 (Hrsg.): Gemeinschaft fur deutsche Studentengeschichte. Detaillierte Liste (mit Kurzvorstellungen) aller existierenden Studentenverbindungen deutscher Pragung. Ein Eintrag im „Civis“ zahlt teilweise in der sehr heterogenen Welt der Studentenverbindungen als Unterscheidungsmerkmal, ob eine Gesellschaft als Verbindung oder sonstiger Verein gelten kann.
Christian Helfer: Kosener Brauch und Sitte. 2. Auflage. 1991, ISBN 3-9801475-2-5.
Hartmut H. Jess: S. C. C. 2000 (Specimen Corporationum Cognitarum) – Das Lexikon der Verbindungen. CD-ROM, SH, 2000. Auf dieser CD-ROM sind die Daten von 12.000 Verbindungen und Vereinen zusammengestellt.
Alexandra Kurth: Manner – Bunde – Rituale. Studentenverbindungen seit 1800. Campus, Frankfurt 2004, ISBN 3-593-37623-7.
Harald Lonnecker: „… der deutschen Studentenschaft und unserem Rechtsleben manchen Anstoß geben“ – Zwischen Verein und Verbindung, Selbsthilfeorganisation und Studienvereinigung. Juristische Zusammenschlusse an deutschen Hochschulen ca. 1870–1918 (= Rostocker Rechtsgeschichtliche Reihe, Band 13). Shaker Verlag, Aachen 2013, IX u, ISBN 978-3-8440-2166-0.
= Historische Werke =
Max Bauer: Sittengeschichte des deutschen Studententums. Dresden o. J. (um 1930)
Michael Doeberl, Otto Scheel, Wilhelm Schlink, Hans Sperl, Eduard Spranger, Hans Bitter und Paul Frank (Hrsg.): Das Akademische Deutschland, 4 Bande, 1 Registerband von Alfred Bienengraber. C. A. Weller Verlag, Berlin 1931.
Richard Fick: Auf Deutschlands hohen Schulen. Berlin, Leipzig 1900.
Ludwig Golinski: Die Studentenverbindungen in Frankfurt a. O. Ulan Press, 1903.
Friedhelm Golucke et al. i. A. der Gemeinschaft fur deutsche Studentengeschichte: Auf Deutschlands Hohen Schulen. Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1900. SH, Koln 1997, ISBN 3-89498-042-7.
Karl Konrad: Bilderkunde des deutschen Studentenwesens. 2. Auflage. Breslau 1931. Nachtrage und Erganzungen, Breslau 1935.
Friedrich Schulze, Paul Ssymank: Das deutsche Studententum von den altesten Zeiten bis zur Gegenwart. 4. Auflage. Verlag fur Hochschulkunde, Munchen 1932.
Paul Ssymank: Bruder Studio in Karikatur und Satire. Stuttgart 1929.
Weblinks Literatur von und uber Studentenverbindung im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Linkkatalog zum Thema Studentenverbindung bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Arbeitskreis der Studentenhistoriker Informationen zum Arbeitskreis und zur Studentengeschichte
Einzelnachweise
|
Unter dem Begriff der Studentenverbindung oder Korporation wird im weitesten Sinne jede organisierte Form traditioneller studentischer Sozialisation verstanden, wie sie seit der fruhen Neuzeit an europaischen Universitaten nachweisbar ist. Im engeren Sinne versteht man darunter einen im deutschen Sprachraum verbreiteten Verband von Studenten und Alumni einer Hochschule in Form einer Gesellschaft mit bruderschaftlichen und genossenschaftlichen Elementen, der Brauchtum und gewachsene Traditionen pflegt. In Deutschland sind weniger als ein Prozent aller Studierenden Mitglied in einer Studentenverbindung.
International bestehen heute uber 1.600 Studentenverbindungen mit uber 190.000 Mitgliedern nach deutschsprachigem Ursprung. In Deutschland gibt es insgesamt etwa 1000 Studentenverbindungen. Sie sind in rund 30 Korporationsverbanden organisiert und unterscheiden sich sehr stark voneinander. Gemeinsame Merkmale der Verbindungen im deutschsprachigen Raum sind der Convent und der Lebensbund. Lediglich Studentenverbindungen pflegen sogenannte studentische Kneipen. Traditionelle studentische Societaten außerhalb des deutschen Sprachraums pflegen teilweise ganz andere Traditionen. In Deutschland wurden Studentenverbindungen wahrend der Zeit des Nationalsozialismus – teils freiwillig, teils unfreiwillig – gleichgeschaltet und großtenteils aufgelost. Im Zuge der 68er-Bewegung erlitten Studentenverbindungen einen starken Ansehensverlust.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Studentenverbindung"
}
|
c-13976
|
Drittes Reich ist eine Bezeichnung fur das nationalsozialistische Deutschland. Seit den 1920er Jahren wurde der Begriff von der volkischen Bewegung und den Nationalsozialisten propagandistisch eingesetzt, um die von ihnen angestrebte Diktatur in eine Traditionslinie mit dem 1806 untergegangenen Heiligen Romischen Reich und dem 1871 gegrundeten Kaiserreich zu stellen, die Weimarer Republik hingegen von beiden abzugrenzen und dadurch zu delegitimieren. Bis 1939 und daruber hinaus war der Begriff auch als Selbstbezeichnung des NS-Staats gangig.
Der gleiche Begriff wurde schon fruher in weit alteren christlich-theologischen sowie philosophisch-utopischen Traditionen des Abendlands verwendet. Nach christlichen Vorstellungen des Mittelalters bezeichnete das Dritte Reich die nach-endzeitliche Herrschaft des Heiligen Geistes.
Die darin mitschwingende messianische Heilserwartung nutzten die Nationalsozialisten, um ihrer Bewegung zusatzlich einen quasireligiosen Anstrich zu geben. Nachdem sich das Regime Adolf Hitlers etabliert hatte, verwendete die NS-Propaganda den Begriff wegen seiner christlichen Implikationen nur noch selten und ließ ihn schließlich ganz fallen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird er wegen seiner Begriffsgeschichte kritisch gesehen.
Ideengeschichtliche Hintergrunde = Geschichtsphilosophie =
Nach Claus-Ekkehard Barsch ist die spatere Popularisierung des Begriffs „Drittes Reich“ auf die „abendlandische Obsession“ zuruckzufuhren, Geschichte im „Dreischritt“ zu denken und die moderne Rede uber die Einteilung von Geschichte in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Dieser Einteilung von Historie als Gesamtgeschichte liegen geschichtsphilosophische Gedanken zugrunde, die ihre fruhen ideengeschichtlichen Wurzeln in der christlichen Geschichtstheologie, insbesondere bei Paulus und in der Offenbarung des Johannes, haben. Paulus’ Gliederung der Weltgeschichte in die drei Reiche – das der heidnischen lex naturalis, jenes der lex mosaica des Alten Testaments und das dritte, christliche Reich – stellt das Grundschema der religiosen Geschichtsdeutung im Abendland dar, die mit der Verkundung eines dritten Reiches von Joachim von Fiore im 12. Jahrhundert bis hin zu Dante einen Hohepunkt erreichte.
Vor allem die Offenbarung des Johannes sei demgemaß „die Mutter der Geschichtstheologie und die Großmutter der modernen Geschichtstheologie“. Auf die in dieser Schrift beschriebene endzeitliche Heilserwartung, der zufolge das „himmlische Jerusalem“ fur ewig auf der Erde errichtet werden sollte, setzte beispielsweise in der Zeit der Renaissance Konig Franz I. von Frankreich, als er sich um die Kaiserkrone des Heiligen Romischen Reiches bewarb. Zum Zeichen dafur ließ er Schloss Chambord errichten, das hinsichtlich seiner Baugestalt und Symbolik in Anlehnung an die in der Offenbarung des Johannes beschriebene Himmelsstadt gebaut wurde.
= Gnosis und Chiliasmus =
Neben der paulinischen Geschichtsphilosophie nahm die christliche Geschichtsphilosophie von Augustinus eine herausragende Stellung bei der Deutung der Gesamtgeschichte ein. Augustinus, der mehrere Jahre Anhanger der gnostischen Religion des Manichaismus war, bevor er sich dem Christentum zuwandte, verstand Weltgeschichte als eine gewaltige Auseinandersetzung zwischen dem Reiche Christi und dem Reiche des Bosen. Am Ende, so seine Vorstellung, werde sich die civitas terrena von der civitas Dei durch den Abfall der bosen Engel abspalten und aus der civitas Dei entstehe ein Engelsstaat, der in einem Konigreich Gottes ende. Augustinus hatte zwar die Geschichte nicht dreigeteilt, sondern endend mit dem Reich Christi sechs irdische Zeitalter prognostiziert, allerdings war seine Geschichtstheologie hinsichtlich seiner Deutung, dass ein Kampf zwischen Gut und Bose stattfinden wurde, bis hin zum Nationalsozialismus von erheblicher historischer Bedeutung.
Ein Gedanke, der mit zu einem zentralen Bestandteil des Topos Drittes Reich wurde. Friedrich Heer vertrat dementsprechend die Ansicht, dass der Manichaismus uber den Augustinismus in die abendlandischen Kultur des 20. Jahrhunderts transportiert worden sei. Der Gnosis-Forscher Sonnenschmidt legte sich in seinem Buch Politische Gnosis dagegen nicht auf einen direkten Zusammenhang zwischen der antiken Gnosis und der politischen Gnosis in der Moderne fest. Vielmehr stellte er, selbst auf Ideengeschichte spezialisiert, diesen Aspekt als eine Forschungsperspektive heraus und fragte sich, auch mit ausdrucklichem und beispielhaftem Bezug auf Augustinus: „Der Bogen, der von der spatantiken Gnosis zur modernen Gnosis in der Untersuchung gespannt ist, eroffnet neue Forschungsperspektiven, die unter der allgemeinen Hinsicht zusammengefasst werden konnen, ob es eine Entwicklungslinie bzw. Entwicklungs›logik‹ der Gnosis zumindest im Abendland gibt.“
Entscheidend fur die moderne Idee des Dritten Reichs war, was in der Forschung allgemein unbestritten ist, der im Umfeld des mittelalterlichen Chiliasmus entstandene Gedanke, dass das Reich Christi nicht, wie in der alteren Darstellung, das letzte irdische Reich sei, sondern ihm noch ein weiteres folgen wurde. Formuliert wurde dieser Gedanke von dem antijudaischen Geschichtstheologen Joachim von Fiore im 12. Jahrhundert, der seinem Denken uber Gesamtgeschichte ebenfalls die Idee der Einteilung in drei status (wortlich „Zustande“) oder Zeitalter oder Reiche zugrunde legte. Er sah im ersten Reich das gottliche Reich des Alten Bundes (das alttestamentliche „Reich des Vaters“), im zweiten das christliche („Reich des Sohnes“) und im dritten das der dritten gottlichen Person („Friedensreich des heiligen Geistes“, „Zeitalter der Erlosung“).
Nach Auffassung des Philosophen Wolfgang Rod spielten hier gnostische sowie eschatologische Gedanken eine Rolle. Rod schrieb: „Von den Angehorigen des Dritten Reichs als den wahrhaft Wissenden wird angenommen, dass sie unabhangig von vermittelnden Instanzen und außeren Organisationen in Verbindung mit Gott stehen. Zugleich wurde der Blick auf eine Endzeit eroffnet.“ Joachim von Fiore bezog sich bei diesen Gedanken auf die Offenbarung des Johannes, Kap. 20, V. 1–10. Bei der Beschreibung seiner drei Reiche akzentuierte er allerdings, dass jedes davon symbolisch durch seinen „Fuhrer“ bestimmt sei. Nach den Vorlaufern Zacharias und Johannes stehe Christus am Anfang des zweiten Reichs und sei im dritten Reich eine Erscheinung, die er schlechthin mit „DUX“ bezeichnete.
Fur Joachim von Fiore war das dritte Reich „keine neue Institution, die revolutionar an die Stelle der Kirche zu treten hatte“, sondern ein Prozess „der Vergeistigung der Ekklesia und der Umbildung der Weltkirche zu einem neuen Orden kontemplativen vergeistigten Monchtums“. In diesem dritten Reich wurden die Menschen „geistig und arm, bruderlich, alle vom gleichen Rang, ohne Zwangsordnung“ leben. Dabei stellte er auch Berechnungen an, wann das dritte Reich seinen Anfang genommen hatte. Dessen Anbruch datierte er auf das Jahr 1200, die joachitischen Franziskanerspiritualen spater auf 1260, wobei letztere Franz von Assisi als den von Joachim von Fiore verkundigten DUX ansahen.
= Volkische Denkweisen =
Der auf dem Hintergrund von volkischen Denkweisen des 19. und 20. Jahrhunderts entstandene Begriff „Drittes Reich“ beinhaltete nicht nur religiose Aspekte, sondern auch politische, wobei Staat und Religion in engstem Zusammenhang beschrieben und interpretiert worden sind. Der Philosoph Eric Voegelin merkte dazu in allgemeiner Hinsicht an, dass sich „die Begriffe von Religion und Staat, wie sie heute im allgemeinen europaischen Sprachgebrauch, aber auch bis tief in den engeren [sic!] der Wissenschaft, verbindlich sind“, an „bestimmten Modellen, die ihre besondere Bedeutung im Geisteskampf Europas haben“, orientieren. So werden unter Religion „Erscheinungen wie das Christentum und die anderen großen Erlosungsreligionen“ und unter Staat „die politischen Organisationen vom Typus des modernen Nationalstaats“ verstanden. Dementsprechend merkten zahlreiche Autoren in der Nachkriegszeit an, dass der moderne Nationalismus ein religioses Moment enthalte. Der Historiker und Germanist Klaus Vondung pointierte dabei in seinem Buch Die Apokalypse in Deutschland, dass der politische Nationalismus in Deutschland „von seiner Geburtsstunde an von apokalyptischen Vorstellungen durchsetzt und gepragt“ gewesen sei.
Der Historiker Michael Ley beschrieb einen Zusammenhang von volkischem Denken und der politischen Romantik in der Moderne, wobei er ebenfalls betonte: „Das romantische Weltbild ist gnostisch-apokalyptisch, die geistige Erneuerung ist das sogenannte Dritte Reich bzw. das kommende tausendjahrige Reich“. Und Barsch stellte im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Begriff „Drittes Reich“ einen ausdrucklichen Bezug zwischen der Apokalypse und dem Nationalsozialismus her, wobei er auch auf die den glaubigen Apokalyptikern zu eigen seiende optimistische Perspektive aufmerksam machte: Die Apokalyptik des Johannes sei durchaus nicht pessimistisch oder nihilistisch. Vielmehr seien die von ihm geschilderten furchtbaren Ereignisse „im ursprunglichen Sinn des Wortes ‚katastrophe‘, namlich als Wende; als Wende zum Besseren und als Wende zur Erlosung“ zu verstehen. Vor dem ersten Zeitalter der Erlosung, dem Tausendjahrigen Reich, komme die Schlacht Harmagedon (Offb 1616 ).
„Drittes Reich“ im 20. Jahrhundert = Deutsches Kaiserreich =
Der Begriff Drittes Reich erlangte im gesellschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts keine große Bedeutung. Er wurde erst in den 1920er Jahren zum terminus technicus. Dennoch wurde der Ausdruck bereits vereinzelt im Deutschen Kaiserreich seit Ende des 19. Jahrhunderts verwendet, allerdings in unterschiedlichen Bezugen.
Das erstmalige Auftauchen des Begriffs in Deutschland wird in der Forschung auf das Jahr 1888 datiert. In diesem Jahr wurde das von Henrik Ibsen 1873 in Norwegen verfasste Theaterstuck Kaiser und Galilaer in die deutsche Sprache ubersetzt. Ibsen verwendete den Begriff in diesem Stuck als Bezeichnung fur eine Synthese zwischen Heidentum und Christentum. 1894 hielt der Begriff dann Einzug in den Roman Vigilien des deutsch-polnischen Dichters Stanisław Przybyszewski und 1896 in die Gedichtsammlung Weib und Welt des mit ihm befreundeten Dichters Richard Dehmel. Schmitz-Berning merkte in diesem Zusammenhang an, dass beide „Teilnehmer der Tafelrunde in dem Berliner Lokal ›Schwarzes Ferkel‹ ›Unter den Linden‹“ gewesen sind und dass dieses Lokal ebenso von Arthur Moeller van den Bruck, dem die spatere Popularisierung des Begriffs zugeschrieben wird, besucht wurde.
In dem 1899 erschienenen Roman Das dritte Reich von Johannes Schlaf tauchen erstmals Ahnlichkeiten mit der spateren nationalsozialistischen Ideologie auf, wie Barsch konstatierte. So studiert der Hauptheld Dr. Emmanuell Liesegang „gnostische Schriften, die Apokalypse des Johannes und traumt vom ›Ubermenschen‹“. Die schwedische Reformpadagogin Ellen Key verwendete den Begriff in ihrem Essayband Die Wenigen und die Vielen (1901) mit Bezug auf den Mystiker Maximos, auf den sich auch Ibsen bezog. In dem Roman Wiltfeber, der ewige Deutsche (1912) von Hermann Burte wurde der Begriff beilaufig verwendet, dies allerdings im Kontext der Begriffe ›Krist‹, ›Widerkrist‹, ›Hakenkreuz‹ und der Reinheit der Blonden, womit bereits eine Verbindung von volkisch-rassistischer und religioser Weltanschauung gegeben war. Weiterhin wurde der Begriff im Buchtitel des Journalisten Martin Wust verwendet; ebenso 1916 bei Gerhard von Mutius in seinem Buch Die drei Reiche. Beide Autoren verwendeten den Begriff indessen in einem pazifistisch-aufklarerischen Sinne.
= Weimarer Republik =
Popularisierung des Begriffs In der Weimarer Republik wurde der Begriff im Jahr 1918 zunachst in dem Aufsatz Der Gedanke des deutschen Philosophen und Mathematikers Gottlob Frege verwendet. Freges Begriff vom dritten Reich stellt eine eigenstandige Sinndeutung dar: „Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehort, stimmt mit den Vorstellungen darin uberein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es keines Tragers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehort.“
Ganz im Gegensatz zu Freges Begrifflichkeit, die allgemein keine Beachtung gefunden hat, trug zur Popularisierung der Rede vom „Dritten Reich“ vor allem die im Jahr 1923 veroffentlichte Schrift Das dritte Reich des konservativ-antidemokratischen Nationalisten Moeller van den Bruck bei.
Nach seiner Einteilung war das erste Reich das Heilige Romische Reich Deutscher Nation bis 1806, das zweite das von Otto von Bismarck geschaffene unter den deutschen Kaisern Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. (1871–1918) und das dritte, das noch folgen sollte, ein Reich, in dem sich der Nationalismus mit dem Sozialismus verbinden sollte.
Bei dieser Konstruktion bezog sich Moeller van den Bruck nicht direkt auf Joachim von Fiore, sondern auf seine verbreitete Idee. Der Germanist Peter Philipp Riedl schrieb dazu: „Der von Arthur Moeller van den Bruck wirkungsvoll im Umlauf gesetzte Begriff des ›Dritten Reichs‹, dem auch Julius Petersen nach langjahrigen Vorarbeiten 1934 ›in deutscher Sage und Dichtung‹ nachging, deutet die Geistlehre des Joachim von Fiore zum innerweltlichen Erlosungsmythos, zum volkisch-nationalen Heilsgeschehen um.“
Ubernahme in das NS-Vokabular Ernst Bloch vertrat in seinem erstmals 1935 veroffentlichten Aufsatz Zur Originalgeschichte des Dritten Reichs die Auffassung, dass die Nationalsozialisten ihre Begrifflichkeit vom „Dritten Reich“ von Arthur Moeller van den Bruck adaptiert hatten. Seit der Veroffentlichung des Buches Die politische Religion des Nationalsozialismus von Barsch im Jahr 1998 gilt diese These in der neueren Forschung als umstritten. Matthias Straßner schrieb:
Genau schrieb Barsch:
Zudem machte Barsch darauf aufmerksam, dass der Begriff Drittes Reich weder „von den Nationalsozialisten selbst klar umschrieben“ noch „in der Literatur zur NS-Ideologie durch eine systematische Monographie behandelt“ worden sei. Und er erganzte: „Auf keinen Fall liegt ihm eine staats- und verfassungsrechtliche Konzeption zugrunde. Ein Regierungssystem gemaß der Ideologie des ›Dritten Reiches‹ ist weder vor noch nach 1933 verfaßt worden.“
Kritik von christlichen Publizisten Im Juni 1931 mahnte Eugen Rosenstock-Huessy in der Zeitschrift Hochland, dass mit dem „Dritten Reich“ ein Begriff aus der christlichen Begriffswelt unstatthaft sakularisiert und auf ein weltliches Ersatzreich angewendet werde: An die Stelle eines wahrhaft umfassenden johanneischen Christentums (nach der „Petruskirche“ und der „Paulusmission“) trete bei den neuen Ideologen eine sakulare politische Engfuhrung. Und der Baptist Arnold Koster beschrieb die Gefahr, dass die Menschen ihre Hoffnung auf „die Reiche dieser Welt“ setzen und jetzt an „das dritte Reich“ glauben, nicht „an das Reich Gottes, an das Konigtum Jesu“.
= Zeit des Nationalsozialismus =
Selbstbezeichnung des NS-Staates Drittes Reich war die Selbstbezeichnung des NS-Staats. Ruckblickend bezeichneten Nationalsozialisten nach der Machtubernahme die Weimarer Republik als ein Zwischenreich, um deutlich zu machen, dass sie in der offiziellen Zahlung keinen Platz hat. Außerdem wurde der Begriff Systemzeit fur die Jahre zwischen dem „Zweiten Reich“ – dem (wilhelminischen) deutschen Kaiserreich – und dem „Dritten Reich“ verwendet. Mit Systemzeit oder Zwischenreich sollte in nationalsozialistischer Diktion das parlamentarische Regierungssystem des Deutschen Reiches von 1918 bis 1930/1933 gegenuber den autoritaren deutschen Regierungssystemen, die als Reich anerkannt wurden, herabgesetzt werden. Erkennbar ist die mit dieser Diktion propagierte Erlosungsideologie (Tausendjahriges Reich), die an religiose Vorstellungen anknupft.
Die Nationalsozialisten adaptierten auch den Begriff „Tausendjahriges Reich“, um nach der wechselvollen deutschen Geschichte eine Zeit der Kontinuitat unter ihrer Herrschaft zu propagieren. So verkundete Adolf Hitler am 1. September 1933 offiziell, dass der von ihm gefuhrte Staat ein „Drittes Reich“ sei, das „tausend Jahre“ dauern werde. Der Begriff „Tausendjahriges Reich“ sowie der Begriff „Drittes Reich“, wie ihn die Nationalsozialisten verwendeten, griffen die „Symbole apokalyptischer Geschichtsspekulation fur die Endphase der Geschichte auf“. Vondung bemerkte:
In diesem Zusammenhang ist auch uberliefert, dass Heinrich Himmler, Reichsfuhrer SS und Chef der Deutschen Polizei und Anhanger des Okkultismus, sich selbst als „Reinkarnation“ von Konig Heinrich I. sah, der im Jahre 936 in der Pfalzkapelle auf dem Schlossberg zu Quedlinburg bestattet wurde. Zum 1000. Todestag des Konigs im Jahr 1936 wurden die Wipertikirche und die Kirche St. Servatii auf dem Quedlinburger Schlossberg zur „Weihestatte der SS“ erklart. Dies geschah, um eine direkte Linie zu den Nationalsozialisten zu ziehen, die „weitere tausend Jahre“ regieren wollten.
Spatere Vermeidung des Begriffs Gegner des nationalsozialistischen Regimes persiflierten dessen Ewigkeitsanspruch mit dem Begriff „Viertes Reich“.
Am 13. Juni 1939 ließ Hitler in einem „nicht zur Veroffentlichung“ bestimmten Rundschreiben die weitere Verwendung des Begriffs „Drittes Reich“ untersagen. Reinhard Bollmus schrieb dazu unter anderem, dass Hitler damit zu erkennen gab, dass „der Fuhrer-Staat selbst nach seinen Anschauungen kaum jemals etwas mit den Vorstellungen Moeller van den Brucks“ gemein gehabt hatte. Und er erganzte hinsichtlich der Perspektive Hitlers: „Er bevorzugte Ausdrucke wie ›Germanisches Reich deutscher Nation‹ und ›Großgermanisches Reich‹, und wenn darin die Erinnerung an die Zeit der Volkerwanderung beschworen werden sollte, wenn Hitler sich dabei an dem – in dieser Einseitigkeit fur ihn typischen – Bilde einer Periode standiger Eroberungszuge orientierte, so kennzeichnete er das von ihm geschaffene Herrschaftsgebilde durchaus richtig: als Eroberungsstaat, und zwar als Eroberungsstaat nicht nur in außenpolitischer, sondern auch in innenpolitischer Hinsicht.“
Am 10. Juli 1939 wies das Reichspropagandaministerium die Presse im „Altreich“ und in Osterreich an, den Begriff „Drittes Reich“ zukunftig zu meiden. Wortlich hieß es in der Begrundung: „Um die Anderungen innerer Verhaltnisse innerhalb des Reiches propagandistisch zum Ausdruck zu bringen, ist vor und nach der Machtubernahme der Ausdruck ‚Drittes Reich‘ fur das nationalsozialistische Reich gepragt und gebraucht worden. Der tiefgreifenden Entwicklung, die seitdem stattgefunden hat, wird diese historisch abgeleitete Bezeichnung nicht mehr gerecht. Es ergeht deshalb der Hinweis, den Ausdruck ‚Drittes Reich‘, der ja durch die Geschehnisse bereits durch die Bezeichnung ‚Großdeutsches Reich‘ ersetzt worden ist, im Rahmen der aktuellen Pressearbeit nicht mehr zu verwenden.“ Offiziell erwunschte Bezeichnungsalternativen zu „Drittes Reich“ waren auch „nationalsozialistisches Deutschland“ und „Deutsches Reich“.
Der Anweisung folgend, wurde fur die 12. Auflage des Rechtschreibdudens von 1941 das noch in der 11. Auflage von 1934 enthaltene Stichwort „Drittes Reich“ mit der Bedeutung „das 1933 gegrundete dritte Reich nach dem alten Deutschen Kaiserreich u. dem Reich der Hohenzollern“ nicht mehr aufgenommen. Der Volks-Brockhaus von 1940 fuhrte statt „Drittes Reich“ den offiziell erwunschten Begriff „Großdeutsches Reich“ und die Zeitschrift Die Kunst im Dritten Reich nannte sich ab 1939 Die Kunst im Deutschen Reich.
Vollig getilgt wurde der Begriff allerdings nicht. Cornelia Schmitz-Berning wies nach, dass der Begriff beispielsweise in der von Joseph Goebbels herausgegebenen Wochenzeitung Das Reich weiterhin benutzt worden ist. Auch in den Bormann-Diktaten, die manchmal als Hitlers „politisches Testament“ bezeichnet werden, erscheint der Begriff.
Reich und Empire Nach dem Anschluss Osterreichs 1938 wurde der Begriff „Großdeutsches Reich“ zunachst inoffiziell, ab dem 26. Juni 1943 dann als amtliche Staatsbezeichnung verwendet.
Am 21. Marz 1943 verlangte das Reichspropagandaministerium von der Presse die Verwendung der generischen Bezeichnung das Reich analog zur Verwendung des Ausdrucks Empire im Britischen Weltreich.
Holocaust Ungeachtet dessen, dass der Begriff „Drittes Reich“ fur die Nationalsozialisten an Bedeutung verlor und die sogenannte Judenfrage wahrend des Zweiten Weltkrieges „nicht mehr in gleicher Weise wie vor 1938/39 behandelt wurde, versuchten katholische (und protestantische) Theologen, die Shoah mit heilsgeschichtlichen Argumenten zu deuten und trugen damit zur Verharmlosung antisemitischer Verbrechen bei“. Der Historiker Urs Altermatt schrieb ferner uber dieses vereinzelt auftauchende Phanomen: „So benutzten in den Kriegsjahren einzelne Theologen das Stigma von der ›Verworfenheit‹ der Juden, um ihre Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten und deren Helfershelfer zu erklaren. Sie waren der Meinung, dass nur die Bekehrung der Juden zum Christentum sie vor Verfolgung bewahren konne.“ Der Historiker Jacques Le Goff stellte die diesem Denken zugrunde liegende apokalyptische Idee als ein modernes Phanomen heraus. Er schrieb: „Und wenn der heutige Europaer eschatologische Vorstellungen hat, dann sind es leider solche von Volkermord oder nuklearer Bedrohung, sie sind apokalyptischer als die der mittelalterlichen Gesellschaft, in der die Utopien und Angste der Apokalypse im allgemeinen nur bei Minderheiten verbreitet war.“
Widerstand In der 29. Auflage der Geflugelten Worte von Georg Buchmann aus dem Jahr 1943 heißt es dazu:
Im amerikanischen Spielfilm Casablanca (1942) wirft der deutsche Major Strasser dem vichy-franzosischen Capitaine Renault vor, er benutze die Wendung „Drittes Reich“ mit einem Unterton, als erwarte er noch weitere.
= Nachkriegszeit =
Begriffsverwendung seit Kriegsende 1945 Seit der Nachkriegszeit hat sich die zeitliche Blickrichtung hinsichtlich des Begriffs „Drittes Reich“ grundlegend gewandelt. Wurde die mit dem Begriffsinhalt verbundene Vorstellung uber Jahrhunderte auf die Zukunft bezogen, so bezieht sich der Begriff seitdem allgemein auf die Zeit des Nationalsozialismus und somit auf die historische Vergangenheit. Nach 1945 setzte sich die Bezeichnung „Drittes Reich“ in der Umgangssprache, unter Historikern, in der Publizistik und im Geschichtsunterricht an den Schulen durch, da mit ihm pragnant Bezug auf das Deutschland wahrend der Zeit der NS-Diktatur genommen werden konnte und die Nationalsozialisten keinen spezifischen Begriff fur Deutschland in der Zeit ihrer Herrschaft etablierten.
Allgemein zeichnete sich nach 1945 allerdings eine „Bezeichnungsheterogenitat“ in der Bundesrepublik Deutschland ab. So werden neben dem „volkslaufigen“ Ausdruck „Drittes Reich“ auch Bezeichnungen wie NS-Staat, NS-Regime, Diktatur Hitlers und nationalsozialistische Herrschaft verwendet. Eine stichprobenartige Untersuchung von Georg Stotzel der Tageszeitung taz (von 1989 bis 1999) und der Wochenzeitung Die Zeit (von 1995 bis 1998) ergab beispielsweise, dass fur den jeweiligen Untersuchungszeitraum in diesen Zeitungen „die Epochenbezeichnung Nazi-Zeit“ gegenuber anderen Bezeichnungen „vorherrschend“ gewesen sei (taz mit 90 Prozent, Die Zeit mit 60 Prozent).
Kritischer Diskurs seit den 1980er Jahren Aus der Perspektive der Sprachkritik veroffentlichte der Jurist Walter Mallmann 1984 im Handworterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte seinen Einwand, dass der Terminus „Drittes Reich“ „ideen- und verfassungsgeschichtlich, juristisch und politisch unvertretbar“ sei.
Im Jahre 1989 schrieb Dieter Gunst einen Aufsatz, in dem er der Frage nachging, wie sich nach 1945 der Begriff „Drittes Reich“ neu etablieren konnte. Dabei stellte er fest, dass einerseits der Begriff von den Alliierten 1945 als Anglizismus reimportiert worden sei und andererseits gemaß Art. 131 GG „die Altextremisten aus der Nazizeit in die Verwaltung der Bundesrepublik Deutschland ubernommen“ worden seien, „soweit sie sich nicht strafbar gemacht“ hatten (vgl. 131er). Und er fugte diesbezuglich hinzu:
Zudem merkte Gunst an, dass die ruckbezugliche Bezeichnung des Hitler-Regimes als „Drittes Reich“ nicht nur eine „Aufwertung des Nationalsozialismus“ sei, sondern auch die historischen Fakten falsch kennzeichnen wurde. Hitler habe, wie er hinzufugte, weder einen Staat noch ein „besonderes Reich“ gegrundet.
Stotzel stellte in seinem erstmals 2002 erschienenen Buch Zeitgeschichtliches Worterbuch der deutschen Gegenwartssprache den Mangel an erkennbaren Reflexionen bezuglich des Begriffs „Drittes Reich“ sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der deutschen Presse heraus. So merkte er unter anderem an, dass beispielsweise der Historiker Karl Dietrich Bracher 1964 den Begriff „Drittes Reich“ stets mit „distanzierenden Anfuhrungsstrichen“ verwendet hatte, allerdings ohne sich explizit zur Bezeichnungsproblematik geaußert zu haben, ebenso der „sprachsensible Politikwissenschaftler“ Dietrich Thranhardt in seinem Buch Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1996. Auch hatte beispielsweise das Magazin Der Spiegel im Jahr 1950 durchweg in verschiedenen Ausgaben „Drittes Reich“ ohne Anfuhrungszeichen geschrieben. Und er fasste zusammen:
Literatur = Ideengeschichtliche Hintergrunde =
Ernst Bernheim: Mittelalterliche Zeitanschauungen in ihrem Einfluß auf Politik und Geschichtsschreibung. Tubingen 1918 (Neudruck, Tubingen 1964, DNB).
Gerhard Bauer: Reich Gottes und Drittes Reich. Gottingen 1934. DNB
Heinz Hertl: Das dritte Reich in der Geistesgeschichte. Hamburg 1934. DNB
Julius Peterson: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung. Stuttgart 1934. DNB
Jean Frederic Neurohr: Der Mythos vom Dritten Reich. Cotta, Stuttgart 1957. DNB
Norman Cohn: Das Ringen um das Tausendjahrige Reich. Revolutionarer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modernen totalitaren Bewegungen. (Originaltitel: The Pursuit of the Millennium, ubersetzt von Eduard Thorsch). Francke, Bern/Munchen 1961. DNB
Jacques Sole: Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklarung (Originaltitel: Les mythes chretiens, ubersetzt von Henriette Beese). Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1982, ISBN 3-548-35155-7.
Johan Hendrik Jacob van der Pot: Sinndeutung und Periodisierung der Geschichte. Eine systematische Ubersicht der Theorien und Auffassungen. Leiden 1999, ISBN 90-04-11605-2.
= Verwendung des Begriffs im 20. Jahrhundert =
Dieter Gunst: Hitler wollte kein „Drittes Reich“. In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, 17, 1989, S. 299–306.
Jost Hermand: Der alte Traum vom neuen Reich. Volkische Utopien und Nationalsozialismus. Frankfurt am Main 1988 (2. Aufl., Weinheim 1995, ISBN 3-89547-709-5).
Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin 1998, ISBN 3-11-013379-2, S. 157–160 (Google Books).
Burchard Brentjes: Der Mythos im dritten Reich. Drei Jahrtausende Traum von der Erlosung. Fackeltrager, Hannover 1999, ISBN 3-7716-2112-7.
Gabor Hamza: Die Idee des „Dritten Reichs“ im deutschen philosophischen und politischen Denken des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung fur Rechtsgeschichte, Bd. 118, Germanistische Abteilung. Bohlau, Wien/Koln/Weimar 2001, S. 321–336.
Hermann Butzer: Das „Dritte Reich“ im Dritten Reich. Der Topos „Drittes Reich“ in der nationalsozialistischen Ideologie und Staatslehre. In: Der Staat. Zeitschrift fur Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europaisches Offentliches Recht. 42. Bd., Hannover 2003, S. 600–627.
Georg Stotzel: Zeitgeschichtliches Worterbuch der deutschen Gegenwartssprache. 2., erweiterte und aktualisierte Aufl., Hildesheim 2003, ISBN 3-487-11759-2 (Google Books).
= Zeitungsartikel =
Nazi-Worte im Sprachgebrauch – Madel verpflichtet. In: Suddeutsche Zeitung vom 17. Mai 2010
Weblinks Literatur von und uber Drittes Reich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Drittes Reich ist eine Bezeichnung fur das nationalsozialistische Deutschland. Seit den 1920er Jahren wurde der Begriff von der volkischen Bewegung und den Nationalsozialisten propagandistisch eingesetzt, um die von ihnen angestrebte Diktatur in eine Traditionslinie mit dem 1806 untergegangenen Heiligen Romischen Reich und dem 1871 gegrundeten Kaiserreich zu stellen, die Weimarer Republik hingegen von beiden abzugrenzen und dadurch zu delegitimieren. Bis 1939 und daruber hinaus war der Begriff auch als Selbstbezeichnung des NS-Staats gangig.
Der gleiche Begriff wurde schon fruher in weit alteren christlich-theologischen sowie philosophisch-utopischen Traditionen des Abendlands verwendet. Nach christlichen Vorstellungen des Mittelalters bezeichnete das Dritte Reich die nach-endzeitliche Herrschaft des Heiligen Geistes.
Die darin mitschwingende messianische Heilserwartung nutzten die Nationalsozialisten, um ihrer Bewegung zusatzlich einen quasireligiosen Anstrich zu geben. Nachdem sich das Regime Adolf Hitlers etabliert hatte, verwendete die NS-Propaganda den Begriff wegen seiner christlichen Implikationen nur noch selten und ließ ihn schließlich ganz fallen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird er wegen seiner Begriffsgeschichte kritisch gesehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Drittes_Reich"
}
|
c-13977
|
Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (* 10. [nach eigener Angabe] oder 18. Oktober 1777 [laut Kirchenbuch] in Frankfurt (Oder), Brandenburg, Preußen; † 21. November 1811 am Stolper Loch, heute Kleiner Wannsee) war ein deutscher Dramatiker, Erzahler, Lyriker und Publizist.
Heinrich von Kleist stand als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit […] jenseits der etablierten Lager“ und der Literaturepochen der Weimarer Klassik und der Romantik. Bekannt ist er vor allem fur das „historische Ritterschauspiel“ Das Kathchen von Heilbronn, seine Lustspiele Der zerbrochne Krug und Amphitryon, das Trauerspiel Penthesilea sowie fur seine Novellen Michael Kohlhaas und Die Marquise von O....
Biographie = Familie, Ausbildung und Militardienst (1777–1799) =
Heinrich von Kleist, geboren am 10. oder 18., getauft am 27. Oktober 1777, entstammte einer Familie des pommerschen Uradels, dem in Preußen eine herausgehobene Stellung zukam. Er wurde als funftes Kind und erster Sohn seines Vaters geboren. Seine Familie brachte zahlreiche Generale und Feldmarschalle, viele Gutsbesitzer, aber auch etliche Gelehrte, hohe Diplomaten und Beamte hervor. Kleists Vater, der Offizier Joachim Friedrich von Kleist (1728–1788), diente als Stabskapitan beim Regiment zu Fuß Prinz Leopold von Braunschweig in der Garnisonsstadt Frankfurt an der Oder. Aus einer ersten Ehe mit Caroline Luise Kleist, geborene von Wulffen († 1774), gingen die beiden Halbschwestern Kleists, Wilhelmine, genannt Minette, und Ulrike Philippine hervor, der Kleist spater sehr nahestand. Joachim Friedrich heiratete 1775 in zweiter Ehe Juliane Ulrike von Pannwitz (1746–1793). Sie gebar die Kinder Friederike, Auguste Katharina, Heinrich und schließlich noch dessen jungere Geschwister Leopold Friedrich und Juliane Kleist, genannt Julchen.
Nach dem Tod seines Vaters 1788 wurde Kleist in Berlin in der Pension des reformierten Predigers Samuel Heinrich Catel erzogen. Kleist wurde wahrscheinlich durch Catel, der zugleich Professor am Franzosischen Gymnasium war, auf die Werke der klassischen Dichter und der zeitgenossischen Philosophen der Aufklarung aufmerksam, mit denen er sich wahrend seiner Militarzeit weiter auseinandersetzte. Vor dem Eintritt in die Preußische Armee brach er sein an der Brandenburgischen Universitat Frankfurt begonnenes Studium ab, weil er der herkommlichen Militarlaufbahn den Vorrang geben wollte.
Im Juni 1792 trat der junge Kleist getreu seiner Familientradition in das 3. Bataillon des Garderegiments zu Potsdam als Gefreiter-Korporal ein. Unter Generalinspekteur Ernst von Ruchel nahm er am Rheinfeldzug gegen Frankreich sowie an der Belagerung der ersten burgerlichen Republik auf deutschem Boden in Mainz teil. Trotz wachsender Zweifel am Soldatendasein verblieb Kleist im Militar und wurde 1795 zum Fahnrich und 1797 zum Leutnant befordert. Privat jedoch nahm er zusammen mit seinem Freund Ruhle von Lilienstern mathematische und philosophische Studien in Potsdam auf und erwarb sich den Universitatszugang. 1797 verkauften er und seine Geschwister den ererbten vaterlichen Besitz, das kleine Rittergut Guhrow im Spreewald, fur 30.000 Taler, von dem er nach seiner Großjahrigkeit im Oktober 1801 uber ein Siebtel verfugte.
Im Marz 1799 außerte er die Absicht, den als unertraglich empfundenen Militardienst aufzugeben und seinen Lebensplan – auch gegen den zu erwartenden Widerstand der Familie – zu verwirklichen. Dieser sollte nicht auf Reichtum, Wurden und Ehren gegrundet sein, sondern auf die Ausbildung des Geistes und ein wissenschaftliches Studium.
= Studium und erste Anstellung (1799–1801) =
Nach seiner erbetenen und gegen den Widerstand Ernst von Ruchels bewilligten Entlassung aus dem Militardienst begann Kleist im April 1799 an der Universitat Frankfurt an der Oder neben Mathematik als Hauptfach Physik, Kulturgeschichte, Naturrecht, Latein und – zur Beruhigung seiner Verwandten – Kameralwissenschaften zu studieren. Besonders interessierte er sich fur den Physikunterricht bei dem als Professor tatigen Christian Ernst Wunsch, der ihm auch Privatunterricht in Experimentalphysik erteilte. Wie fur nicht wenige andere Autoren der Zeit (beispielsweise Goethe, Achim von Arnim und Novalis) waren fur ihn die Naturwissenschaften im Sinne der Aufklarung ein objektives Mittel, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu erkennen – und zu verbessern. Die hoffnungsvoll begonnene wissenschaftliche Ausbildung vermochte Kleist jedoch schon bald nicht mehr voll zu befriedigen; das Buchwissen reichte ihm nicht aus. Mit dieser Haltung fand Kleist wenig Verstandnis in seiner Umwelt. 1799 lernte er Wilhelmine von Zenge, die Tochter eines Garnisonskommandanten, kennen, mit der er sich Januar 1800 verlobte.
1800 brach er nach nur drei Semestern das Studium wieder ab und begann eine Tatigkeit als Volontar im preußischen Wirtschaftsministerium in Berlin, obwohl dies seinem Verstandnis eines Lebensplanes „freier Geistesbildung“ nicht entsprach. Hintergrund der Entscheidung war seine Verlobung. Die Familie der Braut forderte, dass Kleist ein Staatsamt bekleide.
Nach Gesprachen mit hohen Beamten in Berlin am 28. August schrieb er sich am 1. September 1800 an der Universitat Leipzig unter falschem Namen ein. Am 3. September desselben Jahres kam er nach Dresden, wo er sich bei dem englischen Botschafter Lord Elliot um ein Visum fur das Habsburgerreich bemuhte. In der Botschaft, so schrieb er seiner zu Hause gebliebenen Verlobten, habe er Dinge gehort, „die uns bewegen, nicht nach Wien zu gehen, sondern entweder nach Wurzburg oder nach Straßburg“.
Fur das Ministerium war Kleist im Sommer 1800 in geheimer Mission, vielleicht politisch (im Hinblick auf eine moglicherweise angestrebte Anstellung in Berlin) als Industrie- bzw. Wirtschaftsspion (mit dem Decknamen Klingstedt) unterwegs (von 9. September bis 22. Oktober in Wurzburg, wo er mit seinem Freund Ludwig von Brockes zunachst im Hotel Frankischer Hof in der heutigen Theaterstraße 1 unter falschem Namen Quartier nahm, eine Woche spater bei dem Stadtchirurgen Joseph Wirth am Marktplatz (Schmalzmarkt 3), und sich moglicherweise auch einem chirurgischen oder urologischen Eingriff unterzog). Weitere Vermutungen zum Zweck des sechswochigen Aufenthalts in Wurzburg sind die Behandlung einer Vorhautverengung oder Impotenz (im Hinblick auf seine Verlobung bzw. anstehende Heirat) und der Kontakt zu einflussreichen Freimaurern. In Wurzburg besuchte er wie andere Sensationslustige das Krankenhaus der Stiftung Juliusspital. Seine Eindrucke vom Besuch des Juliusspitals im September 1800, die er in einem Brief an seine Braut bzw. damalige Verlobte Wilhelmine von Zenge geschildert hat, mogen Einfluss auf seine Schilderung des Irrenhauses seiner Erzahlung Die heilige Cacilie oder die Gewalt der Musik (1810) genommen haben. In diesem Sommer und Herbst geschriebene funf Briefe an Wilhelmine von Zenge sowie an seine jungere Schwester Ulrike zeigen erstmals die dichterische Begabung des damals noch unbekannten Kleist. Am 22. Oktober 1800 verließ Kleist die Stadt am Main wieder und kehrte nach Preußen zuruck. Zu einer Heirat mit seiner Verlobten kam es danach nicht.
Die berufliche, soziale und individuelle Problematik („das Leben ist ein schweres Spiel […], weil man bestandig und immer von neuem eine Karte ziehen soll und doch nicht weiß, was Trumpf ist;“ – Brief an die Halbschwester Ulrike vom 5. Februar 1801) verdichtete sich vermutlich vor dem Hintergrund der Lekture von Kants Kritik der Urteilskraft zur „Kant-Krise“ – so ein umstrittener Begriff der alteren Kleistforschung. Durch die Grenzen der Vernunfterkenntnis, die Kant aufgezeigt hatte, sah Kleist seinen geradlinigen, rein vernunftorientierten Lebensplan in Frage gestellt. In einem beruhmten Brief an Wilhelmine vom 22. Marz 1801 notierte Kleist:
Kritikern zufolge berief Kleist sich allerdings lediglich auf eine durch die Lekture Immanuel Kants ausgeloste Krise, um einer von Zogern, Scheitern und falschen Entscheidungen gepragten Lebensphase eine philosophische Rechtfertigung zu geben. Briefe, die er vor dem 22. Marz 1801 geschrieben habe, wurden deutlich erkennen lassen, dass „er sich schon Monate vor der sogenannten Kant-Krise von den Wissenschaften abwandte, und keineswegs, weil er grundsatzlich an den Moglichkeiten sicherer Erkenntnis zweifelte, sondern weil die Beschaftigung mit den Wissenschaften den Reiz fur ihn verloren hatte.“ Die von der alteren Forschung postulierte These der vollstandigen Wandlung der kleistschen Personlichkeit ausschließlich aufgrund philosophischer Lekture wurde relativiert. Diese Lebenskrise sei wesentlich einem Uberdruss an einengenden Spezialisierungszwangen geschuldet gewesen. Mittels einer ausgedehnten Reise nach Frankreich suchte Kleist sie zu uberwinden.
= Paris und Thun (Schweiz) (1801–1804) =
Im Fruhjahr 1801 reiste er zusammen mit seiner Schwester Ulrike uber Dresden nach Paris. Angesichts der von ihm als ‚sittenlos‘ empfundenen franzosischen Hauptstadt schreibt Kleist an Wilhelmine von Zenge:
Abermals verarbeitete Kleist seine enttauschenden Erfahrungen als Zweifel an der Eindeutigkeit der Vernunft und dem geschichtlichen Wollen. Durch seine Rousseau-Lekture sah er sich angeregt, ein bauerliches Leben zu fuhren: „Ein Feld zu bebauen, einen Baum zu pflanzen, und ein Kind zu zeugen“ (Brief vom 10. Oktober 1801 an Wilhelmine).
Ab April 1802 wohnte er auf der Scherzliginsel in der Aare in Thun in der Schweiz. Das Hauschen wurde 1940 abgebrochen. Die Erinnerung an einen Besuch seines Jugendfreundes Ernst von Pfuel in Thun durfte ihn zu dem idyllischen Dramolett Der Schrecken im Bade (1808) angeregt haben. Es kam zum Bruch mit Wilhelmine, die nicht seinen Vorstellungen gemaß als Bauerin mit ihm zusammenleben wollte, und er loste 1802 die Verlobung mit ihr. Er arbeitete nun an dem bereits in Paris unter dem Titel Die Familie Ghonorez begonnenen Trauerspiel Die Familie Schroffenstein, schrieb weiter an seinem Trauerspiel Robert Guiskard, Herzog der Normanner und begann mit dem Lustspiel Der zerbrochne Krug.
Ende 1802 kehrte Kleist zuruck nach Deutschland. In Dresden lernte er unter anderen Friedrich de la Motte Fouque kennen und traf Ernst von Pfuel wieder. Lange hielt er es dort jedoch nicht aus; zusammen mit von Pfuel reiste Kleist abermals nach Paris. Dort verbrannte er die fertiggestellten Teile des Guiskard in tiefer Verzweiflung daruber, seine konzeptionellen Vorstellungen nicht realisieren zu konnen, und erlebte eine Schaffenskrise: „Der Himmel versagt mir den Ruhm, das großte der Guter der Erde!“ schrieb er am 26. Oktober 1803 an Ulrike. Kleist fasste daraufhin den Entschluss, in der franzosischen Armee gegen England zu kampfen, „um den Tod in der Schlacht zu sterben“, wurde aber durch einen Bekannten dazu uberredet, nach Potsdam zuruckzukehren. Im Dezember 1803 war Kleist wieder in Deutschland und beantragte in Berlin eine Anstellung im diplomatischen Dienst.
= Konigsberg (1804–1807) =
Nach einer kurzen Tatigkeit im von Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein geleiteten Finanzdepartement Mitte 1804 arbeitete er ab dem 6. Mai 1805 auf dessen Empfehlung als Diatar (Beamter im Vorbereitungsdienst ohne festes Gehalt) in Konigsberg und sollte sich bei dem Staats- und Wirtschaftstheoretiker Christian Jacob Kraus in Kameralistik ausbilden lassen. In Konigsberg traf er unter anderen die inzwischen mit dem als Philosophieprofessor tatigen Wilhelm Traugott Krug verheiratete Wilhelmine wieder. Kleist vollendete den Zerbrochnen Krug und arbeitete an dem Lustspiel Amphitryon, dem Trauerspiel Penthesilea und an den Erzahlungen Michael Kohlhaas und Das Erdbeben in Chili.
Im August 1806 teilte Kleist seinem Freund Ruhle von Lilienstern seine Absicht mit, aus dem Staatsdienst zu scheiden, um sich nunmehr durch „dramatische Arbeiten“ zu ernahren. Auf dem Weg nach Berlin wurden Kleist und seine Begleiter im Januar 1807 von den franzosischen Behorden als angebliche Spione verhaftet und zunachst in das Fort de Joux bei Pontarlier und dann in das Kriegsgefangenenlager Chalons-sur-Marne transportiert. Dort schrieb er vermutlich die Novelle Marquise von O.... und arbeitete weiter an der Penthesilea.
= Dresden (1807–1809) =
Nach seiner Freilassung reiste er uber Berlin nach Dresden (ab Ende August 1807), wo er unter anderem Schillers Freund Christian Gottfried Korner, die Romantiker Ludwig Tieck, Gotthilf Heinrich von Schubert, Caspar David Friedrich und vor allem den Staats- und Geschichtsphilosophen Adam Heinrich Muller sowie den Historiker Friedrich Christoph Dahlmann kennen lernte. Zusammen mit Muller gab Kleist ab Januar 1808 das Journal fur die Kunst (so der Untertitel) Phobus heraus. Das erste Heft mit dem Beitrag Fragment aus dem Trauerspiel: Penthesilea sandte er unter anderem Goethe zu, der in einem Antwortschreiben seine Verwunderung und sein Unverstandnis bekundete.
Im Sommer 1808 muss sich Kleist in der westfalischen Stadt Hamm aufgehalten haben, denn dorthin ist ein auf den 4. August datiertes Schreiben der franzosischen Generalpostdirektion Dusseldorf gerichtet, das auf eine Bewerbung Kleists antwortete und diese abschlagig beschied. Kleist war von Dresden nach Dusseldorf gereist und hatte sich mundlich als ehemaliger „Premier Lieutenant au Serv[ice] Pruss“ unter anderem auf die freigewordene Stelle eines Postdirektors in Lunen (Westfalen), das damals an der bedeutenden Postroute von Holland nach Berlin lag, beworben.
Im Dezember 1808 vollendete Kleist unter dem Eindruck des Widerstands Spaniens gegen Napoleon, der Besetzung Preußens und der Anfange des osterreichischen Freiheitskampfes das Drama Die Hermannsschlacht. Gegenstand des Dramas, mit dem Kleist den seit dem 16. Jahrhundert bestehenden Arminius-Kult in der deutschen Literatur aufgriff, war die Varusschlacht, in der im Herbst des Jahres 9 n. Chr. drei romische Legionen in einer vernichtenden Niederlage gegen ein germanisches Heer unter Fuhrung des Arminius untergegangen waren.
In der Hoffnung auf einen erstarkenden Widerstand gegen Napoleon reiste Kleist zusammen mit Dahlmann uber Aspern, wo Napoleon einige Tage zuvor besiegt worden war, am 21./22. Mai 1809 nach Prag. Hier bekamen Kleist und Dahlmann Zugang zu osterreichisch-patriotischen Kreisen und planten, ein Wochenblatt mit dem Titel Germania herauszugeben. Es sollte ein Organ der „deutschen Freiheit“ werden. Wegen der Kapitulation Osterreichs blieb das Projekt unverwirklicht. In dieser Zeitschrift sollten seine sogenannten politischen Schriften Was gilt es in diesem Kriege?, Katechismus der Deutschen abgefasst nach dem Spanischen, zum Gebrauch fur Kinder und Alte, das Lehrbuch der franzosischen Journalistik, Satiren und die Ode Germania an ihre Kinder erscheinen.
Im November traf Kleist in Frankfurt (Oder) ein und fuhr einen Monat spater wieder nach Berlin, wo er sich mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod aufhielt.
= Berlin (1809–1811) =
In Berlin schloss Kleist unter anderen Bekanntschaft mit Achim von Arnim, Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Wilhelm Grimm, Karl August Varnhagen von Ense und Rahel Varnhagen. Im April 1810 erschien der erste Band seiner Erzahlungen (Michael Kohlhaas, Die Marquise von O...., Das Erdbeben in Chili) und im September Das Kathchen von Heilbronn, dessen Auffuhrung Iffland als Direktor der Berliner Buhne jedoch ablehnte.
Nach der Einstellung des Phobus initiierte Kleist ab dem 1. Oktober 1810 ein neues Zeitungsprojekt: die Berliner Abendblatter. Die Abendblatter waren ein taglich erscheinendes Zeitungsblatt mit lokalen Nachrichten, als dessen Zweck die Unterhaltung aller Stande des Volkes und die Beforderung der Nationalsache angegeben wurde. Als Autoren schrieben hier so Prominente wie Ernst Moritz Arndt, Achim von Arnim, Clemens Brentano, Adelbert von Chamisso, Otto August Ruhle von Lilienstern, Friedrich Karl von Savigny und Friedrich August von Staegemann. Kleist selbst veroffentlichte unter anderem seine Abhandlungen Gebet des Zoroaster, Betrachtungen uber den Weltlauf, Brief eines Malers an seinen Sohn, Allerneuester Erziehungsplan und vor allem Uber das Marionettentheater in den Abendblattern. Als Besonderheit und Publikumsmagnet erwies sich Kleists Veroffentlichung aktueller Polizeiberichte.
Im Fruhjahr 1811 musste die Herausgabe der Zeitung wegen verscharfter Zensurbestimmungen eingestellt werden. Als sein Versuch scheiterte, eine Anstellung in der preußischen Verwaltung zu erlangen, und auch sein 1809 begonnenes Schauspiel Prinz Friedrich von Homburg bis 1814 mit einem Auffuhrungsverbot durch Friedrich Wilhelm III. belegt wurde, musste Kleist innerhalb kurzer Zeit einige Erzahlungen schreiben, um sich den Lebensunterhalt zu sichern. Diese Werke wurden postum in einem zweiten Band mit Erzahlungen zusammengefasst, der unter anderem Das Bettelweib von Locarno und Die Verlobung in St. Domingo enthalt.
Nahezu mittellos und innerlich „so wund, daß mir, ich mochte fast sagen, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht wehe tut, das mir darauf schimmert“ (Brief an Marie von Kleist vom 10. November 1811) nahmen die Gedanken an einen Suizid aufgrund von Geldsorgen und der stetigen Kritik an seinen Werken uberhand. In seinem Bemuhen um ein Darlehen hatte er mehrere Bitt- und Bettelbriefe verschickt, unter anderem an den Konig, an den Prinzen von Preußen und vor allem an den Staatskanzler Karl August von Hardenberg, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Einzig die Nachricht am Rande des Gesuchs ist uberliefert „Zu den Akten, da der p.v. Kleist 21.II.II. nicht mehr lebt“.
Kleist suchte und fand fur den Weg des Suizids eine Begleiterin, die unheilbar an einem Karzinom erkrankte Henriette Vogel. Mit ihrem Einverstandnis erschoss Kleist am 21. November 1811 am Stolper Loch, dem heutigen Kleinen Wannsee im Sudwesten Berlins, zuerst sie und dann sich selbst. In seinen Abschiedsbriefen außerte Kleist hinsichtlich seiner Bestattung keine Wunsche; es war Henriette Vogel, die um eine gemeinsame Bestattung „in der sicheren Burg der Erde“ bat. Begraben wurden Kleist und Henriette Vogel an Ort und Stelle, da eine kirchliche Bestattung wegen des Suizids unmoglich gewesen ware.
= Abschiedsbrief an Ulrike =
An Ulrike von Kleist, 21. November 1811.
„An Fraulein Ulrike von Kleist Hochwohlgeb. zu Frankfurt a. Oder.“
Literaturgeschichtliche Bedeutung Kleists Leben war gepragt vom ruhelosen Streben nach idealem Gluck, das sich jedoch immer wieder als trugerisch erwies, und dies spiegelt sich in seinem Werk wider. Geistesgeschichtlich lasst sich Kleist allerdings nur schwer einordnen: Weder in den Kreis der romantischen Theorie noch in den klassischen Diskurs kann man Autor und Werk ohne weiteres eingliedern. Es sei an dieser Stelle auf Kleists kurze Erzahlung Uber das Marionettentheater hingewiesen. Die fruhe Kleist-Forschung hat diesen Text stets als mehr oder minder theoretische Abhandlung Kleists gelesen und versucht, denselben im Sinne der asthetischen Programmatik des romantischen Diskurses zu deuten. Neuere Versuche der Interpretation – insbesondere jene, die einem dekonstruktivistischen Interesse entspringen – betonen dementgegen das subversive Potenzial des Textes und sehen den zentralen Gehalt in der spielerisch-ironischen Demontage des zeitgenossischen asthetisch-idealphilosophischen Diskurses. So werden die Marionetten etwa als „das Gegenteil des Ichs“ und „die im Text erzahlten Episoden [als] Bilder der Unidentitat“ im Sinne fehlender Autonomie interpretiert.
Ebenso wie man versucht, Kleist in die Stromungen der Romantik einzuordnen, wird auch eine Affinitat zwischen den Dramen Kleists und der klassischen Dichtung betont. Diese Zuordnung beruht auf der stofflichen Wahl, denn mehrmals adaptiert Kleist antike mythologische Inhalte und halt sich bei seiner Bearbeitung an den klassischen Dramenaufbau. Zugleich werden aber in Kleists Dramen die klassischen Stilprinzipien in hohem Maße verletzt, wie schon die Stoffwahl belegt: Nicht mehr das allgemein-menschliche, zivilisierende, klassisch-befriedete Element antiker Dichtung, sondern das Besondere, Extreme und Grausame ruckt in den Vordergrund. Dabei steht in vielen Werken „auf der Ebene des Sujets der subjektive Innenraum des humanistischen bzw. klassischen Individuums zur Debatte“; das Subjekt, dem – zumindest als Postulat im Idealismus – Identitat und Autonomie inhariert, wird radikal in Frage gestellt: „Die implizite Theorie der Wunschproduktion, welche das Fuhlen und das Unbewußte als soziale Produktionen auffaßt, macht die Modernitat Kleists aus“ und setzt ihn zur literarischen Klassik und Romantik in Gegensatz.
= Dramatisches Werk =
Kleists erste Tragodie Die Familie Schroffenstein (fertiggestellt 1803, uraufgefuhrt 1804 am Grazer Nationaltheater) orientiert sich am Dramenstil Shakespeares und thematisiert die fur Kleists Schaffen zentralen Themen Schicksal vs. Zufall und subjektives (Vor-)Urteil vs. objektive Wirklichkeit. Seine zweite Tragodie Penthesilea (1808) ist inspiriert von drei antiken Tragodien des Euripides (Medea, Hippolytos und Die Bakchen). Sie handelt von der Amazonenkonigin, die in kriegerischer Weise auf einem Schlachtfeld vor Troja um den griechischen Helden Achilles wirbt und dabei scheitert. Wegen der stilistisch gehobenen Sprache, der damals nicht darstellbaren Kriegsszenen und der der antiken Tragodie nachempfundenen Grausamkeit war dem Stuck zu Kleists Lebzeiten kein Erfolg beschieden, es wurde erst 1876 in Berlin uraufgefuhrt. Erfolgreicher als diese beiden Tragodien war damals sein romantisches Schauspiel Das Kathchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe 1808, ein poetisches Drama voller Ratsel und mittelalterlichem Treiben, das sich seine Popularitat erhalten hat.
Kleists Komodie Der zerbrochne Krug gehort zum Kanon der deutschen Literatur. Die Hermannsschlacht (1809) behandelt ein historisches Thema und ist zugleich voller Referenzen auf die politischen Verhaltnisse seiner Zeit. In der Hermannsschlacht verleiht Kleist seinem Hass auf die Unterdrucker seines Landes Ausdruck. Zusammen mit dem Drama Prinz Friedrich von Homburg (siehe auch Friedrich II. (Hessen-Homburg)), einem Hohepunkt des Kleist’schen Schaffens, wurde das Stuck erstmals 1821 von Ludwig Tieck in Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften veroffentlicht. Robert Guiskard, ein in großem Maßstab konzipiertes Drama, blieb Fragment.
= Erzahlerisches Werk, Lyrik und weitere Schriften =
Kleist war ein Meister in der Kunst der Erzahlung. Michael Kohlhaas gilt als eine der wichtigsten deutschsprachigen Erzahlungen ihrer Zeit. Darin gibt der beruhmte Brandenburger Pferdehandler Kohlhase aus Luthers Tagen seine Familie, die gesellschaftliche Position und sein sonstiges Hab und Gut auf, verletzt schließlich sogar selbst die Rechtsnormen, nur um in einem relativ geringfugigen Streitfall, bei dem ihm ein klares Unrecht zugefugt worden ist, Recht zu erhalten; ihm wird in der Erzahlung ein ambivalentes Denkmal gesetzt. Bedeutend sind weiterhin die Erzahlungen Das Erdbeben in Chili, Die Marquise von O...., Die heilige Cacilie oder die Gewalt der Musik.
Kleist war zudem ein vaterlandsliebender, franzosenfeindlicher Dichter, was sich deutlich in seinen Gedichten Germania an ihre Kinder und Kriegslied der Deutschen außert. Das Heilige Romische Reich Deutscher Nation bestand zu seiner Zeit zum Teil aus von Frankreich besetzten und somit abhangigen Vasallenstaaten, die unter anderem Truppenkontingente fur die napoleonischen Eroberungskriege stellen mussten oder direkt von Napoleon annektiert worden waren.
Im Gegensatz zu zeitgenossischen Gepflogenheiten hat Heinrich von Kleist keine offenkundig asthetisch-programmatische Schrift hinterlassen. Insbesondere das Marionettentheater wurde auf seinen theoretisch-poetologischen Gehalt hin untersucht. Doch wurde hierbei generell der fiktive Charakter des Gesprachs vernachlassigt: Es handelt sich um einen Bericht uber ein Gesprach, das zum Zeitpunkt der Wiedergabe bereits einige Jahre zuruckliegt. Nur unter Vorbehalt lasst sich in dem kurzen Aufsatz die Proklamation der Wiedererlangung eines paradiesischen Zustandes erkennen. Besonders Hanna Hellmann, die das Marionettentheater im Jahre 1911 wiederentdeckte, deutete diesen Text im Sinne der romantischen Triade, die die dritte Stufe der menschlichen Entwicklung – d. h. die Wiedererlangung des paradiesischen Zustandes – im Bereich der Kunst verwirklicht sieht. „Ubersehen“ habe sie allerdings wie viele nach ihr die „Ironie, mit der diese, fur den Haufen erfundene, Spielart als schone Kunst anerkannt wird, ausgerechnet Bauernfiguren gelten fur vorbildlich; ubersehen die Ironie, mit welcher die Bewegungen derer, die ihre Schenkel verloren haben – am haufigsten ja im Krieg – und nun mechanische Beine besitzen, mit Ruhe, Leichtigkeit und Anmuth ablaufen sollen.“
Rezeption = Wirkung =
Das literarische Schaffen von Heinrich von Kleist hat auf seine Zeitgenossen und auf spatere Leser eine widerspruchliche, aber nachhaltige Wirkung ausgeubt. „Die Zeitgenossen wurden durch die Gewaltsamkeit der Bilder, die Maßlosigkeit der Gefuhlsausbruche, die Krassheit der Situationen, die Missachtung schoner Konventionen mehr schockiert als durch die Kraft, die rhythmische Dynamik, die weiten dramatischen Spannungsbogen und die poetische Schonheit dieser Sprache angezogen.“ Denn: „Solche Texte hatte man noch nicht gelesen, solche Stucke noch nicht gesehen. Seine Analysen waren der Geschichte, seine Bilder und Formen der Literaturgeschichte voraus.“ Im Laufe der widerspruchlichen Rezeptionsgeschichte wurde Kleist von weltanschaulich gewissermaßen kontraren Gruppierungen fur sich in Anspruch genommen. Er wurde gleichermaßen als verkannter Vorbote der literarischen Moderne wie auch als bedeutender Streiter im Sinne der nationalistischen und chauvinistischen Stromungen des Deutschen Kaiserreichs gedeutet. Insbesondere seit der deutschen Reichsgrundung von 1871 kam es zu wechselnden Renaissancen und einer immer starker werdenden politischen Inanspruchnahme Kleists.
= Kleist im Urteil seiner Zeitgenossen =
Schon die erste Veroffentlichung Kleists, Die Familie Schroffenstein in „der Geßnerischen Buchhandlung beym Schwanen“ 1802, zog skeptische wie gleichermaßen wohlwollende Urteile der Zeitgenossen auf sich. Eine erste ausfuhrliche Rezension des anonym veroffentlichten Kleist-Erstlings stammt aus der Feder des Dramatikers Ludwig Ferdinand Huber. Huber bekraftigte im Marz 1803, der unbekannte Dichter habe seine anfangliche Skepsis durch die begeisterte Hoffnung zu ersetzen vermocht, „daß endlich doch wieder ein rustiger Kampfer um den poetischen Lorbeer aufstehe, wie ihn unser Parnaß gerade jetzt so sehr braucht“. Trotz der einhellig anerkannten, allerdings weiterer Entwicklung bedurftigen Begabung des Dichters fand das Stuck kaum Beachtung auf deutschen Buhnen. Vier Jahre vergingen, bis ein weiteres Werk Kleists veroffentlicht wurde, das Lustspiel Amphitryon (1807), herausgegeben von Adam Muller. Der Amphitryon, eine weitreichende Bearbeitung einer Vorlage von Moliere und ein Grenzgang zwischen den Nationalliteraturen, konnte angesichts des Einzugs Napoleons in Berlin (27. Oktober 1806) nur geringe Resonanz verzeichnen. Die Kette der kleistschen Veroffentlichungen riss dennoch bis Mitte 1811 nicht mehr ab.
Als folgenreich erwies sich die Urauffuhrung des Zerbrochnen Krugs am Weimarer Hoftheater unter der Leitung Johann Wolfgang von Goethes, der dem Stuck nach zweimaliger Lekture „außerordentliche Verdienste“ zugesprochen hatte. Das von den Zeitgenossen in seiner Weimarer Urauffuhrung am 2. Marz 1808 als langatmig und sperrig empfundene Werk pragte die Haltung des zeitgenossischen Publikums Kleist gegenuber nachhaltig. Kleists Schicksal als zeitgenossischer Buhnenautor war nach der missgluckten Urauffuhrung, zumal auf Goethes anspruchsvoller Reformbuhne, weitgehend besiegelt.
Eine stark verfremdete, pantomimische Inszenierung von Ausschnitten der Penthesilea in Berlin 1811 fiel ebenfalls beim Publikum durch, und auch als politischer Publizist („Phobus“) blieb Kleist der Erfolg versagt. Einzig die Erfolgsgeschichte des Kleist-Dramas Das Kathchen von Heilbronn begann schon zu Lebzeiten des Dichters mit einer Wiener Auffuhrung vom 17. Marz 1810: „Allerdings war das Publikum – wie im ubrigen das gesamte neunzehnte Jahrhundert hindurch – von diesem Stuck sehr viel starker angetan als die Kritik, die allein dem Genre schon skeptisch gegenuberstand. […] Diese immer wieder gemachte Beobachtung faßte der Rezensent des Morgenblattes fur gebildete Stande schließlich beinahe lakonisch in der Formel ‚Kleist’s Kathchen von Heilbronn wird sehr verschieden beurtheilt, aber immer stark besucht‘ zusammen […].“
Nicht zuletzt wurde Kleist zu Lebzeiten zum Verhangnis, dass ihm die Sympathien der urteilsbildenden und die offentliche Kultur pragenden intellektuellen Elite seiner Zeit uberwiegend verwehrt blieben. Teilweise brachte er gerade potenzielle Forderer, auf deren Unterstutzung er angewiesen gewesen war, gegen sich auf. Durch gezielte Indiskretionen uber August Wilhelm Iffland, den machtigen Generaldirektor der Koniglichen Schauspiele in Berlin, der eine Inszenierung des Kathchens abgelehnt hatte, verbaute er sich den Zugang zu Berliner Theater und Publikum. Bis auf wenige Ausnahmen blieben dem Dramatiker Kleist die Schauspielhauser als zentrale Wirkungsstatten verschlossen.
= Kleist-Renaissancen und Kleist-Mythos =
Neben Kleists spektakularem Suizid pragten vor allem die Folgen seines Ungeschicks im Werben um geeignete Forderer Kleists Renommee und das Kleist-Bild uber Jahrzehnte hinweg negativ. Insbesondere Goethes Abwendung und der postume Abdruck nicht autorisierter Goethe-Sentenzen uber die „nordische Scharfe des Hypochonders“ Kleist durch Johann Daniel Falk wirkte in dieser Hinsicht negativ nach. Erst unter gewandelten historischen Rahmenbedingungen kam es zu nachhaltigen Renaissancen der Kleist-Rezeption, die die Wahrnehmung des Dichters dauerhaft verandern sollten. Seit der zweiten Halfte und verstarkt seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden Kleists Dramen und Erzahlungen in den sehr unterschiedlichen Bezugsfeldern der deutschen Einigung wie auch der literarischen Moderne Gegenstand gegensatzlicher Stromungen der Neuentdeckung. „Innerhalb des seit den 1860er Jahren einsetzenden ideologischen Feldzuges, mit dem die Befurworter Preußens die Deutschen zur Beforderung der geeinten Nation uberzogen, wurde Kleist ein gewichtiger […] Part angetragen: in ihm wollte man den Propheten des werdenden Reiches erkennen und zugleich vorbildliches Preußen- wie Deutschtum verkorpert sehen.“
Die nationalistisch und chauvinistisch gepragte Vereinnahmung Kleists wahrend des spaten 19. Jahrhunderts fand spater ihre Fortsetzung in der Vereinnahmung des Dichters durch die NS-Kulturpolitik, die die „zeitbedingte Bejahung des großen Einzeltaters in der ‚Hermannsschlacht‘ und den absoluten Gehorsamsanspruch des Kurfursten in ‚Prinz Friedrich von Homburg‘ als Vorwegnahme des faschistischen Fuhrerkults deutete.“
Neben der ausgiebigen Rezeption des politischen Dichters Kleists als Inbegriff des deutschen Patrioten (Hermannsschlacht, Prinz Friedrich von Homburg) im Sinne des Deutschen Kaiserreichs wandten sich um die Jahrhundertwende auch die jungen Autoren der literarischen Moderne programmatisch dem Werk Kleists zu. Angesichts seiner weitgehenden Entfremdung von den Vertretern der Weimarer Klassik bot Kleist sich mustergultig als Vorbild fur die Ablosung einer neuen Schriftstellergeneration von Goethes ubermachtiger Erscheinung an. „Daraus resultierte, daß Kleist eine gleich zweifache Vorreiterrolle zugewiesen wurde: in seiner eigenen Gegenwart als Kampfer gegen die Klassik und – achtzig Jahre spater im Zeichen der literarischen Avantgarde als Vorkampfer der Moderne, der zugleich Opfer der Klassik wurde.“ Im Gefolge dieser nachhaltigen zweiten Welle der Kleist-Wiederaneignung entdeckte im fruhen zwanzigsten Jahrhundert eine Generation junger Schriftsteller, darunter Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Carl Sternheim und Georg Kaiser, den Dichter als wichtigen Wegbereiter experimenteller und subjektivierter literarischer Ansatze fur sich.
= Literarische Rezeption =
In Christa Wolfs Erzahlung Kein Ort. Nirgends sprechen Karoline von Gunderrode und Heinrich von Kleist in einer fiktiven Begegnung in einem Landhaus am Rhein im Juni 1804 uber ihre Lebensprobleme, ihre Dichtungen und ihre gesellschaftliche Außenseiterrolle.
Gedenken = Begrabnisstatte =
Das Kleistgrab unterhalb der Bismarckstraße am Kleinen Wannsee wurde nach einem von der Kulturstiftung des Bundes ausgeschriebenen Wettbewerb ab 2009 neu gestaltet. Dank einer Spende der Berliner Verlegerin Ruth Cornelsen (Cornelsen Kulturstiftung) und Zuschussen der Kulturstiftung des Bundes und des Berliner Senats wurden das Grabmal und seine Umgebung zum zweihundertsten Todestag des Paares 2011 renoviert und mit Informationstafeln ausgestattet. Der 1936 aufgestellte Grabstein aus Granit und ein schmiedeeisernes kniehohes Eisengitter als Einfriedung blieben erhalten. Das Geburtsdatum Kleists wird nun mit dem 10. statt mit dem 18. Oktober angegeben. Henriette Vogels – bisher auf einem eigenen Stein befindliche – Daten sind neu in den Grabstein eingemeißelt. Darunter steht wieder der wahrend der Zeit des Nationalsozialismus aus ideologischen Grunden entfernte Gedenkspruch des judischen Dichters Max Ring mit dem Hinweis auf die funfte Vaterunser-Bitte: „‚Er lebte, sang und litt / in truber, schwerer Zeit. / Er suchte hier den Tod / und fand Unsterblichkeit‘. Matth. 6 V.12“. Die Ruckseite des um 180 Grad gedrehten Steins zeigt die vorherige heroisierende Inschrift von 1941 mit der Zeile aus Kleists Prinz von Homburg: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.“ Das Grab ist als Ehrengrab der Stadt Berlin ausgewiesen.
= Benennung von Straßen, Platzen und Parks =
Nach Heinrich von Kleist wurden Straßen z. B. in Frankfurt am Main, Mannheim, Bonn, Wien, Graz, Potsdam, Koln, Gelsenkirchen, Mulheim an der Ruhr, Leipzig, Berlin, Braunschweig, Bad Homburg v. d. Hohe, Wolfsburg, Limburg a. d. Lahn, Weimar und Dresden benannt, ebenso Platze in Kitzingen, Leverkusen, Wurzburg und Wuppertal sowie der Heinrich-von-Kleist-Park in Berlin, der Kleistpark in Frankfurt (Oder) und das Kleist-Inseli in Thun.
= Benennung von Gebauden =
Das Heinrich-von-Kleist-Forum, ein Kultur- und Bildungszentrum im Bahnhofsquartier von Hamm
Heinrich-von-Kleist-Schule Bochum, Gymnasium in Bochum
Heinrich-von-Kleist-Schule (Eschborn), Gymnasium in Eschborn
Oberschule Heinrich von Kleist Frankfurt (Oder), Oberschule in Frankfurt (Oder)
Heinrich-von-Kleist-Realschule Heilbronn, Realschule in Heilbronn
Heinrich-von-Kleist-Schule (Lichtenstein/Sa.), Grund- und Oberschule in Lichtenstein/Sa.
Heinrich-von-Kleist-Schule (Papenburg), Oberschule in Papenburg
Schule des Zweiten Bildungsweges „Heinrich von Kleist“, Schule in Potsdam
Heinrich-von-Kleist-Schule (Wiesbaden), Schule in Wiesbaden
= Heinrich-von-Kleist-Institutionen =
Das Kleist-Museum in Frankfurt (Oder) und das Kleist-Archiv Sembdner in Heilbronn widmen sich dem Leben und Werk Heinrich von Kleists.
Die Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft verleiht jahrlich den Kleist-Preis und erhalt das Andenken an ihn aufrecht.
In der DDR vergab die Stadt Frankfurt/Oder seit 1977 den Heinrich-von-Kleist-Kunstpreis, dessen erste Preistrager Wieland Forster und Gerhard Goßmann waren.
= Ausstellungen =
2011: Kleist: Krise und Experiment, Stadtmuseum Berlin, Ephraim-Palais, Berlin und Kleist-Museum, Frankfurt an der Oder
2011: Heinrich von Kleist und die Briefkultur seiner Zeit – Ausstellung der Briefe Kleists und seiner Zeitgenossen, Jagellonen-Bibliothek, Krakau
= Lesungen =
Am 21. November 2011 veranstaltete das internationale literaturfestival berlin eine weltweite Lesung in Erinnerung an Heinrich von Kleist an seinem 200. Todestag.
Musikalische und weitere Adaptionen Werke = Entstehungszeit und Originalausgaben =
Dramen Die Familie Schroffenstein (Trauerspiel), entstanden 1802, Anfang 1803 anonym erschienen, Urauffuhrung 9. Januar 1804 in Graz
Robert Guiskard, Herzog der Normanner (Trauerspiel-Fragment), entstanden 1802–1803, erschienen April/Mai 1808 in Phobus, Urauffuhrung 6. April 1901 im Berliner Theater in Berlin
Der zerbrochne Krug (Lustspiel), entstanden 1803–1806, Urauffuhrung am 2. Marz 1808 im Hoftheater in Weimar (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv, Druckausgabe von 1811)
Amphitryon (Lustspiel), erschienen 1807 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv), Urauffuhrung 8. April 1899 im Neuen Theater in Berlin
Penthesilea (Trauerspiel), vollendet 1807, erschienen 1808, szenische Urauffuhrung Mai 1876 im Koniglichen Schauspielhaus in Berlin
Das Kathchen von Heilbronn oder Die Feuerprobe. Ein großes historisches Ritterschauspiel, entstanden 1807–1808, Fragmente erschienen in Phobus 1808, Urauffuhrung 17. Marz 1810 im Theater an der Wien in Wien, Buchausgabe in umgearbeiteter Fassung 1810 (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
Die Hermannsschlacht (Drama), vollendet 1809, erschienen 1821 (Hrsg. Ludwig Tieck), Urauffuhrung am 29. August 1839 in Pyrmont
Prinz Friedrich von Homburg (Schauspiel), entstanden 1809–1811, Urauffuhrung 3. Oktober 1821 als Die Schlacht von Fehrbellin am Burgtheater in Wien (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv, Druckausgabe von 1822)
Erzahlungen und Anekdoten Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik, teilweise erschienen 1808 in Phobus, Buchausgabe 1810 in Erzahlungen (1. Band)
Die Marquise von O...., erschienen Februar 1808 in Phobus, Buchausgabe in uberarbeiteter Fassung 1810 in Erzahlungen (1. Band)
Das Erdbeben in Chili, erschienen unter dem ursprunglichen Titel Jeronimo und Josephe 1807 in Cottas Morgenblatt fur gebildete Stande, Buchausgabe leicht redigiert 1810 in Erzahlungen (1. Band)
Die Verlobung in St. Domingo, erschienen 25. Marz bis 5. April 1811 in Der Freimuthige, Buchausgabe in uberarbeiteter Fassung 1811 in Erzahlungen (2. Band)
Das Bettelweib von Locarno, erschienen 11. Oktober 1810 in den Berliner Abendblattern, Buchausgabe 1811 in Erzahlungen (2. Band)
Der Findling, erschienen 1811 in Erzahlungen (2. Band)
Die heilige Cacilie oder die Gewalt der Musik. Eine Legende, erschienen 15.–17. November 1810 in den Berliner Abendblattern, Buchausgabe in erweiterter Fassung 1811 in Erzahlungen (2. Band)
Der Zweikampf, erschienen 1811 in Erzahlungen (2. Band)
Anekdoten, erschienen 1810–1811 in den Berliner Abendblattern – darunter die Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege
Erzahlungen und Anekdoten, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Otto Heuschele, Manesse Verlag, Zurich 1999, ISBN 3-7175-1226-9.
Theoretische Schriften Katechismus der Deutschen, 1809
Uber das Marionettentheater, erschienen 12.–15. Dezember 1810 in den Berliner Abendblattern
Uber die allmahliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, postum in: Paul Lindau (Hrsg.): Nord und Sud, Band 4, 1878, S. 3–7
= Gesamt- und Werkausgaben =
Erzahlungen. Mit Einleitung, Nachwort und einem Verzeichnis der Setzfehler versehen und herausgegeben von Thomas Nehrlich. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1810/11. 2 Bande. Olms, Hildesheim 2011 (= Historia Scientiarum).
Samtliche Werke. Herausgegeben und eingeleitet von Arnold Zweig. 4 Bande. Rosl & Cie, Munchen 1923.
Heinrich von Kleists gesammelte Schriften. Hrsg. von Ludwig Tieck. 3 Bande. G. Reimer, Berlin 1826.
Heinrich von Kleists Samtliche Werke. Vollstandige Ausgabe in vier Banden. Mit drei Bildnissen des Dichters, einer Abbildung seiner Grabstatte und einem Briefe in Faksimile. Hrsg. von Prof. Dr. Karl Siegen. 4 Bande. Max Hesses Verlag, Leipzig um 1900.
Kleists samtliche Werke. Hrsg. von Arthur Eloesser. 5 Bande. Tempel-Verlag, Leipzig um 1920.
Samtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 2 Bande. Hanser, Munchen 1950. 9., vermehrte und revidierte Aufl. 1993. Auch Deutscher Taschenbuchverlag, Munchen 2001 (= dtv Band 2001), ISBN 3-423-12919-0.
Werke und Briefe. Hrsg. von Siegfried Streller. 4 Bande. Aufbau, Berlin/Weimar 1978.
Samtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus Muller-Salget, Stefan Ormanns und Hinrich C. Seeba. 4 Bande. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1987–1997.
Samtliche Werke. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Stroemfeld, Basel / Frankfurt am Main 1988–2010 (Berliner Ausgabe; ab 1992: Brandenburger Ausgabe).
Samtliche Werke und Briefe. Munchner Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß und Peter Staengle. 3 Bande. Hanser, Munchen 2010, ISBN 978-3-446-23600-4.
Literatur = Einfuhrung =
Martin Arndt: Kleist, Bernd Wilhelm Heinrich von. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 4, Bautz, Herzberg 1992, ISBN 3-88309-038-7, Sp. 1–13.
Felix Bamberg: Kleist, Heinrich von. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 16, Duncker & Humblot, Leipzig 1882, S. 127–149.
Wilhelm Amann: Heinrich von Kleist. Leben Werk Wirkung. Reihe: Basisbiographie. Suhrkamp, Berlin 2011, ISBN 978-3-518-18249-9.
Jens Bisky: Kleist. Eine Biographie. Rowohlt, Berlin 2007, ISBN 978-3-87134-515-9.
Gunter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biographie. S. Fischer, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-10-007111-8.
Ingo Breuer (Hrsg.): Kleist-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2009, ISBN 978-3-476-02097-0.
Wolfgang de Bruyn, Hans-Jurgen Rehfeld, Martin Maurach, Wolfgang Bartel, Horst Haker, Eberhard Siebert: Heinrich von Kleist in Brandenburg und Berlin. Der arme Kauz aus Frankfurt (Oder). In: Die Mark Brandenburg. Heft 78, Marika Großer Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-910134-07-2.
Anna Maria Carpi: Kleist. Ein Leben. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend. Insel, Berlin 2011, ISBN 978-3-458-17503-2.
Franz M. Eybl: Kleist-Lekturen. WUV, Wien 2006, ISBN 978-3-8252-2702-9. (UTB 2702)
Curt Grutzmacher: Heinrich von Kleist. Samtliche Werke. Nach dem Text der Ausgabe letzter Hand unter Berucksichtigung des Erstdrucks und Handschriften. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Curt Grutzmacher. Buchgemeinschaft Donauland, Wien 1967 (Lizenz des Winkler-Verlags, Munchen).
Klaus Gunzel: Kleist. Ein Lebensbild in Briefen und zeitgenossischen Berichten. Verlag der Nation, Berlin 1984, ISBN 3-476-00563-1.
Dieter Heimbockel: Heinrich von Kleist. In Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Kindlers Literatur Lexikon 3., vollig neu bearbeitete Auflage. 18 Bande, Metzler, Stuttgart/Weimar 2009, ISBN 978-3-476-04000-8, Band 9, S. 137.
Peter Horn: Kleist-Chronik. Athenaum, 1980.
Bernd Kauffmann (Hrsg.): Mein Kleist. Theater der Zeit, 2011, ISBN 978-3-942449-29-8.
Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie: Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Rombach, Freiburg i. Br. 1987.
Jurgen Manthey: Emanzipation zum Dichter (Heinrich von Kleist). In: ders.: Konigsberg. Geschichte einer Weltburgerrepublik. Munchen 2005, ISBN 978-3-423-34318-3, S. 360–385.
Herbert Kraft: Kleist. Leben und Werk. Aschendorff, Munster 2007, ISBN 3-402-00448-8.
Alexander Kluge: Heinrich von Kleist – Ein Gewitterleben. Wallstein, Gottingen 2023, ISBN 978-3-8353-5398-5.
Johannes F. Lehmann: Einfuhrung in das Werk Heinrich von Kleists. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, ISBN 978-3-534-24304-4.
Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Wallstein, Gottingen 2003, ISBN 3-89244-433-1.
Joachim Maass: Kleist. Die Geschichte seines Lebens. Scherz, Bern/Munchen 1977; Knaus, Munchen 1989, ISBN 3-426-00662-6.
Peter Michalzik: Kleist – Dichter, Krieger, Seelensucher. Propylaen Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-549-07324-7.
Klaus Muller-Salget: Heinrich von Kleist. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-017635-2. (Reclams Universal-Bibliothek 17635)
Walter Muller-Seidel: Kleist, Heinrich. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 12, Duncker & Humblot, Berlin 1980, ISBN 3-428-00193-1, S. 13–27 (Digitalisat).
Gerhard Neumann (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sundenfall (= Rombach Wissenschaft-Reihe Litterae, Bd. 20). Rombach, Freiburg im Breisgau 1994, ISBN 978-3-7930-9082-3.
Arno Pielenz: Kennst du Heinrich von Kleist? Bertuch, Weimar 2007, ISBN 978-3-937601-43-4.
Heiko Postma: „Welche Unordnungen in der naturlichen Grazie des Menschen das Bewußtsein anrichtet“. Uber den deutschen Dichter Heinrich von Kleist (1777–1811). jmb, Hannover 2011, ISBN 978-3-940970-18-3.
Hans-Georg Schede: Heinrich von Kleist. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2008, ISBN 978-3-499-50696-3.
Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie. C. H. Beck, Munchen 2007, ISBN 978-3-406-56487-1.
Helmut Sembdner: Heinrich von Kleist. Lebensspuren. dtv, Munchen 1969.
Eberhard Siebert: Heinrich von Kleist – eine Bildbiographie. Studienausgabe. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940494-32-0. (Heilbronner Kleist-Biographien, Band 2, 364 S.)
Peter Staengle: Heinrich von Kleist. Sein Leben. 4., wiederum durchgesehene und aktualisierte Auflage. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940494-44-3. (Heilbronner Kleist-Biographien, Band 1)
Andreas Venzke: Kleist und die zerbrochene Klassik. Arena, Wurzburg 2011, ISBN 978-3-401-06646-2.
= Zu Einzelwerken =
Ludwig Borne: Dramaturgische Blatter: Das Kathchen von Heilbronn (1818). In: Samtliche Schriften. Band I. Melzer, Dusseldorf 1964.
Gerhard Dunnhaupt: Kleists Marquise von O. and its Literary Debt to Cervantes. In: Arcadia 10 (1975).
Gunther Emig, Peter Staengle (Hrsg.): Amphitryon. „Das faßt kein Sterblicher“. Interdisziplinares Kolloquium zu Kleists „Lustspiel nach Moliere“. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2004 (Heilbronner Kleist-Kolloquien; Band 4), ISBN 3-931060-74-8.
Bernhard Greiner: Kleists Dramen und Erzahlungen: Experimente zum „Fall“ der Kunst. – 2. Aufl. – Universitatsbibliothek Tubingen, Tubingen 2010 [1. Aufl. Francke, Tubingen 2000 (UTB; 2129 : Germanistik)].
Walter Hinderer (Hrsg.): Kleists Dramen. Reclam, Stuttgart 1997 (Reclams Universal-Bibliothek. Literaturstudium. Interpretationen; Band 17502), ISBN 3-15-017502-X.
Peter Horn: Heinrich von Kleists Erzahlungen. Eine Einfuhrung. Sprache+Literatur+Didaktik. Scriptor, 1978.
Peter Horn: Verbale Gewalt oder Kleist auf der Couch. Uber die Problematik der Psychoanalyse von literarischen Texten. Athena Verlag, Oberhausen 2009, ISBN 978-3-89896-346-6.
Anette Horn/Peter Horn: „Ich bin dir wohl ein Ratsel?“ Heinrich von Kleists Dramen. Athena, Oberhausen 2013, ISBN 978-3-89896-532-3.
Jochen Schmidt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzahlungen in ihrer Epoche. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, ISBN 3-534-15712-5.
Helmut Sembdner: Die Berliner Abendblatter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Reprint der Ausgabe Berlin 1939. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2011. (Heilbronner Kleist-Reprints), ISBN 978-3-940494-41-2.
Hans Steffen: Das Gesetz des Widerspruchs als Kleists Dichtungsgesetz. Demonstriert an seinem Lustspiel „Der zerbrochene Krug“. In: Europaische Komodie. Hrsg. von Herbert Mainusch. Wissenschaftl. Buchges., Darmstadt 1990. S. 304–354.
Rolf Tiedemann: Ein Traum von Ordnung. Marginalien zur Novellistik Heinrichs von Kleist. In: Ders.: Niemandsland. Munchen 2007, S. 34–59.
= Weitere Einzelaspekte =
Heinrich Banniza von Bazan: Die Ahnen des Dichters Heinrich von Kleist. In: Familie, Sippe, Volk, 7, 1941, S. 2–4.
Gunter Blocker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. Argon, Berlin 1960.
Diethelm Bruggemann: Drei Mystifikationen Heinrich von Kleists. Lang, New York / Bern / Frankfurt am Main 1985 (= Germanic Studies in America. Band 51).
Erotik und Sexualitat im Werk Heinrich von Kleists. Internationales Kolloquium des Kleist-Archivs Sembdner, 22.–24. April 1999 in der Kreissparkasse Heilbronn. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2000 (Heilbronner Kleist-Kolloquien; Band 2), ISBN 3-931060-48-9.
Robert Floetemeyer: Entromantisierte Romantik – Kleist vor Friedrichs „Monch am Meer“. In: Von Altdorfer bis Serra – Schulerfestschrift fur Lorenz Dittmann, hrsg. v. I. Besch. St. Ingbert 1993, S. 97–115.
Ulrich Fulleborn: Die fruhen Dramen Heinrich von Kleists. Fink, Munchen 2007, ISBN 978-3-7705-4331-1.
Dirk Grathoff: Kleist. Geschichte, Politik, Sprache. Aufsatze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists. Heilbronn: Kleist-Archiv Sembdner 2008. (Heilbronner Kleist-Reprints), ISBN 978-3-940494-12-2. (Reprint der 2., verbesserten Auflage Wiesbaden 2000)
Barbara Gribnitz, Wolfgang de Bruyn (Hrsg.): Hier wird das Herz von Sorgen leer. Das Hirschberger Tal um 1800. Sonderheft der Vierteljahresschrift Silesia Nova zur Ausstellung Uber den Hauptern der Riesen – Kleists schlesische Reise des Kleist-Museums Frankfurt (Oder) und des Stadtischen Museums Gerhart-Hauptmann-Haus Jelenia Gora. Neisse Verlag, Dresden 2008, ISBN 978-3-940310-45-3.
Johannes Hilgart: Heinrich von Kleist am Rhein, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2013, ISBN 978-3-95462-025-8 (= Stationen 2).
Klaus Jeziorkowski (Hrsg.): Kleist in Sprungen. Mit Beitragen von Annette Linhard, Kay Link, Sigurd Martin, Klaus Jeziorkowski, Mareike Blum und Ingo Wintermeyer. Iudikum Verlag, Munchen 1999, ISBN 3-89129-626-6.
Kevin Liggieri, Isabelle Maeth, Christoph Manfred Muller (Hrsg.): „Schlagt ihn todt!“ Heinrich von Kleist und die Deutschen. Dokumentation der Tagung Bochum 29. April 2011. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2013, ISBN 978-3-940494-62-7.
Gerd Hergen Lubben, Kleist und die Emphase der Tarantella. In: 'rohrblatt – Magazin fur Oboe, Klarinette, Fagott und Saxophon; 2000, Heft 3 (Schorndorf)
Michael Mandelartz: Goethe, Kleist. Literatur, Politik und Wissenschaft um 1800. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2011, ISBN 978-3-503-12271-4.
Martin Maurach: „Betrachtungen uber den Weltlauf“. Kleist 1933–1945. Berlin: Theater der Zeit, 2008, ISBN 978-3-940737-12-0.
ders.: „Ein Deutscher, den wir erst jetzt erkennen“. Heinrich von Kleist zur Zeit des Nationalsozialismus. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2011, ISBN 978-3-940494-52-8.
James M. McGlathery: Desire’s Sway: The Plays and Stories of Heinrich Von Kleist. Wayne State University Press, Detroit 1983, ISBN 978-0-8143-1734-1.
Katharina Mommsen: Kleists Kampf mit Goethe. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1979.
Walter Muller-Seidel (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsatze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967 (= 4. Auflage 1987) (= Wege der Forschung; Band 147), ISBN 3-534-03989-0.
Thomas Nehrlich: „Es hat mehr Sinn und Deutung, als du glaubst.“ Zu Funktion und Bedeutung typographischer Textmerkmale in Kleists Prosa. Olms, Hildesheim: Olms 2012.
Joachim Pfeiffer: Die zerbrochenen Bilder. Gestorte Ordnungen im Werk Heinrich von Kleists. Konigshausen + Neumann, Wurzburg 1989, ISBN 3-88479-436-1.
Poesiealbum 296. Markischer Verlag, Wilhelmshorst 2011, ISBN 978-3-931329-96-9.
Sigismund Rahmer: Das Kleist-Problem aufgrund neuer Forschungen zur Charakteristik und Biographie von Heinrich von Kleist. Reimer, Berlin 1903. Reprint: Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2009, ISBN 978-3-940494-26-9.
Viola Ruhse: ‚dies wunderbare Gemahlde‘. Asthetische und kunstpolitische Aspekte in Texten von Clemens Brentano, Achim von Arnim und Heinrich von Kleist zu Caspar David Friedrichs Landschaftsgemalde ‚Monch am Meer‘ In: Kleist-Jahrbuch 2013, S. 238–255.
Johann Karl von Schroeder: Der Geburtstag von Heinrich v. Kleist. In: Der Herold, NF 11, 1984/86, S. 389–391.
Horst Schumacher: Das Kleist-Grab am Kleinen Wannsee. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2010, ISBN 978-3-940494-34-4.
Helmut Sembdner (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. 7. erweiterte Neuauflage. Hanser, Munchen 1996.
Stefan Zweig: Der Kampf mit dem Damon. Holderlin – Kleist – Nietzsche (= Die Baumeister der Welt. Band 2). Insel Verlag, Leipzig 1925.
Robert Labhardt: Metapher und Geschichte – Kleists dramatische Metaphorik bis zur „Penthesilea“ als Widerspiegelung seiner geschichtlichen Position. Dissertation an der Universitat Basel, Scriptor, Kronberg im Taunus 1976, ISBN 3-589-20509-1.
Albert Gessler: Heinrich von Kleist und Basel. In: Basler Jahrbuch 1908, S. 246–283.
= Bibliographien =
Gunther Emig, Arno Pielenz (Hrsg.): Kleist-Bibliographie. Teil 1: Bis 1990. Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn 2007 (Heilbronner Kleist-Bibliographien, Band 2).
Gunther Emig: Kleist-Bibliographie. Teil 4: 2001–2015. Kleist-Archiv Sembdner 2018, Heilbronn (Heilbronner Kleist-Bibliographien, Band 6).
Kleist im Spiegel der Presse. Hrsg. vom Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn. Erschienen: Band 1 (1993–1995) bis Band 10 (2010/11). Fortsetzung im Internet (www.kleist.org)
Adolf Wilbrandt: Heinrich von Kleist, Beck, Nordlingen 1863 (Google Books).
Eine laufende Kleist-Bibliographie ist erschienen in:
Heilbronner Kleist-Blatter (HKB). Hrsg. von Gunther Emig, Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn, Ausgabe 1–29, 1996–2018.
Weblinks Literatur von und uber Heinrich von Kleist im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Werke von und uber Heinrich von Kleist in der Deutschen Digitalen Bibliothek
Werke von Heinrich von Kleist bei Zeno.org.
Werke von Heinrich von Kleist im Project Gutenberg
Werke von Heinrich von Kleist im Projekt Gutenberg-DE
Kleist-Archiv Sembdner, Heilbronn (unter anderem Volltexte, Bibliographie, Unterrichtsmaterialien, Bilder, Service)
Leben und Werk Biographie, Interpretationen, Kurzinhalte, Bibliographie
Kleist-Museum, Frankfurt (Oder)
Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft. (Memento vom 13. Oktober 2007 im Internet Archive) Stifterin des Kleist-Preises
Institut fur Textkritik, Heidelberg > Kleist > Sitemap: Projekte > Dokumente zu Lebzeiten (unten auf der Seite) > Biographisches Archiv > Dokumente (hier u. a. Link zu Reinhold Steigs Monographie zu den Berliner Abendblattern, u. a. uber Kleist und die Christlich-deutsche Tischgesellschaft)
Heinrich von Kleist bei IMDb
Kommentierte Linksammlung der Universitatsbibliothek der FU Berlin (Memento vom 25. Dezember 2015 im Internet Archive) (Ulrich Goerdten)
Die Geschichte der Familie von Kleist
Werke von Heinrich von Kleist als Horbucher bei LibriVox
Heinrich von Kleists Abschiedsbrief an seine Schwester Ulrike
Wiki „kleistdaten.de“ des Kleist-Archiv Sembdner
kleist-digital.de von Gunter Dunz-Wolff (… im Interview in Die Zeit 27/2003)
Nachweis von Ubersetzungen in andere Sprachen
Anmerkungen
|
Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist (* 10. [nach eigener Angabe] oder 18. Oktober 1777 [laut Kirchenbuch] in Frankfurt (Oder), Brandenburg, Preußen; † 21. November 1811 am Stolper Loch, heute Kleiner Wannsee) war ein deutscher Dramatiker, Erzahler, Lyriker und Publizist.
Heinrich von Kleist stand als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit […] jenseits der etablierten Lager“ und der Literaturepochen der Weimarer Klassik und der Romantik. Bekannt ist er vor allem fur das „historische Ritterschauspiel“ Das Kathchen von Heilbronn, seine Lustspiele Der zerbrochne Krug und Amphitryon, das Trauerspiel Penthesilea sowie fur seine Novellen Michael Kohlhaas und Die Marquise von O....
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_von_Kleist"
}
|
c-13978
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Phöbus"
}
|
||
c-13979
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Ruhleben"
}
|
||
c-13980
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Urstromtal"
}
|
||
c-13981
|
Das Konigreich Schweden (schwedisch oder einfach schwedisch ) ist eine parlamentarische Monarchie in Skandinavien. Das Staatsgebiet umfasst den ostlichen Teil der Skandinavischen Halbinsel und die Inseln Gotland und Oland. Schweden ist Mitglied des Nordischen Rates, seit 1995 der Europaischen Union und seit 2024 der NATO. Hauptstadt sowie bevolkerungsreichste schwedische Stadt ist Stockholm.
Geografie Schweden grenzt an die Staaten Norwegen und Finnland sowie die Ostsee, das Kattegat und das Skagerrak (ostlichster Teil der Nordsee), seit der Inbetriebnahme der Oresundbrucke im Jahr 2000 besteht zudem eine direkte Landverbindung zu Danemark. Zu Schweden gehoren 267.570 Inseln, Gotland (2994 km²) und Oland (1347 km², beide in der Ostsee) sowie Orust (346 km², nordlich von Goteborg) sind die drei großten. Die langste Ausdehnung von Norden nach Suden betragt 1572 km, von Osten nach Westen 499 km. Die Landgrenze zu Norwegen ist 1619 km lang, die zu Finnland 586 km.
Wahrend weite Teile des Landes flach bis hugelig sind, steigen entlang der norwegischen Grenze die Gebirgsmassive der Skanden bis auf uber 2000 m Hohe an. Der hochste Gipfel ist der Kebnekaise mit 2097 m Meereshohe. Uber das Land verteilt gibt es 30 Nationalparks. Die flachenmaßig großten befinden sich im Nordwesten des Landes. Sie bilden das zusammenhangende UNESCO-Welterbe Laponia.
= Topografie =
Sud- und Mittelschweden (Gotaland und Svealand), das nur zwei Funftel von Schweden umfasst, ist von Suden nach Norden in drei Großlandschaften aufgeteilt, Nordschweden (Norrland), welches die restlichen drei Funftel umfasst, ist von Westen nach Osten in drei Landschaften geteilt.
Die langsten Flusse Schwedens sind Klaralven, Torne alv, Dalalven, Ume alv und Angermanalven. Die großten Seen sind Vanern, Vattern, Malaren und Hjalmaren.
Sud- und Mittelschweden
Der sudlichste Teil Schwedens, die historische Provinz Schonen (Skane), ist eine Fortsetzung der Tiefebene Norddeutschlands und Danemarks. In Schonen liegen sowohl der tiefste Punkt des Landes (ausgenommen Gewasser) mit 2,4 Metern unter dem Meeresspiegel als auch der sudlichste Punkt, Smygehuk. Nordlich davon erstreckt sich das Sudschwedische Hochland, eine Hochebene umgeben von einer Hugellandschaft mit einer großen Anzahl von langgestreckten Seen, die durch eiszeitliche Erosion entstanden sind. Die dritte Großlandschaft ist die Mittelschwedische Senke, eine flache, zerkluftete Landschaft mit großen Ebenen, Horsten, Tafelbergen, Fjorden und einer Reihe von Seen.
Nordschweden
Der Westen Nordschwedens ist durch das Skandinavische Gebirge gepragt, das die Grenze zu Norwegen bildet. Die Gebirgskette – deren Bergtundra in Schweden Fjall genannt wird – weist Hohen zwischen 1000 und 2000 Metern uber dem Meeresspiegel auf. Im Skandinavischen Gebirge liegt auch Schwedens hochster Berg, der Kebnekaise. Im Dreilandereck Norwegen/Schweden/Finnland befindet sich mit Treriksroset Schwedens nordlichster Punkt.
Nach Osten hin schließt sich das Vorland an, Schwedens ausgedehnteste Großlandschaft. Entlang des Gebirges erstrecken sich große Hochlandebenen auf einer Hohe von 600 bis 700 Metern uber dem Meeresspiegel, die in ein welliges Hugelland ubergehen, das nach Osten abfallt. In dieser Landschaft befinden sich auch die großen Erzvorkommen (Eisen, Kupfer, Zink, Blei) Schwedens. Die großen Flusse Schwedens, die ihren Ursprung im Skandinavischen Gebirge haben, fließen beinahe parallel in tiefen Talgangen in Richtung Ostsee.
Entlang der Ostseekuste erstreckt sich die ebene Kustenlandschaft, die zwischen Harnosand und Ornskoldsvik von einem bis an die Ostseekuste reichenden Auslaufer des Vorlandes (Hoga Kusten, Nationalpark) unterbrochen wird.
= Geologie =
Das proterozoische Grundgebirgskristallin Schwedens ist Teil des Baltischen Schildes und wird aus Metamorphiten (z. B. Gneis) und Plutoniten (z. B. Granit) aufgebaut. In Jamtland und Teilen von Mittel- und Sudschweden sowie auf den Inseln Oland und Gotland werden auch aus Schiefern, Kalk- und Sandstein bestehende palaozoische Serien angetroffen.
Die skandinavische Halbinsel war wahrend der Eiszeiten zeitweise vollstandig von Eis bedeckt. Der Druck und die Bewegung der Eismassen hat die Landschaft in vielen Teilen wesentlich mitgestaltet. Durch den großen skandinavischen Gletscher der letzten Eiszeit (Weichseleiszeit) ist die heutige Landschaft Schwedens mit den zahlreichen Seen, Flussen und Wasserfallen entstanden. Die damit einhergehende Abschleifung und Aushohlung hat neben den Moranen die charakteristischen Ablagerungen aus Kieseln und runden Steinen hinterlassen, die in Schweden asar (dt. Os) genannt werden.
Ein auch im 21. Jahrhundert noch wichtiger Faktor ist die postglaziale Landhebung. Das Abschmelzen der Eismassen, welche die Erdkruste niedergedruckt hatten, hat seit der letzten Eiszeit (ungefahr 10.000 v. Chr.) zu einer Landhebung von 800 m gefuhrt. Heutzutage betragt die Landhebung bis zu 10–11 mm jahrlich im Hoga Kusten, in der Stockholmer Gegend sind es jahrlich etwa 6 mm.
= Klima =
Nord- und Mittelschweden liegen in der kaltgemaßigten Zone, der Suden bildet den Ubergang zum kuhlgemaßigten Mitteleuropa. Schwedens Klima ist fur seine geographische Lage ziemlich mild. Es wird vor allem durch die Nahe zum Atlantik mit dem warmen Golfstrom bestimmt. Große Teile Schwedens haben daher ein feuchtes Klima mit reichlich Niederschlag und relativ geringen Temperaturunterschieden zwischen Sommer und Winter. Kontinental beeinflusstes Klima mit geringeren Niederschlagen und hoheren Temperaturunterschieden findet man im Inneren des Sudschwedischen Hochlandes und in einigen Teilen des Vorlandes des Skandinavischen Gebirges. Polares Klima kommt nur in den Hochlagen der Skanden vor. Die Durchschnittstemperatur fur den Januar betragt 0 °C bis −2 °C im Suden und −12 °C bis −14 °C im Norden (ausgenommen das Hochgebirge), die Durchschnittstemperatur fur den Juli betragt 16 °C bis 18 °C im Suden und 12 °C bis 14 °C im Norden. Kalterekorde wurden am 2. Februar 1966 in Vuoggatjalme, Gemeinde Arjeplog mit −52,6 °C, beziehungsweise am 13. Dezember 1941 in Malgovik, Gemeinde Vilhelmina mit −53 °C gemessen. Ein Warmerekord wurde am 29. Juni 1947 in Malilla mit 38 °C gemessen.
Da sich Schweden zwischen dem 55. und 69. Breitengrad erstreckt und ein Teil nordlich des Polarkreises liegt, ist der Unterschied zwischen dem langen Tageslicht im Sommer und der langen Dunkelheit im Winter betrachtlich.
= Flora und Fauna =
Bis auf die sudlichen Kustenregionen pragen die ausgedehnten borealen Nadelwalder das Landschaftsbild Schwedens. Von Suden nach Norden werden die Baumsilhouetten als Folge der Anpassung an die langeren Winter mit tiefstehender Sonne immer schmaler. Zudem steigt der Anteil der Birken, die den Ubergang zum baumlosen Fjall der Skanden und des außersten Nordens bilden. Je sudlicher man kommt, desto haufiger gibt es Mischwalder. Reine Laubwalder kommen nur in Sudschweden vor. Viele von ihnen mussten allerdings dem Ackerbau Platz machen oder wurden wegen des schnelleren Wachstums durch Nadelwalder ersetzt. Als markanter Grenzraum fur Flora und Fauna gilt der sogenannte limes norrlandicus.
Auf den Inseln Gotland und Oland findet man, bedingt durch das Klima und die geologischen Voraussetzungen, eine besonders artenreiche Flora vor. Hier gibt es eine einzigartige Mischung, unter anderem mit Pflanzen, die sonst in Europa nur im Balkanraum vorkommen. Besonders erwahnenswert sind die zahlreichen Orchideenarten.
Das Wildschwein ist im sudlichen Schweden inzwischen wieder stark verbreitet, obwohl es im 18. Jahrhundert vollstandig ausgerottet worden war. Es konnte sich jedoch nach Ausbruchen von Wildschweinen aus in den 1940er Jahren angelegten Wildgehegen in den 1970er Jahren wieder eine lebensfahige wilde Population entwickeln, die 2022 etwa 200.000 bis 300.000 Tiere umfasste. Die Population wuchs seit den 1990er Jahren um jahrlich 13 % an und nimmt weiterhin noch zu. Zudem findet nach wie vor eine Ausbreitung in Richtung Norden statt, und so kommt das Wildschwein auch in Dalarna und Halsingland vor. Inzwischen werden in Schweden jahrlich rund 25.000 Wildschweine erlegt.
Wie das Wildschwein ist auch der Rothirsch in Schweden vornehmlich in der sudlichen Landeshalfte verbreitet. Er kommt vor allem in Gotaland vor, isolierte Populationen gibt es aber auch in Dalarna, Jamtland und sogar Vasterbotten. Die meisten Bestande beruhen auf gezielten Aussetzungen, nur in Schonen gibt es noch einen ursprunglichen Bestand. Das Reh ist im Vergleich zum Rothirsch etwas weiter verbreitet und kommt nordwarts bis Dalarna flachendeckend und zahlreich vor. Gebiete weiter nordlich sind nur außerst sparlich vom Reh besiedelt.
Besonders bekannt ist Schweden fur die großte Zahl an Elchen in Europa. Sie stellen eine recht große Gefahr im Straßenverkehr dar – 2006 wurden 4957 Verkehrsunfalle mit Elchen gezahlt. Die Elche richten auch großen Schaden in Waldpflanzungen an. In der Jagdsaison im Herbst wird bis zu einem Viertel des Elchbestands erlegt. Der Bestand ist durch die hohe Reproduktionsrate nicht gefahrdet.
Raubtiere wie Braunbaren, Wolfe, Luchse und Vielfraße sind in den letzten Jahren dank strenger Umweltbestimmungen wieder auf dem Vormarsch. Die vielen Seen und langen Kusten bieten viel Lebensraum fur Wassertiere: Suß- und Salzwasserfische gibt es reichlich, und auch Biber, Fischotter und Robben sind haufig anzutreffen.
In Schweden kommen insgesamt 52 Sußwasserfischarten vor, wobei die Wassertemperatur die naturliche Ausbreitung begrenzt. Die schwedische Fluss- und Seenlandschaft ist international bekannt fur ihren hervorragenden Salmonidenbestand. Die vorherrschenden Arten sind Bachforelle, Regenbogenforelle, Seeforelle, Lachs, Meerforelle, Bach- und Seesaibling. Die Morrum in Sudschweden hat einen international bekannten Ruf als einer der besten Lachsflusse Europas. Des Weiteren gibt es in den sauerstoffreichen und schnellfließenden Waldflussen Mittelschwedens zahlreiche europaische Aschen und arktische Aschen. Raubfische wie Hecht, Barsch, Zander, Rapfen nehmen unter Sportfischern, welche in Schweden einen Breitensport ausuben, die großte Rolle ein. Das Land gilt mit seinen 90.000 Seen, zahlreichen Bachen, Flussen und seiner 3.200 Kilometer langen Kustenlinie als „Anglerparadies“. Hechte (auf Schwedisch Gaddor) wachsen im Scharengarten der Ostsee zu starken Gewichten an. Stinte suchen auf ihrer Laichwanderung in großer Zahl Flussmundungen auf. In den großeren Seen wie dem Vanern findet man große Schwarme von Maranen. Friedfische wie Karpfen, Schleie, Brasse, Rotauge, Rotfeder und Aland kommen je nach Warmebedurfnis uberwiegend in Sudschweden vor.
Schweden richtete 1909 als erstes Land in Europa Nationalparks ein. Mittlerweile sind knapp 15 % des Landes durch Naturschutzgebiete oder -reservate sowie 30 Nationalparks geschutzt. Sollte die Einrichtung von elf neuen Nationalparks und die Erweiterung von sieben bereits bestehenden beschlossen werden, wurde der Anteil der geschutzten Flache auf 15,5 % steigen.
= Stadte =
Im Jahr 2023 lebten 89 Prozent der Einwohner Schwedens in Stadten. Mit Abstand großter Ballungsraum Schwedens ist die Hauptstadt Stockholm, gefolgt von Goteborg und Malmo. Weitere Großstadte sind Uppsala, Vasteras, Orebro, Linkoping und Helsingborg.
Bevolkerung = Demografie =
Schweden hatte 2023 10,5 Millionen Einwohner. Das jahrliche Bevolkerungswachstum betrug +0,5 %. Zum Bevolkerungswachstum trug ein Geburtenuberschuss (Geburtenziffer: 10,0 pro 1000 Einwohner vs. Sterbeziffer: 9,0 pro 1000 Einwohner) bei. Die Anzahl der Geburten pro Frau lag 2022 statistisch bei 1,5, die der Europaischen Union betrug 1,5. Die Lebenserwartung der Einwohner Schwedens ab der Geburt lag 2022 bei 83,1 Jahren. Der Median des Alters der Bevolkerung lag im Jahr 2021 bei 39,5 Jahren. Im Jahr 2023 waren 17,4 Prozent der Bevolkerung unter 15 Jahre, wahrend der Anteil der uber 64-Jahrigen 20,4 Prozent der Bevolkerung betrug.
= Bevolkerungsstruktur =
Die Mehrheit der Einwohner sind ethnische Schweden. Es gibt eine großere Minderheit von Schwedenfinnen im Land. Zum einen lebten Finnen uber mehrere Jahrhunderte in Teilen des heutigen Schwedens, zum anderen gibt es eine großere Anzahl von Finnen aufgrund von Migration nach dem Zweiten Weltkrieg. Schwedenfinnen bilden in Tornedalen eine große Gruppe. Es gab 2017 insgesamt etwa 450.000 Einwohner mit finnischen Wurzeln.
Tornedaler sind eine von den Schwedenfinnen abzugrenzende Minderheit und bilden neben Schwedenfinnen eine von funf offiziell anerkannten ethnischen Minderheiten im Land. Die anderen drei sind Juden, Roma und die indigenen Sami bzw. Samen.
In Schweden leben etwa 20.000 Samen. Viele davon in den Gemeinden Gallivare und Kiruna. Die traditionelle Rentierhaltung (heute halbsesshaft statt nomadisch) spielt auch im 21. Jahrhundert noch eine Rolle. Es gibt 51 regionale samische Gemeinschaften, genannt samebyar (schwedisch; wortlich „Samendorfer“), die von der Rentierwirtschaft abhangen. Die samischen Sprachen wurden im Jahr 2000 zu anerkannten Minderheitensprachen. Sie haben in Kiruna mit dem Sameting eine eigene parlamentarische Vertretung.
In Schweden leben Einwanderer aus fast allen Landern der Welt. Im Jahr 2000 hatten 14,5 % der Bevolkerung einen Migrationshintergrund (im Ausland geboren oder Eltern, die beide im Ausland geboren wurden). Zu der Zeit lebten eine Million im Ausland geborene Menschen in Schweden, die 11,3 Prozent der Bevolkerung ausmachten. Der Bevolkerungsanteil mit Migrationshintergrund stieg bis zum Jahr 2021 auf 26 % bzw. 2,75 Millionen Einwohner an. Von diesen waren 2.090.503 im Ausland geboren, weitere 662.069 Einwohner sind in Schweden geborene Kinder von Immigranten.
Schweden hat seit Jahrzehnten ein verhaltnismaßig liberales Einwanderungsrecht. Erste große Einwanderungswellen gab es ab den 1960er Jahren: primar aus anderen europaischen Landern, wie aus Deutschland, Italien, Jugoslawien sowie auch der Turkei.
In den 1980er Jahren gab es einen Anstieg von Asylbewerbern aus dem Irak, Iran, Libanon, Eritrea und zum Teil auch aus Sudamerika. Ab den 2000ern gab es eine vermehrte Einwanderung von Menschen aus anderen Regionen, wie Afrika sowie Vorder- und Zentralasien. Herkunftslander waren Irak, Afghanistan oder auch Somalia.
Aufgrund der Fluchtlingskrise in Europa ab 2015 und der zahlreichen Aufnahme von Fluchtlingen und Migranten stieg die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund stark an. So sind Syrer und Iraker die großten Bevolkerungsgruppen in Schweden, die keine schwedische Staatsangehorigkeit haben.
Der Bevolkerungsanteil von Auslandern und Menschen mit Migrationshintergrund ist regional sehr unterschiedlich, wobei die hochsten Anteile in den Großstadten Stockholm, Malmo und Goteborg erreicht werden. In den landlichen Gebieten des Landes leben verhaltnismaßig wenig Migranten.
= Sprache =
Die schwedische Sprache ist seit dem 1. Juli 2009 nicht nur de facto, sondern auch gesetzliche Amtssprache. In Schweden haben Finnisch, Tornedalfinnisch, Jiddisch, Romani, Samisch und die schwedische Gebardensprache Svenskt teckensprak den Status anerkannter Minderheitensprachen. Entlang der schwedisch-finnischen Grenze, in Tornedalen, wird von ungefahr der Halfte der Bevolkerung Tornedalfinnisch (Meankieli) gesprochen. Die samische Sprache wird von einigen Tausend Menschen als Hauptsprache verwendet, zusatzlich zur schwedischen Sprache.
Fast 80 % der schwedischen Bevolkerung sprechen Englisch als Fremdsprache, da Englisch zum einen die erste Fremdsprache an den Schulen darstellt und zum anderen im Fernsehen sehr stark vertreten ist (fremdsprachige Spielfilme werden ublicherweise nicht synchronisiert, sondern untertitelt). Als zweite Fremdsprache wahlt die Mehrheit (ca. 45 %) der Schuler Spanisch. Auch Deutsch (rund 25 %) und Franzosisch (rund 20 %) werden als zweite Fremdsprache angeboten; Deutsch war wie auch im restlichen Skandinavien bis 1945 die erste Fremdsprache. Die norwegische Sprache wird aufgrund starker Ahnlichkeiten mit der Schwedischen zumeist verstanden; fur das Danische trifft das in geringerem Maße zu, insbesondere außerhalb der ehemals danischen Landesteile Halland, Blekinge und Schonen.
= Religion =
Im Jahr 2023 gehorten 52,1 % (55,2 % im Jahr 2020) der schwedischen Bevolkerung der evangelisch-lutherischen Schwedischen Kirche an, die von 1527 bis 1999 Staatskirche war. Seit 2000 ist die Mitgliederzahl deutlich rucklaufig. Zwischen 2005 und 2015 haben etwa 740.000 Mitglieder (11 %) die Kirche verlassen. Die zweitgroßte Glaubensgemeinschaft, die der Muslime, lasst sich zahlenmaßig nur schwer einschatzen. Ihre Mitgliederzahl lag 2014 bei ungefahr 500.000 (5,1 %).
Nach einem Verbot im Verlauf der Reformation ist es Katholiken seit 1781 wieder erlaubt, ihre Religion offentlich zu praktizieren. 1783 wurde das erste apostolische Vikariat fur Schweden mit Abt Nikolaus Oster eingerichtet. Die romisch-katholische Kirche in Schweden hatte 2016 etwa 113.000 Mitglieder (1,1 % der Bevolkerung), die Zahl der Mitglieder ist, hauptsachlich durch Einwanderung bedingt, steigend.
Der orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Kirchen gehorten etwa 120.000 (1,2 %) Glaubige an. Evangelische Freikirchen sind vor allem im Raum Jonkoping, in Bohuslan und in Vasterbotten starker vertreten und haben zusammen gut 250.000 Mitglieder, davon knapp die Halfte in der Equmeniakyrkan. In Schweden leben einige arabische Christen, vor allem aus dem Irak und Syrien.
Die neo-charismatische Bewegung Livets Ord hat ihren Hauptsitz in Uppsala. Daneben gibt es in Schweden etwa 23.000 Zeugen Jehovas (0,25 %). Etwa 10.000 Menschen gehoren einer judischen Gemeinde (0,1 %) an. In Stockholm existiert eine mandaische Gemeinde mit eigenem Gotteshaus.
Eine reprasentative Umfrage im Auftrag der Europaischen Kommission im Rahmen des Eurobarometers ergab 2020, dass fur 16 Prozent der Menschen in Schweden Religion wichtig ist, fur 17 Prozent ist sie weder wichtig noch unwichtig und fur 67 Prozent ist sie unwichtig.
= Bildung und Forschung =
Das schwedische Bildungssystem umfasst vier Teilbereiche: Vorschule, Schule, Hochschulen und Universitaten sowie Erwachsenenbildung. Die Schulpflicht betragt zehn Jahre (6. bis 16. Lebensjahr), an die sich ein freiwilliger dreijahriger Gymnasiumsbesuch anschließt. Etwa 30 Prozent eines Jahrganges beginnen innerhalb von funf Jahren nach dem Abschluss des Gymnasiums ein Studium.
Im PISA-Ranking von 2018 erreichten Schwedens Schuler Platz 11 von 79 Landern in der Kategorie Lesen, Platz 17 in Mathematik und Platz 19 in den Naturwissenschaften. Die Leistung schwedischer Schuler lag damit in allen drei Kategorien uber dem OECD-Durchschnitt.
In der Nahe von Kiruna wird mit der European Space and Sounding Rocket Range (kurz Esrange) seit 1964 ein ziviler Ballon- und Raketenstartplatz fur den Start von Hohenforschungsraketen und seit 2023 auch fur den Start von orbitalen Tragerraketen betrieben.
= Gesundheit =
Das schwedische Gesundheitssystem wird von den Regionen organisiert und ist weitgehend steuerfinanziert. Es gibt sowohl staatliche als auch private Gesundheitsdienstleister, wobei private Gesundheitsdienstleister auch im offentlichen Auftrag tatig werden. Die Gesundheitsausgaben des Landes betrugen im Jahr 2022 10,7 % des Bruttoinlandsprodukts. Im Jahr 2018 praktizierten in Schweden 43,3 Arzte je 10.000 Einwohner. Die Sterblichkeit bei unter 5-jahrigen betrug 2022 2,5 pro 1000 Lebendgeburten. Die Lebenserwartung der Einwohner Schwedens ab der Geburt lag 2022 bei 83,1 Jahren (Frauen: 84,8, Manner: 81,5). Die Lebenserwartung stieg von 79,6 Jahren im Jahr 2000 bis 2022 um 4 %. Die Anzahl der gesunden Lebensjahre betrug 2022 65,3 Jahre fur Frauen und 67,1 Jahre fur Manner. Damit nimmt Schweden einen der vorderen Platze in der Europaischen Union ein.
Auch Schweden war von der weltweiten COVID-19-Pandemie betroffen, die im Dezember 2019 in der Volksrepublik China ihren Ausgang nahm und ab Januar 2020 zur COVID-19-Pandemie in Schweden gefuhrt hat. Die schwedische Regierung folgte im Vergleich zu den anderen europaischen Staaten einem zuruckhaltenden Kurs mit uberwiegend freiwilligen Maßnahmen zur Eindammung der Epidemie. Die im Vergleich zu den Nachbarlandern hohen Zahlen an COVID-19-Toten fuhrten in der Bevolkerung zwischenzeitlich zu einem Ruckgang des Vertrauens in die schwedische COVID-19-Strategie und insgesamt in die Regierung. Auch die Volksgesundheitsbehorde Behorde fur offentliche Gesundheit verlor zwischenzeitlich an Vertrauen. Die Maßnahmen, etwa die geoffneten Schulen, wurden in der Bevolkerung großtenteils begrußt.
= Sicherheit =
Schweden ist, wie viele andere europaische Lander, ein recht sicheres Land. Die Mordrate je 100.000 Einwohner lag 2007 bei 1,2, ist bis 2012 auf 0,7 gesunken und dann bis 2015 wieder auf 1,1 angestiegen und seitdem recht konstant. So sind es 2022 immer noch 1,1. Damit liegt Schweden deutlich unter dem europaischen Durchschnitt von 2,2 (zum Vergleich: Deutschland hat 0,8, Großbritannien 1,1, Frankreich und 1,6, Kanada 2,3 und die USA 6,4).
Beim Global Peace Index ist Schweden dennoch stark zuruckgefallen von Platz 13 im Jahr 2010 auf Platz 39 im Jahr 2024. Als Grund wird die hohe Bandenkriminalitat, sowie die Aufrustung aufgrund des Ukrainekriegs genannt. Auch geben immerhin 13 % der Schweden an, dass sie in ihrem eigenen Wohngebiet bereits Probleme mit Kriminalitat, Gewalt oder Vandalismus hatten, was einer der hochsten (subjektiven) Werte in Europa ist. Die Zahl der Toten durch Schusswaffen steigt, oft sind die Tater minderjahrig. Dadurch haben sich die gefahrdeten Gebiete in Schweden insbesondere innerhalb der zweiten Halfte der 2010er Jahre erhoht. Im Jahr 2022 kam es zu 388 Schusswaffenvorfallen, bei denen 61 Menschen starben. Das sind die meisten Tote durch Schusswaffen in einem Jahr in Schweden (zum Vergleich: in den Nachbarlandern Danemark und Norwegen wurden in der gleichen Zeit je vier und in Finnland zwei Menschen erschossen, obwohl die Mordrate in beiden Landern ahnlich hoch wie in Schweden ist). Der Politik gelingt es bislang nicht, wirksame Maßnahmen gegen die Bandenkriminalitat zu setzen, auch wenn seit einigen Jahren die Ursachen klar benannt werden. So erklarte der sozialdemokratische Ministerprasident Stefan Lofven im Jahr 2021: „Wenn man eine Einwanderung hat mit einer Großenordnung, die eine Integration erschwert, so fuhrt dies zu sozialen Spannungen.“ Die Themen Kriminalitat und Migration bestimmten auch den Wahlkampf 2022 und fuhrten schließlich zum Regierungswechsel unter Ulf Kristersson.
Seit Herbst 2010 gilt die Bedrohungslage wegen internationalem Terrorismus grundsatzlich als erhoht (Stufe 3 von 5). Seit 17. August 2023 liegt sie bei Stufe 4 von 5.
Geschichte = Schweden vor 1800 =
Die skandinavische Halbinsel wird erstmals in der Naturalis historia Plinius’ des Alteren aus den Jahren um 77 erwahnt. Er schreibt uber Scatinavia, eine große Insel, auf der das Volk der Hillevionen lebt. Manche sehen darin die erste Erwahnung der Schweden. Im Jahr 98 findet sich in Tacitus’ Germania eine Erwahnung der Suionen (Absatz 44), die angeblich „im Ozean selbst“ leben und eine machtige Flotte haben. Auf der Weltkarte des Ptolemaus um 120 ist Skandinavien erstmals kartographisch erfasst. Im funften Jahrhundert beschrieb Prokop die Insel Thule im Norden, die zehnmal großer als Britannien sei und auf der im Winter 40 Tage lang keine Sonne scheine.
Wahrend des fruhen Mittelalters (um 800 bis 1000) beherrschten Wikinger die europaischen Meere und Kustengegenden. Schwedische Wikinger, auch Warager genannt, orientierten sich vor allem Richtung Osten, nach Russland. Ab dem neunten Jahrhundert wirkten die auch Rus genannten Schweden am Aufbau der Kiewer Rus mit. Der erste Kontakt mit dem Christentum entstand durch die Missionstatigkeiten des heiligen Ansgars, des Erzbischofs von Hamburg und Bremen. Er unternahm um 830 und 853 zwei Missionsreisen nach Birka, dem wichtigsten Handelsplatz der Wikinger im Malaren, die allerdings keinen Erfolg hatten. Im Jahr 1008 ließ Olof Skotkonung, Konig von Schweden, sich jedoch taufen. Doch bis ins 12. Jahrhundert waren weite Teile der Bevolkerung heidnisch. So wurde 1160 Konig Erik IX. von anti-christlichen Adligen nach dem Besuch der Messe ermordet.
Im Jahr 1397 bildete die danische Konigin Margarethe I. die Kalmarer Union. Durch Erbschaft und Heirat hatte sie zuvor die norwegische und schwedische Krone erlangt. Diese Vereinigung dreier Reiche unter danischen Unionskonigen blieb bis 1523 bestehen, auch wenn die Durchsetzung der Zentralmacht letztlich nicht gelang. Die Kalmarer Union wurde immer mehr von inneren Kampfen, besonders zwischen koniglicher Zentralmacht und Hochadel, gepragt. Zu gewissen Zeiten waren die Unionskonige auch in Schweden anerkannt, aber dazwischen regierten der schwedische Konig Karl Knutsson (1448–1457, 1464–1465 und 1467–1470) beziehungsweise schwedische Reichsverweser. Der Konflikt kulminierte unter dem Reichsverweser Sten Sture dem Jungeren. Der danische Unionskonig Christian II. besiegte seine schwedischen Widersacher 1520 und ließ im November desselben Jahres uber 80 Oppositionelle im sogenannten Stockholmer Blutbad hinrichten. Dies fuhrte zum Aufruhr des Gustav Wasa, der 1521 zum Reichsverweser ernannt wurde, und dem endgultigen Zusammenbruch der Kalmarer Union. Im Jahr 1523 wurde er als Gustav I. Wasa zum Konig gewahlt. Nach dem Volksaufstand litt das schwedische Reich unter hohen Schulden und Gustav I. sah sich nach Moglichkeiten zur Verbesserung der finanziellen Lage um. Dafur vergab er unter anderem ein Fischereimonopol an die Gavlefischer. Die Bruder Olavus und Laurentius Petri hatten in Deutschland Bekanntschaft mit Martin Luther gemacht. Die Opposition des Luthertums zu Klostern schuf eine Gelegenheit zur Auffrischung der finanziellen Situation. Aus diesem Grund unterstutzte der Konig die Gebruder Petri. Da die Bevolkerung zunachst nicht in Kontakt mit dem protestantischen Gedankengut kam, wurde die Reformation schrittweise eingefuhrt. Viele Traditionen, die im deutschen Protestantismus aufgehoben werden sollten, wurden beibehalten. 1544 wurde Schweden zum evangelischen Reich erklart.
Vor allem das 17. Jahrhundert der schwedischen Geschichte ist gepragt von Versuchen seitens des Konigshauses, eine Hegemonialstellung in Europa zu erlangen. Durch den Burgerkrieg in Russland konnte Schweden die Kontrolle uber Estland erlangen. Von 1611 bis 1613 fochten Danemark und Schweden den Kalmarkrieg aus, der zu einem Sieg der Danen und der Abgabe der Finnmark an das unter danischer Herrschaft stehende Norwegen fuhrt. Spater schaltete sich Gustav II. Adolf aktiv in den Dreißigjahrigen Krieg ein und eroberte weite Teile Norddeutschlands, darunter Vorpommern, das Erzbistum Bremen und das Bistum Verden. 1632 fiel er allerdings in der Schlacht bei Lutzen. 1648 erlangte Schweden im Westfalischen Frieden große Kustengebiete auf dem Boden des Heiligen Romischen Reichs. Nach einem Krieg gegen Danemark kam 1658 im Frieden von Roskilde das heutige Sudschweden einschließlich des wichtigen Schonen hinzu. Ein jahes Ende fanden die Großmachttraume unter Karl XII., der im Großen Nordischen Krieg von den Russen und den Danen geschlagen wurde. Schweden musste daraufhin seine Besitzungen im Baltikum abgeben. In diese Zeit fallen auch verschiedene Kolonialisierungsbestrebungen außerhalb Europas. Diese umfassten die Grundung von schwedischen Niederlassungen und Kolonien in Nordamerika (1638–1655) und Westafrika (1650–1659), scheiterten letztlich aber.
= Schweden ab 1800 =
Nach dem Verlust Finnlands an das russische Zarenreich 1809 und den Napoleonischen Kriegen, in deren Folge Schweden von Danemark das Konigreich Norwegen abgetreten bekam, endete die schwedische Verwicklung in Kriege und großere Kampfhandlungen. Die oft beschworene schwedische Neutralitatspolitik nahm ihren Anfang. Sie war bis ins 20. Jahrhundert hinein jedoch nie eine offizielle politische Doktrin, sondern mehr Ausdruck pragmatischer Politik. So war man versucht (und hatte jeweils auch bereits mobilisiert), in der Schleswig-Holsteinischen Erhebung (1848–1851) und im Deutsch-Danischen Krieg (1864) um das Herzogtum Schleswig und Sudjutland auf Seiten Danemarks einzugreifen sowie Norwegens Unabhangigkeitserklarung von Schweden 1905 militarisch zu verhindern. Weitere Krisensituationen ergaben sich fur Schweden insbesondere im Zweiten Weltkrieg, als man im sogenannten Winterkrieg zwischen Finnland und der Sowjetunion 1939/1940 Finnland mit Freiwilligen und Hilfsgutern unterstutzte, sowie nach dem deutschen Uberfall auf Danemark und Norwegen mit dem Unternehmen Weserubung.
Im Juli 1945 loste eine sozialdemokratische Alleinregierung die Koalitionsregierung ab, zunachst weiterhin unter Per Albin Hansson, nach dessen Tod im Oktober 1946 unter Tage Erlander. In den folgenden Jahren wurde die durch den Krieg unterbrochene soziale Reformarbeit wieder aufgenommen und es entstand ein moderner Wohlfahrtsstaat nach den Grundsatzen des bereits genannten schwedischen Modells. Parallel mit dem Ausbau des Sozialsystems arbeitete man auch an einer Verfassungsreform, die in den 1970er Jahren durch mehrere Grundgesetze schrittweise verwirklicht wurde (siehe Verfassung von Schweden).
Nach der Empfehlung einer Aufnahme des Landes zu den Vereinten Nationen durch die Resolution 8 des UN-Sicherheitsrates trat es am 19. November 1946 der Internationalen Gemeinschaft bei.
Am 3. September 1967, dem Dagen H, wurde der Verkehr von Linksverkehr auf Rechtsverkehr umgestellt. Verkehrsminister war zu dem Zeitpunkt Olof Palme, der 1969 Premierminister Erlander im Amt abloste. Palme pragte in den kommenden Jahren das Bild Schwedens im Ausland durch seine engagierte Außenpolitik: durch seine harte Kritik am Vietnamkrieg, als UNO-Vermittler im Iran-Irak-Krieg und durch seine internationalen Abrustungsinitiativen. Innenpolitisch begegnete er mehreren Schwierigkeiten. Einerseits erschwerten die Verfassungsreform und die neue parlamentarische Situation nach der Wahl von 1970 eine stabile Zusammenarbeit uber die Blockgrenzen hinweg, andererseits uberschatteten wirtschaftliche Probleme, vor allem nach der Olkrise 1973, die soziale Reformarbeit. Zudem fuhrte die Wahl von 1973 zu einem Patt im Parlament: Regierung und Opposition erhielten je 175 Mandate. Oft wurden Abstimmungen im Reichstag daher per Losentscheid entschieden. Die Atomkraftdebatte entzweite die Sozialdemokraten und brachte einen neuen politischen Faktor ins Spiel, die Umweltpolitik und die grune Bewegung, und die gewerkschaftliche Forderung nach Einfuhrung von Arbeitnehmerfonds verscharfte die Gegensatze zu den burgerlichen Parteien. Nach der Wahlniederlage der Sozialdemokraten am 19. September 1976 wurde Schweden von verschiedenen burgerlichen Koalitionen regiert, bis Palme 1982 wieder als Ministerprasident einer sozialdemokratischen Regierung an die Macht kam.
In Schweden wurden ab den 1960ern bis ins 21. Jahrhundert 60.000 Kinder aus mehr als 100 Landern adoptiert, davon alleine etwa 9000 aus Sudkorea – manche wurden von ihren Eltern oder Verwandten verkauft, andere gar gestohlen. In den 1960er Jahren erlebte Schweden eine Einwanderungswelle, primar aus anderen europaischen Landern, wie aus Deutschland, Italien, Jugoslawien sowie auch der Turkei. Im Jahr 1969 uberstieg die schwedische Bevolkerung acht Millionen. In den 1980er Jahren gab es einen Anstieg von Asylbewerbern aus dem Irak, Iran, Libanon, Eritrea und zum Teil auch aus Sudamerika.
Mit der U-Boot-Krise wird seit 1980 das Auftauchen sogenannter „unbekannte Tauchobjekte“ vor der Kuste bezeichnet. Am 27. Oktober 1981 strandete das sowjetische U-Boot U-137 vor der Marinebasis Karlskrona – mitten in der militarischen Verbotszone. Die Havarie loste eine U-Boot-Panik aus. Der sowjetische Kapitan Guschtschin behauptete, samtliche Navigationsinstrumente seien ausgefallen. Die naheren Hintergrunde blieben ungeklart.
Die Sozialdemokraten waren stark von den neoliberalen Ideen aus den USA und Großbritannien beeinflusst worden. Unter dem neuen Finanzminister Kjell-Olof Feldt entbrannten heftige Debatten uber neoliberale Reformen des Sozialstaates. Der Konflikt entzundete sich vor allem zwischen Feldt und dem Vorsitzenden des Gewerkschaftsbundes (LO), Stig Malm. Dieser „Krieg der Rosen“ fuhrte letztlich zum Abgang von Feldt im Jahr 1990.
Nach Palmes Ermordung 1986 ubernahm Ingvar Carlsson die Regierung und fuhrte dessen Politik in allen wichtigen Punkten weiter. Gleichzeitig verursachte die Ermordung Palmes einen derartigen Schock, der zu einer großen Stille in der politischen Auseinandersetzung fuhrte. Ein politischer Machtwechsel vollzog sich 1991 mit dem Wahlverlust der Sozialdemokraten. Carl Bildt, der einen Systemwechsel im Sinne neoliberaler Ideen gefordert hatte, bildete eine Koalitionsregierung burgerlicher Parteien und begann, diese Ideen zu verwirklichen. Die Periode wird durch fortdauernde (bereits im Jahr 1990 angefangene) Wirtschaftskrise (von 1990 bis 1994 sank das Pro-Kopf-Einkommen um etwa zehn Prozent) und damals fur notwendig gehaltene wirtschaftliche Umgestaltungen gekennzeichnet.
Am 28. September 1994 sank die MS Estonia, als das Schiff auf dem Weg von Tallinn (Estland) nach Stockholm (Schweden) die Ostsee uberquerte. Bei der Katastrophe kamen 852 Menschen ums Leben (501 davon waren Schweden); es war eine der schlimmsten Seekatastrophen des 20. Jahrhunderts.
Bei der Reichstagswahl 1994 gewannen die Sozialdemokraten erneut und Ingvar Carlsson bildete eine Minderheitsregierung. 1996 ubergab er seine Amtsgeschafte an Goran Persson. Die Politik der folgenden Jahre konzentrierte sich auf eine Stabilisierung der offentlichen Finanzen, was tiefe Eingriffe in das Sozialsystem zur Folge hatte. Trotz der dadurch verursachten Unzufriedenheit konnte die Sozialdemokratie in den Wahlen von 1998 und 2002 ihre Regierungsposition aufgrund der Unterstutzung durch die Linkspartei und den Grunen behaupten.
1995 trat Schweden der Europaischen Union bei (siehe Erweiterung der Europaischen Union). Der Beitritt erfolgte nach einer Volksabstimmung am 13. November 1994, bei der 52,3 % fur einen Beitritt gestimmt hatten. Diese Volksabstimmung, aber auch die folgenden Wahlen und Meinungsumfragen zeigten, dass eine weitverbreitete Skepsis gegenuber der EU herrscht. Daher entschloss sich Schweden schon 1997, nicht an der Wahrungsunion teilzunehmen. Im Herbst 2003 wurde diese Frage dem Volk zur Abstimmung vorgelegt. Eine Mehrheit der Bevolkerung stimmte gegen die Einfuhrung des Euro. Das Referendum wurde von der Ermordung der Außenministerin Anna Lindh wenige Tage davor uberschattet, die von vielen als Nachfolger Perssons gesehen worden war.
Die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts sind in Schweden unter anderem gepragt von Zuwanderung und einer teilweise fehlgeschlagenen Integration, was in dem Land zu gesellschaftlicher Polarisierung, Unruhen und einem Anstieg der Jugend-, Banden- und Clan-Kriminalitat fuhrte und es anfallig fur Islamistischen Terrorismus bzw. islamistisch motivierte Attentate machte. Beispielhaft sind die Unruhen in Rosengard, die Unruhen in Stockholm im Jahr 2013 oder die durch Koranverbrennungen im Jahr 2023 provozierte Terrorgefahr. In der Zwischenzeit hatte Schweden vor- und wahrend der Fluchtlingskrise in Europa in den Jahren 2015/2016 mit die meisten Migranten aufgenommen. Diese kamen aus dem islamisch gepragten Nahen- und Mittleren Osten und aus Afrika. Die knapp 200.000 nach Schweden eingewanderten Syrer wurden infolge der Fluchtlingskrise zu der großten Einwohnergruppe ohne schwedische Staatsangehorigkeit. Die Einwanderung aus Vorder- und Zentralasien und Afrika hatte in Schweden jedoch bereits in den 2000er Jahren eingesetzt. Herkunftslander waren Irak, Afghanistan oder auch Somalia. In den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts war der Anteil der in Schweden lebenden Menschen mit Migrationshintergrund (im Ausland geboren oder auslandische Eltern) von 14,5 Prozent an der Gesamtbevolkerung auf 26 % der Gesamtbevolkerung angestiegen.
Nach Angaben des schwedischen Statistikamts uberstieg die Bevolkerungsanzahl im Jahr 2017 die 10-Millionen-Marke. Die 9-Millionen-Marke war im Jahr 2004 erreicht worden. Die Erhohung der Bevolkerungszahl um eine Million ist zu drei Vierteln auf Zugewanderte zuruckzufuhren. Vor 2004 hatte es 35 Jahre gebraucht, bis die Bevolkerung von acht auf neun Millionen angestiegen war.
Im Jahr 2021 wurde Magdalena Andersson Schwedens erste Ministerprasidentin. Im Jahr darauf wurde sie von Ulf Kristersson abgelost.
Nach dem Uberfall Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 strebte Schweden in die NATO. Schweden wurde am 7. Marz 2024 Teil des Militarbundnisses.
Politik = Politisches System =
Schweden ist eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. Staatsoberhaupt ist seit dem 15. September 1973 Konig Carl XVI. Gustaf. Die Aufgaben des Staatsoberhauptes sind rein reprasentativ und zeremoniell; der Konig hat keine politischen Machtbefugnisse und nimmt nicht am politischen Leben teil.
Das Einkammerparlament, der Reichstag (schwed. Riksdag), hat 349 Abgeordnete und wird alle vier Jahre neu gewahlt. Die acht im Reichstag vertretenen Parteien sind die konservative Moderate Sammlungspartei (Moderata samlingspartiet, M), die Liberale Partei (Liberalerna, L), die Zentrumspartei (Centerpartiet, C), die Christdemokraten (Kristdemokraterna, KD), die Grunen (Miljopartiet de Grona, MP), die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens (Sveriges socialdemokratiska arbetareparti, S), die Linkspartei (Vansterpartiet, V) und die Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD).
Der Ministerprasident (statsminister) wird vom Reichstag ernannt, der seinerseits die weiteren Minister (schwed. statsrad) seiner Regierung ernennt.
Das allgemeine Wahlrecht fur Manner wurde 1907/1909 durch eine Verfassungsreform, das Frauenwahlrecht auf nationaler Ebene 1919/1921 ebenfalls im Rahmen einer Verfassungsanderung eingefuhrt. Die zweijahrige Frist ruhrt daher, dass es fur eine Verfassungsanderung im schwedischen Parlament zwei Beschlusse braucht, zwischen denen eine allgemeine Wahl liegt.
Schweden galt lange Zeit als sozialdemokratisches Musterland; es wurde von vielen europaischen Linken als gelungenes Beispiel fur einen dritten Weg zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft gesehen. Das hat sich spatestens seit den „Reformen“ in den 1990er Jahren geandert.
Schweden wurde 2006 von Human Rights Watch aufgrund seines Mitwirkens an der Uberstellung des asylsuchenden Mohammed al-Zari nach Agypten, der Missachtung des absoluten Folterverbots bezichtigt.
= Verwaltungsstruktur =
Schweden ist in 21 Provinzen (schwed. lan) gegliedert. Die staatlichen Verwaltungsaufgaben auf regionaler Ebene werden von einem Regierungsprasidenten (schwed. landshovding) und einer Provinzialregierung (schwed. lansstyrelse) wahrgenommen.
Die Ursprunge des schwedischen politischen Systems liegen in den Verwaltungsreformen des Axel Oxenstierna von 1618. Im Gegensatz zu den meisten Demokratien durfen die Minister, also die Regierung, die ausfuhrenden Organe nicht direkt steuern (Ostnordische Verwaltungsform, auch in Finnland gebraucht). Vielmehr sind es die unabhangig agierenden Zentralamter (schwed. ambetsverk) (beispielsweise Trafikverket, Skolverket – es gibt ungefahr 200 in unterschiedlicher Große), welche die Aufgaben erfullen, die in anderen Landern von Ministerien oder Landesverwaltungen realisiert werden. Demgegenuber haben die Ministerien die Aufgabe, Gesetzesvorlagen auszuarbeiten und im besten Fall die Moglichkeit, die Arbeit der Zentralamter durch Verordnungen zu beeinflussen.
Die kommunale Selbstverwaltung geschieht auf zwei Ebenen: den (seit 2003) 290 Gemeinden (schwed. kommun) und den Provinziallandtagen (schwed. region, bis 2019 landsting), welche eine Art Kommunenverbund darstellen (nicht zu verwechseln mit den staatlichen lansstyrelse). Die Gemeinden nehmen die kommunalen Aufgaben, wie unter anderem das Schulwesen, soziale Dienstleistungen, Kinder- und Altenbetreuung sowie die kommunale Infrastruktur wahr, jedoch werden die Rahmenbedingungen von den zentralen Behorden, beispielsweise Skolverket, bestimmt. Die Provinziallandtage hingegen sind fur diejenigen Bereiche der kommunalen Selbstverwaltung zustandig, welche die Kraft einzelner Gemeinden ubersteigen, wie unter anderem das Gesundheitswesen und die Krankenpflege, den Regionalverkehr und die Verkehrsplanung. Die Gemeinden und die Provinziallandtage finanzieren ihre Tatigkeit durch die Erhebung von Einkommenssteuern, mit Abgaben und staatlichen Zuschussen.
Offentlichkeitsprinzip und Ombudsmanner
In Schweden gilt das Offentlichkeitsprinzip, das heißt, dass behordliche Schriftstucke mit geringen Ausnahmen der Presse und allen Privatpersonen zuganglich sind. Niemand muss angeben, warum er ein Schriftstuck einsehen mochte, noch muss man sich ausweisen. Es ist seit 1766 verfassungsrechtlich garantiert und ist damit die weltweit alteste Verfassungsregelung zur Informationsfreiheit. Auch auf dem Gebiet des Datenschutzes, des Gegenstucks zur Informationsfreiheit, gehort Schweden zu den Vorreitern: Wahrend das weltweit erste Datenschutzgesetz 1970 in Hessen verkundet wurde, trat das weltweit erste nationale Datenschutzgesetz 1973 in Schweden in Kraft.
Eine weitere skandinavische Besonderheit ist das System der Ombudsmanner (schwed. ombudsman). Sie sollen die Rechte des Einzelnen beim Kontakt mit den Behorden schutzen und die Befolgung wichtiger Gesetze sicherstellen. Burger, die meinen, ungerecht behandelt worden zu sein, konnen sich an die Ombudsmanner wenden, die den Fall untersuchen und eventuell als Sonderanklager vor Gericht bringen. Gleichzeitig sollen sie in Zusammenarbeit mit den Behorden die Lage in ihren jeweiligen Bereichen erfassen, Aufklarungsarbeit betreiben und Vorschlage fur Gesetzesanderungen machen. Neben den Justizombudsmannern gibt es einen Verbraucherombudsmann, einen Kinderombudsmann und einen Diskriminierungsombudsmann.
= Politische Indizes =
= Provinziale Verwaltung =
Die staatliche Verwaltung Schwedens ist derzeit (Stand 2016) in 21 Provinzen (lan) unterteilt. Diese lehnen sich teilweise an die historischen Provinzen (landskap) an, in die das Reich bis 1634 eingeteilt war, was sich in der Namensgebung vieler Provinzen spiegelt. Mehr oder weniger deckungsgleich mit den historischen Provinzen sind Gotland, Skane, Blekinge, Ostergotland, Varmland und Dalarna; in anderen Fallen sind die historischen Provinzen in mehrere heutige Provinzen aufgeteilt (z. B. die alten Lappland und Smaland) oder aber mehrere historische Landschaften in einer einzigen Provinz zusammengefasst (z. B. im Fall der heutigen Jamtlands lan und Vastra Gotalands lan). Die Provinzgrenzen folgen insgesamt grob den fruheren Landskapsgrenzen, es gibt jedoch viele kleinflachige Abweichungen.
Eine Reform des bestehenden Systems mit dem Ziel der Einteilung des Landes in acht bis zehn Großprovinzen war insbesondere ab den 1990er Jahren im Gesprach. Mit der Umsetzung dieser Plane wurde 1997/1998 mit der Schaffung von Skane lan und Vastra Gotalands lan aus zwei beziehungsweise drei fruheren Provinzen begonnen. Diese Entwicklung sollte ursprunglich bis 2014 abgeschlossen sein, aber bis 2021 kam es noch zu keinen weiteren Anderungen.
Die heutigen Provinzen sind:
Anmerkung: anfangliche Sortierung der Tabelle in der in schwedischen Statistiken ublichen Reihenfolge der Provinzen, ab Stockholms lan grob im Uhrzeigersinn
= Kommunale Verwaltung =
Die kommunale Selbstorganisation findet auf der Ebene der Provinziallandtage und der Gemeinden statt; dabei sind die Provinziallandtage derzeit fur das Gesundheitswesen, die Kulturpflege und gemeinsam mit den Gemeinden fur den offentlichen Nahverkehr zustandig.
Provinziallandtage und Regionen (sekundarkommuner)
Derzeit decken sich die Gebiete der Provinziallandtage/Regionen mit den zugehorigen Provinzen; jede Provinz hat einen Provinziallandtag. In den Provinzen, in denen es zu einer Zusammenschlagung der Provinziallandtage zu Regionen gekommen ist (Vastra Gotaland, Skane) hat man auch die Provinzen entsprechend zusammengefasst. Ebenfalls Regionen gebildet haben 2010 Halland und Gotland. Diese Regionen werden wohl permanent verbleiben; die Zusammenfassung der Provinziallandtage im Ubrigen ist jedoch ein Prozess, der sich fortsetzen wird; welche Provinziallandtage zu welchen Regionen zusammengefasst werden, ist jedoch vor allem in Mittelschweden noch unklar; ein Beschluss dazu wird 2014 erwartet. Ab 2015 soll dann die neue Gliederung in Kraft treten; dabei darf eine Provinz ein oder mehrere Provinziallandtage/Regionen enthalten, eine Provinzgrenze wird jedoch nicht quer durch einen Provinziallandtag verlaufen.
Gemeinden (primarkommuner)
Die Gemeinden stellen die Verwaltungseinheit unter den Provinziallandtagen dar. In Schweden gibt es 290 Gemeinden.
= Sozialsystem =
Das „schwedische Modell“, ein Begriff vor allem der 1970er Jahre, bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat, ein umfassendes System sozialer Sicherheit und sozialer Fursorge, das das Ergebnis einer einhundertjahrigen Entwicklung ist. Zwischen 1890 und 1930 wurden teilweise die Grundlagen fur ein Sozialsystem geschaffen, aber erst ab den 1930er Jahren, insbesondere nach der Regierungsubernahme der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1932, wurde der Aufbau des Wohlfahrtsstaates als politisches Projekt vorangetrieben. Das schwedische Sozialsystem erfasste schließlich alle, vom Kleinkind (uber die kommunale Kinderfursorge) bis zum Rentner (uber die kommunale Altenfursorge). Erst im letzten Jahrzehnt kam es zu einschneidenden Veranderungen. Eine schwere Wirtschaftskrise zu Beginn der 1990er Jahre fuhrte zu einer Kurzung von Sozialleistungen und die erwartete demographische Entwicklung fuhrte zu einem radikalen Umbau des Rentensystems, das nun an die wirtschaftliche Entwicklung gekoppelt ist.
= Staatshaushalt =
Der Staatshaushalt umfasste 2016 Ausgaben von umgerechnet 250,8 Milliarden US-Dollar, dem standen Einnahmen von umgerechnet 248,3 Mrd. US-Dollar gegenuber. Daraus ergibt sich ein Haushaltsdefizit in Hohe von 0,3 % des BIP.
Die Staatsverschuldung betrug 2016 215,8 Mrd. US-Dollar oder 41,6 % des BIP. Schwedische Staatsanleihen werden von der Ratingagentur Standard & Poor’s mit der Bestnote AAA bewertet (Stand 2018).
2020 betrug der Anteil der Staatsausgaben (in % des BIP) folgender Bereiche:
Gesundheit: 11,4 % (uberwiegend durch regionale Landsting-Steuern finanziert)
Bildung: 7,2 %
Militar: 2,1 % (2024)
= Polizei und Militar =
Die schwedische Polizei (Polisen) verfugt uber ca. 26.000 Mitarbeiter, davon mehr als 18.000 Polizisten. (Angaben zur Mitarbeiterzahl schwanken je nach Quelle, weshalb hier die kleinste gefundene Zahl genannt wird.)
Die schwedische Sicherheitspolizei (Sakerhetspolisen) ist ein Nachrichtendienst mit polizeilichen Befugnissen.
Die schwedischen Streitkrafte (schwedisch Forsvarsmakten) bestehen aus den vier Teilstreitkraften
Schwedisches Heer (Armen)
Schwedische Marine (Svenska marinen)
Schwedische Luftstreitkrafte (Flygvapnet)
Schwedische Heimwehr (Hemvarnet)
Die schwedische Armee ist formell als Verwaltungsbehorde organisiert. Als solche untersteht sie direkt der schwedischen Regierung und nicht, wie in vielen anderen Staaten, dem Verteidigungsminister. Den Oberbefehl sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten fuhrt ein Vier-Sterne-General mit dem Titel Overbefalhavaren.
Die elf- bis siebzehnmonatige Wehrpflicht wurde am 1. Juli 2010 ausgesetzt, nachdem seit Ende des Kalten Krieges bereits immer weniger Soldaten eingezogen wurden (45.000 Wehrdienstleistende im Jahr 1975 gegenuber 15.000 Wehrdienstleistenden im Jahr 2003). In Krisenzeiten kann die Regierung die allgemeine Wehrpflicht, aus Grunden der Gleichstellung auch fur Frauen, per Beschluss wieder einfuhren. Tatsachlich kundigte das Verteidigungsministerium im September 2016 an, dass die Wehrpflicht im Jahr 2018 fur Manner und Frauen wieder eingefuhrt wird.
Der Verteidigungshaushalt betragt umgerechnet etwa 4,2 Milliarden Euro (44 Mrd. SEK, Stand: 2016), worin alle laufenden Aufwendungen fur die Streitkrafte und Ausgaben fur Forschung und Entwicklung sowie die Materialbeschaffung enthalten sind.
= Außenpolitik =
Schweden sah in der Zeit des Kalten Krieges einen Beitritt zu den Europaischen Gemeinschaften als unvereinbar mit seiner Neutralitatspolitik an. Nach dem Zerfall des Ostblocks Anfang der 1990er Jahre trat Schweden 1995 in der vierten Erweiterungsrunde der EU bei. Die schwedische Regierung hat sich fur eine EU eingesetzt, die transparent arbeitet und Gleichberechtigung fordert. Schweden befurwortete eine Ost-Erweiterung der EU; zum 1. Mai 2004 traten die baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn (sowie Malta und Zypern) der EU bei.
Vor dem Hintergrund des russischen Uberfalls auf die Ukraine 2022 bewarb sich Schweden um eine Mitgliedschaft in der NATO und erhielt eine formelle Einladung. Am 17. Mai 2022 stellte die Regierung Schwedens den Antrag auf Aufnahme in das Militarbundnis, der am 18. Mai 2022 zusammen mit dem entsprechenden Antrag Finnlands in der Brusseler NATO-Zentrale eingereicht wurde. Außer Ungarn und der Turkei hatten bis September 2022 alle NATO-Mitgliedstaaten den Beitritt in das Bundnis ratifiziert. Zum Oktober 2022 hatten Finnland und Schweden Beobachterstatus bei der NATO. Ungarn verschob im November 2022 die Ratifizierung auf 2023, man stehe aber zu den „Verbundeten“, sagte Ministerprasident Viktor Orbans Stabschef Gergely Gulyas. Der ursprunglich angestrebte gemeinsame Beitritt wurde wegen der turkischen Blockade der NATO-Aufnahme Schwedens aufgetrennt. Am 4. April 2023 wurde Finnland Mitglied der NATO. Das turkische Parlament stimmte am 23. Januar 2024 der Aufnahme Schwedens in die NATO zu, so dass fur die Turkei nur noch die Unterschrift Prasident Erdogans unter das Beitrittsprotokoll ausstand. Zwei Tage spater wurde die Entscheidung im turkischen Amtsblatt veroffentlicht und galt damit als offizielle Ratifizierung. Danach fehlte zum Beitritt Schwedens allein noch die Zustimmung aus Ungarn. Das ungarische Parlament stimmte am 26. Februar 2024 mehrheitlich fur die von Ministerprasident Orban empfohlene Aufnahme Schwedens in die NATO. Am 5. Marz 2024 unterschrieb der ungarische Prasident Tamas Sulyok die Ratifizierung. Am 7. Marz 2024 wurde Schweden Mitglied der NATO. Damit sind alle Lander Skandinaviens erstmals seit der Auflosung der Kalmarer Union 1523 wieder Teil eines gemeinsamen Militarbundnisses.
Schweden hatte vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2009 turnusgemaß die Prasidentschaft des Europaischen Rates inne.
= Klimapolitik =
Am 1. Januar 2018 trat das Klimaschutzgesetz in Kraft.
Die Regierung muss jahrlich einen Klimabericht und alle vier Jahre einen Aktionsplan vorlegen. Emissionen werden bepreist (Energiesteuer, CO2-Steuer und andere). Schweden setzt auf den Ausbau von Windenergie und Solarenergie, wobei Kernenergie fast ein Drittel zur Stromerzeugung beitragt.
Wirtschaft Noch in der ersten Halfte des 19. Jahrhunderts war Schweden ein ausgepragter Agrarstaat, in dem 90 % der Bevolkerung von der Landwirtschaft lebten. Erst in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts setzte eine umfassende Industrialisierung ein, die bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 die Grundlagen fur eine moderne Industriegesellschaft legte. Die Industrialisierung basierte anfanglich auf gutem Zugang zu Rohstoffen und der Verarbeitung dieser Ressourcen an Ort und Stelle (beispielsweise Eisenerz mit Hutten in Svealand, unendliche Walder im Norden, einer Vielzahl an Sagewerken entlang der norrlandischen Kuste). Erst in den 1890er Jahren bildete sich eine sehr fortschrittliche Werkstattindustrie, vor allem in Mittelschweden, heraus (beispielsweise Nobel AB, ASEA (seit 1988 ABB), Bahco, LM Ericsson, Alfa Laval, SKF). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Schweden zu einer der fuhrenden Industrienationen der Welt. Die Entwicklung erreichte in der Mitte der 1960er Jahre ihren Hohepunkt, seit den 1970er Jahren geht die Anzahl der Beschaftigten in der Industrie zuruck, wahrend der Dienstleistungsbereich wachst. 2000 betrug der Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch 2 % und der des sekundaren Sektors 28 %, wahrend 70 % des BIP durch den tertiaren Sektor erwirtschaftet wurden.
Schweden hat in den zuruckliegenden Jahren die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise vergleichsweise gut gemeistert. 2014 betrug der Anstieg des BIP 2,3 % (2013: 1,5 %). Fur das Jahr 2015 wurden von der schwedischen Regierung 2,8 % Wirtschaftswachstum erwartet. Im Vergleich mit dem BIP der EU ausgedruckt in Kaufkraftstandards erreichte Schweden 2015 einen Indexwert von 123 (EU-28:100) und damit etwa 98 % des deutschen Wertes. Schweden belegte im Global Competitiveness Index 2017–2018 Rang 7. Im Index fur wirtschaftliche Freiheit belegt das Land 2017 Platz 19 von 180 Landern.
Schweden stand, laut einer Studie der Bank Credit Suisse aus dem Jahre 2017, auf Rang 18 weltweit beim nationalen Gesamtvermogen. Der Gesamtbesitz an Immobilien, Aktien und Bargeld belief sich auf insgesamt 1.994 Milliarden US-Dollar. Das Vermogen pro erwachsene Person betragt 260.667 Dollar im Durchschnitt und 45.235 Dollar im Median (in Deutschland: 203.946 bzw. 47.091 Dollar). Der Gini-Koeffizient bei der Vermogensverteilung lag 2016 bei 83,2, was auf eine inzwischen recht hohe Vermogensungleichheit hindeutet.
Die Arbeitslosenquote betrug im November 2018 6,1 % und liegt damit unter dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2017 betrug die Jugendarbeitslosigkeit 18,3 %. 2014 arbeiteten 2,0 % aller Arbeitskrafte in der Landwirtschaft, 12 % in der Industrie und 86 % im Dienstleistungssektor. Die Gesamtzahl der Beschaftigten wird fur 2017 auf 5,36 Millionen geschatzt; davon sind 47,7 % Frauen.
Das Land fuhrt eine Wertpapierborse – die Borse Stockholm – mit ihrem Leitindex, dem OMX Stockholm 30.
= Land- und Forstwirtschaft =
Die schwedische Landwirtschaft ist durch die geologischen Voraussetzungen und das Klima gepragt. 10 % der Staatsflache werden landwirtschaftlich genutzt. 90 % der Anbauflache befinden sich in Sud- und Mittelschweden. Ein Großteil der Landwirtschaftsbetriebe ist in Familienbesitz. Angebaut werden vor allem Getreide, Kartoffeln und Olpflanzen. Mehr als die Halfte der landwirtschaftlichen Einnahmen (58 %) wird aber durch die Tierhaltung erwirtschaftet, hier vor allem durch die Milchproduktion. Die Landwirtschaftssubventionen der EU belaufen sich auf 24 % der Einnahmen. Drei Viertel der landwirtschaftlichen Betriebe verfugen auch uber Wald und verbinden Landwirtschaft mit Forstwirtschaft.
Die Forstwirtschaft ist daher ebenfalls von großer Bedeutung, da Schweden eines der waldreichsten Lander der Erde ist; 56 % der Staatsflache sind von Wald bedeckt. Im Juli 2018 waren Walder in Mittel- und Sudschweden von den großten Waldbranden seit Jahrzehnten betroffen (siehe Durre und Hitze in Europa 2018).
= Bergbau =
Schweden ist reich an Bodenschatzen, die schon seit dem Mittelalter abgebaut werden. Eisenerz wird, nach der Eisen- und Stahlkrise der 1970er Jahre, nur noch in Norrland (Kiruna, Gallivare-Malmberget) abgebaut und exportiert. Kupfer, Blei und Zink ubersteigen den Eigenbedarf um das Mehrfache und werden ebenfalls exportiert, wahrend Silber zu 60 % und Gold zu 80 % den Eigenbedarf decken. Großere Erzreserven sind vorhanden, deren Abbau ist aber zurzeit unwirtschaftlich.
Der Steinkohlenbergbau erlangte in Schweden nie eine großere Bedeutung. Kohlefloze von geringer Machtigkeit gibt es rund um Hoganas. Wahrend des Zweiten Weltkrieges, als die deutschen und britischen Kohlelieferungen ausblieben, wurden mehr als 500.000 Tonnen pro Jahr gefordert. 1961 waren es noch 250.000 Tonnen, 1976 nur noch 12.000 Tonnen. Ende der 1970er Jahre wurde der schwedische Steinkohlenbergbau eingestellt.
= Industrie =
Was die schwedische Industrie auszeichnet, ist der verhaltnismaßig hohe Anteil von Großunternehmen. Nach einer Krise am Beginn der 1990er Jahre (mit einem Produktionsruckgang von 10 % innerhalb von zwei Jahren) hat sich die Industrie wieder erholt. Die großten Industriezweige sind Fahrzeugbau (1996: 13 % der industriellen Wertschopfung) mit Unternehmen wie Volvo, Scania, Saab AB (Flugzeuge und Raumfahrttechnik) und andere, die Holz- und Papierindustrie (ebenfalls 13 % der industriellen Wertschopfung) mit vier Großunternehmen, der Maschinenbau (12 % der industriellen Wertschopfung) mit Unternehmen wie Electrolux, SKF, Tetra-Pak und Alfa Laval und die Elektro- und Elektronikindustrie (10 % der industriellen Wertschopfung) mit den dominierenden Unternehmen Ericsson und ABB.
Seit 2006 finden in ganz Schweden mit Schwerpunkt auf dem hohen Norden verstarkte Anstrengungen bei der Suche nach Erzen statt. Die Samen befurchten dabei erhebliche negative Auswirkungen des Bergbaus auf die Rentierwirtschaft und die empfindliche Natur.
Viele Softwareunternehmen wie Mojang Studios, King Digital Entertainment und Spotify kommen aus Schweden. Des Weiteren ist der Entwickler von cURL, einer der meistinstallierten Softwarebibliotheken der Welt, Daniel Stenberg, Schwede. Auch die umstrittene Torrent-Seite The Pirate Bay kommt aus Schweden.
= Energie =
Hauptenergiequellen
Elektrische Energie wird in Schweden vor allem durch erneuerbare Energien und Kernenergie produziert: im Jahr 2015 stammten 57 % der Stromproduktion von erneuerbaren Energien, insbesondere aus Wasserkraftwerken an den großen Flussen (Lulealv, Indalsalv, Umealv und Angermanalv) im Norden des Landes, der Rest aus Kernkraftwerken. Auch am Primarenergieverbrauch hat die Wasserkraft einen erheblichen Anteil: 2011 lieferte sie rund 15 %. Unter den Mitgliedstaaten der Europaischen Union tragt Schwedens Wasserkraft am meisten zur Versorgung aus erneuerbaren Energiequellen bei: Im Jahre 2011 wurden 66 TWh erzeugt – das entspricht mehr als 20 % der insgesamt in den EU-Landern erzeugten Energie aus Wasserkraft.
2015 gab die Regierung bekannt, in allen Verbrauchssektoren, d. h. Strom, Warme und Verkehr, vollstandig aus der Nutzung fossiler Energietrager aussteigen zu wollen, um die Energiewende sowie den Klimaschutz voranzubringen. Zugleich sollen erneuerbare Energien, Energieeffizienzmaßnahmen, Speicher und nachhaltige Verkehrslosungen starker gefordert werden.
Bis 2040 soll die gesamte Energieversorgung Schwedens zu 100 Prozent auf erneuerbaren Energien basieren. Hierfur soll vor allem die Windenergie an Land ausgebaut werden, wobei die schwankende Energieabgabe der Windkraftanlagen durch die vorhandenen Wasserkraftwerke sowie starkere Vernetzung mit Nachbarstaaten zum uberregionalen Stromaustausch ausgeglichen werden soll.
2017 setzte sich das Land zudem in einem Klimaschutzgesetz das Ziel, bis 2045 vollstandig treibhausgasneutral zu sein. Der Beschluss kam mit 254 zu 41 Stimmen angenommen, wobei alle Parteien außer den weit rechts im Parteienspektrum stehenden Schwedendemokraten den Beschluss unterstutzten.
Schweden belegt im Klimaschutz-Index, einem Vergleichsinstrument zur Bewertung von Klimaschutzbemuhungen der weltweit großten Treibhausgasemittenten, regelmaßig den vordersten Platz, so auch im Jahr 2021.
Atomausstieg
Nach der partiellen Kernschmelze in Three Mile Island in den USA (1979) wurde in Schweden eine Volksabstimmung gegen Kernenergie erfolgreich durchgefuhrt. Das hatte zur Folge, dass das Parlament 1980 entschied, keine weiteren Kernkraftwerke mehr zu bauen und die zwolf vorhandenen bis 2010 abzuschalten.
Dieser Ausstiegsplan wurde nur teilweise vollzogen. 1997 nahm der Schwedische Reichstag die Vorlage uber „eine nachhaltige Energieversorgung“ an. Diese bestimmte unter anderem, einen der Reaktoren am Standort Barseback vor dem 1. Juli 1998 und den zweiten vor dem 1. Juli 2001 stillzulegen, allerdings unter der Voraussetzung, dass deren Stromproduktion kompensiert werden kann. Der fruhere Beschluss, alle Reaktoren bis 2010 stillzulegen, wurde aufgehoben. Barseback Block 1 wurde schließlich am 30. November 1999 stillgelegt, Barseback Block 2 am 1. Juni 2005.
Der Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie wird in Schweden kontrovers diskutiert. Die Industrie befurchtet den Verlust einer preiswerten Stromerzeugung und damit eine Beeintrachtigung ihrer internationalen Wettbewerbsfahigkeit. Zudem betonen Kritiker, dass ein Verzicht auf die Kernenergienutzung, ohne uber ausreichende andere und verlassliche Stromerzeugungstechniken zu verfugen, erhebliche negative Folgen fur die schwedische Volkswirtschaft haben konne.
Die Leistung der drei noch in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke ist in den letzten Jahren erheblich gesteigert worden. Diese Steigerung ermoglichte die Kompensation des 2005 abgeschalteten Kernkraftwerks Barseback. Eine Ausnutzung von vorhandenen weiteren großen Wasserkraftpotenzialen ist nicht moglich. Der Schwedische Reichstag beschloss 1998, aus Naturschutzgrunden keine weiteren Ausbauten von Gewassern zuzulassen. Per Gesetz geschutzt sind die Flusse Kalixalv, Pitealv, Tornealv und Vindelalv.
Die Betreiber von Kernkraftwerken gehen von einer Nutzungszeit der bestehenden Anlagen etwa bis zum Jahr 2050 aus. 2004 gab es einen Beschluss des Parlaments, dass ein Ausstieg „in den nachsten 30 bis 40 Jahren“ anzustreben sei. Im Januar 2008 sprach sich Jan Bjorklund, der Vorsitzende der liberalen Partei Schwedens, fur einen Neubau von vier weiteren Reaktoren aus. Eine Umfrage im Juni 2008 ergab, dass 40 % der Schweden diesen Planen zustimmten, wohingegen 42 % nur den Betrieb der derzeitigen Anlagen befurworteten, nicht aber einen Neubau weiterer Anlagen. Am 5. Februar 2009 beschloss der Schwedische Reichstag den Neubau von zehn Reaktoren in den drei bestehenden Kraftwerken.
November 2014 erklarte der Direktor des Staatskonzerns Vattenfall, Magnus Hall, alle Plane zum Ausbau der Atomenergie in Schweden auf Eis gelegt zu haben – einer Ubereinkunft der rot-grunen Regierung folgend. 2015 soll eine parlamentarische Energiekommission auf Initiative von Energieminister Ibrahim Baylan ein neues Zukunftskonzept zur Versorgung Schwedens mit nachhaltiger Energie erarbeiten. Mittelfristig sollen drei Kernkraftwerksblocke geschlossen werden. Vattenfall kundigte an, zwei Blocke im Kernkraftwerk Ringhals 2018 bzw. 2020 zu schließen, wahrend EON einen Betrieb von Oskarshamn 2 gegen 2020 aufgrund wirtschaftlicher Probleme einstellen will, da sich eine notwendige Modernisierung nicht lohne. In Schweden wachst in den letzten Jahren die Zustimmung zu dieser Form der Energiegewinnung. Laut einer Umfrage des offentlich-rechtlichen Fernsehens sprechen sich 66 Prozent der Bevolkerung positiv zur Kernenergie aus.
Olausstieg
Im Jahr 2006 erklarte die schwedische Regierung, bis 2020 vollstandig auf erneuerbare Energien umsteigen zu wollen, um sich von der Abhangigkeit von fossilen Rohstoffen zu befreien. Im selben Jahr richtete der sozialdemokratische Ministerprasident Goran Persson fur diesen Zweck ein Komitee fur Ol-Unabhangigkeit (Komiteeen for att bryta oljeberoendet i Sverige till ar 2020) ein, das konkrete Plane erarbeitete. Der Bericht empfiehlt bis zum Jahr 2020 folgende Ziele zu verwirklichen:
Verringerung des Olkonsums im Straßenverkehr um 40 bis 50 Prozent
Einschrankung des Olkonsums in der Industrie um 25 bis 40 Prozent
vollstandiger Verzicht auf Olheizungen bei Gebauden
Erhohung der Energieeffizienz um insgesamt 20 Prozent
Um die Ziele zu erreichen, sollen bis zum Jahr 2020 mindestens 75 Prozent aller neuen Gebaude in Niedrigenergiebauweise errichtet werden. Bestehende Hauser sollen modernisiert und auf Fern- bzw. Nahwarme, Biokraftstoffe oder Warmepumpenheizungen umgerustet werden. Im Jahr 2013 war Schweden das Land, in dem die Energiewende weltweit am weitesten vorangeschritten war. Mit Stand 2022 heizten 43 % der Haushalte in Schweden mit Warmepumpen, was nach Norwegen (60 %) der zweithochste Anteil in Europa war.
= Dienstleistungen =
Im Jahr 2018 erwirtschaftete der Dienstleistungsbereich 65 % des BIP, was sich vor allem darauf zuruckfuhren lasst, dass der offentliche Sektor in den letzten Jahrzehnten so stark gewachsen ist. Dennoch steht der private Dienstleistungsbereich fur knapp zwei Drittel der Produktion.
= Tourismus =
Der Fremdenverkehr tragt mit etwa 3 % (3,3 Mrd. Euro, 2000) zu Schwedens BIP bei. Vier Funftel der Touristen sind Inlander und nur ein Funftel kommt aus dem Ausland. Von den Auslandstouristen kamen 1998 23 % aus Deutschland, 19 % aus Danemark, 10 % aus Norwegen und je 9 % aus Großbritannien und den Niederlanden. 2016 wurde das Land von uber 10 Millionen auslandischen Touristen besucht. Im Land gibt es insgesamt 15 UNESCO-Welterbestatten.
= Außenhandel =
Schwedens Wirtschaft ist stark vom internationalen Handel abhangig. Die wichtigsten Exportlander sind Deutschland (10,2 % des Exportes im Jahr 2016), Norwegen (10,1 %), Vereinigte Staaten (7,0 %), Danemark (7,0 %) und Finnland (6,7 %). Die wichtigsten Exportprodukte sind Maschinen (14,2 % des Exportes 2016), Elektro- und Elektronikprodukte (14,9 %) und KFZ und KFZ-Bestandteile (12,6 %). Die wichtigsten Importlander sind Deutschland (18,8 % des Importes im Jahr 2016), Niederlande (8,3 %) und Norwegen (8,2 %). Die wichtigsten Importprodukte sind Elektro- und Elektronikprodukte (15,3 % des Importes 2016), KFZ und KFZ-Bestandteile (12,1 %) und Nahrungsmittel (9,7 %).
Vergleichsweise hoch ist der Anteil auslandischer Direktinvestitionen in Schweden. Das kann darauf zuruckgefuhrt werden, dass die schwedische Wirtschaft von einer kleinen Anzahl international tatiger Konzerne dominiert wird. Etwa 50 Konzerne kommen fur zwei Drittel des schwedischen Exportes auf.
Schweden ist der zehntgroßte Rustungsexporteur der Welt.
Infrastruktur = Feuerwehr =
In der Feuerwehr in Schweden waren im Jahr 2019 landesweit 4.970 Berufs- und 10.699 Teilzeit-Feuerwehrleute organisiert, die in 944 Feuerwachen und Feuerwehrhausern tatig sind. Der Frauenanteil betragt sieben Prozent. Die schwedischen Feuerwehren wurden im selben Jahr zu 128.044 Einsatzen alarmiert, dabei waren 26.445 Brande zu loschen. Hierbei wurden 78 Tote von den Feuerwehren bei Branden geborgen und 882 Verletzte gerettet. Die nationale Feuerwehrorganisation Myndigheten for samhallsskydd och beredskap (MSB) reprasentiert die schwedische Feuerwehr im Weltfeuerwehrverband CTIF.
= Verkehr =
Im Logistics Performance Index, der von der Weltbank erstellt wird und die Qualitat der Infrastruktur misst, belegte Schweden 2018 den zweiten Platz unter 160 Landern.
Eisenbahn
Schweden besitzt ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz, das vor allem im dichter besiedelten Suden die wichtigsten Stadte miteinander verbindet. Großter Anbieter sind die Statens Jarnvagar (SJ). Daneben existieren mehrere kleinere Eisenbahngesellschaften mit lokaler Bedeutung. In den letzten Jahren ist das Eisenbahnnetz aus okonomischen Grunden verkleinert worden. Das betraf beispielsweise die Inlandsbahn nach Nordschweden. Von Bedeutung ist der Hochgeschwindigkeitsverkehr mit dem modernen SJ X2, der Stockholm, Goteborg, Malmo/Kopenhagen und mehrere kleinere Stadte miteinander verbindet. Schweden ist mit Danemark zwischen Malmo und Kopenhagen uber die Oresundverbindung verbunden. Großter Logistikanbieter im Schienenguterverkehr ist die Green Cargo AB.
Straße
Das gesamte Straßennetz umfasste 2016 etwa 573.134 km, wovon 140.010 km asphaltiert sind.
Im Straßenverkehr gehort das Land zu den sichersten der Welt. 2013 kamen in Schweden insgesamt 2,8 Verkehrstote auf 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Deutschland waren es im selben Jahr 4,3 Tote. Insgesamt kamen damit 272 Personen im Straßenverkehr ums Leben. Das Land hat eine im weltweiten Vergleich hohe Motorisierungsrate, die jedoch unter dem EU-Durchschnitt liegt. 2016 kamen im Land 542 Kraftfahrzeuge auf 1000 Einwohner (in Deutschland waren es 610 Fahrzeuge).
Schweden besitzt ein sehr gut ausgebautes Straßennetz mit einer guten Infrastruktur an Raststatten, das auf starker frequentierten Strecken autobahnartig ausgebaut wird. Autobahnen (motorvag) verbinden hauptsachlich die drei Ballungsregionen um Stockholm, Goteborg und Malmo. Uber die Oresundbrucke verlauft eine mautpflichtige Autobahn.
Weit verbreitet sind bei Fernstraßen wechselseitig dreispurige Straßen, wobei die mittlere Spur als Uberholspur jeweils einer Richtung benutzt wird. Landstraßen und kleinere Wege sind in ganz Schweden oft unbefestigt. Bis 1967 herrschte in Schweden Linksverkehr. (Siehe Hauptartikel Dagen H, ‚Tag H‘, H fur schwedisch hogertrafikomlaggningen – ‚Rechtsverkehrumstellung‘)
Uberlandbus
Uberlandbusse stellen ein beliebtes Verkehrsmittel dar, weil sie preisgunstig sind und ein engmaschiges Netz anbieten.
Flugverkehr
Von großer Bedeutung bei den langeren Inlandsverbindungen beispielsweise nach Nordschweden ist der Flugverkehr. Fast jede Mittel- und Großstadt verfugt uber einen Verkehrsflughafen. Die großten Flughafen sind die Flughafen Stockholm/Arlanda, Goteborg/Landvetter, Stockholm-Skavsta sowie der Flughafen Malmo.
Schifffahrt
Als Land mit einer langen Kustenlinie und vielen naturlichen Seehafen hat Schweden traditionell eine weit entwickelte Schifffahrt. Insbesondere die Kustenschifffahrt und die Fahrverbindungen besitzen eine hohe Bedeutung. Wichtige Hafen befinden sich in Goteborg, in Malmo, in Helsingborg, in Trelleborg, in Karlshamn, in Karlskrona und im Raum Stockholm.
Marktfuhrer der Personen- und Fahrzeugbeforderung mit Fahren ist die Stena Line.
Kultur = Schwedische Kuche =
= Feste, Brauche und Humor =
Am 6. Januar wird Trettondedag jul (dreizehnter Weihnachtstag, auch Trettondag jul) begangen. Dieser Tag entspricht dem deutschen Dreikonigstag und ist im hauptsachlich protestantischen Schweden ein staatlicher Feiertag.
Am Tjugondedag jul (zwanzigster Weihnachtstag, auch Tjugondag jul) oder Tjugondag Knut (13. Januar) ist die Weihnachtszeit vorbei. Es finden gelegentlich Abschlussfeste mit Weihnachtsbaumplunderung statt. Die Kerzen und der Schmuck werden entfernt und der Baum hinausbefordert.
Pask (Ostern) wird im ganzen Land gefeiert – bis in die 1970er Jahre hinein war der Karfreitag ein stiller Tag mit geschlossenen Geschaften und ernster Musik im Radio, dies wird aber nur noch in strikt religiosen Kreisen praktiziert. Am Karsamstag laufen die Kinder als „Osterhexen“ (paskhaxor) verkleidet herum, um Sußigkeiten oder Geld einzusammeln. Karfreitag und Ostermontag sind gesetzliche Feiertage.
Der Valborgsmassoafton wird am 30. April gefeiert und entspricht der deutschen Walpurgisnacht. Das Volk versammelt sich um große Lagerfeuer. Es werden Reden uber den Fruhling gehalten und Fruhlingslieder gesungen. Vor allem in den beiden alten Universitatsstadten Lund und Uppsala ist Valborg oder Siste april am Abend vor dem 1. Mai ein wichtiges Studentenfest. In Uppsala beginnt das Fest nach einem Sektfruhstuck bereits um 10:00 Uhr, wenn selbstgebaute fantasievolle Boote beim Wettrennen durch den Fyrisan gesteuert werden. Im Anschluss an das feierliche Mutzenaufsetzen um 15:00 Uhr zieht man im champagne-galopp den Carolinahugel hinunter bis in die uberfullten Studentenkneipen, wo ausgelassene Trinkgelage beginnen. Die Studenten feiern den beginnenden Fruhling oft bis in die fruhen Morgenstunden in den Parks und Straßen der Stadt mit Spielen, Picknick und Alkoholgenuss.
Der 6. Juni, Svenska flaggans dag, ist der offizielle Nationalfeiertag Schwedens. Ursprunglich 1916 als „Flaggentag“ ins Leben gerufen, ist der 6. Juni seit 1983 „Nationaltag“ und seit 2005 auch gesetzlicher Feiertag. Dieser Nationaltag wird nicht richtig gefeiert und unter der Bevolkerung weithin als unbedeutend empfunden.
Das Midsommarfest wird in der ersten Nacht zum Samstag nach dem 21. Juni gefeiert. Die Intensitat des Feierns dieses Wochenendes ist nur mit Weihnachten vergleichbar. Am Johannisabend Ende Juni ist das Sonnenlicht im Norden 24 Stunden lang zu sehen und im Suden geht es nur wenige Stunden lang in blauen Dammerschein. Der Feiertag ist eine uralte Tradition und wurzelt in den vorgeschichtlichen Sommersonnenwendfeiern. Um den mit Birkenreisig und Blumen geschmuckten Maibaum, das vielleicht bekannteste schwedische Nationalsymbol, wird uberall in Schweden getanzt und gesungen. Im ganzen Land herrscht ausgelassene Feststimmung.
Im August kamen fruher die ersten frischen Krebse auf den Markt. Das dazugehorige Fest wird Kraftskiva genannt und kann zu beliebiger Zeit stattfinden. Man isst, so viel man schafft, von den in einem kraftigen Dillsud gekochten Krebsen und trinkt dazu Schnapse. Als Schmuck dienen Girlanden und lustige Hute.
In Nordschweden gibt es zum Ende des Sommers noch das Surstrommingsskiva. Der Verzehr der in einer Dose vorgegorenen Heringe mit Kartoffeln oder tunnbrod (Dunnbrot – eine Vorstufe des Knackebrots aus Norrland) erfordert unempfindliche Geruchsnerven.
Das Luciafest beginnt am Morgen des 13. Dezember und ist in Schweden der Tag der Lichterkonigin. Die alteste Tochter erscheint als Luciabraut in einem weißen Kleid und einem Kranz aus Preiselbeerzweigen und brennenden Kerzen auf dem Kopf. Die „Lussebrud“ weckt die Familie und serviert das Fruhstuck am Bett. Im ganzen Land werden Schulen und Arbeitsstatten in den fruhen Morgenstunden von magisch schimmernden Luciazugen besucht. Junge Madchen in fußlangen weißen Gewandern mit Kerzen auf dem Kopf und in den Handen werden von weißgekleideten jungen Mannern begleitet, den „Sternjungen“, die bei dieser Gelegenheit einen langen, spitzen, mit einem Stern gekronten Hut tragen. Zusammen singen sie die traditionellen Gesange, die zur Vorweihnachtszeit und zu Weihnachten gehoren. Von diesem Tag an und uber die gesamte Weihnachtszeit hinweg isst man ein besonderes, mit Safran gewurztes und gefarbtes Hefegeback (Lussekatter).
= Medien =
Radio und Fernsehen
Die offentlich-rechtliche Fernsehgesellschaft Sveriges Television AB (SVT) sowie Sveriges Radio haben ihren Sitz in Stockholm. Dort befindet sich auch seit Anfang der 1990er Jahre das private TV4, wahrend das Ende der 1980er Jahre gegrundete private TV3 in London ihren Sitz fand, um das damalige Monopol von SVT zu umgehen.
Nachdem in den 1980er Jahren Kabelfernsehen eingefuhrt wurde und somit auch auslandische Privatsender in Schweden zu sehen waren, wurden ab 1990 auch schwedische Anbieter fur privates Radio und Fernsehen zugelassen.
Druckmedien
Uberregionale Tageszeitungen sind die in Stockholm erscheinenden Dagens Nyheter, Svenska Dagbladet und Dagens Industri. Zu weiteren Printmedien siehe auch die Liste schwedischer Zeitungen.
Internet
Im Jahr 2023 nutzten 95,7 Prozent der Einwohner Schwedens das Internet.
= Literatur =
Unter „schwedischer Literatur“ versteht man die in schwedischer Sprache geschriebene Literatur, also neben der Literatur aus Schweden – einschließlich der von Einwanderern in Schwedisch geschriebenen – auch die Literatur von den Aland-Inseln und die von Finnlandschweden geschriebene Literatur. Die schwedische Literatur ist ein Teil der skandinavischen Literatur.
= Musik =
Seit ABBA gilt schwedische Popmusik als Exportschlager. Infolge des Erfolgs von ABBA schafften in den 1980er und 1990er Jahren weitere schwedische Popbands wie Roxette, Rednex und Ace of Base den internationalen Durchbruch. Auch im Bereich des Rock und Metal erlangten zahlreiche schwedische Bands seit den 1980er Jahren weltweiten Erfolg – die Bandbreite international bekannter schwedischer Rockbands reicht von Glam-Rock (Europe) uber Sleaze Rock (The Hellacopters, Backyard Babies), Indie-/Alternative Rock (The Cardigans, Peter Bjorn and John, Shout Out Louds) und Punkrock (Refused, The Hives, The (International) Noise Conspiracy) bis hin zu Heavy Metal (In Flames, Evergrey, Hammerfall). Im Bereich des Metal wurde allem die Goteborger Metal-Szene der 1990er Jahre international bekannt und einflussreich, als Bands wie At the Gates, In Flames, Dark Tranquillity und Soilwork dazu beitrugen, einen Stil zu entwickeln, der in den Anfangen der 2000er Jahre als Melodic Death Metal bekannt wurde. Ein weltbekannter schwedischer DJ war Avicii. Max Martin ist der erfolgreichste schwedische Musikproduzent und Songschreiber – er wurde in den 1990er Jahren durch seine Arbeit fur Rednex und Ace of Base bekannt und schrieb und produzierte ab den spaten 90ern Songs unter anderem fur Britney Spears, Katy Perry, *NSYNC, die Backstreet Boys und Bon Jovi. Deshalb gilt Schweden nun neben den USA, Großbritannien, Kanada und Australien als eine der wichtigsten Musikexport-Nationen der Welt.
Schweden zahlt mit bislang (Stand: 2024) sieben Siegen zu den erfolgreichsten Teilnehmern des Eurovision Song Contest. Der schwedische Vorentscheid zum Eurovision Song Contest, das Melodifestivalen, ist eine der popularsten Fernsehunterhaltungen in ganz Schweden.
Auch Chormusik aus Schweden – die von traditioneller Folklore uber die beliebten Trinklieder bis zu klassischer Chorliteratur eine große Bandbreite bietet – hat in Deutschland eine Anhangerschaft, die zur Grundung einiger speziell darauf ausgerichteter Chore gefuhrt hat: Unter anderem „De tokiga trollen“ aus Leverkusen, „Schwedischer Chor Munchen“, „Swensk Ton“ in Frankfurt oder „Der Schwedische Chor in Stuttgart“.
Volksmusik
Zu den altesten Volksmelodien durften die Weisen der schwedischen Kuhhirtinnen gehoren (vallat). Die Melodien sind Signalrufe fur andere Kuhhuterinnen, die verschiedene Bedeutungen haben konnen (verlorenes Tier, wiedergefundenes Tier usw.) oder direkte Anweisungen an die Herde (Rast, Schlaflieder, Weidelieder usw.). Ob die Melodiefolgen durch Musikinstrumente (Kuhhorner, Luren) gepragt sind oder von Anfang an gesungen wurden, kann nicht mit Sicherheit bestimmt werden.
Viele Hirtenweisen sind in die Tanzmusik ubergegangen oder dienten als Quelle fur die nationalromantische klassische Musik (Alfven, Atterberg). In der Tanzmusik, die sich wohl vor allem im Barock entwickelte, dominieren die Geige (Spielmannsmusik), die sich seit Ende des 17. Jahrhunderts in Schweden verbreitete, und die Tanzformen der Polka (ursprunglich aus Bohmen), des Menuetts und der Polska. Dabei ist man sich nicht einig, inwieweit die Tanzform der Polska teilweise bereits als Bauerntanz vor polnischen Einflussen im 16. und 17. Jahrhundert existierte. Vor dem allgemeinen Gebrauch der Geige waren die Schlusselfidel (schwedisch nyckelharpa, seit dem Spatmittelalter gebrauchlich) und die Sackpfeife ubliche Volksinstrumente. Die nyckelharpa konnte sich als Instrument bis in die Gegenwart halten. Nach technischen Weiterentwicklungen (chromatische Nyckelharpa) erlebt sie im 21. Jahrhundert einen neuen Aufschwung auch außerhalb der Volksmusik, beispielsweise in der Musik der Mittelalterszene.
Die schwedische Volksmusik geriet durch die pietistischen und frommlerischen Bewegungen auf dem Lande im Laufe des 19. Jahrhunderts in starke Bedrangnis. Instrumente der Volksmusik galten als Troll- und Teufelszeug. Entscheidend zum Uberleben der Volksmusik beigetragen hat der Maler Anders Zorn, der unterhalb des Gesundaberges am Siljanssee nahe seinem Heimatort Mora in Dalarna seit 1906 Volksmusikwettbewerbe durchfuhrte. Auf diese Weise gelang es ihm, die alten Melodien und Instrumente wieder popular zu machen. Eine ahnliche Gefahrdung erlebten die samische Volksmusik, der Joik und die Samentrommel, die wahrend der Zeit der Missionierung im 17. und 18. Jahrhundert als Teufelsmusik verpont waren. Die Trommeln wurden systematisch eingesammelt. Die Trommeln wurden im Rahmen von schamanistischen Brauchen verwendet (Wahrsagen, Opfer, Voraussagen usw.). Der Joik ist ein Lied, das im Text und lautmalerisch in der Melodie die Natur, Tiere, Menschen, freudvolle oder traurige Ereignisse beschreibt.
Bekannte zeitgenossische Volksmusiker und Sanger sind z. B. Ulrika Boden, Emma Hardelin, Lena Willemark, Anders Norudde und Benny Andersson.
Kunstmusik
Johan Helmich Roman (1694–1758) gilt als eigentlicher Vater der schwedischen Kunstmusik. Roman orientierte sich an Georg Friedrich Handel, schrieb Tafelmusik (Drottningholmsmusiken), aber auch die erste schwedischsprachige Messe (Then svenska messan). Unter Gustav III. erlebte die Oper eine erste Blutezeit (damals entstanden auch Werke mit betont nationalen Inhalten wie etwa Johann Gottlieb Naumanns Gustav Vasa).
Franz Berwald (1796–1868) und Adolf Fredrik Lindblad (1801–1878) gehoren zu den ersten bedeutenden Sinfonikern, die an die deutsche Klassik und Romantik anknupfen. Fur beide war Beethoven das große Vorbild. Berwald erlangte mit seinen Sinfonien auch internationale Anerkennung und schrieb erste Tondichtungen (Alvalek). Lindblad erlangte vor allem wegen seiner Chorwerke und Lieder große Beliebtheit. Ludvig Norman (1831–1855) dominierte als Sinfoniker die Mitte des 19. Jahrhunderts. Seine Symphonien schließen an die romantische Musik Niels Wilhelm Gades an und stehen der deutschen Romantik Schumanns und Mendelssohns nahe. Ivar Hallstrom folgte mit seinen Opern (Den Bergtagna) und Balletten franzosischen Vorbildern. Dagegen schloss sich Andreas Hallen der neudeutschen Schule an mit seinen Tondichtungen Die Toteninsel oder seiner Oper Harald Viking, in der Anklange an Wagners Werk unverkennbar sind.
Die Volksmusik und ihr reicher Melodienschatz wurde von August Soderman „wiederentdeckt“. Mit seinen Tanzsuiten, seiner Schauspielmusik und Chorwerken versuchte er eine nationale schwedische Musiksprache zu finden. Seine Versuche wurden zur Inspirationsquelle der Spatromantiker. Die Musik der Jahrhundertwende wurde von mehreren großen Personlichkeiten gepragt, denen es gelang, eine nationale schwedische aber auch personliche Musiksprache zu schaffen: Wilhelm Stenhammar, Hugo Alfven und Wilhelm Peterson-Berger. Wilhelm Stenhammar ist von den dreien der „klassischste“ und der uberlegene Beherrscher der musikalischen Großformen (Sinfonien, Klavierkonzerte, Kantaten). Brahms und Wagner sind fur seine Musiksprache Vorbilder. Hugo Alfven schuf mit seinen Rhapsodien (Midsommarvaka, Uppsala rapsodi, Dalarapsodi), die schwedische Volksmusik als Motive verwenden, eine nationale schwedische Musiksprache. Wilhelm Peterson-Berger schuf bedeutende Sinfonien, Opern (Arnljot) und Klavierwerke (Frosoblomster, I Somras), in denen er Naturstimmungen in Klang und Melodie umsetzt. Auch er steht Wagner nahe, aber auch Edvard Grieg und klingt zuweilen uberraschend modern und erinnert in seinen Klangen an den Impressionismus Debussys, den er eigentlich ablehnte.
Die schwedische Spatromantik ist intensiv und dauerte bis um 1950 an. Dominante Musikerpersonlichkeit dieser Zeit ist Kurt Atterberg mit seinen Sinfonien, deren Musiksprache sich an Richard Strauss orientiert. Auch Atterberg gelingen ungewohnliche Klangfarben zur Schilderung von Naturstimmungen, die zum Teil sein Vorbild Strauss an Raffinesse noch ubertreffen. In den 1930er Jahren begann eine Gruppe von Komponisten, die sogenannten „30-talisterna“, an neuere Musikstromungen anzuknupfen mit neoklassizistischen Werken (Lars-Erik Larsson, Gunnar de Frumerie, Dag Wiren). Hilding Rosenberg wurde mit seinen Sinfonien, die sich inhaltlich mit komplexen geistigen Zusammenhangen auseinandersetzen (Johannesapokalypse), zum großen Neuerer der Sinfonik. Karl-Birger Blomdahl setzte mit seiner Weltraumoper Aniara (1959) neue Maßstabe fur die Entwicklung der modernen Musik in Schweden, indem er auch elektronische Klange (Tonband) einfuhrte, obwohl die Musik sich zu einem großen Teil noch konservativ an der neoklassizistischen Tonsprache der 1940er Jahre orientiert.
= Theater =
Schweden hat eine Reihe von Opern- und Theaterhausern, die meisten davon befinden sich in Stockholm, wie die Konigliche Oper, das Schlosstheater Drottningholm, das Konigliche Dramatische Theater, das Chinateatern, das Regina Theater und das Judische Theater Stockholm. Weitere Hauser befinden sich unter anderem in Malmo (Musiktheater Malmo), in Umea (NorrlandsOperan), in Kristianstad (Theater Kristianstad), in Karlstad (Wermland Opera) und in Goteborg (GoteborgsOperan).
= Film =
Um 1910 begann man mit der regelmaßigen Produktion von Spielfilmen. Der schwedische Film erreichte bald eine Qualitat, die ihn international bekannt machte. Die Regisseure Victor Sjostrom und Mauritz Stiller sowie die Schauspielerin Greta Garbo erlangten Weltruhm. Aber mit der Einfuhrung des Tonfilmes und der damit verbundenen Begrenzung auf den kleinen, schwedischsprachigen Markt sank der Film auf ein provinzielles Niveau ohne kunstlerischen Anspruch ab. Mit Ingrid Bergman hatte Schweden allerdings bereits den zweiten großen Hollywoodstar. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der schwedische Film selbst einen neuerlichen kunstlerischen Aufschwung, zuerst im Dokumentarfilm, beispielsweise Arne Sucksdorffs 1948 mit dem Oscar ausgezeichneten Film „Menschen in der Stadt“, und danach als Autorenfilm mit Ingmar Bergman, Jan Troell und Bo Widerberg als herausragende Personlichkeiten. Bergman erreichte mit Filmen wie Wilde Erdbeeren, Szenen einer Ehe, Das siebente Siegel, Herbstsonate und Fanny und Alexander einen weltweit legendaren Status. Auch schwedische Kinder- und Jugendfilme, zumeist von Olle Hellbom nach einer Vorlage von Astrid Lindgren verfilmt, erlangten internationale Aufmerksamkeit. Die Schaffung des Schwedischen Filminstitutes in den 1960er Jahren trug zu einer Qualitatssicherung bei, die andauert.
= Welterbe und Sehenswurdigkeiten =
Zum „Welterbe in Schweden“ gehoren (Stand 2017) funfzehn UNESCO-Welterbestatten, darunter dreizehn Statten des Weltkulturerbes, eine Statte des Weltnaturerbes und eine gemischte Kultur- und Naturerbestatte. Zwei dieser Statten sind grenzuberschreitend oder transnational. Die erste Welterbestatte wurde 1991 in die Welterbeliste aufgenommen, die bislang letzte Welterbestatte wurde 2012 eingetragen.
= Sport =
Idrott (Leibesubungen) haben in Schweden eine lange Tradition. Schon in den Hohlenzeichnungen wurden Skilaufer und Schwimmer abgebildet. Olaus Magnus beschreibt Leibesubungen als Teil der nationalen Identitat im 15. Jahrhundert. Bei den Olympischen Spielen 1912 (in Stockholm) war Schweden zusammen mit den USA das mit Abstand erfolgreichste Land. Um vor allem gegenuber den Nachbarn Danemark, Norwegen und Finnland zu glanzen sowie die Uberlegenheit der Schwedischen Gymnastik gegenuber dem Sport zu demonstrieren, gab es erhebliche Investitionen in die Forderung des Spitzensports. Durch das Einmischen des amerikanischen Prasidenten Theodore Roosevelt in die Olympischen Spiele 1908 waren zudem die Spiele so politisiert, dass es wichtig wurde zu gewinnen. Schweden umging die Amateurbedingungen der Zeit, indem es die Mannermannschaft (sofern die Manner interessiert waren) zu sechs Monaten Wehrdienst einzog und insofern den Staatsamateur erfand.
Special Olympics Schweden wurde 1994 gegrundet und nahm mehrmals an Special Olympics Weltspielen teil.
In Schweden erfreuen sich im 21. Jahrhundert Mannschaftssportarten wie Eishockey, Handball, Innebandy, Bandy oder Fußball großer Beliebtheit, da sich hiermit die nationale Identitat besser darstellen lasst als durch Individualsportarten – zumal das Herausstellen des Individuums nicht dem schwedischen Nationalcharakter entspricht. Daneben sind insbesondere Wintersportarten (speziell Langlauf) popular.
Das Eishockeyteam Schwedens gehort zu den besten der Welt. Unter anderem spielen Spieler wie Peter Forsberg, Markus Naslund, Mats Sundin, Henrik Zetterberg, Nicklas Lidstrom, Daniel Alfredsson fur das „Tre Kronor“-Team. Bei den Olympischen Winterspielen 2006 in Turin holten sie die Goldmedaille im Finale gegen den Erzrivalen Finnland. Das bedeutete zugleich den achten Weltmeistertitel fur das schwedische Team.
Die Damenauswahl konnte bei diesen Olympischen Spielen mit einem Sieg gegen die USA zum ersten Mal ein rein nordamerikanisches Finale verhindern. Im Endspiel scheiterte das Team aber an Kanada.
Die erfolgreichsten schwedischen alpinen Skilaufer sind Ingemar Stenmark, Pernilla Wiberg und Anja Parson. Die bekanntesten Schweden im nordischen Skisport sind die Langlaufer Gunde Svan, Thomas Wassberg und Torgny Mogren sowie der Skispringer Jan Boklov, der als Erfinder des sogenannten V-Stils gilt. Magdalena Forsberg ist die erfolgreichste Biathletin in der Geschichte des Weltcups.
Schweden dominierte vor dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Osterreich die Herrenkonkurrenz im Eiskunstlauf. Ulrich Salchow ist mit zehn Weltmeisterschaftstiteln bisher unangefochten der erfolgreichste Eiskunstlaufer bei Weltmeisterschaften. Gillis Grafstrom ist mit drei Olympiasiegen und einer Silbermedaille der erfolgreichste Eiskunstlaufer bei Olympischen Spielen.
Im Fußball stand Schweden 1958 bei der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land im Finale gegen Brasilien. 1950 und 1994 erreichte die Mannschaft Platz 3. Zuletzt spielten fur das Nationalteam viele internationale Stars wie Henrik Larsson, Freddie Ljungberg oder Olof Mellberg, derzeit noch Zlatan Ibrahimovic. An der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland nahmen sie ebenfalls teil, schieden aber im Achtelfinale nach einer Niederlage gegen Deutschland aus. Fur die Weltmeisterschaft 2010 konnte sich Schweden aber nicht qualifizieren. Die Frauen-Nationalmannschaft gehort zu den besten der Welt und die schwedische Damallsvenskan gilt neben der deutschen Bundesliga als starkste Liga Europas.
1954, 1958, 1990 und 1999 war die schwedische Manner-Handballnationalmannschaft Weltmeister. Europameister wurde das Land 1994, 2000 und 2002. 1992, 1996 und 2000 belegte das schwedische Handballteam jeweils den zweiten Platz bei den Olympischen Spielen. Aktuelle schwedische Nationalspieler sind unter anderem Stefan Lovgren, Marcus Ahlm, Pelle Linders, Kim Andersson, Mattias Andersson und Henrik Lundstrom. Der Schwede Magnus Wislander wurde zum Welt-Jahrhundert-Spieler gekurt.
Im Tennis hat Schweden einige der weltbesten Spieler hervorgebracht. Dazu gehoren der funfmalige Wimbledonsieger Bjorn Borg (elf Grand-Slam-Titel), sowie Mats Wilander (sieben Grand-Slam-Titel) und Stefan Edberg (sechs Grand-Slam-Titel).
Auch im Tischtennis kamen einige Weltklassespieler aus Schweden, so u. a. Jan-Ove Waldner (zweifacher Weltmeister) und Mikael Appelgren. Die Nationalmannschaft gehorte seit den 1980er Jahren zu den besten der Welt, konnte u. a. 1989, 1991 und 1993 dreimal in Folge die Weltmeisterschaft gewinnen und ist mit 14 Titeln Rekordeuropameister. Die letzten großen internationalen Erfolge (Weltmeister 2000, Europameister 2002) liegen jedoch inzwischen schon langere Zeit zuruck.
In der Mannschaftssportart Floorball (innebandy) gewann das schwedische Herrenteam 10 der bisher 14 ausgetragenen Weltmeisterschaften; die schwedischen Damen gewannen neunmal den Weltmeistertitel bei bisher 13 Veranstaltungen. Neben Finnland und der Schweiz gehort Schweden zu den Grundungsvatern des Unihockey-Weltverbandes IFF.
Auch im Motorsport gab es einige erfolgreiche Schweden wie z. B. die beiden Rallye-Weltmeister Bjorn Waldegard und Stig Blomqvist sowie in der Formel 1 den zweimaligen Vizeweltmeister Ronnie Peterson. Im Speedway gewannen Tony Rickardsson, Ove Fundin, Per Jonsson, Anders Michanek und Bjorn Knutsson insgesamt 14 Goldmedaillen fur Schweden in der Speedway-Einzelweltmeisterschaft. Tony Rickardsson ist mit sechs WM-Titeln der erfolgreichste Speedwayfahrer aller Zeiten. Erik Stenlund und Per-Olof Serenius wurden jeweils Eisspeedway-Weltmeister. Anders Michanek gewann 1977 zudem noch die Langbahn-Weltmeisterschaft.
Literatur Jorg-Peter Findeisen: Schweden. Von den Anfangen bis zur Gegenwart. 2. Auflage. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2005, ISBN 3-7917-1561-5.
Anemone Schlich: Das Bild der Europaischen Union in der schwedischen Offentlichkeit. Der Andere Verlag, Osnabruck 2004, ISBN 3-89959-243-3.
Norbert Schwirtz und Winfried Wisniewski: Schweden - Finnland. Landschaften, Tiere, Pflanzen (LB-Naturreisefuhrer). Hannover 1990
Ralph Tuchtenhagen: Kleine Geschichte Schwedens. Verlag C. H. Beck, Munchen 2008, ISBN 3-406-53618-2.
Rudolf Zeitler: Schweden (Reclams Kunstfuhrer). Stuttgart 1985
Weblinks Landerinformationen des deutschen Auswartigen Amtes zu Schweden
Landerprofil des Statistischen Bundesamtes
Das offizielle Portal Schwedens (deutsch und viele andere Sprachen)
Schwedisches Institut (de/en/es/fr/sv)
Einzelnachweise
|
Das Konigreich Schweden (schwedisch oder einfach schwedisch ) ist eine parlamentarische Monarchie in Skandinavien. Das Staatsgebiet umfasst den ostlichen Teil der Skandinavischen Halbinsel und die Inseln Gotland und Oland. Schweden ist Mitglied des Nordischen Rates, seit 1995 der Europaischen Union und seit 2024 der NATO. Hauptstadt sowie bevolkerungsreichste schwedische Stadt ist Stockholm.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Schweden"
}
|
c-13982
|
Der Schwedische Reichstag (schwedisch riksdagen [ˈrɪksdan] oder Sveriges riksdag [ˈsværjɛs ˈrɪksdɑː(ɡ)] ) ist das schwedische Parlament. Bereits seit dem 15. Jahrhundert bestand ein Standereichstag. Von 1867 bis 1970 bestand der Schwedische Reichstag aus zwei Kammern, seither hat er eine Kammer.
Der Schwedische Reichstag hat 349 Mitglieder. Seine aktuelle Zusammensetzung leitet sich von der Wahl 2022 ab, Reichstagsprasident ist seit 2018 Andreas Norlen.
Geschichte = Standereichstag =
Seit dem 15. Jahrhundert war der Reichstag die Versammlung der Vertreter der vier Stande Adel, Priester, Burger und Bauern im Konigreich Schweden. Er war nach dem Konig die hochste verfassungsmaßige Institution des Reichs, trat allerdings meist nur alle drei Jahre zusammen. Sein 1809 beschlossenes Thronfolgegesetz ist heute der alteste Teil der schwedischen Verfassung.
= Zensuswahlrecht =
1865 wurde ein Zweikammersystem beschlossen. Die neuen Kammern wurden erstmals 1867 gewahlt.
Die Wahl zur Ersten Kammer erfolgte indirekt uber die Landesversammlung (Landsting) und die großten kommunalen Ratsversammlungen. So sollte „Bildung und Besitz“ (bildningen och formogenheten) reprasentiert werden. Wahlbar waren nur Manner uber 35 mit einem Immobilienvermogen im Wert von mindestens 80.000 Reichstalern oder einem jahrlichen steuerpflichtigen Einkommen von mindestens 4000 Reichstalern. Nur etwa sechstausend Personen in ganz Schweden erfullten diese Bedingungen. Dieses Zensuswahlrecht galt bis 1909, wobei auch Frauen, Unternehmen und juristische Personen das Wahlrecht besaßen. Die Erste Kammer hatte Mandatsperioden von acht Jahren, jahrlich wurde ein Achtel der Mitglieder neu gewahlt.
Auch fur die Wahl zur Zweiten Kammer galt ab 1867 ein Zensuswahlrecht: Stimmberechtigt waren schwedische Manner uber 21 Jahren mit Grundstucken im Steuerwert von uber 1000 Reichstalern oder einem steuerpflichtigen Jahreseinkommen von uber 800 Talern. 236.120 erwachsene Manner, etwa 5,6 Prozent der Bevolkerung, hatten das Stimmrecht fur die Zweite Kammer. 79 Prozent der erwachsenen Manner waren nicht stimmberechtigt.
= Allgemeines Wahlrecht =
Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Schwedens war 1889 die erste Parteigrundung des Landes. Die liberalen Abgeordneten der Zweiten Kammer grundeten erst 1900 die Liberale Sammlungspartei. Zu den Kernzielen beider Parteien gehorte die Einfuhrung des Allgemeinen Wahlrechts. Der erste und zunachst einzige Sozialdemokrat in der Zweiten Kammer, Hjalmar Branting, wurde 1896 nur gewahlt, weil die Liberalen seine Kandidatur unterstutzten.
Die Stimmrechtsfrage blieb uber Jahrzehnte aktuell. Der 1907 inthronisierte Konig Gustav V. unterstutzte den Ubergang zur parlamentarischen Demokratie. 1909 wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht fur die Zweite Kammer fur Manner eingefuhrt, die den Wehrdienst abgeleistet hatten. Die Ableistung des Wehrdienstes als Voraussetzung entfiel 1922. Bei der Wahl 1921 waren erstmals auch Frauen stimmberechtigt. Ein weiterer Reformschritt erfolgte 1923: Das Zensuswahlrecht wurde auch fur die Erste Kammer abgeschafft, jetzt wurden die Mitglieder indirekt durch die Gemeinden und Provinzen gewahlt. Damit vergroßerte sich der Einfluss der Parteien. 1937 erhielten Strafgefangene und 1945 auch Sozialhilfeempfanger sowie Personen in Privatinsolvenz das Wahlrecht.
= Abschaffung des Zweikammersystems =
Die indirekte Wahl der Ersten Kammer bewirkte eine zeitliche Verzogerung in der Umsetzung des Volkswillens, zumal die Abgeordneten auf acht Jahre gewahlt wurden.
Die Sozialdemokraten konnten im 20. Jahrhundert eine vorteilhafte Position in der Ersten Kammer erreichen. Nachdem sie trotzdem der Abschaffung der Ersten Kammer zugestimmt hatten, wurde ab der Wahl 1970 ein Einkammersystem mit Vier-Prozent-Hurde eingefuhrt. Von 1970 bis 1976 hatte der schwedische Reichstag 350 Abgeordnete. Bei der Reichstagswahl im Jahre 1973 erhielten beide Blocke jeweils 175 Mandate, so dass Beschlusse durch Losentscheid gefasst werden mussten („Lotteriereichstag“). Ab den Wahlen im Jahre 1976 wurde die Anzahl der Abgeordneten auf 349 verringert, um eine Wiederholung dieser Situation auszuschließen.
Wahl des Reichstages Der Reichstag wird seit 2014 jedes vierte Jahr am zweiten Sonntag im September gewahlt. Bis einschließlich der Wahl 2010 war der Wahltag am dritten Sonntag. Zeitgleich mit der Reichstagswahl werden auch die Wahlen zu den Provinziallandtagen und den Gemeindevertretungen durchgefuhrt.
Wahlberechtigt und wahlbar sind schwedische Staatsburger, die am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die Wahl erfolgt nach dem Verhaltniswahlrecht, wobei eine Sperrklausel gilt: Damit eine Partei Mandate erhalt, muss sie landesweit vier Prozent der Stimmen erhalten oder in einem der 29 Wahlkreise mindestens zwolf Prozent der Stimmen auf sich vereinigen.
Seit der Wahl 1998 konnen die Wahler einem Kandidaten eine Vorzugsstimme geben. Erreicht ein Kandidat mindestens funf Prozent der Gesamtstimmen seiner Partei im Wahlkreis (vor der Wahl 2014 acht Prozent), wird er an die Spitze der Wahlliste seiner Partei gesetzt und erhoht damit seine Chance auf ein Abgeordnetenmandat. Erreichen mehrere Kandidaten dies, so werden sie absteigend nach der Zahl der Vorzugsstimmen sortiert und an die Spitze der Liste gesetzt.
Die Zuweisung der Mandate erfolgt mit einem modifizierten Sainte-Lague-Verfahren.
= Außerordentliche Neuwahl des Reichstages =
Die Regierung hat das Recht, wahrend der Legislaturperiode Neuwahlen auszuschreiben. Ein solcher Beschluss darf allerdings fruhestens drei Monate nach dem ersten Zusammentreten eines neu gewahlten Reichstags getroffen werden. Wird eines oder mehrere Regierungsmitglieder durch Misstrauensvotum abgewahlt, kann die Regierung dennoch bestehen bleiben, wenn sie innerhalb einer Woche den Beschluss zu einer außerordentlichen Wahl trifft.
Eine außerordentliche Wahl kann ebenso eingeleitet werden, wenn ein neuer Ministerprasident gewahlt werden soll und der Vorschlag des Reichstagsprasidenten viermal abgelehnt wird. Wenn nicht ohnehin eine ordentliche Reichstagswahl innerhalb von drei Monaten ansteht, wird eine außerordentliche Wahl angesetzt.
Diese muss innerhalb von drei Monaten nach der Bekanntmachung stattfinden. Der vorzeitig neu gewahlte Reichstag ersetzt spatestens 15 Tage nach dem Wahltermin den aufgelosten. Er amtiert allerdings nur bis zum Ende der bisherigen, regularen Wahlperiode, dann steht eine planmaßige Neuwahl an.
Zuletzt gab es eine solche Wahl im Jahr 1958. Eine wegen einer Regierungskrise nach der Wahl 2014 zunachst angekundigte außerordentliche Wahl fur den 22. Marz 2015 wurde nach Erreichen einer Ubereinkunft der meisten Reichstagsparteien nicht in die Wege geleitet.
Organisation des Reichstages = Der Reichstagsprasident und die Prasidentenkonferenz =
An der Spitze des Reichstages steht der Reichstagsprasident (talman), der fur eine volle Legislaturperiode gewahlt wird. Er koordiniert die Arbeit des Parlamentes, leitet Sitzungen im Plenum und reprasentiert das Parlament nach außen im In- und Ausland. Bei der Regierungsbildung kann er einen Kandidaten fur das Amt des Ministerprasidenten vorschlagen; ihm obliegt es, Regierungsmitglieder formal zu ernennen und zu entlassen. Wenn der Konig und sein Stellvertreter verhindert sein sollten, werden sie vom Parlamentsprasidenten provisorisch vertreten, bis der Reichstag einen Reichsverweser (riksforestandare) bestimmt hat. Der Reichstagsprasident ist zu einer neutralen Amtsfuhrung verpflichtet, in politischen Streitfragen außert er sich nicht zur Sache und nimmt nicht an Abstimmungen teil: Seine Abgeordnetenpflichten ubernimmt ein Nachrucker aus der Wahlliste seiner Partei. Das Prasidium besteht außerdem aus drei Vizeprasidenten. Sie durfen ihre Abgeordnetentatigkeit fortsetzen, durfen sich jedoch nicht in Debatten zu Wort melden, sofern sie eine Sitzung leiten.
Reichstagsprasidenten waren:
2010: Per Westerberg (M); Vizeprasidenten Susanne Eberstein (S), Ulf Holm (MP) und Jan Ertsborn (FP).
2014: Urban Ahlin (S); Vizeprasidenten Tobias Billstrom (M), Bjorn Soder (SD) und Esabelle Dingizian (MP).
2018: Andreas Norlen (M); Vizeprasidenten Asa Lindestam (S), Lotta Johnsson Fornarve (V) und Kerstin Lundgren (C).
2022: Andreas Norlen (M); Vizeprasidenten Kenneth G. Forslund (S), Julia Kronlid (SD) und Kerstin Lundgren (C).
Der Reichstagsprasident wird von der Prasidentenkonferenz unterstutzt. Sie besteht aus den Ausschussvorsitzenden, dem Vorsitzenden der Reichstagsverwaltung und je einem Reprasentanten der Parlamentsfraktionen.
= Reichstagsausschusse =
Der schwedische Reichstag hat 15 Fachausschusse zuzuglich des EU-Ausschusses (EU-namnden). Abgesehen vom Verfassungsausschuss spiegeln die Ausschusse die Einteilung der Geschaftsbereiche der Ministerien wider. Daruber hinaus konnen je nach Bedarf weitere Ausschusse gebildet werden. Jeder Ausschuss verfugt uber 17 Mitglieder und wird nach dem Starkenverhaltnis der Fraktionen besetzt. Die wichtigste Aufgabe der Ausschusse ist die Beratung von Antragen und Regierungsvorlagen. Im Zusammenhang damit konnen Anhorungen abgehalten werden, zu denen auch Regierungsmitglieder gehort werden. Meistens werden auch Ministerialbeamte hinzugezogen.
Der EU-Ausschuss wurde nach dem EU-Beitritt Schwedens 1995 geschaffen, um die Beratungen zwischen Parlament und Regierung zu Fragen der EU-Politik zu bundeln. Die Regierung ist verpflichtet, sich vor wichtigen Beschlussen in Brussel mit dem Ausschuss zu beraten. Dies gilt vor allem im Vorfeld von EU-Ministerkonferenzen und Treffen des Europaischen Rates.
= Plenum =
Die Abgeordneten sitzen im Plenarsaal nicht nach Fraktionen, sondern nach Wahlkreisen geordnet.
= Reichstagsbehorden =
Fur gewisse Aufgaben hat der Reichstag Behorden eingerichtet. Zu den wichtigsten zahlen die vier Justizombudsleute, die die Arbeit der staatlichen und kommunalen Behorden beaufsichtigen. Sie konnen Klagen von Burgern nachgehen, Behorden inspizieren und als Sonderanklager auftreten, die die Verletzung von Dienstpflichten im offentlichen Dienst untersuchen.
Die Revisoren des Reichstages uberprufen die Verwendung staatlicher Gelder im Rahmen der Staatsverwaltung.
Die Schwedische Reichsbank ist dem Reichstag untergeordnet. Ihr Kontrollrat (riksbankfullmaktige) wird vom Reichstag gewahlt, der wiederum den Vorstand der Reichsbank bestimmt.
= Strafrechtliche Immunitat =
Die Reichstagsabgeordneten genießen gemaß Kapitel 4, § 12 Regeringsformen strafrechtliche Immunitat. Diese umfasst jedoch ausschließlich Straftaten, die im Rahmen der Ausubung ihres Reichstagsmandates begangen worden sind. Durch eine Mehrheit von funf Sechsteln der Reichstagsabgeordneten kann die Immunitat aufgehoben werden.
Riksdagshuset Sitz des schwedischen Reichstags ist das Riksdagshuset („Reichstagshaus“). Es liegt auf der Insel Helgeandsholmen im Zentrum Stockholms im Stadtteil Gamla Stan. Erbaut wurde das Gebaude 1897–1905.
Wappen Seit 1992 verwendet der Reichstag drei blaue Kronen („Reichstagsblau“) als Wappen; sie stammen aus dem Kleinen Staatswappen. Schwedens Staatsheraldiker Henrik Klackenberg kritisierte die Farbwahl 2013: Sie verstoße gegen geltendes Recht, welches goldene Kronen verbindlich vorschreibe. Das Parlament sah jedoch keinen Grund, die gewohnte Anwendungsweise aufzugeben.
Zusammensetzung des Reichstages = Aktuelle Sitzverteilung =
Die Sitzverteilung nach der letzten Wahl 2022 sieht folgendermaßen aus:
= Sitzverteilungen seit 1905 =
Weblinks Offizielle Seite des Reichstags (schwedisch, englisch, deutsch u. a.)
Sven Jochem: Die Reichstagswahl 2006 – Eine Zasur in der schwedischen Parteiengeschichte. Nordeuropaforum (2006:2), S. 5–24 (PDF; 297 kB).
Einzelnachweise
|
Der Schwedische Reichstag (schwedisch riksdagen [ˈrɪksdan] oder Sveriges riksdag [ˈsværjɛs ˈrɪksdɑː(ɡ)] ) ist das schwedische Parlament. Bereits seit dem 15. Jahrhundert bestand ein Standereichstag. Von 1867 bis 1970 bestand der Schwedische Reichstag aus zwei Kammern, seither hat er eine Kammer.
Der Schwedische Reichstag hat 349 Mitglieder. Seine aktuelle Zusammensetzung leitet sich von der Wahl 2022 ab, Reichstagsprasident ist seit 2018 Andreas Norlen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstag_(Schweden)"
}
|
c-13983
|
Bjorn Gustaf von Sydow (Aussprache [ˌbʝœːɳ fɔnˈsyːdɔv], * 26. November 1945 in Solna) ist ein schwedischer sozialdemokratischer Politiker. Von 1997 bis 2002 war er schwedischer Verteidigungsminister. Er ist Mitglied des schwedischen Reichstags und war von 2002 bis 2006 dessen Prasident.
Er gehort nicht dem schwedischen Adel an, weil er den Namen seiner Mutter Tullia von Sydow und nicht den seines Vaters fuhrt. Mit seiner Frau Madeleine hat er vier Kinder.
Weblinks Website des schwedischen Reichstags (schwedisch)
|
Bjorn Gustaf von Sydow (Aussprache [ˌbʝœːɳ fɔnˈsyːdɔv], * 26. November 1945 in Solna) ist ein schwedischer sozialdemokratischer Politiker. Von 1997 bis 2002 war er schwedischer Verteidigungsminister. Er ist Mitglied des schwedischen Reichstags und war von 2002 bis 2006 dessen Prasident.
Er gehort nicht dem schwedischen Adel an, weil er den Namen seiner Mutter Tullia von Sydow und nicht den seines Vaters fuhrt. Mit seiner Frau Madeleine hat er vier Kinder.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Björn_von_Sydow"
}
|
c-13984
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Mersen"
}
|
||
c-13985
|
Aachen [ˈaːxn] (Ocher Platt: Oche; franzosisch Aix-la-Chapelle [ɛkslaʃaˈpɛl]; niederlandisch Aken; lateinisch Aquæ Granni) ist eine kreisfreie Großstadt im nordrhein-westfalischen Regierungsbezirk Koln.
Die Aachener Pfalz war die bedeutendste Pfalz Karls des Großen und wurde seine Grablege. In der Folge wurde Aachen spater Reichsstadt und fast 600 Jahre lang Kronungsort von 31 deutschen Konigen. Das Wahrzeichen der Stadt, der Aachener Dom, geht auf die als Meisterwerk der karolingischen Baukunst geltende Pfalzkapelle der von Karl dem Großen gegrundeten Aachener Konigspfalz zuruck. Gemeinsam mit dem Domschatz wurde der Dom im Jahr 1978 als erstes deutsches und als weltweit zweites Kulturdenkmal in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen.
Das heutige Aachen ist Mitglied des Landschaftsverbandes Rheinland und nach dem Aachen-Gesetz mit Wirkung vom 21. Oktober 2009 Verwaltungssitz der Stadteregion Aachen. 1890 uberschritt Aachen erstmals die Einwohnerzahl von 100.000 und ist seitdem die westlichste deutsche Großstadt. Aachen grenzt an die Niederlande und Belgien.
Mit der Rheinisch-Westfalischen Technischen Hochschule (RWTH), seit 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative gefordert, verfugt Aachen neben weiteren Hochschulen uber eine der großten und traditionsreichsten technischen Universitaten Europas. Die Stadt ist Bischofssitz des Bistums Aachen und Austragungsort des alljahrlich stattfindenden Reitsportturniers CHIO Aachen. Ferner ist sie insbesondere durch die Aachener Printen als lokale Spezialitat ein bedeutender Standort der deutschen Sußwarenindustrie.
Bedingt durch die Grenzlage „im Herzen Europas“ finden sich zahlreiche kulturelle, besonders auch architektonische Einflusse aus den Nachbarregionen, dem belgisch-niederlandischen Raum. Wohl nicht zuletzt auch aufgrund dieses europaischen Charakters – schon zu Lebzeiten wurde Karl der Große, der Aachen zum politischen, kulturellen und spirituellen Zentrum seines Reiches machte, Pater Europae („Vater Europas“) genannt – wird hier seit 1950 jahrlich der Internationale Karlspreis fur Verdienste um den europaischen Einigungsprozess an Personlichkeiten des In- und Auslands verliehen.
Aachen ist staatlich anerkanntes Heilbad fur die Kurbereiche Monheimsallee und Burtscheid mit ihren ergiebigen Thermalquellen. In der stadtischen Tourismuswerbung wird gelegentlich die Bezeichnung Bad Aachen verwendet; jedoch hat die Stadt niemals beantragt, das Pradikat Bad in ihren amtlichen Namen aufzunehmen.
Name Der antike Name der Stadt ist nicht uberliefert. Da Karl der Große seine Pfalz auf den Resten romischer Bader grundete, darf das lateinische Wort aqua fur „Wasser“ als Namensursprung angenommen werden. In lateinischen Texten des Mittelalters ist der Ort manchmal einfach als Aquae oder Aquis bezeichnet, zunehmend aber als Aquisgrani. Daher wird vermutet, dass der antike Name *Aquae Granni lautete und der Ort nach einer dem keltischen Gott Grannus geweihten Quelle benannt ist. Wegen der spaten Uberlieferung des Namens geht eine andere Theorie davon aus, dass Aquisgrani erst eine Schopfung der lateinischen Kanzleisprache des Frankischen Reiches im 8. Jahrhundert ist. So enthalt der franzosische Name fur Aachen (Aix-la-Chapelle) wie andere franzosische Stadtenamen den auf das lateinische Aquis (Ablativ Lokativ Plural) zuruckzufuhrenden Bestandteil Aix, das sich sehr oft auf Thermalbader bezieht. Die Lage in der Nahe der romanisch-germanischen Sprachgrenze außert sich auch in den Namen benachbarter Quellorte, Seffent (septem fontes, „sieben Quellen“) im Westen des Aachener Stadtgebietes und Duffenter (duo fontes, „zwei Quellen“) im Gebiet der Nachbarstadt Stolberg.
Die Stadt ist staatlich anerkannte Kurstadt und kann den Zusatz Bad fuhren, siehe dazu den Abschnitt Bad Aachen.
In verschiedenen Sprachen wird die Stadt unterschiedlich bezeichnet. Die Bezeichnungen lehnen sich teils an den heutigen Namen an, beispielsweise niederlandisch Aken, luxemburgisch Oochen oder russisch Ахен, teils an den lateinischen Namen, zum Beispiel italienisch Aquisgrana, spanisch Aquisgran oder polnisch Akwizgran. Eine Ausnahme bildet franzosisch Aix-la-Chapelle, bei der der von aquis abgeleiteten Bezeichnung Aix (vgl. Aix-en-Provence) der Bezug auf die Aachener Pfalzkapelle folgt.
Geografie = Lage =
Aachen liegt im Grenzgebiet zu den Niederlanden und Belgien (Euregio Maas-Rhein) am Nordrand der Eifel bzw. des Rheinischen Schiefergebirges. Die Eifel und das Hohe Venn im Suden, weite Gebiete zwischen Niederrhein und Niedermaas sowie die Ardennen sind an Aachen angrenzende Landschaften. Nahe gelegene großere Stadte sind Koln, Dusseldorf, Duisburg, Bonn, Monchengladbach, Krefeld, Leverkusen, Luttich (Belgien), Maastricht, Heerlen und Roermond (alle Niederlande). Außerdem grenzt Aachen im Norden und Osten an einen stadtischen Verdichtungsraum, zu dem die Stadte Herzogenrath, Ubach-Palenberg, Alsdorf, Baesweiler und Wurselen nordlich, Eschweiler nordostlich und Stolberg ostlich der Stadt gehoren.
Aachen liegt im Dreilandereck Deutschland–Belgien–Niederlande im Zentrum der Euregio Maas-Rhein, in einem nach Nordosten geoffneten Talkessel, in dem sich fast alle Aachener Bache in der Wurm sammeln und zur Rur fließen. Das Stadtgebiet befindet sich somit im Einzugsgebiet der Maas, direkt am Nordrand des linksrheinischen Schiefergebirges (Eifel), etwa 30 km nordlich des Hohen Venns.
Der hochste Punkt im Stadtgebiet misst 410 m u. NHN und liegt im außersten Sudosten der Stadt im Stadtbezirk Aachen-Kornelimunster/Walheim. Der tiefste Punkt betragt 125 m u. NHN und befindet sich im Norden der Stadt im Stadtgebiet Richterich am Schnittpunkt Amstelbach/Bundesgrenze zu den Niederlanden beim Bundesgrenzstein Nr. 225. Der Marktplatz in der Stadtmitte liegt auf einer Hohe von 175 m u. NHN. Die Lange der Stadtgrenze betragt 87,7 km, davon 23,8 km Grenze zu Belgien und 21,8 km zu den Niederlanden. Die großte Nord-Sud-Ausdehnung betragt 21,6 km, die großte West-Ost-Ausdehnung 17,2 km.
= Nachbargemeinden =
Folgende Stadte und Gemeinden grenzen (im Uhrzeigersinn im Nordwesten beginnend) an die Stadt Aachen:
Stadteregion Aachen: Herzogenrath, Wurselen, Eschweiler, Stolberg, Roetgen
Provinz Luttich (Belgien): Raeren, Kelmis, Plombieres
Provinz Limburg (Niederlande): Vaals, Gulpen-Wittem, Simpelveld, Heerlen, Kerkrade
= Stadtgliederung =
Das Stadtgebiet gliedert sich in die sieben Stadtbezirke Aachen-Mitte, Brand, Eilendorf, Haaren, Kornelimunster/Walheim, Laurensberg und Richterich. Jeder Stadtbezirk hat eine eigene Bezirksvertretung mit einem Bezirksvorsteher sowie ein eigenes Bezirksamt. Die Bezirksvertretung wird von der Bevolkerung des Stadtbezirks bei jeder Kommunalwahl gewahlt. Einige der Stadtbezirke sind fur statistische Zwecke in statistische Bezirke unterteilt.
Die Gemarkungen Aachens, die teilweise mit den Stadtbezirken ubereinstimmen, bilden eine Unterteilung des Stadtgebiets fur Katasterzwecke.
Unabhangig von diesen amtlichen Stadtgliederungen gibt es in Aachen zahlreiche weitere Ortsbezeichnungen fur Stadtteile und -viertel, Ortschaften und Siedlungen, die allgemein als Ortsteile Aachens gelten.
= Klima =
Aachen und Umgebung gehoren zur gemaßigten Klimazone und weisen ein ozeanisches Klima auf, mit feuchtem Wetter, milden Wintern und relativ ausgeglichenen Temperaturen. Durch die Lage nordlich der Eifel und des Hohen Venns ist die Niederschlagsmenge (im Schnitt 805 mm/Jahr) in Aachen aufgrund der vorherrschenden Westwetterlagen vergleichsweise hoher als beispielsweise in Bonn (669 mm/Jahr). Ein weiterer Effekt der Lage am Nordrand der Eifel ist das Auftreten von Fohn bei sudlichen Luftstromungen.
Auf Grund der Kessellage der Stadt kommt es haufiger zu Inversionswetterlagen. Einige Stadtteile sind stadtklimatisch durch einen flachenhaft ungunstigen Luftaustausch gekennzeichnet. Den zahlreichen Kaltluftschneisen, die stadtplanerisch moglichst frei von Bebauung bleiben sollen, kommt daher eine wichtige Bedeutung fur das Stadtklima zu. Diese mesoklimatische, das Stadtklima regulierende Funktion erfullen auch die Landschaftsschutzgebiete (LSG) im Aachener Raum.
Bei austauschstarken Wetterlagen – Windstarken 3 (Beaufortskala) mit sudlichen bis westlichen Windrichtungen – ist ein ausreichender Luftaustausch im Talkessel gewahrleistet. Als Ventilationsbahnen dienen Bachtaler und Grunzuge entlang dieser Windrichtungen, also zum Beispiel das Johannisbachtal. Bei austauscharmen Wetterlagen (sog. neutrale Witterung) kann es zu lufthygienisch problematischen Situationen kommen. Bei diesen nur mittleren Austauschverhaltnissen wehen schwache Winde aus nordostlichen bis sudwestlichen Richtungen, sodass insoweit Bachtaler mit einer solchen Ausrichtung wie z. B. das Beverbachtal eine wichtige Beluftungsfunktion erfullen. Problematisch sind allerdings stabile Hochdruckwetterlagen, also windschwache Schonwetterlagen mit hoher solarer Einstrahlung. Aufgrund der unzureichenden Luftstromungen kann die belastete Luft kaum noch durch Frischluft ersetzt werden. Fur einen positiven Luftaustausch sorgt dann nur die in den Talkessel einfließende Kaltluft, die sich nachts auf großeren stadtnahen Freiflachen bildet. Derartige Kaltluftstrome erfolgen beispielsweise uber das Beverbachtal und die Erzbergerallee.
Eine Besonderheit der Wettervorhersage fur Aachen ist die Aachener Wettersaule, eine etwa 11 Meter hohe Leuchtsaule auf dem Dach des Hochhauses Haus Grenzwacht am Hauptbahnhof, die durch die Leuchtfarbe ihrer Kugel und verschiedene Zeitverlaufe des Leuchtens von Kugel und Schaft das fur den nachsten Tag vorhergesagte Wetter anzeigt.
= Geologie =
Der Untergrund von Aachen ist sehr heterogen aufgebaut. Die altesten im Stadtgebiet auftretenden Gesteine sind devonische und karbonische Sandsteine, Grauwacken, Tonsteine und Kalksteine. Die Gesteinsformationen gehoren zum linksrheinischen Schiefergebirge nordlich des Hohen Venn. Im Oberkarbon sind diese Gesteinsschichten wahrend der variszischen Gebirgsbildung eingeengt, gefaltet und uberschoben worden. Nach der Auffaltung des variszischen Gebirges wurde das Gebiet uber einen Zeitraum von 200 Millionen Jahren zunehmend eingeebnet.
Wahrend der Kreidezeit drang das Meer aus Richtung Nordsee bis an den Gebirgsrand bei Aachen vor und lagerte dabei Tone, Sande und Kreidesedimente ab. Wahrend die Tone, die unweit von Aachen in Raeren Grundlage einer bedeutenden Topferindustrie waren, vorwiegend im Talkessel von Aachen zu finden sind, werden die Hohen des Aachener Waldes, des Schneebergs und des Lousberges von oberkreidezeitlichen Sand- und Kreideablagerungen gebildet. Die jungsten Sedimente, die uberwiegend im Norden und Osten Aachens verbreitet sind, stellen tertiare und quartare Fluss- und Windablagerungen dar.
Entlang der großen Uberschiebungsbahnen der variszischen Gebirgsbildung – der Aachener und Burtscheider Uberschiebung – treten heute im Stadtgebiet, an oberdevonische Kalksteine gebunden, die uber 30 Aachener und Burtscheider Thermalquellen zutage. Den Untergrund von Aachen durchziehen daruber hinaus zahlreiche, auch heute zum Teil noch aktive tektonische Storungen, die zum Storungssystem des Rurgrabens gehoren. Dieses Storungssystem hat sich in der Vergangenheit in Aachen und der gesamten Kolner Bucht immer wieder durch Erdbeben bemerkbar gemacht, so etwa in den Jahren 823, 1756 bei Duren und 1992 bei Roermond.
= Flachennutzung und -nutzungsplan =
Von der Gesamtflache Aachens (Stand 2022) stellt mit 59,35 %, bzw. 95,47 km², die Vegetationsflache den großten Nutzungsanteil. Unter diesen Oberbegriff fallen sowohl landwirtschaftliche Nutzflachen (38,75 %), wie auch Walder (18,78 %), Geholz (1,77 %) und Unland (0,22 %). Heide und Sumpfflachen sind jeweils zu 0,1 % anteilig.
Mit insgesamt 18 % Versiegelungsgrad, weist die Stadt Aachen einen erhohten Wert der Flachenversiegelung auf, welcher uber dem Bundesdeutschen Mittelwert von 5,2 % liegt.
Aufgrund des hohen Versiegelungsgrades fordert das Umweltamt des Weiteren den Erhalt bzw. die Erweiterung aller innerstadtischen, großeren, offenen Grunflachen, um eine wirksame Frischluftversorgung nicht weiter zu gefahrden.
Die Stadtverwaltung erwagt im Zuge der geplanten Neuaufstellung des Flachennutzungsplans, mehrere Kaltluftentstehungsgebiete in Bauland umzuwandeln. Dagegen haben sich hinsichtlich der Prufgebiete Beverau, Schonthal und Grauenhoferweg im Sommer 2014 drei Burgerinitiativen gebildet.
Umweltschutz In Aachen kommt neben dem Boden-, Gewasser-, Larm-, Klima- und Landschaftsschutz auch der Erhaltung bzw. Wiederherstellung der bestmoglichen Luftqualitat besondere Bedeutung zu.
= Luftqualitat =
Die Talkessellage der Aachener Innenstadt, der dortige starke Verkehr und die fortschreitende Bebauung von Freiflachen wirken sich negativ auf die Lufthygiene aus. So wiesen die EU-relevanten Schadstoffparameter Feinstaub (PM10) und insbesondere Stickoxide (NOx) an der Wilhelmstraße und am Adalbertsteinweg in den letzten Jahren und auch aktuell z. T. hohe bis kritische Tages- bzw. Jahresmittelwerte auf. Diese deutlichen Grenzwertuberschreitungen gelten als gesundheitsschadlich: Es drohen eine Zunahme von Allergien, Atemwegsinfekten und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie ein Anstieg der Sterblichkeit. Besonders betroffen sind vorgeschadigte Personen z. B. mit Asthma sowie Kinder und Jugendliche.
In den beiden Kurgebieten Burtscheid und Monheimsallee gelten gegenuber den allgemeinen EU-Grenzwerten fur Feinstaub und Stickstoffdioxid erheblich hohere Anforderungen. Nachdem diese lange Zeit nicht erfullt worden waren und deshalb sogar der Titel Heilbad in Gefahr gewesen war, belegten Untersuchungen aus 2016 eine Einhaltung der strengen Kurgebietsrichtwerte.
Bei austauschstarken Wetterlagen ist ein ausreichender Luftaustausch im stark belasteten Talkessel gewahrleistet. Bei austauscharmen Wetterlagen (sog. neutrale Witterung) kann es schon eher zu lufthygienisch problematischen Situationen kommen.
Problematisch sind allerdings stabile Hochdruckwetterlagen.
Im Rahmen eines Luftreinhalteplans trat am 9. Oktober 2010 die Festbrennstoffverordnung mit einer Ubergangsfrist bis zum 31. Dezember 2014 in Kraft. 2015 wurden in den Bereichen Verkehr und Energie weitere Maßnahmen festgelegt. Auf Anweisung der Bezirksregierung Koln musste ab dem 1. Februar 2016 daruber hinaus eine Umweltzone eingerichtet werden; sie betrifft das Gebiet innerhalb des Aachener Außenrings.
Seit Anfang 2017 bereitet die Bezirksregierung Koln die zweite Fortschreibung des Luftreinhaltungsplans Aachen vor. Einen zentralen Punkt bildet die Prufung und etwaige Vorbereitung eines Dieselfahrverbots. Hierauf ist eine beim VG Aachen anhangige Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gerichtet. Mit einem ahnlichen Petitum war die DUH bereits beim VG Dusseldorf und beim VG Stuttgart erfolgreich. Das Bundesverwaltungsgericht hat die dagegen eingelegten Sprungrevisionen uberwiegend zuruckgewiesen. Bei Erlass eines Dieselfahrverbots als Luftreinhaltemaßnahme sei jedoch die Verhaltnismaßigkeit zu wahren. Deshalb durften etwa Euro-5-Fahrzeuge jedenfalls nicht vor dem 1. September 2019 mit Verkehrsverboten belegt werden. Zudem musse es Ausnahmen zum Beispiel fur Handwerker oder bestimmte Anwohnergruppen geben.
Ab November 2019 wurde innerhalb des Alleenrings auf den Hauptzufahrtstraßen, wie auch auf der Monheimsallee zwischen den Kreuzungen Bastei und Hansemannplatz, Tempo 30 eingefuhrt.
= Schutzgebiete =
Gemaß dem aktuell gultigen Landschaftsplan von 1988 sind von der Stadtflache 451 ha in 12 Naturschutzgebieten sowie weitere 8131 ha im Landschaftsschutzgebiet Aachen geschutzt. Ein neuer Landschaftsplan ist derzeit (2018) in Vorbereitung, anhand des Entwurfs waren dann 1857 ha in 32 NSGs und 8869 ha in 19 LSGs geschutzt.
Die derzeit (2024) eingerichteten Naturschutzgebiete sind:
Naturschutzgebiet Bildchen (5 ha)
Brander Wald (165 ha auf Aachener Gebiet)
Naturschutzgebiet Freyenter Wald (7 ha)
Naturschutzgebiet Indetal (130 ha)
Naturschutzgebiet Klauserwaldchen/Frankenwaldchen (21 ha)
Naturschutzgebiet Monchsfelsen (5 ha)
Naturschutzgebiet Oberlauf der Inde im Munsterwald (30 ha)
Orsbacher Wald (21 ha)
Naturschutzgebiet Schmithof (5 ha)
Naturschutzgebiet Schneeberg (15 ha)
Naturschutzgebiet Seffent mit Wilkensberg (23 ha)
Naturschutzgebiet Walheim (25 ha)
Bevolkerung Nach der amtlichen Statistik der Stadt Aachen vom 30. Juni 2022 liegt die Einwohnerzahl bei 259.839, wovon 123.837 weiblich und 136.002 mannlich sind.
Die Arbeitslosenquote im Stadtgebiet lag im Oktober 2024 bei 7,9 Prozent.
Ende 2009 lag der Auslanderanteil in Aachen bei 13,6 Prozent. Ein signifikanter Anteil der auslandischen Bewohner gehorte zu den Studierenden der international bekannten Bildungszentren Aachens.
= Einwohnerentwicklung =
1855 hatte Aachen mehr als 50.000 Einwohner, nachdem diese Zahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch bei knapp 25.000 gelegen hatte. 1890 uberschritt die Einwohnerzahl der Stadt die Grenze von 100.000, wodurch sie zur Großstadt wurde. Wenige Jahre spater gemeindete sie die Kreisstadt Burtscheid aus dem Landkreis Aachen ein, worauf sie Sitz der Kreisverwaltung wurde; heute ist Aachen Sitz der Stadteregion Aachen. Einen Bevolkerungszuwachs um rund 63.000 Personen erlebte die Stadt 1972 durch mehrere Eingemeindungen – die Einwohnerzahl stieg von 177.000 auf rund 240.000. Am 31. Dezember 2005 betrug die amtliche Einwohnerzahl fur Aachen nach Fortschreibung des Landesbetriebes Information und Technik Nordrhein-Westfalen (IT.NRW) 258.208 (nur Hauptwohnsitze und nach dem Abgleich mit den anderen Landesamtern). Der im Vergleich zu den Vorjahren starkere Anstieg der Bevolkerungszahl im Jahre 2003 ist darauf zuruckzufuhren, dass die Stadt im gleichen Jahr die Zweitwohnungsteuer einfuhrte, welche insbesondere viele Studenten dazu veranlasste, ihren Zweitwohnsitz bei der Stadtverwaltung gegen einen Hauptwohnsitz einzutauschen. 2008 wurde mit 259.269 Einwohnern ein historischer Hochststand erreicht.
Im Vergleich der deutschen Großstadte weist Aachen bezogen auf den Zeitraum 2012/2013 mit 0,67 % einen durchschnittlichen Einwohnerzuwachs auf. Zum 30. Juni 2012 waren in Aachen 259.684 Einwohner gemeldet. Nach der Bevolkerungsprognose des LDS sollte die Einwohnerzahl bis zum Jahre 2025 auf 282.500 anwachsen. Beim Zensus 2011 stellte sich jedoch heraus, dass die bisher angenommene Einwohnerzahl deutlich zu hoch lag. Die beim Zensus 2011 zum Stichtag 9. Mai 2011 ermittelte Einwohnerzahl betragt 236.430. Gegen diese Zahlungsergebnisse hat unter anderem auch die Stadt Aachen Rechtsmittel eingelegt. Mit einem Beschluss vom 26. August 2015 stoppte das Bundesverfassungsgericht in einem Normenkontrollverfahren die Loschung der im Rahmen des Zensus 2011 erhobenen Daten vorlaufig fur langstens sechs Monate, um den Gemeinden die Moglichkeit zu geben, eine etwaige fehlerhafte Berechnung ihrer Einwohnerzahl gerichtlich effektiv uberprufen und gegebenenfalls korrigieren zu lassen. Am 19. September 2018 entschied das Bundesverfassungsgericht in einem weiteren Normenkontrollverfahren, dass die Methodik des Zensus 2011 verfassungsgemaß sei. Das Verfahren der Stadt Aachen gegen das Land Nordrhein-Westfalen vor dem Aachener Verwaltungsgericht war bis zu dieser Entscheidung ruhend gestellt. Die Stadt Aachen erklarte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, dass sie prufe, ob noch Aussichten auf Erfolg in diesem Verfahren bestunden.
In der im Juli 2015 publizierten Studie zur Bevolkerungsprognose aus dem Datenportal „Wegweiser Kommune“ der Bertelsmann Stiftung wurde die zahlenmaßige Entwicklung der Bevolkerung fur Stadte und Gemeinden ab 5.000 Einwohner sowie aller Landkreise berechnet. Nach dieser aktuellen Prognose wird die Einwohnerzahl Aachens in den nachsten Jahren kontinuierlich sinken und 2030 nur noch 231.310 betragen, was einem Bevolkerungsruckgang von 3,6 % entspricht.
= Aachener Platt =
Der Lokaldialekt der Stadt, das Aachener Platt bzw. in der Eigenbezeichnung Ocher ([ˈœʃʌ]) Platt, gehort der ripuarischen Sprachgruppe an.
Geschichte Aachen ist bekannt fur seine Geschichte und das damit verbundene kulturelle, architektonische und archaologische Erbe. Neuerliche Funde reichen bis in die Jungsteinzeit zuruck.
Einst Siedlungsgebiet der Eburonen, wurde das fruhe Aachen spater im Zuge der Kolonisation durch romische Pioniere unter anderem mit einem religiosen Kult- sowie einem mehrere Thermalbader umfassenden Thermenbezirk ausgestattet und besaß somit bereits seit der Antike eine hochstehenden Badekultur – wie auch sonst einen hohen Lebensstandard. Nach dem Abzug der romischen Truppen um das 5. Jahrhundert wurde der vicus von Franken germanisiert.
Es folgte eine Zeit der Sesshaftwerdung unter zunachst merowingischer, dann karolingischer Herrschaft. Mit der Vollendung der karolingischen Pfalzanlage am Ubergang zum 9. Jahrhundert erfolgte die endgultige Konstituierung als konigliche Hauptresidenz des von Karl dem Großen regierten frankischen Reichs, das zu dieser Zeit seine großte Ausdehnung erfuhr. Aachen, das 1166 durch Kaiser Friedrich I. Barbarossa mit dem Karlsprivileg das Stadtrecht verliehen bekam und Reichsstadt wurde, diente vom fruhen Mittelalter bis 1531 als Kronungsort zahlreicher romisch-deutscher Konige und Kaiser.
= Vorgeschichte und Antike =
Das Gebiet um Aachen wurde spatestens wahrend der Jungsteinzeit (Neolithikum) zwischen 3000 und 2500 v. Chr. von einer bauerlichen Bevolkerung bewohnt. Von Angehorigen dieser Kultur wurde auf dem Lousberg Feuerstein abgebaut und Ausgrabungen im Aachener Elisengarten, die in der zweiten Halfte der 2000er Jahre stattfanden, lassen eine Besiedlung im Neolithikum vermuten. Indirekte Hinweise auf einen fruheren Abbau seit der Altsteinzeit (Palaolithikum) lieferten verschiedene Funde von Artefakten aus Lousberg-Feuerstein in der Niederrheinischen Bucht und im Rheintal. In der Bronzezeit und der fruhen Eisenzeit war Aachen von Kelten besiedelt, wie Hugelgraber im Aachener Wald und die Ausgrabungen im Aachener Elisengarten belegen.
Nach den Kelten siedelten die Romer an den warmen Quellen. Ein romisches Heilbad ist im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung belegt. Nach den Ausgrabungsergebnissen ist davon auszugehen, dass es seit Christi Geburt eine durch die Romer angelegte Stadtbebauung in der Große von zirka 25 Hektar gab. Fur sie ist seit dem Fruhmittelalter der Name Aquae Granni (dt.: „Wasser des Grannus“) oder Aquis Granni uberliefert. Auch in der Spatantike ging in Aachen der Betrieb der romischen Bader weiter.
= Frankenzeit =
Ausgrabungen am Elisengarten 2008/2009 ergaben, dass Aachen auch in der Zeit nach dem Abzug der Romer Ende des 4., Anfang des 5. Jh. bis 700 durchgangig besiedelt war.
Zeugnisse spaterer Besiedlung sind frankische Graber aus dem 7. Jahrhundert. Der frankische Konig Pippin der Jungere baute in Aachen einen Hof und sorgte 765 fur die erste schriftliche Erwahnung Aachens als Aquis villa. Allerdings ist das karolingische Aachen vor der Blutezeit unter Karl dem Großen bisher nicht fassbar. Die Keramik, so wird angenommen, stand in romischer Tradition und wird daher falschlicherweise als romisch identifiziert, das bisherige Fehlen archaologischer Nachweise fur karolingische Wohnhauser – die Einhard neben einem Friedhof erwahnt – wird durch die Ubernahme noch intakter romischer Bauten erklart.
Pippins Sohn Karl, spater Karl der Große genannt, erbte das Frankische Reich und den Aachener Hof. Schon im Winter 768/69 uberwinterte er erstmals dort. Er weilte in seinen spaten Jahren immer haufiger dort und baute ihn zu einer Kaiserpfalz mit Palast und Kapelle, der sogenannten Pfalzkapelle aus. An der Stelle des Palastes befindet sich heute das Rathaus, die Kapelle wurde zum Aachener Dom.
Karls Sohn Ludwig wurde 813 in Anwesenheit seines Vaters im Obergeschoss der Pfalzkapelle zum Mitkaiser gekront. Karl der Große wurde am 28. Januar 814 im Vorhof der Kapelle beigesetzt. Eine weitere Kronung fand Mitte des 9. Jahrhunderts in der Aachener Pfalzkapelle statt. Lothar I., der alteste Enkel Karls des Großen, kronte sich hier zum Kaiser. Karl III. und Arnulf sind in Aachen allerdings nicht mehr nachweisbar. Erst mit Otto I. nahm die Nutzung der Pfalz wieder deutlich zu – eine Entwicklung, die nach Heinrich II. erneut abbrach.
= Heiliges Romisches Reich =
Otto I. wurde 936 in Aachen zum ostfrankischen Konig gekront. Die Stadt blieb damit fur die nachsten 600 Jahre Kronungsort der deutschen Konige („sedes regia“). Bis 1531 wurden 30 deutsche Konige im Aachener Munster, dem heutigen Dom, gekront; der letzte war Ferdinand I. Nachdem der Gegenpapst Paschalis III. Karl den Großen 1165 heiliggesprochen hatte, erhielt Aachen am 8. Januar 1166 als caput civitatum („Haupt der Stadte“) und als caput et sedes regni Theutonici („Haupt und Sitz des Deutschen Konigreichs“ – sic!) durch einen als Karlsprivileg bezeichneten Freiheitsbrief Kaiser Friedrich Barbarossas die Stadtrechte sowie das Markt- und Munzrecht verliehen und wurde eine Reichsstadt. Seine Einwohner wurden von der Lehenshorigkeit befreit. Aus dieser Zeit stammt der Reichsadler im Stadtwappen. Am 29. Juli 1215 bestatigte Kaiser Friedrich II. der Stadt Aachen alle Rechte, die sie seit Karl dem Großen erhalten habe.
Der Bau der inneren Stadtmauer geht auf Kaiser Barbarossa zuruck; sie wird deshalb bis heute Barbarossamauer genannt. Mit ihrem Bau wurde 1171 begonnen. Sie verlauft ungefahr entlang des heutigen Grabenrings. 1248 fiel Aachen nach sechsmonatiger Belagerung an Wilhelm von Holland, der hier zum Konig gekront wurde. Die Belagerung hatte nur deshalb Erfolg, weil die Belagerer das Wasser der Bache bei ihrem Austritt aus dem Talkessel ostlich der Stadt aufstauten und damit einen großen Teil des damals ummauerten Stadtgebiets unter Wasser setzten. Richard von Cornwall, der 1257 in Aachen gekront wurde, forderte den Bau des außeren Mauerrings, dessen Bauzeit etwa 100 Jahre betrug. Er verlief entlang des Alleenrings und wies elf Stadttore und 22 Turme auf. Erst 1841 wurde die erste Wohnbebauung außerhalb der durch diese Mauern umgebenen Altstadt errichtet; das Bahnhofsviertel und die Theaterstraße entstanden.
Im Jahr 1336 wurden der Reichsstadt Aachen durch Kaiser Ludwig IV. die Stadtrechte erneut bestatigt und auf das Gebiet des Aachener Reichs ausgeweitet. Dieses umfasste neben dem innerhalb der Barbarossamauer gelegenen Stadtbezirk die außerhalb der Mauer gelegenen sieben Quartiere, die Aachener Heide, den Stadtbusch und den Reichswald. Diese Außenbezirke dienten unter anderem der land- und forstwirtschaftlichen Versorgung der Stadtbevolkerung und bedurften ebenso wie auch die Stadt selbst eines besonderen Schutzes, um sie vor Raub und durch feindliche Truppen zu schutzen, weswegen man als Befestigungsanlage Bau des Aachener Landgrabens beschloss.
1258 wurde erstmals der Tuchwalker erwahnt. Die Tuchfabrikation in Aachen war jahrhundertelang der wesentliche Wirtschaftsfaktor Aachens.
Bedingt durch die reichhaltigen Erzvorkommen in der Umgebung, z. B. Zinkerz (Galmei) am Altenberg (heute Kelmis) und in Stolberg, wurde Aachen ein europaisches Zentrum der Messingindustrie und der Kupferverarbeitung – insbesondere im 16. Jahrhundert. Mit den Aachener Religionsunruhen der Reformationszeit und der Vertreibung der Protestanten verließen viele Kupferschlager, die diesem Glauben angehorten, die Stadt und siedelten sich im liberaleren Umland (Vaals und Stolberg) an.
Seit dem 13. Jahrhundert wurde die Aachener Heiligtumsfahrt durchgefuhrt, die mit der Zeigung der Aachener Heiligtumer alle sieben Jahre ab 1349 ihren Hohepunkt erreichte.
Das heutige Aachener Rathaus wurde 1349 auf Initiative der Aachener Burgerschaft unter Leitung ihres amtierenden Burgermeisters Gerhard Chorus auf den Resten der baufalligen Konigshalle der Kaiserpfalz errichtet. Zuvor hatte das Grashaus diese Funktion innegehabt, wurde aber parallel weiterhin bis ins 18. Jahrhundert hinein fur Rats- und Gerichtsversammlungen dazu genutzt. Ein weiteres Rathaus (der Putzer-Bau) wurde im Jahre 1903 am Katschhof errichtet. Es ist im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstort und in den 1950er Jahren abgerissen worden; heute steht an dieser Stelle ein Verwaltungsgebaude.
Politisch in das System der Reichskreise eingebunden wurde Aachen 1500, als es Teil des Niederrheinisch-Westfalischen Reichskreises wurde.
Im 16. Jahrhundert begann der politische Bedeutungsverlust der Stadt. Mit der Loslosung der Niederlande vom deutschen Reich verlor Aachen seine geographisch zentrale Position und wurde fortan von Frankfurt als Kronungsort abgelost. Wahrend der Reformation kam es zu massiven Unruhen zwischen Katholiken und Protestanten.
= Neuzeit =
1601 beschloss Aachen erstmals, seine Einwohner zahlen zu lassen. Dies ergab, dass 14.171 Einwohner in Aachen lebten, von denen jedoch nur 2829 das Burgerrecht besaßen.
Am 2. Mai 1656 brach in der Backstube des Backers Peter Maw an der Jakobskirche ein Feuer aus, das fast das gesamte gotische Aachen zerstorte. Sieben Menschen starben und 4664 Hauser wurden zerstort.
In der Folgezeit baute der aus Luttich stammende Badearzt Francois Blondel Aachen zu einem der modernsten Badeorte Europas aus. Seit dieser Zeit kursiert in Aachen der Satz: „Was das Feuer zerstort hat, baut das Wasser wieder auf.“ Der Kurbetrieb wurde um Moglichkeiten zum Mußiggang und zur Zerstreuung (Casino, Ballsale) erweitert. Das Bad erlangte einen gewissen Ruf und wurde von Beruhmtheiten wie dem Komponisten Georg Friedrich Handel oder von Herrschern wie Zar Peter I. von Russland oder Konig Friedrich II. von Preußen aufgesucht.
Der Devolutionskrieg zwischen Spanien und Frankreich wurde 1668 mit dem Ersten Aachener Frieden beendet. 1748 fand in Aachen ein Friedenskongress statt, der den Osterreichischen Erbfolgekrieg mit dem Zweiten Aachener Frieden beendete. In der Folge der Franzosischen Revolution besetzten Armeen 1794 Aachen und vereinten es mit Frankreich. Zahlreiche Kulturguter wurden dabei nach Paris verschleppt. 1798 wurde Aachen zum Verwaltungssitz des den Niederrhein umfassenden Departement de la Roer. Als Verwaltungsgebaude diente der Londoner Hof in der Aachener Kleinkolnstraße 18.
1802 bis 1825 war Aachen Bischofssitz. Erst 1930 wurde er durch das Preußenkonkordat wiedererrichtet und dem Erzbistum Koln als Suffraganbistum unterstellt.
= 19. Jahrhundert bis Gegenwart =
Nach dem Wiener Kongress wurde die Stadt 1815 in das Konigreich Preußen eingegliedert. 1816 wurde sie zunachst in der Provinz Großherzogtum Niederrhein Sitz einer preußischen Bezirksregierung und eines Landkreises, wobei die Stadt zu einem Stadtkreis wurde. Ab dem 27. Juni 1822 gehorte die Stadt mit dem gesamten Regierungsbezirk zur Rheinprovinz.
Die Einfuhrung der Dampfkraft, vor allem in der Tuchindustrie, die fortschreitende Mechanisierung und die damit verbundene Arbeitslosigkeit sowie Frauen- und Kinderarbeit bei Niedrigstlohnen fuhrten zu Unruhen, die 1830 von bewaffneten Burgern und Soldaten blutig niedergeschlagen wurden. Die ab 1837 von Koln aus in Richtung Belgien gebaute Rheinische Eisenbahn erreichte 1841 Aachen und 1843 den belgischen Grenzbahnhof Herbesthal.
Erster Weltkrieg und Weimarer Zeit Zu Beginn des Ersten Weltkrieges uberquerten deutsche Truppen bei Aachen die Grenze zu Belgien, womit der Grund fur den Kriegseintritt Frankreichs und Großbritanniens gegeben war. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel 1918 ein Teil des Aachener Hinterlandes mit dem Kreis Eupen und Teilen der damaligen Kreise Monschau und Schleiden an Belgien.
Aachen wurde am 1. Dezember 1918 von belgischen Truppen besetzt, ab dem 7. Dezember 1918 erfolgte die Besetzung durch Franzosische Truppen. Wahrend dieser elf Jahre andauernden Besatzungszeit blieben belgische und franzosische Besatzungen parallel in Aachen stationiert. In diese Zeit fielen die Aktivitaten einer separatistischen Bewegung, die eine Abspaltung des Rheinlands vom preußisch dominierten Deutschen Reich forderte. Am 21. Oktober 1923 besetzten Aachener Separatisten wahrend eines Putsches das Rathaus. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Separatisten und der Aachener Bevolkerung, die erst am 2. November von den belgischen Besatzern beendet wurden.
Die Zwischenkriegszeit bedeutete einen tiefen Einschnitt im Wirtschaftsleben der Stadt. Insbesondere der sogenannte Ruhrkampf, die Verschiebung der Zollgrenze an den Rhein sowie zunehmender Schmuggel entlang der Grenzen zu Belgien und den Niederlanden oder auch der Separatistenaufstand von 1923 trafen Aachen schwer. Hinzu kamen Reparationsleistungen und als negativer Hohepunkt die Weltwirtschaftskrise ab 1929.
1933 wurde die Stadtverordnetenversammlung aufgelost. Die leitenden stadtischen und staatlichen Beamten wurden durch Mitglieder der NSDAP ersetzt. Eine Heiligtumsfahrt mit 800.000 Teilnehmern fand 1937 statt, die als stummer Protest gegen das NS-Regime gewertet wurde.
Wahrend der Novemberpogrome 1938 wurden auch in Aachen judische Geschafte und Wohnungen verwustet oder geplundert. Die einzige Aachener Synagoge wurde in dieser Nacht durch einen Brand zerstort. 552 Aachener judischen Glaubens wurden in den kommenden Jahren deportiert und ermordet.
Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit Im Zweiten Weltkrieg wurde Aachen stark beschadigt; 65 Prozent des Wohnraums wurden dabei zerstort. Im Juli 1941 erfolgte der erste von funf Luftangriffen. Durch die Grenzstadt Aachen kamen Zehntausende Deportationsopfer, die in Belgien interniert worden waren, um anschließend per Reichsbahn durch Deutschland in die Konzentrationslager geschleust zu werden. 1944 erfolgte eine Zwangsevakuierung von Aachen, das am 21. Oktober 1944 als erste deutsche Stadt von den Alliierten eingenommen wurde (Schlacht um Aachen). Zu diesem Zeitpunkt zahlte die Stadt nur noch 11.139 Einwohner. Die US-Amerikaner setzten als neuen Burgermeister Franz Oppenhoff ein, der nach nur knapp funfmonatiger Amtszeit einem Anschlag zum Opfer fiel. Wahrend man zunachst eine Gruppe der Freischarlerbewegung Werwolf dafur verantwortlich machte, geht man heute davon aus, dass Oppenhoff als Kollaborateur der Alliierten von SS und Luftwaffe auf Befehl von Heinrich Himmler ermordet wurde. Nach ihm wurde spater die Oppenhoffallee benannt. Aachen wurde zunachst von amerikanischen, dann von britischen und spater von belgischen Truppen besetzt.
Beim Kaffeeschmuggel zwischen Belgien und Deutschland, an der sogenannten Aachener Kaffeefront, starben zwischen 1945 und 1953 40 Menschen. 1946 wohnten in Aachen wieder 100.000 Personen. Am 23. August 1946 wurde der Nordteil der bisherigen Rheinprovinz, zu dem auch Aachen gehorte, Teil des neugegrundeten Landes Nordrhein-Westfalen. Vom 1. April 1949 bis zum 28. August 1958 war der westliche Ortsteil Bildchen Belgisches Annexionsgebiet.
1950 wurde erstmals der Internationale Karlspreis der Stadt Aachen fur besondere Verdienste um Einigung und Frieden in Europa verliehen.
Aachen galt bis in die 1970er Jahre als CDU-Hochburg, aus linken Kreisen als „schwarzes Aachen“ verspottet. Grund war die uberwiegend katholische Bevolkerung, die das Zentrum und spater die Christdemokraten mehrheitlich wahlte.
Bei der Gebietsreform von 1972 (erstes Aachen-Gesetz) wurde das Stadtgebiet Aachens durch Eingemeindungen nahezu verdreifacht, die Einwohnerzahl stieg auf 237.108. Der Kreis Aachen erhielt seine bis zur Ablosung durch die Stadteregion Aachen bestehende Ausdehnung. Der Regierungsbezirk Aachen wurde aufgelost und dem Regierungsbezirk Koln angegliedert. Im selben Jahr feierte das neue Klinikum Aachen Richtfest, das im Jahre 1985 vom damaligen Ministerprasidenten Johannes Rau offiziell an die RWTH Aachen ubergeben wurde.
Eine Neue Synagoge in Aachen wurde 1995 unter Beteiligung internationaler Ehrengaste eingeweiht.
Am 25. Mai 2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel Ort der Vielfalt.
= Eingemeindungen =
Vor der zum 1. April 1897 durchgefuhrten Eingemeindung der bis dahin eigenstandigen Stadt Burtscheid betrug das Aachener Stadtgebiet 3056 ha. Nach drei weiteren Eingemeindungen sowie diversen kleineren Grenzanderungen und Neuvermessungen seit 1949 umfasst das Stadtgebiet heute eine Flache von insgesamt 16.082,9 ha.
1. April 1897: Burtscheid
1. April 1906: Forst
1. November 1922: Sief, Bildchen und Lichtenbusch
1. Januar 1972: Brand, Eilendorf, Haaren, Kornelimunster, Laurensberg, Richterich, Walheim
Die Namen der eingemeindeten Territorien sind noch in Form der Gemarkungen Aachens erhalten. Aus den 1972 eingegliederten Gemeinden und dem bisherigen Stadtgebiet wurden die Stadtbezirke Aachens.
= Karlshymne =
Die Karlshymne Urbs Aquensis ist eine Hymne aus dem 12. Jahrhundert auf Karl den Großen, dessen Glanz auf Aachen fallt. Die deutsche Ubersetzung („Aachen, Kaiserstadt, du hehre …“) stammt aus dem 19. Jahrhundert und wird heute zu einer Melodie von Peter Baur als Stadthymne zu besonderen Anlassen gespielt und gesungen, z. B. jahrlich bei der Karlspreisverleihung von der Festgesellschaft.
= Sagen und Legenden =
Einige geschichtliche Ereignisse, Personen oder Ortlichkeiten sind in den Aachener Sagen und Legenden wiedergegeben. Manche davon erklaren in atiologischer Weise bestimmte Objekte oder Namen, beispielsweise den Teufelsdaumen im Hauptportal des Doms, die Existenz des Lousbergs als Einzelberg mitten im Aachener Talkessel oder den Namen der Klappergasse. Daneben stehen eine Reihe von Spuk- und Hexengeschichten, die in ahnlicher Fassung auch in dem Sagenschatz anderer Orte enthalten sind, hier aber an Aachener Ortlichkeiten angepasst sind.
Religionen = Christentum =
Das Gebiet der Stadt Aachen gehorte von Anfang an zum Bistum Luttich beziehungsweise dessen Archidiakonat Hasbanien, Dekanat Maastricht. Im Mittelalter war die Wurm die Grenze zum Erzbistum Koln. Kirchliche Rechte hatte der Herzog von Julich. Im Jahre 1708 gab es in Aachen 17 Kloster. 1802 wurde Aachen Sitz eines eigenen Bistums, das jedoch 1825 wieder aufgehoben wurde. Danach gehorte das Gebiet zum Erzbistum Koln, bevor 1930 das Bistum Aachen erneut als Suffragandiozese Kolns errichtet wurde. Kathedrale des Bistums Aachen und Hauptkirche der Stadt ist der Aachener Dom. Die katholischen Pfarrgemeinden der Stadt gehoren innerhalb des Bistums zur Region Aachen-Stadt. Bischof ist seit 2016 Helmut Dieser.
Um 1530 begann in Aachen die Reformation. In den Folgejahren ließen sich vor allem protestantische (calvinistische) Tuchmacherfamilien in der Stadt nieder. 1544 wurde die erste Gemeinde gebildet, jedoch wurden den evangelischen Bewohnern auf Befehl des Kaisers ab 1550 alle offentlichen Amter versperrt. Der Rat der Stadt war jedoch gespalten, und 1559 verließen die evangelischen Mitglieder den Rat, worauf viele Protestanten abwanderten. 1576 konnte dank Unterstutzung der Zunfte der Rat wieder mehrheitlich mit Protestanten besetzt werden. In der Folgezeit gab es zunachst eine lutherische und drei reformierte Gemeinden. Die Freiheiten dauerten jedoch nicht lange an, da 1598 die Reichsacht uber die Stadt verhangt wurde und infolgedessen der evangelische Rat zurucktrat. Alle Predigthauser und Schulen wurden geschlossen. Viele Protestanten wurden ausgewiesen. Nach einem Aufstand der Protestanten konnte 1611/1612 vorubergehend wieder ein protestantischer Rat gebildet werden, doch 1614 wurde erneut die Reichsacht verhangt und die Protestanten wurden ausgewiesen, teilweise sogar hingerichtet. Danach war die Zahl der Protestanten sehr gering, jedoch gab es stets evangelische Bewohner, die immer wieder versuchten, Einfluss in der Stadt zu gewinnen. Da sie jedoch keine eigenen Gemeinden bilden konnten, schlossen sich die lutherischen und reformierten Bewohner den Gemeinden in Vaals an. Dort wurde am 21. Marz 1649 zunachst eine reformierte Gemeinde gegrundet, die 1672 die Hervormde Kerk erbauen ließ. Um 1669 gegrundete sich die evangelisch-lutherische Gemeinde Aachen-Burtscheid-Vaals, die im Jahr 1737 Bauherr der lutherischen Kirche De Kopermolen war.
Nach dem Einmarsch der Franzosen gewannen die Protestanten allmahlich ihre Gleichheitsrechte zu den Katholiken. 1802 erhielten sie die ehemalige Klosterkirche St. Anna fur ihre Gottesdienste. Die inzwischen gegrundete lutherische und reformierte Gemeinde fusionierte 1837 zur Vereinigten Evangelischen Gemeinde. Nachdem Aachen bereits 1815 preußisch geworden und 1817 die Evangelische Kirche in Preußen als unierte Kirche gebildet worden war, gehorte die Gemeinde in Aachen zu dieser Kirche beziehungsweise zu deren 1826 gebildeten rheinischen Provinzialkirche. 1838 wurde Aachen Sitz einer Superintendentur, aus der spater der heutige Kirchenkreis Aachen innerhalb der Evangelischen Kirche im Rheinland hervorging, die ihrerseits 1947 durch Verselbstandigung der Kirchenprovinz als Landeskirche entstand. Die Evangelische Kirchengemeinde Aachen gliedert sich in vier Gemeindebereiche (Aachen-Mitte, Sud, West und Nord) mit jeweils mehreren Pfarrbezirken. Zum Gebiet der Stadt Aachen gehoren jedoch zwei weitere Gemeinden im Sudosten: Brand gehort zur Kirchengemeinde Stolberg, die Orte im Bezirk Kornelimunster/Walheim gehoren zur Kirchengemeinde Kornelimunster-Zweifall. Der Evangelische Kirchenkreis Aachen umfasst jedoch neben den Gemeinden in Stadt und Kreis Aachen (außer Eschweiler) auch Eifelgemeinden im Kreis Euskirchen.
Neben den beiden großen Kirchen gibt es in Aachen zahlreiche evangelische Freikirchen, unter anderem die Freie evangelische Gemeinde und die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten). Unter den weiteren christlichen Vereinigungen und Gemeinden finden sich eine altkatholische Gemeinde, freie christliche Gemeinden, vier verschiedene orthodoxe Gemeinden, insbesondere die von Bischof Evmenios von Lefke geleitete griechisch-orthodoxe Gemeinde der Stadtkirche St. Michael, und eine katholische koreanische Gemeinde.
Ein großer Teil der verschiedenen christlichen Gemeinden Aachens ist in der lokalen okumenischen Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Aachen zusammengeschlossen. Dazu zahlen die Romisch-katholische Kirche, die Evangelische Kirche, die Griechisch-orthodoxe Kirche, die Russisch-Orthodoxe Kirche, die Serbisch-Orthodoxe Kirche, die Rumanisch-Orthodoxe Kirche, die Altkatholische Kirche, die Baptisten, die Freie evangelische Gemeinde, die Vineyard-Gemeinde, die Internationale Christliche Freikirche (ICF) und das Lighthouse Christliche Zentrum.
Ferner sind die Christengemeinschaft, die Zeugen Jehovas, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die Apostolische Gemeinschaft und die Neuapostolische Kirche in Aachen vertreten.
Aachen ist Standort fur das Priesterseminar Aachen und Sitz der katholischen Hilfswerke missio, Misereor und der Sternsinger.
= Konfessionsstatistik =
Mit Stand 2014 waren 46,5 % der Einwohner Mitglied der katholischen und 15,0 % der evangelischen Kirche; 38,5 % gehorten anderen Konfessionen oder Glaubensgemeinschaften an oder waren konfessionslos. Der Anteil der Protestanten und Katholiken an der Gesamtbevolkerung ist seitdem gesunken. Am Stichtag 31. Dezember 2023 waren nach Angaben der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland und der Stadt Aachen 34,5 % der 262.864 Einwohner romisch-katholisch, 11,6 % evangelisch und 53,9 % waren konfessionsfrei oder gehorten einer sonstigen Glaubensgemeinschaft an.
Die Zahl der Kirchenaustritte im Jahr 2022 war 13.340 und im Jahr 2023 waren es 13.236.
= Judentum =
Die Aachener Synagoge wurde durch die Stadt Aachen an der Statte der wahrend der Novemberpogrome 1938 zerstorten Alten Synagoge neu erbaut und 1995 der judischen Gemeinde ubergeben. Die Judische Gemeinde Aachen mit ungefahr 1440 Mitgliedern und einer eigenen Bibliothek besitzt zudem einen judischen Friedhof sowie eine eigene Zeitung.
= Islam =
In Aachen gibt es inzwischen drei Moscheen, die Yunus-Emre-Moschee der Turkisch-Islamischen Union der Anstalt fur Religion (DITIB) in Aachen-Ost, das islamische Zentrum (IZA) mit der Bilal-Moschee und die Mansoor-Moschee der Ahmadiyya Muslim Gemeinde. Außerdem sind funf weitere Einrichtungen in Form islamischer Kulturzentren vorhanden.
= Interreligioser Dialog =
Im November 2005 wurde unter Leitung der Integrationsstelle Aachen der Arbeitskreis Dialog der Religionen eingerichtet, an dem Mitglieder aller großen Weltreligionen teilnehmen.
Dem judisch-christlichen Dialog widmet sich die Gesellschaft fur Christlich-Judische Zusammenarbeit in Aachen e. V.
= Friedhofskultur in Aachen =
Die Verstorbenen des romischen Aquae Granni wurden außerhalb der damaligen Stadtgrenzen auf einer Brachflache begraben, auf der spater im 12. Jahrhundert die Aachener Peterskirche errichtet wurde. Ab dem fruhen Mittelalter war es ublich, die Toten zunachst auf dem Munsterkirchhof in unmittelbarer Nachbarschaft des Aachener Munsters und somit innerhalb der Stadtgrenzen beizusetzen. Mit zunehmender Einwohnerzahl begrub man die katholischen Burger in der Nahe ihrer jeweiligen Gotteshauser bzw. innerhalb der Kirchen in speziell dafur eingerichteten Totenkellern. Dagegen wurden die evangelischen Burger bereits seit 1605 außerhalb am Rande der außeren Stadtmauer Aachens wenige 100 m vor dem Kolntor auf der Flur mit der Bezeichnung Am Guldenplan beerdigt. Sie wurde ab 1899 nicht mehr belegt und steht heutzutage als Teil des Stadtgarten Aachens unter Denkmalschutz.
Erst nach dem Einmarsch der Franzosen ab 1794 wurde der allmahliche Wandel zu einer moderneren Begrabniskultur eingeleitet. Die Besatzungstruppen untersagten aus gesundheitlichen Grunden grundsatzlich die Benutzung von Friedhofen innerhalb des Stadtgebietes. Bereits zwei Jahre vor dem offiziellen kaiserlichen Dekret von 1805 wurde in Aachen beschlossen, fur die katholische Bevolkerung ein neues Friedhofsareal zu erschließen. Es sollte sich circa 700 m ostlich des Adalbertstores im Osten der Stadt befinden, wo am 18. August 1803 der Aachener Ostfriedhof eroffnet und unter die Verwaltung der Alexianerbruder vom Alexianerkloster Aachen gestellt wurde.
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts fuhrte der Mangel an Beerdigungsfluren dazu, dass die Stadt ein großes Grundstuck an der Vaalser Straße von der Gemeinde Laurensberg erwarb, um hier den neuen Aachener Westfriedhof einzurichten. Zunachst wurde die als Westfriedhof I bezeichnete Anlage sudlich der Vaalser Straße fur die evangelischen Burger eingerichtet. Sie dient als Ersatz fur den Friedhof Am Guldenplan und wurde ab dem 4. Januar 1889 belegt. Am 1. Mai 1890, begann die Belegung des nordlich der Straße angelegten Westfriedhofs II fur die Katholiken, auf dem u. a. ein Campo Santo erbaut wurde. Wahrend der Aachener Ostfriedhof anfangs den Aachener Pfarren St. Adalbert, St. Peter und St. Foillan vorbehalten blieb, diente der neue Westfriedhof II allen anderen damaligen Pfarren.
Aufgrund der Bevolkerungszunahme im 20. Jahrhundert beschloss die Stadt Aachen, ab 1930 den Waldfriedhof Aachen fur die Bevolkerung zu erweitern. Dies wurde auf dem Gelande eines ehemaligen Cholerafriedhofs vor den Toren von Burtscheid umgesetzt, wo die Stadt bereits ein großeres Areal als Ehrenfriedhof reserviert hatte. Schließlich wurde im Jahre 1956 der Friedhof Lintert und 1979 der Friedhof Huls eroffnet, auf dem sich das einzige Krematorium Aachens befindet. Sowohl auf dem Westfriedhof als auch auf dem Friedhof Huls befinden sich daruber hinaus die einzigen Gedenkstatten fur Sternenkinder und fruh verstorbene Kinder. Daruber hinaus besitzen die eingemeindeten Stadtteile Aachens ihre jeweiligen eigenen und durchaus geschichtlich relevanten Friedhofe, die nunmehr alle der Stadt unterstellt sind, wie beispielsweise der Heißbergfriedhof Burtscheid/Aachen.
Die Begrabniskultur hat sich in Aachen entsprechend moderner Vorstellungen angepasst. Von der klassischen Beerdigung in Form von Einzel- und Reihengrabern uber Urnen- und Baumgraber bis hin zu anonymer Bestattung uberlasst man den Burgern im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben die Entscheidung ihrer Bestattungsart ebenso wie auch die Wahl des gewunschten Friedhofes.
Politik = Oberburgermeister =
An der Spitze der Stadt Aachen stand zunachst ein koniglicher Beamter. 1250 ging die Leitung auf den Rat uber, dem ein Burgermeister vorstand. Mitglieder des Rates waren zunachst nur lebenslang amtierende Schoffen. Seit dem 15. Jahrhundert waren auch die Zunfte vertreten. Dies wurde im sogenannten Aachener Gaffelbrief von 1450, der bis 1794 galt, festgelegt. Jedoch konnten die Zunfte erst 1513 ihre standige Mitgliedschaft im Rat erreichen. Die Mitgliederzahl schwankte mehrmals. An der Spitze standen meist zwei Burgermeister, die aber nur ein Jahr amtierten und am 25. Mai ihr Amt wechselten. Die Ratsmitglieder ubten neben ihrer Ratsmitgliedschaft meist wichtige Sonderamter in der Stadt aus. Nach dem Einmarsch der Franzosen 1794 wurde die Munizipalverfassung eingefuhrt. Stadtoberhaupt war der Maire. Ihm standen drei Beigeordnete und ein 30-kopfiger Rat zur Seite. In preußischer Zeit wurde 1815 aus dem Maire der Oberburgermeister. Eine Neuordnung der stadtischen Verfassung wurde erst 1845 mit der rheinischen Gemeindeordnung beziehungsweise 1856 mit der rheinischen Stadteordnung eingefuhrt. Die Stadtverwaltung bestand weiterhin aus dem Oberburgermeister und dem Rat.
Wahrend der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Oberburgermeister von der NSDAP eingesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Militarregierung einen neuen Oberburgermeister ein und 1946 fuhrte sie die Kommunalverfassung nach britischem Vorbild ein. Danach gab es einen vom Volk gewahlten Rat der Stadt, dessen Mitglieder man als Stadtverordnete bezeichnet. Der Rat wahlte anfangs aus seiner Mitte den Oberburgermeister als Vorsitzenden und Reprasentanten der Stadt, der ehrenamtlich tatig war. Des Weiteren wahlte der Rat ab 1946 ebenfalls einen hauptamtlichen Oberstadtdirektor als Leiter der Stadtverwaltung. 1995 wurde die Doppelspitze in der Stadtverwaltung aufgegeben. Seither gibt es nur noch den hauptamtlichen Oberburgermeister. Dieser ist Vorsitzender des Rates, Leiter der Stadtverwaltung und Reprasentant der Stadt. Er wurde 1999 erstmals direkt vom Volk gewahlt.
Seit dem 1. November 2020 ist Sibylle Keupen (Parteilose Kandidatin der Grunen) Oberburgermeisterin der Stadt Aachen, die ihren Wohnsitz in Kohlscheid hat.
= Stadtrat =
Der am 13. September 2020 gewahlte Rat der Stadt besteht aus 58 Mitgliedern. Der direkt gewahlte Oberburgermeister hat Stimmrecht und leitet die Sitzungen. Derzeit sind im Aachener Rat folgende Parteien vertreten: Bundnis 90/Die Grunen (20 Mitglieder), CDU (14 Mitglieder), SPD (11 Mitglieder), Die Linke (3 Mitglieder), FDP (3 Mitglieder), AfD (2 Mitglieder), Volt (2 Mitglieder) und je ein Mitglied der PARTEI, der Piratenpartei und der Unabhangigen Wahler Gemeinschaft.
= Wappen =
Blasonierung: In Gold ein rot bewehrter und rot bezungter schwarzer Adler.
Die Stadtfarben sind Schwarz-Gold (Schwarz-Gelb). Wie andere ehemalige Reichsstadte (beispielsweise Besancon, Dortmund, Nimwegen oder Nordlingen) fuhrt die Stadt Aachen noch heute einen schwarzen Adler auf Goldgrund im Wappen. Das Aachener Wappen wurde zuletzt am 24. Januar 1980 durch die Hauptsatzung der Stadt bestatigt.
= Partnerstadte =
Partnerstadte sind:
= Stadteregion Aachen =
Die Stadt Aachen hat durch offentlich-rechtliche Vereinbarungen mit dem Kreis Aachen einige ihrer Aufgaben auf die Stadteregion Aachen ubertragen, darunter Schultrageraufgaben, die Straßenverkehrsbehorde, die Auslanderbehorde und Teile des Sozialamtes.
Wirtschaft und Infrastruktur = Oberzentrum =
Die Regiopole Aachen verfugt uber zahlreiche Bildungseinrichtungen wie die RWTH, die FH Aachen, die stadtische Volkshochschule, diverse Gymnasien und andere Bildungszentren. Die Stadt beherbergt verschiedene Theater und Museen. Mit dem Sitz der Stadteregion Aachen, dem Finanzamtszentrum, dem Justizzentrum mit seinen jeweiligen Fachgerichten sowie weiteren fur eine Großstadt ublichen Behorden, den Sportstatten, Krankenhausern, darunter das Universitatsklinikum wie auch mehrere Fachkliniken, weiteren Einrichtungen fur Gesundheit und Soziales, diversen Kreditinstituten und spezialisierten Einkaufsmoglichkeiten fur den hoherwertigen Bedarf sowie bei sonstigen Dienstleistungen erfullt die Stadt alle Kriterien fur ein Oberzentrum. Auch verfugt sie uber den Anschluss an mehrere Autobahnen (A 4, A 44, A 544), an das Bundesfernstraßennetz und den ICE und Thalys im Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn (siehe Verkehr in Aachen).
= Bad Aachen =
Aachen war schon vor der Errichtung der Kaiserpfalz wegen seiner zahlreichen Quellen bekannt, die stark schwefelhaltiges, bis zu 74 °C heißes Wasser an die Oberflache bringen. Die Quellen im Stadtteil Burtscheid gehoren damit zu den heißesten Quellen Mitteleuropas. Diesen Quellen wird zugeschrieben, dass sie Rheuma und viele andere Krankheiten heilen sollen. Nicht zuletzt aus diesem Grund etablierte schließlich Karl der Große den Ort zu einer bedeutenden Stadt. Als staatlich anerkannte Kurstadt darf sich die Stadt Bad Aachen nennen, jedoch wird diese Bezeichnung kaum verwendet, da die Stadt dann in Listen und Verzeichnissen nicht mehr an erster Stelle genannt wurde. Das offizielle Logo der Stadt verzichtet mit der Bezeichnung Stadt Aachen ebenfalls auf den Titel als Kurbad.
Heute gibt es den historischen Kurpark um den Elisenbrunnen im Stadtzentrum und den modernen Baderbereich der Carolus Thermen, mit großem Wellness-Bereich und einer Versorgung mit Mineral-Thermalwasser aus der Rosenquelle (47 °C).
= Unternehmen =
Mehrere bedeutende Unternehmen aus verschiedenen Industriezweigen haben ihren Hauptsitz oder Niederlassungen in Aachen.
Seit 1934 unterhielt Philips Deutschland GmbH, einer der weltweit großten Elektronikhersteller, Produktionsstatten in Aachen – zunachst nur fur Radiogerate, nach dem Zweiten Weltkrieg aber auch ein Werk zur Produktion von Leuchtmitteln, in dem Niedervolt-Halogenlampen und Autolampen hergestellt wurden, sowie ein weiteres fur Bildrohren. Das Bildrohrenwerk wurde 2004 geschlossen, anschließend wurde in Teilen der danach leer stehenden Hallen eine hochmoderne OLED-Produktion aufgebaut, die 2015 an OLEDWorks verkauft wurde. Seit der Schließung des Leuchtmittelwerks Ende August 2018 betreibt Philips keine Produktionsstatten mehr in Aachen. Seit 1955 betreibt Philips Forschung in Aachen. Mit mehreren Forschungsstatten auf dem Campus Melaten und in Rothe Erde ist Philips weiterhin in Aachen vertreten.
Aachen ist ebenso Zentrum fur Maschinenbau, Automation, IT, Laser- und Umwelttechnologie mit jeweils großer wirtschaftlicher Bedeutung fur die Stadt. Viele IT-Unternehmen, die teilweise als Spin-offs der Universitat und Fachhochschule gegrundet wurden, haben sich gemeinsam mit Forschungseinrichtungen zum Kompetenznetzwerk Regina e. V. IT/Informatik Aachen zusammengeschlossen.
Weiterhin ist Aachen als Standort der Automobilindustrie bedeutend, sowohl durch ortsansassige Zulieferindustrie (z. B. eine Niederlassung von Saint-Gobain), den Entwicklungsdienstleister FEV, dessen Hauptsitz in Aachen ist, und auch durch Institute der RWTH Aachen, die ihren Schwerpunkt in der Automobiltechnologie haben. Ford unterhielt bis zur Schließung Mitte 2024 das Ford Forschungszentrum Aachen (FFA) im Ortsteil Laurensberg. Die ortliche Automobilbranche hat sich großteils im euregionalen Netzwerk competence center automotive region aachen – euregio maas-rhein (car e. V.) zusammengeschlossen. Daneben gibt es eine Reihe von Forschungsbetrieben und Hochtechnologieunternehmen, oft als Ableger der Hochschulen.
Außerdem ist die Produktion von Sußwaren von bekannten Unternehmen wie Zentis (Konfituren, Sußwaren, Fruchtzubereitungen), Lambertz (Lebkuchen, Printen) und Lindt & Sprungli (Schokolade, Pralinen) bedeutend. Die Aachener Printen sind weltberuhmt.
Des Weiteren ist Aachen Standort von Grunenthal (pharmazeutische Produkte) und Talbot Services (Schienenfahrzeuge und Elektroautomobile). Aachen bietet gute Standortvorteile wegen einer dichten Infrastruktur mit Produktions- und Dienstleistungen auf engstem Raum, Internationalitat und Mehrsprachigkeit, Platz zur Expansion und Raum zur Erholung wie auch einem großen Potenzial an gut ausgebildeten Ingenieuren.
Auch der Tourismus spielt eine wichtige Rolle (Januar bis Juni 2017: 241.951 Ankunfte, 479.928 Ubernachtungen). Seit dem 1. Januar 2012 wird eine Beherbergungsabgabe in Hohe von funf Prozent auf den Ubernachtungspreis erhoben.
In der Vergangenheit war die Produktion von Nadeln und Tuchen der wichtigste Wirtschaftsfaktor. So waren in Aachen mehrere hundert Nadelfabriken ansassig. An fast allen Bachen waren Tuchfabriken und -farbereien angesiedelt. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich ein sehr deutlicher Strukturwandel vollzogen. Die Herstellung von Nadeln und Tuchen wurde nach Fernost verlagert. Die letzte Aachener Nadelfabrik stellte den Betrieb Ende 2004 ein, von den zahlreichen Tuchfabriken ist nur die Becker Fabrics geblieben. Die 1838 gegrundete Aachener Waggonfabrik Talbot war der alteste und einer der bedeutendsten deutschen Hersteller von Schienenfahrzeugen. Weitere Bedeutung hatte die Herstellung von Schirmen und Transformatoren. Auch diese Bereiche sind jedoch inzwischen stark reduziert oder vollig aufgegeben worden.
Im Bereich der Versicherungen hat sich der Standort Aachen innerhalb der Generali Deutschland behaupten konnen. Die dazugehorende AachenMunchener Versicherungsgesellschaft errichtete in der Aachener Innenstadt an der Stelle des fruheren Sozialgerichts eine neue Zentralverwaltung.
Ferner ist fur Aachen die Logistik von zunehmender Bedeutung: So betreiben Doc Morris und die Honold Logistik Gruppe große Versand-Logistikzentren im Gewerbepark Avantis.
Großte Arbeitgeber der Stadt Aachen (Stand 2024):
= Verkehr =
Bahn Der Aachener Hauptbahnhof ist an den Fernverkehr angeschlossen. Der Hochgeschwindigkeitszug Eurostar verkehrt 5-mal taglich auf der Strecke von Paris uber Brussel–Luttich–Aachen–Koln und weiter nach Essen und Dortmund. In einem Zwei-Stunden-Takt verkehrt der ICE International auf der Strecke Brussel–Luttich–Aachen–Koln und weiter nach Frankfurt. Aachen liegt somit an einer wichtigen Verbindung (PBKA) des transeuropaischen Schienennetzes. Auf der zweiten von Aachen ausgehenden innerdeutschen Strecke nach Monchengladbach und von dort aus weiter uber Krefeld und Duisburg bestehen taglich Intercity-Verbindungen nach Berlin. Zudem verkehren ICEs nach Berlin auch uber Koln.
Beide Strecken sind zudem wichtige Magistralen des Guterverkehrs. Die zwei von Aachen ausgehenden Strecken nach Belgien – fur den Personenverkehr nach Brussel uber Luttich (HSL 3) und fur den Guterverkehr nach Antwerpen uber Tongeren (Montzenroute) – sind die einzigen in Betrieb befindlichen Schienenverbindungen zwischen Deutschland und Belgien.
Der Regionalverkehr halt außer am Hauptbahnhof auch an den Personenbahnhofen Aachen West und Aachen-Rothe Erde sowie den Haltepunkten Aachen Schanz und Eilendorf. Ein weiterer Haltepunkt der Euregiobahn ist in Richterich vorgesehen; Seine Fertigstellung ist fur Dezember 2025 anvisiert.
Regionale Bahnverbindungen (Stand Februar 2019):
Regional-Express RE 1 (NRW-Express): Aachen Hbf – Duren – Koln Hbf – Dusseldorf Hbf – Duisburg Hbf – Essen Hbf – Bochum Hbf – Dortmund Hbf – Hamm (Westf)
Regional-Express RE 4 (Wupper-Express): Aachen – Monchengladbach Hbf – Dusseldorf Hbf – Wuppertal Hbf – Hagen Hbf – Dortmund Hbf
Regional-Express RE 9 (Rhein-Sieg-Express): Aachen Hbf – Duren – Koln Hbf – Siegburg/Bonn – Siegen
Regional-Express RE 18 (LIMAX): Aachen Hbf – Herzogenrath – Heerlen – Maastricht
Regional-Express RE 29 (euregioAIXpress): Aachen Hbf – Welkenraedt –Verviers – Trooz – Liege Guillemins – Liege Saint-Lambert
Regionalbahn RB 20 (Euregiobahn): Stolberg – Eschweiler – Alsdorf – Herzogenrath – Aachen Hbf – Stolberg – Eschweiler – Langerwehe – Duren
Regionalbahn RB 33 (Rhein-Niers-Bahn): Aachen Hbf – Monchengladbach Hbf – Duisburg Hbf
Die S-Bahn S 19 der S-Bahn Rhein-Ruhr fahrt jede Nacht zweimal zwischen Aachen und Troisdorf uber Koln und Koln/Bonn Flughafen und weiter in Richtung Au (Sieg)
Die Bahnstrecke Aachen–Maastricht ist die alteste internationale Bahnstrecke der Niederlande, doch sie ist seit den 1990er Jahren bei Vetschau unterbrochen. Auf dem Abschnitt von Vetschau, auf dem Aachener Stadtgebiet, bis Schin op Geul verkehren seit 1995 Museumszuge der Zuid-Limburgse Stoomtrein Maatschappij. Seit 2011 bestehen bisher unverwirklichte Plane, den Abschnitt Aachen–Vetschau–Avantis–Kerkrade im Rahmen des Projektes Via Avantis zu reaktivieren. Stattdessen fahrt seit 2024 halbstundlich der Regionalexpress LIMAX von Aachen uber Herzogenrath und Heerlen nach Maastricht.
Eisenbahnhistorisch hat Aachen zwei Besonderheiten zu bieten: den altesten noch befahrenen Eisenbahntunnel Deutschlands, den Buschtunnel, sowie den Burtscheider Viadukt. Unweit von Aachen befindet sich bei dem belgischen Ort Moresnet das beruhmte Gohltalviadukt, das 2004 saniert wurde. Bei Beendigung dieser Maßnahmen gab es einen Festakt mit Feuerwerk.
Die traditionsreiche Waggonfabrik Talbot an der Julicher Straße produzierte bis Anfang der 1990er Jahre Guter- und Personenwaggons, wie etwa doppelstockige Wagen fur die niederlandische Staatsbahn oder den Talent. Nach der Ubernahme durch den kanadischen Konzern Bombardier (seitdem Talbot-Bombardier) wurde ein Großteil der Fertigung nach Ostdeutschland und Tschechien verlegt und das Werk zum 30. Juni 2013 verkauft. Nach der Ubernahme durch Talbot Services werden in Aachen weiterhin Eisenbahnfahrzeuge und auch Elektrofahrzeuge des Typs StreetScooter gebaut.
Die Vennbahn, angelegt von 1882 bis 1889, verband die Industriegebiete von Aachen und Eschweiler mit dem von Luxemburg. Schon zwischen den beiden Weltkriegen nahm das Transportvolumen zusehends ab, da Luxemburg die Zollunion mit Deutschland aufgekundigt hatte.
Offentlicher Personennahverkehr Im Jahr 1974 wurden gleichzeitig die Linien der Straßenbahn Aachen und des Oberleitungsbus Aachen stillgelegt. Seitdem beschrankte sich der offentliche Personennahverkehr im Stadtgebiet jahrelang auf Omnibusse. Seit 2001 halt die Euregiobahn an vier (Aachen Eilendorf, Aachen-Rothe Erde, Aachen Hbf und Aachen West), seit 2004 (Aachen Schanz) an funf Bahnhofen bzw. Haltepunkten im Stadtgebiet Aachen, bedient jedoch weder die innerstadtischen Strecken mit der hochsten Fahrgastfrequenz noch erschließt sie das Aachener Stadtzentrum.
Die Buslinien und die Euregiobahn sind in den Aachener Verkehrsverbund (AVV) integriert und fahren auch ins benachbarte Ausland, wie z. B. nach Heerlen (NL), Kerkrade (NL), Kelmis (B) oder Eupen (B). Es gibt mehrere Schnellbuslinien u. a. nach Alsdorf/Aldenhoven/Julich (Linie 220/SB20), Heerlen (Linie 44), Eschweiler (Linie 52), Roetgen-Simmerath (Linie SB63), Roetgen-Monschau (Linie SB66) Stolberg (Linie X25), Walheim (Linie X35), Herzogenrath (Linie X47), Baesweiler (Linie X51) und Maastricht (Linie 350 der niederlandischen Arriva).
Den OPNV in der Stadt betreibt die ASEAG (Aachener Straßenbahn und Energieversorgungs-AG) mit insgesamt 118 Buslinien (Stand 2023). Die Linie 14 wird gemeinsam mit der belgischen TEC (Transport en Commun), die Linie 44 mit der niederlandischen Abteilung der Arriva durchgefuhrt. Dreh- und Angelpunkte des Aachener Liniennetzes sind der Bushof und der Elisenbrunnen, die von vielen der Aachener Buslinien angefahren werden.
In Aachen gibt es ein gesondertes Nachtbusnetz. Dieses besteht aus zehn Linien (N1 bis N9 und N60), die die bedeutendsten Verkehrsbeziehungen auf gegenuber dem Tagesbetrieb modifiziertem Weg bedienen. Die Nachtlinien verkehren in den Nachten auf Samstage, Sonntage und Feiertage jeweils um 01:30, 02:30 und 03:30 Uhr vom Elisenbrunnen/Bushof. Die Linienfuhrung verlauft dabei sternformig aus der Stadt heraus.
Seit dem September 2005 wurden zwei Doppelgelenkbusse des Typs Van Hool AGG 300 auf den Linien 5 und 45 zwischen Uniklinik und Driescher Hof bzw. Brand eingesetzt. Im Februar 2008 wurden aufgrund des erfolgreichen Probebetriebes sechs weitere Busse dieses Typs fur den Verkehr auf den beiden Linien in Dienst gestellt. Ende 2019 wurden dieser Bustyp bei der ASEAG ausgemustert. Auch beim CHIO Aachen und bei Spielen der Alemannia bietet die ASEAG den Gasten die Moglichkeit, vom Aachener Hauptbahnhof bis zum Sportpark Soers mit dem C-Shuttle, der zumeist mit CapaCity bedient wird, befordert zu werden.
Ausgehend von Uberlegungen, die Neubaugebiete von RWTH Aachen, Campus Melaten und Campus West sowie das Universitatsklinikum/Medizinische Fakultat der Hochschule mit dem Zentralcampus am Templergraben und der Innenstadt zu verbinden, wurden der Offentlichkeit neue Planungen zum Bau einer Stadtbahn vorgestellt. Zudem sollte so die Straßenbahn wieder eingefuhrt werden. Zu Beginn war fur die sogenannte Campusbahn eine Linie vom Universitatsklinikum uber Campus Melaten, Campus West, Zentralcampus zum Aachener Bushof, weiter uber Bahnhof Rothe Erde und Trierer Platz nach Brand vorgesehen. Im Rahmen des sogenannten Zielkonzepts war eine zweite Linie von Vaals (Grenze) nach Wurselen (Kaninsberg) angedacht. Hierzu fand am 10. Marz 2013 ein Ratsburgerentscheid statt. Dabei ergab sich bei einer Wahlbeteiligung von etwa 43 Prozent eine Zweidrittelmehrheit gegen die Campusbahn. Die entsprechenden Planungen wurden danach eingestellt.
Das Fernbusunternehmen FlixBus DACH GmbH bietet in Aachen Anbindungen an fast alle großeren Stadte Europas, wie auch Linien zu innerdeutschen Zielen.
Seit Dezember 2017 wird eine flexible Buslinie, der NetLiner, im Aachener Suden angeboten, nachdem der NetLiner bereits im Raum Monschau als Rufbus eingefuhrt wurde. Zudem wird der NetLiner auch im Aachener Norden und im Stadtteil Haaren angeboten.
Seit 2021 gibt es einen Fahrgastbeirat fur das Stadtgebiet Aachen.
Straßenanbindung Am Autobahnkreuz Aachen treffen sich die Bundesautobahnen A 4, A 44 und A 544. Die A 4 fuhrt nach Koln sowie uber den Grenzubergang Vetschau in die Niederlande, die A 44 nach Dusseldorf sowie nach Belgien. Die A 544 verbindet das Kreuz Aachen mit dem Europaplatz im Osten Aachens. Als Europastraße E 40 ist die A 4 von Koln bis zum Aachener Kreuz und ab dort die A 44 in Richtung Belgien beschildert. Die E 314 fuhrt vom Grenzubergang Vetschau bis zum Autobahnkreuz Aachen. Ferner fuhren die Bundesstraßen B 1, B 1a, B 57, B 258 und B 264 durch das Stadtgebiet.
Aufgrund von Bruckenarbeiten, ist die A 544 seit Ende Januar 2024 nicht mehr befahrbar und gesperrt. Ein Abschluss der Arbeiten (und eine somit zu erfolgende Freigabe fur den Straßenverkehr) ist fur September 2025 zu erwarten.
Fahrrad Die Stadt Aachen ist ein Mitglied der Arbeitsgemeinschaft fußganger- und fahrradfreundlicher Stadte, Gemeinden und Kreise in Nordrhein-Westfalen. Trotz des sehr hohen Studentenanteils ist der Fahrradverkehr im Vergleich zu anderen studentisch gepragten Stadten gering, was mit den starken Steigungen im Innenstadtbereich und der starken Streuung von Universitatsgebauden uber das Stadtgebiet zusammenhangt. Seitdem im Jahr 2019 der Stadtrat die Initiative des Radentscheides Aachen ubernommen hat, treibt die Stadt den Ausbau der Radinfrastruktur voran.
Die Stadt Aachen ist an eine Reihe von Radwanderwegen angeschlossen:
Die 524 Kilometer lange Wasserburgen-Route verbindet mehr als 130 Burgen am Rand der Eifel und in der Kolner Bucht.
Die Grunroute fuhrt auf 370 km entlang der schonsten Naturgebiete zwischen Beringen in Belgien, Heerlen in den Niederlanden und Duren in Deutschland durch das Aachener Revier, eines der ehemals großten Steinkohlereviere Europas.
Der Vennbahnradweg fuhrt, großenteils auf der Trasse der alten Vennbahn, von Aachen durch das deutsch-belgische Grenzgebiet bis ins Großherzogtum Luxemburg.
Die Fußballroute NRW startet in Aachen und fuhrt 800 Kilometer quer durch Nordrhein-Westfalen. Sie ist der bislang einzige unter einem popularen und landesubergreifenden Thema angelegte Erlebnisradweg in NRW. Die Sagenroute des Deutschen Fußballs erschließt neben fußballerischen Kultorten wie der Veltins-Arena in Gelsenkirchen oder dem Borusseum im Dortmunder Westfalenstadion und naturlich dem Aachener Tivoli auch die touristischen Highlights in NRW.
Die 2-Lander-Route (kurz 2LR) schlangelt sich auf 270 Kilometern zwischen Aachen und Nijmegen durch das Land an Maas und Niederrhein. Als Route mit den vielen Gesichtern bietet die 2LR einen Mix aus Natur und Kultur.
Die 480 Kilometer lange Kaiser-Route verlauft von Aachen nach Paderborn und ist nach Karl dem Großen benannt. Der Routenverlauf orientiert sich an der mutmaßlichen Route, die das kaiserliche Heer im Jahr 775 auf seinem Kreuzzug in das Gebiet der Sachsen nahm.
Die 1045 Kilometer lange Mittelland-Route (D-Route 4) fuhrt von Aachen uber Bonn, Siegen, Erfurt, Jena und Chemnitz nach Zittau.
Die 733 Kilometer lange Pilgerroute (D7) fuhrt von Aachen uber Koln, Dusseldorf, Duisburg, Munster, Osnabruck, Bremen und Hamburg nach Flensburg.
Luftfahrt Rund 30 km vom Stadtzentrum entfernt liegt in den Niederlanden der internationale Maastricht Aachen Airport, der unter anderem von der Transavia und von Ryanair (von/nach Girona, Valencia und Pisa) im Charterverkehr angeflogen wird. Fur kleinere Flugzeuge ist der Flugplatz Aachen-Merzbruck ausgelegt. Die Flughafen Koln/Bonn (90 km) und Dusseldorf (90 km) konnen vom Aachener Hauptbahnhof mit der Linie RE 1 sowie mit vereinzelten nachtlichen Fahrten der Linien RE 4 und S 13 erreicht werden. Aufgrund der Zuganbindung wurden auch die bis dahin bestehenden regelmaßigen Busverbindungen (Airport-Aixpress) zum 31. Oktober 2004 eingestellt. Außerdem gibt es noch den belgischen Flughafen Luttich in etwa 50 km Entfernung.
= Trinkwasserversorgung =
Die Gewinnung, Aufbereitung und Verteilung des Trinkwassers wird von der STAWAG (Stadtwerke Aachen AG) ubernommen. Das Trinkwasser fur Aachen wird zu etwa einem Viertel aus Grundwasser gewonnen, der Rest stammt aus dem Oberflachenwasser mehrerer Talsperren und wird von der Tochtergesellschaft WAG Nordeifel bezogen.
Die vier Grundwasserwerke Eicher Stollen , Brandenburg, Schmithof und Reichswald versorgen uberwiegend die Aachener Innenstadt, die umliegenden Ortsteile erhalten ihr Wasser aus der Dreilagerbachtalsperre, der Kalltalsperre, dem Obersee der Rurtalsperre sowie der Wehebachtalsperre. Fur dessen Aufbereitung sind die Wasserwerken Roetgen und Wehebachtalsperre zustandig.
Die Aufbereitungsanlage Roetgen arbeitet mit Ultrafiltration. Membranen mit einer Porengroße von 0,00002 mm filtern Eisen, Mangan und Mikroorganismen aus dem Rohwasser heraus. Die Aufbereitungskapazitat liegt bei 6.000 m³/h. In der Anlage Wehebachtalsperre wird mit einer zweistufigen Schnellfiltration gearbeitet. Hier konnen stundlich 3.000 m³ Rohwasser aufbereitet werden.
Bedingt durch die unterschiedliche Herkunft des Wassers gibt es im Stadtgebiet auch zwei verschiedene Bereiche der Wasserharte: das Grundwasser ist dem Hartebereich „mittel“ zuzuordnen, das Talsperrenwasser ist „weich“.
Nach der Aufbereitung gelangt das Trinkwasser in das 1.400 km lange Leitungsnetz. Hier sind sechs Wasserspeicher mit einem Gesamtvolumen von ca. 46.000 m³ eingebaut, die Verbrauchsspitzen abdecken und auch der Druckerhaltung im Netz dienen.
Der Brutto-Verbrauchspreis liegt 2021 bei 2,12 Euro je Kubikmeter.
= Abwasserentsorgung =
Die Klaranlage der Stadt liegt in der Soers, im Norden der Stadt. Sie ist fur 458.000 Einwohnerwerte ausgelegt und wurde um eine Vierte Reinigungsstufe zur Beseitigung von Spurenstoffen erweitert.
Medien = Printmedien =
Die beiden Tageszeitungen Aachener Nachrichten (die erste deutsche Nachkriegszeitung) und Aachener Zeitung (bis Marz 1996 Aachener Volkszeitung) erschienen beide im Zeitungsverlag Aachen. Bis 1975 erschien noch die Aachener Zeitung/NRZ mit einem Lokalteil fur Aachen-Stadt und -Land. Nachdem bereits seit langerem die Redaktionen aus wirtschaftlichen Grunden großtenteils zusammengelegt worden waren, verkundete im September 2022 der Verlag, dass Aachener Zeitung und Aachener Nachrichten zu Beginn des Jahres 2023 zu einem Blatt unter dem Namen Aachener Zeitung verschmolzen werden. Ende Marz war dieser Prozess abgeschlossen, und die Aachener Nachrichten stellten ihr Erscheinen ein.
Außerdem erscheinen in Aachen mehrere monatliche, kostenlose Stadtmagazine: Bad Aachen, Klenkes sowie das zweimonatlich, ebenfalls kostenlos erscheinende Familien- und Kindermagazin King Kalli. Daruber hinaus gab es zwei Anzeigenwochenblatter, die ebenfalls zum Aachener Zeitungsverlag gehorten: Super Mittwoch (fruher Aachener Woche) und Super Sonntag, die, nachdem der Super Mittwoch bereits einige Jahre zuvor eingestellt worden war, im Zuge der Zusammenlegung 2022/23 nur noch einmal pro Woche als Zeitung am Sonntag erscheint.
= Nachrichtenagentur =
Die international renommierte Nachrichtenagentur Reuters mit dem spateren Hauptsitz in London wurde 1850 von Paul Julius Reuter in Aachen gegrundet (seit 17. April 2008 Thomson Reuters, New York).
Außerdem war nach dem Zweiten Weltkrieg die erste deutsche Journalistenschule in Aachen beheimatet.
Der Verlag Meyer & Meyer, der vornehmlich Sport-Sachbucher herausgibt, hat seinen Sitz in Aachen.
= Rundfunk und Fernsehen =
Aachen ist Sitz eines Studios des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Hier werden die auf WDR 2 wochentags stundlich ausgestrahlten Kurznachrichten fur die Region Aachen produziert, ebenso wie das WDR-Fernsehmagazin Lokalzeit aus Aachen, das von Sonja Fuhrmann, Mareike Bokern und Ralf Raspe moderiert wird. Raspe beendete seine Moderatorentatigkeit bei der Lokalzeit am 21. August 2020. Mit center.tv gab es seit dem 5. Mai 2009 einen lokalen Fernsehsender fur Aachen und die Region, der sowohl im regionalen Kabelfernsehnetz von Unitymedia (Kanal S18) analog sowie digital (DVB-C), als auch als Live-Stream im Internet weltweit empfangen werden konnte. Der Betrieb wurde am 1. April 2014 eingestellt. Der TV-Lernsender nrwision bundelt in seiner Mediathek Fernsehsendungen uber Aachen bzw. von Fernsehmachern aus Aachen.
In Aachen sendeten zwei Lokalradios. Zum einen Radio Aachen (100,1 MHz) mit Sitz in der zentrumsnahen Bahnhofstraße, und zum anderen Antenne AC mit Sitz im benachbarten Wurselen-Broichweiden. Beide Sender hatten sich erfolglos vom Mantelprogramm Radio NRW getrennt, ubernahmen aber wieder das Programm von Radio NRW. Dass eine verhaltnismaßig kleine Stadt wie Aachen zwei lokale Radiosender betreibt, liegt an der ursprunglichen Struktur des Lokalfunksystems in NRW, das fur jeden Kreis und jede kreisfreie Stadt eine eigene Station vorsah: Die Frequenz UKW 100,1 (Sender Mulleklenkes) war dabei fur die Stadt Aachen gedacht, die Frequenz 107,8 (Sender Aachen-Stolberg) fur den Kreis Aachen.
Daruber hinaus sendet seit dem 3. Mai 2006 das Hochschulradio Aachen (Slogan: „Wir sind die Anderen“) auf der Frequenz 99,1 MHz mit Sendestandort Rutscher Straße auf einem Hochhaus. Im Kabelnetz war der Sender auf 95,35 MHz zu horen. Das Hochschulradio erhielt am 24. Marz 2006 eine Lizenz von der Landesanstalt fur Medien Nordrhein-Westfalen und sendet etwa vier Stunden taglich ein moderiertes Live-Programm. Zu den ubrigen Zeiten wird Musik aus dem Computer abgespielt. Die musikalische Auswahl ist ganz wesentlich von unkommerziellem Stil mit einem Schwerpunkt bei elektronischer Musik. Der Sender wird aus einem Beitrag von 0,50 Euro finanziert, die jeder Student der RWTH mit der Ruckmeldung bezahlen muss. Seit dem 4. Oktober 2010 sendet Antenne AC und ist damit der Nachfolger von 107.8 Antenne AC und Radio Aachen.
Wahrend der 5. Jahreszeit, vom 7. Januar bis Aschermittwoch, sendete bis 2003 Radio Alaaf (97,7 MHz) 24 Stunden Ocher Karnevalshits in Zusammenarbeit mit Radio Aachen und Betreiber Gottfried Kern. 2009 wurde der Sendebetrieb via Internet mit Sitz in Wurselen-Broichweiden wieder aufgenommen.
Aufgrund der Grenznahe ist außerdem eine Vielzahl belgischer und niederlandischer Sender zu empfangen, darunter auch deutschsprachige Privatradios aus Ostbelgien. So u. a. das in der Region sehr beliebte 100’5 Das Hitradio und Fantasy Dance FM 96.7, das jedoch am 26. Februar 2020 eingestellt wurde.
Offentliche Einrichtungen Aachen ist Sitz folgender Institutionen und Einrichtungen beziehungsweise Korperschaften des offentlichen Rechts:
Handwerkskammer Aachen – Kammerbezirk: Stadt Aachen und Kreise Aachen, Heinsberg, Duren und Euskirchen
Industrie- und Handelskammer Aachen – Kammerbezirk: Stadt Aachen und Kreise Aachen, Heinsberg, Duren und Euskirchen
Justizvollzugsanstalt Aachen, mit 865 Haftplatzen eine der großten des Landes NRW
Justizzentrum Aachen, 2004–2007 erstellte Erweiterung des alten Gerichtsgebaudes an Stelle des alten Gefangnisses, seit Dezember 2007/Januar 2008 Sitz aller in Aachen ansassigen Gerichte (Landgericht Aachen, Amtsgericht Aachen, Arbeitsgericht Aachen, Verwaltungsgericht Aachen, Sozialgericht Aachen) und der Staatsanwaltschaft Aachen.
Universitatsklinikum Aachen, eine Anstalt des offentlichen Rechts
Wetterwarte Aachen, Klimareferenzstation des Deutschen Wetterdienstes in Aachen-Orsbach
= Medizinische Versorgung =
Das großte Krankenhaus in Aachen ist das Universitatsklinikum Aachen am westlichen Stadtrand. Es ist das großte zusammenhangende Krankenhausgebaude Europas. Sein Bau wurde 1971 begonnen, 1985 wurde es eingeweiht. Wegen der Kombination von Lehre, Forschung und Krankenversorgung unter einem Dach ist es eines der großten Krankenhausgebaude uberhaupt. Die Asthetik seiner außergewohnlichen Architektur herausragender Aufzugsschachte und extern wie intern unverkleidet verlaufender Luftungsrohren ist nicht unumstritten, wird jedoch immer wieder mit dem Centre Georges-Pompidou verglichen und fuhrte dazu, dass das Gebaude als „bedeutendstes Zeugnis der High-Tech-Architektur in Deutschland“ unter Denkmalschutz gestellt wurde.
Zu den weiteren Krankenhausern in Aachen zahlen
das Franziskushospital am Morillenhang in der Innenstadt (seit Januar 2020 Bestandteil der Uniklinik)
das Luisenhospital am Boxgraben in der Innenstadt (u. a. Lungenklinik)
das Marienhospital im Stadtteil Burtscheid (u. a. Gynakologie)
das Alexianer-Krankenhaus in der Innenstadt (Psychiatrische Klinik)
Bildung und Forschung = Technische Hochschule =
Die Rheinisch-Westfalische Technische Hochschule Aachen (RWTH), die 1870 unter dem Namen Koniglich Rheinisch-Westphalische Polytechnische Schule zu Aachen gegrundet wurde, ist eine der großten und traditionsreichsten Technischen Hochschulen Europas. Neben den naturwissenschaftlich-technischen Fachern und der Medizin werden auch mehrere Sprachen, diverse Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Architektur angeboten. Daruber hinaus veranstaltet das Burgerforum RWTHextern regelmaßig Vortrage fur interessierte Burger, um Ergebnisse und Entwicklungen aus Forschung und Lehre nach außen zu tragen.
= Fachhochschule =
Die zweitgroßte Aachener Hochschule ist die 1971 gegrundete FH Aachen mit den Standorten Aachen und Julich. Die Fachhochschule verfugt uber zahlreiche auch internationale Studiengange in vielen naturwissenschaftlich-technischen Fachern sowie in den Wirtschaftswissenschaften und in Design.
= Hochschule fur Musik und Tanz Koln =
Aachen ist auch Standort einer Abteilung der Hochschule fur Musik und Tanz Koln. Die Abteilung Aachen, das ehemalige Grenzlandkonservatorium Aachen, zeichnet sich neben ihrer qualifizierten Lehrtatigkeit insbesondere durch eine intensive Zusammenarbeit mit der stadtischen Oper und dem Sinfonieorchester der Stadt Aachen aus, die durch einen Kooperationsvertrag seit 1993 fest geregelt ist. So finden hier von Fall zu Fall beispielsweise gemeinsame Opernproduktionen, aber auch spezielle kunstlerisch-musikalische Projektarbeiten statt. Ebenso bietet das Theater Aachen den Musikstudentinnen und Musikstudenten die Gelegenheit, berufsbezogene Praktika in ihren Abteilungen zu absolvieren.
= Theaterschule Aachen fur Schauspiel, Regie und Musical =
Die Theaterschule Aachen ist eine BAfoG-berechtigte anerkannte Berufsfachschule. Auch sie profitierte in den vergangenen Jahren von der Regelung des Kooperationsvertrages der Hochschule fur Musik und Tanz Koln, innerhalb des Theaters Aachen berufsbezogene Praktika in seinen Abteilungen zu absolvieren. Sie hat ihren Sitz in den Raumen der Barockfabrik.
= Katholische Hochschule =
Die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (KatHO NRW, bis 2008 KFH NW) wurde 1971 (als Katholische Fachhochschule NW) gegrundet, indem mehrere Hohere Fachschulen fur Sozialarbeit, Sozialpadagogik und Heilpadagogik und ein Institut fur Religionspadagogik zu einer Fachhochschule zusammengefasst wurden. Die Hochschule nimmt im bundesdeutschen Vergleich des Studiums der Sozialen Arbeit im Hochschulranking CHE regelmaßig Spitzenplatze ein. Neben Aachen befinden sich weitere Abteilungen dieser Hochschule in Koln, Munster und Paderborn. Damit ist die KatHO NRW die großte deutsche, staatlich anerkannte Hochschule in kirchlicher Tragerschaft.
Die Katholische Hochschule fur Kirchenmusik St. Gregorius geht zuruck auf die 1881 gegrundete Kirchenmusikschule St. Gregorius, die 2000 in eine Hochschule umgewandelt wurde und im Wintersemester 2005/2006 noch 22 Studenten hatte – zum 31. Marz 2007 wurde sie jedoch geschlossen. Trager dieser Hochschule waren das Erzbistum Koln sowie die Bistumer Aachen, Essen und Trier.
Die Schwestern vom armen Kinde Jesus grundeten im September 1967 die Fachschule Clara Fey (Clara-Fey-Schule) fur Heimerziehung. 1970 wurde sie in eine Fachschule fur Sozialpadagogik umgewandelt und in dieser Form 22 Jahre von Schwester Leonie geleitet. 1991 wurde die Schule dem Bistum Aachen als neuem Trager unterstellt. Unter dem neuen Schulleiter, Nottebaum, wurde zusatzlich Elementarerziehung als neuer Ausbildungszweig angeboten. 2001 kam der Bildungsgang Einjahrige Berufsfachschule hinzu. 2002 wurde das Ausbildungsangebot um die Hohere Berufsfachschule im Gesundheits- und Sozialwesen erweitert. Die Schule ist von anfangs acht auf nunmehr 240 Schuler angewachsen. Ende 2004 gab das Bistum Aachen die Schließung der Schule im Jahre 2007/2008 bekannt. Damit endet die 40-jahrige Geschichte der Clara-Fey-Schule.
= Weitere Einrichtungen =
Weitere Bildungseinrichtungen sind:
die Aachener Schauspielschule (ASS)
die Volkshochschule Aachen (VHS)
das Werk- und Bildungszentrum Bleiberger Fabrik
das Fraunhofer-Institut fur Lasertechnik (ILT)
das Fraunhofer-Institut fur Produktionstechnologie (IPT)
die FOM Hochschule
das Fraunhofer-Institut fur Molekularbiologie und Angewandte Oekologie (IME)
das ehemalige Staatliche Umweltamt Aachen (StUA) (jetzt Außenstelle der Bezirksregierung Koln)
das Textiles & Flooring Institute GmbH (TFI) – Deutsches Teppich-Forschungsinstitut e. V.
die Hochschule fur Polizei und offentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen (HSPV)
= Treffpunkt der Wissenschaft =
Mit dem Thema Energie Leben – Genug LebensEnergie fur alle? gehorte Aachen zu den zehn deutschen Stadten zum Treffpunkt der Wissenschaft im Wissenschaftsjahr 2009.
Militar Aachen hat seit 1802 eine Geschichte als Garnisonsstandort. Von 1802 bis 1902 bestand im Bereich Kasernenstraße/Marienthaler Straße die Marienthalerkaserne, die in den Bauten des dortigen sakularisierten Karmeliterklosters eingerichtet worden war. Sie war Standort des II. Bataillon des 5. Westfalischen Infanterie-Regiments Nr. 53, das Ende des 19. Jh. in die rote und Gelbe Kaserne verlegt wurde. 1881 war die Gelbe Kaserne gebaut worden, dann folgte als schlichter Zweckbau die Rote Kaserne. Truppen der Preußischen Armee, der franzosischen Armee, der Wehrmacht und der belgischen Armee waren hier stationiert.
Seit dem Abzug franzosischer Truppen nach dem Ersten Weltkrieg war das Rheinland vertragsgemaß als Pufferzone demilitarisiert. Nach einem Beistandspakt zwischen Frankreich und der Sowjetunion 1935 nutzte die nationalsozialistische Fuhrung diese Situation politisch, um im Jahr 1936 wieder deutsche Truppen im Rheinland zu stationieren. Mit der Verlegung eines ersten Bataillons wurde Aachen wieder zu Garnisonsstadt. Bald darauf begann der massive Ausbau der Westwall-Befestigungen in der Nahe der Stadt.
= Belgisches Militar in Aachen 1945–1992 =
Das Belgische Militar unterhielt nach dem Zweiten Weltkrieg in Aachen folgende Standorte:
Camp Pirotte
Camp Gabrielle Petit („Camp Hitfeld“)
Camp NAMEN (Teil der heutigen Theodor-Korner-Kaserne)
Camp Steenstrate (Teil der heutigen Theodor-Korner-Kaserne)
Camp RONSELE (die ehemalige Gallwitz- und heutige Dr.-Leo-Lowenstein-Kaserne)
Camp Tabora (die heutige Lutzow-Kaserne)
= Bundeswehr =
Aachen ist Standort dreier Kasernen der Bundeswehr: der Dr.-Leo-Lowenstein-Kaserne, der Lutzow-Kaserne und der Theodor-Korner-Kaserne. Sie sind drei von vier Kasernen der Technischen Schule des Heeres. Im Rahmen der Neuausrichtung der Bundeswehr soll, gemaß dem Stationierungskonzept 2011, die Zahl der Dienstposten am Standort Aachen von 950 auf 800 sinken.
Fur die in Aachen existierenden Kasernen ist auf einem Gelande zwischen Brand und Stolberg (Brander Heide) ein Standortubungsplatz der Bundeswehr mit 224,9 ha Große vorgehalten. Primar dient er der Technischen Schule des Heeres (TSH). Ehemalige Standortschießanlagen der Aachener Kasernen sind zwischenzeitlich außer Betrieb.
Sehenswurdigkeiten = Aachener Dom =
Der ursprunglich als Pfalzkapelle Karls des Großen errichtete Aachener Dom ist das Wahrzeichen der Stadt Aachen. Der Kuppelbau wurde etwa im Jahr 800 vollendet und war rund 400 Jahre der großte freischwebende Kuppelbau nordlich der Alpen. Architektonisches Vorbild war die Basilika San Vitale in Ravenna, die 526 unter Erzbischof Ecclesius noch unter gotischer Herrschaft begonnen und 547 unter Bischof Maximian unter byzantinischer Herrschaft vollendet wurde. Der Marmorthron Karls des Großen steht noch heute im Obergeschoss des Aachener Oktogons, 30 deutsche Konige wurden in der Zeit zwischen 936 und 1531 auf ihm gekront.
Als ein Meisterwerk gotischer Baukunst gilt der Anbau der monumentalen Chorhalle aus dem Jahr 1414, deren Fenster mit einer Hohe von 27 Metern die hochsten dieser Bauepoche darstellen und mit ihren uber 1000 Quadratmetern Glasflache dem Bau den Spitznamen Glashaus von Aachen einbrachten. Im Zentrum des Chorpolygons steht der goldene Karlsschrein aus dem Jahr 1215 mit den Gebeinen Karls des Großen, hinter dem Altar der beruhmte Marienschrein. Er wurde 1239 vollendet und beinhaltet die vier Aachener Heiligtumer, die seit 1349 alle sieben Jahre zur Aachener Heiligtumsfahrt den Pilgern aus aller Welt gezeigt werden.
Hauptsachlich aus der Zeit der Hochgotik stammen die zahlreichen Kapellen, die im Laufe der Jahrhunderte angefugt wurden.
Die Schatzkammer des Aachener Doms birgt den bedeutendsten Kirchenschatz nordlich der Alpen. Neben dem Lotharkreuz (um 1000) und der silbernen, teils vergoldeten Karlsbuste (etwa 1349) wird hier der Marmorsarkophag ausgestellt, in dem Karl der Große 814 vermutlich bestattet wurde.
Das Ensemble aus Dom und Domschatz wurde 1978 als erstes deutsches Kulturdenkmal und zweites Kulturdenkmal weltweit in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.
= Aachener Rathaus =
Auf den Grundmauern der Palastaula der karolingischen Kaiserpfalz wurde im 14. Jahrhundert von der Aachener Burgerschaft unter Leitung ihres amtierenden Burgermeister Gerhard Chorus das gotische Rathaus erbaut. Nur der Granusturm zeugt von der ursprunglichen Bebauung aus der Zeit Karls des Großen.
Im ersten Stockwerk befindet sich der Kronungsfestsaal. Funf Fresken des Aachener Kunstlers Alfred Rethel schmucken die Wande, sie zeigen legendare Szenen aus dem Leben Karls des Großen. Weiterhin sind Kopien der Reichskleinodien (Reichsapfel, Reichskrone, Schwerter) und des Reichsevangeliars, einer Handschrift aus der Schule Karls des Großen, zu sehen.
Im Erdgeschoss zeugen reich ausgestattete Raume vom Glanz der freien Reichsstadt im 17. und 18. Jahrhundert, als das Rathaus zum barocken Stadtschloss umgebaut wurde.
An das Rathaus angelehnt sind kleinere Anbauten, die heute gemeinsam die Gaststatte Zum Postwagen bilden.
Im Zuge der Route Charlemagne wurden in den Jahren 2008 und 2009 fast alle Raumlichkeiten des Rathauses – wie etwa der Weiße Saal, der Ratssitzungssaal, der Kronungssaal, das Werkmeistergericht, der Friedenssaal und die Werkmeisterkuche – der Offentlichkeit zuganglich gemacht. Eine neue Dauerausstellung und der audiovisuelle Guide Aixplorer bieten die Moglichkeit, das Haus in seiner historischen Bedeutung zu erkunden.
= Mittelalterliche Stadtbefestigung =
Von der aus zwei Mauerringen und zahlreichen Turmen bestehenden Stadtbefestigung zeugen noch heute zahlreiche Uberbleibsel. Von den ehemals 11 machtigen Stadttoren sind zwei erhalten geblieben:
Das Ponttor am Ende der Pontstraße ist eine der wenigen noch erhaltenen mittelalterlichen Doppeltoranlagen des Rheinlands. Gebaut wurde es in der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts als Teil des außeren Mauerrings.
Aus dem Jahr 1257 stammt das am Ende der Franzstraße stehende Marschiertor, es gehort zu den großten noch erhaltenen Stadttoren Westeuropas. In fruher Zeit mit seinen Raumlichkeiten als Hauptwaffenplatz genutzt, wurde das Marschiertor im Laufe der Jahrhunderte fur die verschiedensten Zwecke in Anspruch genommen: Zeitweise als Rumpelkammer, zwischendurch als Obdachlosenheim, spater als Jugendherberge und schließlich auch als Heim der Hitlerjugend. Heute ist das große Stadttor in der Obhut der Stadtgarde Oecher Penn und wurde in den 1960er Jahren aufwandig restauriert.
Weitere erhaltene Bauwerke der alten Stadtbefestigung sind die Marienburg an der Ludwigsallee, der Lange Turm an der Turmstraße, der Lavenstein am Boxgraben, das Pfaffenturmchen in Nahe des Westparks, der Adalbertsturm am Kaiserplatz sowie Reste der Barbarossamauer an mehreren Stellen entlang des Grabenrings.
= Kirchengebaude =
Nach dem Dom ist die 1005 geweihte Propsteikirche St. Adalbert die zweitalteste Kirche der Stadt. Die auf eine Grundung des 9. Jahrhunderts zuruckgehende ehemalige Klosterkirche St. Kornelius im Stadtteil Kornelimunster wurde nach einem Brand im 14. Jahrhundert in mehreren Bauetappen zu der heutigen funfschiffigen Basilika ausgebaut. Die neben dem Dom stehende Kirche St. Foillan wurde 1480 an der Stelle eines aus dem 12. Jahrhundert stammenden Vorgangerbaus errichtet. Nach dem Stadtbrand von 1656 wurde die Kirche St. Peter 1717 im Barockstil neu errichtet. Im 18. Jahrhundert wurden auch die Burtscheider Kirchen St. Johann und St. Michael als Barockkirchen neu erbaut. Das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Frankenberger Viertel erhielt mit der Dreifaltigkeitskirche 1899 eine evangelische und mit der Herz-Jesu-Kirche 1910 eine katholische Kirche. Die 1930 erbaute Kirche St. Fronleichnam war der erste moderne Kirchenbau in Aachen. Als bislang jungster katholischer Kirchenneubau in Aachen wurde 1979–1981 die Marienkirche an der Stelle eines neogotischen Vorgangerbaus errichtet, die jungste evangelische Kirche ist die 2018 eingeweihte Genezareth-Kirche an der Vaalser Straße.
= Grashaus =
Am Fischmarkt steht das sogenannte Grashaus, dessen Fassade vom altesten Rathaus der Stadt stammt und auf das Jahr 1267 datiert wird, aber vermutlich auf noch alteren Grundmauern steht.
Es diente nach dem Bau des neuen Rathauses (Fertigstellung 1349) erst als Gerichtsstatte, spater aber auch als Gefangnis und Richtplatz. 1886 erhielt das Gebaude seine heutige Gestalt mit den drei Spitzbogenfenstern und wurde zum Stadtarchiv umgebaut. In den sieben spitzbogigen Figurennischen finden sich die Standbilder der sechs Konigswahler, die im Jahre 1273 Rudolf I. von Habsburg (dieser ist die siebente Figur in der Mitte) zum Konig wahlten. Lange Zeit hat man geglaubt, dass es sich bei den Statuen um sieben Kurfursten handelte, doch diese sind 1298 erstmals vollstandig zusammengetreten, um Albrecht I. von Osterreich zum Konig zu wahlen. Die Statuen sind lediglich Kopien, die 1882 im Rahmen einer umfassenden Restaurierung des Figurenfrieses nach Planen des Aachener Baumeisters Robert Ferdinand Cremer ersetzt wurden. Nur eine einzige originale Figur ist noch erhalten, die anderen gelten als verschollen.
Bis 2011 war im Grashaus das Stadtarchiv Aachen untergebracht. Im Rahmen des Projekts Route Charlemagne reprasentiert das Grashaus inzwischen das Thema Europa und beherbergt unter anderem ein Europaisches Klassenzimmer.
= Haus Lowenstein =
Das Haus Lowenstein am Markt wurde etwa zur gleichen Zeit errichtet wie das Aachener Rathaus und vermutlich 1345 fertiggestellt. Es ist neben Dom und Rathaus eines der wenigen gotischen Bauwerke, die den großen Stadtbrand von 1656 uberstanden.
Die ursprungliche Nutzung des Hauses ist unbekannt. Die noch erhaltenen staufischen Kellergewolbe, die aus dem gleichen Stein und im gleichen Stil angefertigt wurden, wie im wenige Jahrzehnte alteren Haus Brussel direkt gegenuber auf der anderen Straßenseite der Pontstraße, deuten darauf hin, dass es sich um eine Gaststatte oder ein Weinhaus gehandelt haben konnte. Spater diente es wohlhabenden Aachener Burgern als Wohnhaus.
Eine Besonderheit des heute von der Stadt genutzten Hauses Lowenstein ist die Figur des heiligen Nepomuks in der Nische unterhalb des Eckturmchens. Sie stammt aus dem Jahr 1747 und erinnert an den bohmischen Kleriker Johannes Nepomuk.
Heute wird das Haus Lowenstein unter anderem durch das Zentrale Karnevalsarchiv und -Museum des Ausschusses Aachener Karneval genutzt.
= Elisenbrunnen =
Am Friedrich-Wilhelm-Platz finden sich die Wandelhallen des Elisenbrunnens. Der klassizistische Bau des Landesbauinspektors Johann Peter Cremer und des Berliner Baumeisters Karl Friedrich Schinkel wurde 1827 fertiggestellt und ist neben Rathaus und Dom eines der Wahrzeichen der Stadt. Im Zweiten Weltkrieg vollstandig am 14. Juli 1943 zerstort, wurde er 1953 originalgetreu wieder aufgebaut.
Der Elisenbrunnen besteht aus einer offenen Wandelhalle mit Saulenvorbau und jeweils einem Pavillon links und rechts mit mehreren Raumlichkeiten. Aus zwei Trinkbrunnen fließt das warme, stark schwefelhaltige Thermalwasser der Kaiserquelle (52 °C). Bis 1938 wurde das Thermalwasser im Untergeschoss der Kuppelhalle in einem Trinkraum ausgeschenkt. An die Prominenten, die als Kurgaste das Wasser der Kaiserquelle tranken, erinnern 1883 angebrachte, steinerne Tafeln in der Halle. Darunter sind unter anderem Peter der Große, Friedrich der Große, Giacomo Casanova und Georg Friedrich Handel.
= Weitere sehenswerte Bauwerke =
In Burtscheid stehen drei wichtige Bauwerke des Aachener Baumeisters Johann Joseph Couven nah beieinander: die Kirchen St. Johann-Baptist und St. Michael oberhalb des Burtscheider Kurparks und das Gartenhaus Nuellens direkt im Burtscheider Kurpark. Der Pavillon wurde erst 1961 dort aufgebaut. Ursprunglich stand dieses 1740 erbaute Bauwerk im Garten des Hotel Nuellens, dann ab 1927 am Seilgraben Nr. 34 als Teil des damaligen ersten Couven-Museums im Haus Fey, das wahrend des Zweiten Weltkrieges zerstort wurde. Nach Beseitigung der Ruine wurde der Pavillon abgebaut und bis zu seinem Wiederaufbau an heutiger Stelle in den Bauhofen der Stadt gelagert. In der Jakobstraße steht das Haus zum Horn sowie das Haus Zum guldenen Verken, das das ehemalige Marianneninstitut beherbergte; beide Gebaude sind denkmalgeschutzte Wohnhauser. Aachens hochste Kirche ist mit 87 Metern die katholische Kirche St. Jakob am Jakobsplatz. Mit dem Bau dieser Kirche wurde 1881 begonnen. 1886 wurde die Kirche, die zum Teil aus Steinen der alten Stadtmauer errichtet wurde, vollendet und geweiht. Ihr Turm wurde erst nach dem Abriss der alten Jakobskirche fertiggestellt. Am Umgang des Turmes in etwa 80 Metern Hohe befinden sich die sogenannten Hubertusleuchten. Am Hubertusfest (3. November) sowie an Weihnachten und Ostern sieht man den bunten Lichterkranz uber die ganze Stadt aufleuchten.
Weitere denkmalgeschutzte Bauwerke in Aachen sind unter anderem das Haus Monheim, der Granusturm, das Haus Goldene Rose, der Domkeller, das Burghaus Classen, das Alte Kurhaus, das Buchelpalais und das Haus Rote Burg.
= Brunnen und Denkmaler =
Vor dem Rathaus befindet sich der Karlsbrunnen, der Karl den Großen mit Reichsapfel und Zepter zeigt. Er ist das alteste noch in Funktion befindliche Brunnendenkmal der Stadt. Die Brunnenschale wurde im Jahr 1620 in Aachen gegossen, die barocke Steinfassung (1735) und die bronzenen Fische (1738) wurden spater vom Aachener Stadtbaumeister Johann Joseph Couven angefugt. Beim Einmarsch der Franzosen im Jahr 1792 wurde die Karlsstatue als Kriegsbeute nach Paris verschleppt, konnte aber durch erfolgreiche Verhandlungen des amtierenden Aachener Maire Johann Wilhelm Gottfried von Lommessem im Jahr 1804 zuruck erlangt und ein Jahr spater wieder feierlich aufgestellt werden.
Die Brunnenschale, von den Aachenern Eazekomp (zu hochdeutsch: Erbsenschussel) genannt, uberlebte als eines von wenigen Brunnendenkmalern der Stadt den Zweiten Weltkrieg. Nachdem alle Bronzefiguren zwecks Munitionsherstellung eingeschmolzen worden waren, wurde die Schale auf dem Gelande des Reitturniers in der Aachener Soers vergraben. Die Originalstatue Karls des Großen wurde in einer mit Sand befullten Kiste im Gewolbe des Rathauses versteckt. In den fruhen 1950er Jahren kehrten beide Elemente unbeschadet an ihren Platz zuruck, wobei die Statue seither nicht mehr auf das Rathaus blickt, sondern ihm den Rucken zuwendet. Spater jedoch wurde die Karlsstatue durch eine Kopie ersetzt. Das Original ist heute im Kronungssaal des Rathauses zu besichtigen.
In der Kramerstraße steht der Puppenbrunnen des Aachener Bildhauers Bonifatius Stirnberg aus dem Jahr 1975. Die mit Gelenken ausgestatteten Bronzefiguren laden besonders Kinder zum Spielen ein. Die Figuren symbolisieren typische Figuren des Aachener Lebens: Domherr, Marktfrau, Professor, Reitersmann, Harlekin und Modepuppe.
Der Kreislauf des Geldes liegt an der Ecke Hartmannstraße/Ursulinerstraße und wurde 1977 vom Bildhauer Professor Karl-Henning Seemann geschaffen. Die sechs Bronzefiguren am Brunnenrand zeigen den Umgang mit Geld, die Kreiselbewegung des Wassers steht fur den bestandigen Fluss des Geldes.
Am Holzgraben befindet sich das von Bildhauer Hubert Loneke 1970 geschaffene Klenkes-Denkmal. Der Begriff Klenkes steht fur den hochgereckten kleinen Finger, der bei den Aachenern besonders fruher, aber auch heute noch als Erkennungszeichen in aller Welt gilt. Er geht auf die damals bluhende Nadelindustrie zuruck, bei der der kleine Finger bei der Endkontrolle dazu genutzt wurde, schadhafte Nadeln mit dem kleinen Finger uuszeklenke, also auszuklinken.
Ebenfalls von Hubert Loneke stammt der Turelure-Lißje-Brunnen von 1967. Er steht an der Ecke Rennbahn/Klappergasse und stellt ein altes Aachener Kinderlied dar, wonach eine Gruppe von drei Jungen ein Madchen daran hindert, eine Toilette aufzusuchen, worauf schließlich ein kleines Bachlein durch die Klappergasse fließt.
Zwischen Elisenbrunnen und Markt befindet sich am Buchel der Bahkauvbrunnen, ein Denkmal einer Sagengestalt, die fruher durch die Aachener Bache gezogen ist und der Sage nach betrunkenen heimkehrenden Ehemannern auf den Rucken sprang.
Es finden sich zahlreiche weitere sehenswerte Brunnen und Denkmaler im gesamten Stadtgebiet, so z. B. der Huhnerdieb auf dem Huhnermarkt, der Wehrhafte Schmied an der Jakobstraße, das Fischpuddelchen am Fischmarkt und Hotmannspief an der Alexanderstraße. Insbesondere nachts unter Beleuchtung ist die hohe Fontane des großen Brunnens am Europaplatz besonders auffallig.
= Parkanlagen =
Der Elisengarten ist wegen seiner Lage direkt hinter der Trink- und Wandelhalle des Elisenbrunnens erwahnenswert. Er ist der einzige Park innerhalb des Alleenrings und wurde 2009 umgestaltet. Nachdem man bei den Vorarbeiten auf archaologisch interessante Funde aus Romerzeit und Mittelalter gestoßen war, hat sich die Stadtverwaltung entschlossen, dort Ausgrabungen stattfinden zu lassen, handelt es sich doch um die einzige Flache der Innenstadt, die in der Neuzeit nie bebaut wurde. Neben dem Elisengarten existieren in der stark bebauten Innenstadt von Aachen nur vereinzelt großere Grunflachen, wie der Lindenplatz und der Sandkaulpark.
Der Kurpark Monheimsallee liegt im Nordosten der Stadt hinter dem neuen Kurhaus, Quellenhof und Eurogress. Auf dem großzugig angelegten Gelande befindet sich reichlich Raum fur sportliche Aktivitaten, ein Grillplatz, die Carolus Thermen mit Biergarten, die ehemalige Station der Wetterwarte Aachen und ein kleiner Weinberg mit exakt 99 Weinstocken. Direkt an den Kurpark grenzt der Farwickpark.
Das zweite Kurzentrum der Stadt ist der Kurpark Burtscheid mit den Kurparkterrassen und Thermalbadehausern im Zentrum von Burtscheid. Vom Stadtteil Burtscheid aus (nahe dem Burtscheider Kurpark) fuhrt außerdem der Grungurtel Gillesbachtal bis zum Aachener Wald.
Im Herzen des Frankenberger Viertels mit seiner teilweise erhaltenen alten Architektur befindet sich der Frankenberger Park mit der Burg Frankenberg. Nicht weit davon entfernt ist der 1966 eroffnete Kennedypark mit den Saulen der ehemaligen Gelben Kaserne sowie der Skateranlage und einer Buhne zu finden.
Der Park auf dem Lousberg wurde bereits 1807 von der Aachener Burgerschaft angelegt und ist damit die alteste von Burgern errichtete Parkanlage Europas. Heute finden sich noch Reste der ursprunglichen Parkbebauung wie der Kerstensche Pavillon, der wahrend der franzosischen Besatzung im Jahr 1807 errichtete Obelisk und die verbliebenen Saulen der Belvedere. Aus dem Jahr 1956 stammt der 48 Meter hohe Wasserturm Belvedere. Bis Marz 2011 wurde die obere Etage als Gastronomieflache genutzt.
Im Westen der Stadt befindet sich der Westpark, er wurde 1882 von dem Textilfabrikanten Emil Lochner angelegt. Damals befand sich dort ein Zoo mit 50 Riesenschlangen, von dem heute allerdings nur ein Weiher geblieben ist.
Im Drimborner Waldchen befindet sich der Aachener Tierpark Euregiozoo. Auf 8,9 Hektar Flache beherbergt er uber 1200 Tiere in 210 Arten und einen zwei Hektar großen See.
Der Kaiser-Friedrich-Park rund um den Hangeweiher liegt im Suden der Stadt. Im Park gibt es einen Bootsverleih, ein Ausflugslokal und einen Spielplatz; direkt angrenzend befinden sich das Schwimm- und Freiluftbad Hangeweiher, eine Tennisplatzanlage, der Park des alten Klinikums und die Volkssternwarte.
Zahlreiche weitere kleine Parks (so z. B. der Von-Halfern-Park und der Ferberpark Burtscheid) finden sich außerhalb des Zentrums, außerdem erwahnenswert sind das Naherholungsgebiet Aachener Wald mit dem Dreilandereck Deutschland-Belgien-Niederlande sowie die Stauanlage Diepenbenden und der Stauweiher Kupferbach.
Kultur = Museen =
Centre Charlemagne Das Heimat- und Geschichtsmuseum der Stadt Aachen, ehemals in der Burg Frankenberg, ist seit 2014 in dem damals neu eroffneten Centre Charlemagne am Katschhof untergebracht. Die Dauerausstellung fuhrt durch verschiedene Epochen der Aachener Geschichte von Fruhzeit und romischer Antike uber die karolingische Zeit, bis in die Gegenwart. Daneben werden einem eigenen Bereich zweimal jahrlich wechselnd temporaren Ausstellungen zu einem Schwerpunktthema mit Bezug auf die Aachener Geschichte gezeigt.
Das Centre Charlemagne dient auch als zentrale Ausgangs- und Anlaufstelle fur die 2008 eingerichtete Route Charlemagne, ein museales und padagogisches Projekt, das die Wirkungsgeschichte Karls des Großen und die Stadtentwicklung Aachens in ihren europaischen Bezugen darstellt. Dom (Thema Religion), Rathaus (Macht), Grashaus (Europa), Couven- und Zeitungsmuseum (Lebenskultur und Medien) sowie der Elisenbrunnen (Badekultur) und das SuperC der RWTH Aachen (Wissenschaft) sind als Stationen ebenso in die Route Charlemagne integriert wie das Kulturfestival across the borders.
Aachener Domschatzkammer Die Aachener Domschatzkammer prasentiert den Kirchenschatz des Aachener Doms, eine der bedeutendsten Sammlungen kirchlicher Kulturschatze der Welt. Das Museum in der Tragerschaft des Aachener Domkapitels befindet sich in der historischen Innenstadt von Aachen in am Kreuzgang des Domes gelegenen Raumlichkeiten. Gezeigt werden Werke aus spatantiker, byzantinischer, karolingischer, ottonischer, staufischer und gotischer Zeit.
Couven-Museum Das Couven-Museum im Haus Monheim am Huhnermarkt beinhaltet eine bemerkenswerte Mobelsammlung aus Rokoko, Aachen-Lutticher Stil, fruhem Klassizismus, napoleonischem Empirestil und Biedermeier. Das Haus selbst wurde 1663 erbaut und im Jahr 1786 im Auftrag des Apothekers und Aachener Burgermeisters Andreas Monheim von Jakob Couven, dem Sohn des beruhmten Baumeisters Johann Joseph Couven, im Rokokostil umgebaut.
Ursprunglich wurde das Museum im Haus Fey 1929 eroffnet, welches jedoch wahrend des Zweiten Weltkrieges vollstandig zerstort und nicht wieder aufgebaut wurde. 1958 fand die Wiedereroffnung des Museums dann in den heutigen Raumlichkeiten statt. Im spater angegliederten Haus zum Lindenbaum befindet sich die historische Fliesensammlung.
Internationales Zeitungsmuseum Im Großen Haus von Aachen in der Pontstraße, einem der wenigen erhaltenen Aachener Burgerhauser aus gotischer Zeit, residiert das Internationale Zeitungsmuseum. Es befasst sich mit der internationalen Pressegeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.
Suermondt-Ludwig-Museum Das Suermondt-Ludwig-Museum ist nach seinen großten Stiftern Barthold Suermondt und dem Ehepaar Irene und Peter Ludwig benannt und wurde bereits 1883 vom Aachener Museumsverein gegrundet. Seit 1901 residiert es im Stadtpalais Villa Cassalette, benannt nach dem Bauherrn Eduard Cassalette, dem Enkel des Grunders der Aachener Kratzenfabrik Cassalette, Peter Joseph Cassalette, in der Wilhelmstraße. Die Sammlung verfugt neben Malerei und Skulpturen des 12. bis 20. Jahrhunderts und Tapisserien und Goldschmiedearbeiten auch uber umfangreiche Glasmalerei-Bestande vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert. Eine Antikensammlung mit dem Hauptthema der attischen Vasenmalerei sowie ein 10.000 Handzeichnungen, Aquarelle und Grafiken umfassendes Kupferstichkabinett mit Meisterwerken unter anderem von Albrecht Durer, Rembrandt und Francisco de Goya bis hin zu zeitgenossischen Kunstlern runden das Angebot ab.
Ludwig Forum fur Internationale Kunst Das Ludwig Forum fur Internationale Kunst befindet sich in der vormaligen Schirmfabrik Brauer in der Julicher Straße. Das im Bauhaus-Stil vom Aachener Architekten Josef Bachmann entworfene Gebaude wurde 1928 erbaut und im Jahr 1988 von der Stadt Aachen komplett entkernt und umgebaut. Die Basis des 1991 eroffneten Museums bildet die Sammlung moderner Kunst des Ehepaars Irene und Peter Ludwig. Weiterhin bietet das Museum wechselnde Ausstellungen angewandter Kunst, eine Bibliothek fur die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts, eine Restaurierungswerkstatt und den Skulpturenpark im Außenbereich. Der Verein der Freunde des Ludwig Forums verleiht alle zwei Jahre gemeinsam mit der Stadt Aachen den Kunstpreis Aachen.
Auto-Sammlung Gut-Hand Die Auto-Sammlung Gut-Hand in Aachen-Richterich war eine langjahrige museumsahnliche Sammlung von Oldtimern. Heinz Vogel sammelte ab 1960 alte Autos mit Schwerpunkt deutscher Hersteller. 1968 offnete er die Sammlung fur die Offentlichkeit. Wahrend einiger Jahre war die Sammlung regelmaßig samstags geoffnet, in anderen Jahren nur nach Vereinbarung. Ausgestellt waren etwa 35 Pkw und etwa 25 Nutzfahrzeuge. Besonderheit war ein Fafnir von 1911, der in Aachen produziert wurde. Nach dem Tod des Betreibers 2016 wurde die Sammlung aufgelost.
= Theater =
1822 wurde mit dem Bau des Theaters nach Planen von Johann Peter Cremer begonnen. Das Theater wurde 1825 eroffnet. Das bekannteste und großte Theater in Aachen verfugt mit Großem Haus, Kammerspielen und dem in der Morgensstraße gelegenen Morgens uber drei Spielstatten, an denen Opern, Operetten, Schauspiel, Musicals, Ballett, Konzerte und Lesungen stattfinden. Am Aachener Theater waren u. a. Herbert von Karajan (von 1935 bis 1942) und Wolfgang Sawallisch (von 1953 bis 1958) Generalmusikdirektoren. Von 2002 an leitete Marcus R. Bosch das Orchester, im August 2012 ubernahm Kazem Abdullah die Position, dessen Nachfolger wurde im August 2018 Christopher Ward.
Seit Beginn der Spielzeit 2023/2024 ist Elena Tzavara Generalintendantin der Aachener Buhnen.
Ferner finden sich in Aachen das Grenzlandtheater, das von der Grenzlandtheater Aachen des Kreises Aachen GmbH betrieben wird, die Aachener Stadtpuppenbuhne Ocher Schangche, mehrere kleine Theater, wie das Theater K., das DAS-DA-Theater, Theater 99, Theater Brand, Buhne 78, sowie verschiedene Kleinkunstbuhnen, Kabarett- und freie Theatergruppen (aixpertentheater, Blackout-Theater, Poetischer Anfall, Actor's Nausea, K(l)EINE KUNST, Ocher Nolde, Fliegender Wechsel – Improvisationstheater, Spurbar Theater und weitere). Mundartbuhnen der Stadt sind die Alt-Aachener Buhne und das Aachener Heimattheater.
= Musik =
Neben dem stadtischen Sinfonieorchester Aachen, das zuletzt unter seinen Dirigenten Marcus R. Bosch (Generalmusikdirektor 2002 bis 2012) und Kazem Abdullah (Generalmusikdirektor 2012 bis Juli 2017) uberregionale Beachtung fand und seit August 2018 von Christopher Ward geleitet wird, tragen vor allem einige international bekannte Chore wie der seit 1820 bestehende Sinfonische Chor Aachen, der Madrigalchor Aachen, der Junge Chor Aachen, Carmina Mundi, der Aachener Kammerchor, der Aachener Bachverein oder der Aachener Domchor und die Cappella Aquensis zum musikalischen Leben der Stadt bei. Daruber hinaus gibt es ein Jugendsinfonieorchester, Chor und Orchester des Collegium Musicum der RWTH Aachen und das Aachener Studentenorchester. Von 1959 bis 2017 gab es die Meisterkonzerte Aachen, durch die internationale Kunstler und Orchester in die Stadt kamen. Ab der Saison 2017/18 wurden sie eingestellt und ab 2018/19 gibt es ein neues Programm-Konzept. Traditionell findet seit 2009 alle zwei Jahre die Internationale Chorbiennale in Aachen statt.
Das Musikspektrum in Aachen reduziert sich nicht allein auf klassische Musik. Das Gesangsensemble einKlang z. B. steht fur moderne A-cappella-Arrangements und fur die Interpretation von Gospelmusik. Im Jazz hat sich die Aachen Bigband etabliert. Im Musikbunker Aachen, einem ehemaligen Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, stehen 120 Proberaume fur Bands und Musiker aller Musikrichtungen zur Verfugung. Uber das gesamte Musikleben seit der karolingischen Zeit berichtet das 2018 erschienene Buch Tonarten einer Stadt.
Fur die Anhanger des zeitgenossischen Tanzes wird seit 1993 das mittlerweile renommierte grenzuberschreitende Schrittmacher Festival veranstaltet, welches jahrlich uber zwei Wochen im Fruhjahr mit erstklassigen Tanzkompanien und einem umfangreichen Rahmenprogramm in Aachen, Heerlen und Kerkrade durchgefuhrt wird.
1959 eroffnete in Aachen die erste Diskothek Deutschlands unter dem Namen Scotch-Club.
Im Juli 1970 fand im Reitstadion der Soers eines der ersten großen kontinentalen Open-Air-Musikfestivals statt, das Open Air Pop-Festival Aachen, u. a. mit Pink Floyd und Deep Purple.
= Weitere Einrichtungen =
Kino Nach dem Zweiten Weltkrieg besaß Aachen eine Vielzahl an Kinos, die uber das gesamte Stadtgebiet verteilt waren. Aufgrund der Verbreitung des Fernsehens wurden im Laufe der Jahrzehnte viele Kinos geschlossen und auch umgebaut oder gar abgerissen. Die meisten heutigen Kinos in Aachen sind moderne Sale – historische Sale sind (bis auf eine Ausnahme, das Capitol am Seilgraben) heute nicht mehr zu finden.
Mit Stand April 2019 gibt es in Aachen 19 Sale an vier Spielstatten. Außerdem gibt es regelmaßige Freiluft-Filmvorfuhrungen an verschiedenen Stellen der Stadt und mit dem Filmstudio ein studentisches Kinoprojekt an der RWTH mit wochentlichen Filmvorfuhrungen. Zu einer kuriosen Situation kam es im Fruhsommer 2004, als der UFA-Palast in der Innenstadt seinen Spielbetrieb ohne große Vorankundigung aufgab. Zunachst gab es in der Stadt Aachen kein Kino, das aktuelle Spielfilme zeigte. Allerdings nahmen einige Programmkinos kurzfristig populare Spielfilme in ihr Programm auf. Auch gab und gibt es in der naheren Umgebung von Aachen genug Multiplex-Kinos.
Das gegenuber dem Stadttheater befindliche ehemalige Kino Elysee beherbergte spater eine Gastronomie und Diskothek, ist aber mittlerweile (2018) abgerissen.
Das aus dem Jahr 1950 stammende UFA-Kino Gloria-Palast wurde nach Aufgabe und Leerstand als Gemuseverkaufsstand genutzt und im Jahr 2008 fur den Neubau der Kaiserplatz-Galerie (heute AquisPlaza) komplett abgerissen.
Sonstiges Spielbank Aachen im Tivoli-Stadion
Eurogress Aachen: Internationales Veranstaltungs- und Kongresszentrum, direkt am Stadtpark gelegen.
Altes Kurhaus im Stadtzentrum mit Klangbrucke und Ballsaal: Konzerte, Ausstellungen etc.
Kulturzentrum Barockfabrik
Kulturzentrum Bleiberger Fabrik
Musikschule der Stadt Aachen
Malteserkeller (Jazzclub, 1957 bis 2011)
Stadtbibliothek Aachen mit großer Zentralbibliothek sowie mehreren Ortsteilbuchereien und Bucherbus Fabian. Die Bestande sind uber einen Onlinekatalog recherchierbar.
In der denkmalgeschutzten Sternwarte am Hangeweiher werden regelmaßig Fuhrungen und offentliche Himmelsbeobachtungen durchgefuhrt.
Deutsch-Franzosisches Kulturinstitut
Minigolf: Es gibt in Aachen mehrere Minigolfplatze: im Stadtpark, am Gut Entenpfuhl im Aachener Wald, am Hotel Buschhausen sowie im Freizeitgelande Walheim.
Zukunftswerkstatt: In Aachen haben Burgerbeteiligungs-Prozesse in der Stadtplanung mit Hilfe von Zukunftswerkstatten Tradition. So wurden 1995–1996 im Rahmen eines nordrhein-westfalischen Landesprogramms vom stadtischen Umweltamt Zukunftswerkstatten zur Okologischen Stadt der Zukunft beauftragt und im August 2005 vom stadtischen Planungsamt die Zukunftswerkstatt Frankenberger Viertel plus begonnen.
= Stiftungen =
Die Stadt Aachen verfugt und unterhalt im Rahmen eines Sondervermogen vor Ort ansassige Stiftungen, wozu, als Beispiel, der „Alten- und Siechenfonds“, die „Ludwig Mies van der Rohe – Stiftung“ und die „Stiftung van Gils“ gehoren. Hinzu kommen private Stiftungen wie beispielsweise die Aachener Stiftung Kathy Beys und die Burgerstiftung Lebensraum Aachen.
= Regelmaßige Großereignisse =
Orden und Verleihungen Zwei große Ordensverleihungen gibt es jahrlich in Aachen: Der Internationale Karlspreis zu Aachen wird an Christi Himmelfahrt fur besondere Verdienste um die Europaische Einigung vergeben.
In Abgrenzung zum Karlspreis werden seit 1988 am Weltfriedenstag Personlichkeiten, die von „unten her“ dazu beigetragen haben, die Verstandigung der Volker und der Menschen untereinander zu verbessern, mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.
Ebenfalls in Aachen beheimatet ist der Orden wider den tierischen Ernst, der, mit karnevalistischem Hintergrund, erstmals 1952 offiziell verliehen wurde. Er wird an Personen, meist Politiker, vergeben, die sich durch besonderen „Humor im Amt“ ausgezeichnet haben.
Kultur und Freizeit Auch der Aachener Karneval ist ein Großereignis. Dazu gehoren der Kinderzug am Karnevalssonntag, der Rosenmontagszug und das wilde Treiben der Damen am Fettdonnerstag.
Bereits im Jahr 1413 wurde der Ocher Bend, die Aachener Kirmes, das erste Mal erwahnt. Damals noch in der Innenstadt, wird seit 1927 der Bendplatz nahe dem Westbahnhof zweimal jahrlich (im April und im August) zum Rummelplatz umfunktioniert. Der Aachener Weihnachtsmarkt findet in der Adventszeit rund um Dom und Rathaus statt und gilt als einer der drei großten und schonsten Weihnachtsmarkte Deutschlands. 50.000 Menschen
besuchen den Weihnachtsmarkt taglich, anderthalb Millionen jahrlich.
Jeweils Mitte November findet an der RWTH eine Vorfuhrung des Films Die Feuerzangenbowle statt, nicht nur fur Studenten und mit insgesamt etwa 6000 Zuschauern. Anschließend gibt es diverse offentliche und private Feste, wo Feuerzangenbowle serviert wird. Aus literarischer Sicht erwahnenswert sind die Aachener Literaturtage, die Aachener Kinder- und Jugendbuchwochen und die von der Stadt ideell und finanziell unterstutzte Vergabe des Walter-Hasenclever-Literaturpreises. Judische Kulturtage im Rheinland heißt ein Großprogramm mit sehr unterschiedlichen Kultursparten, an dem die Stadt sich seit 2002 regelmaßig beteiligt. Im Vordergrund steht die Begegnung zwischen judischen und nicht-judischen Lebenswelten.
Im Rahmen des Aachener Kultursommers spielten bis 2006 renommierte Musiker aus Rock, Pop, Jazz und Klassik auf dem Katschhof zwischen Dom und Rathaus. An einem Samstag im Fruhling fand das Jazz-Festival Lust auf Jazz statt. Dabei treten zahlreiche Jazz-Bands auf verschiedenen Buhnen auf oder marschierten durch die Innenstadt. Beide Veranstaltungen wurden 2007 unter dem Titel Aachen September Special zusammengelegt.
Alljahrlich finden zudem im November die Aachener Bachtage, ausgerichtet vom Aachener Bachverein, statt.
Einst im Bereich des Ludwigforums angesiedelt, findet das Kimiko Festival nun auf dem Gelande des Campus Melaten der RWTH Aachen statt und bietet hierbei Musik, kunstlerische Interaktion und ein erweitertes Begleitprogramm.
Seit 2003 findet jahrlich das Tanzsportwochenende Tanzen im Dreilandereck, auch Tanzen im 3LE genannt, statt. Es ist ein grenzubergreifendes Mehrflachenturnier an drei Veranstaltungsorten, das ursprunglich als Gemeinschaftsveranstaltung von vier Aachener Tanzsportvereinen initiiert wurde. Die Veranstaltung bietet an zwei Tagen Tanzsportturniere in allen Klassen und eine große Abendveranstaltung. Es kommen auch Wertungsrichter aus Belgien und den Niederlanden zum Einsatz.
Wirtschaft und Markte Im Fruhjahr offnet alljahrlich die Euregio-Wirtschaftsschau ihre Tore, die sich uber zehn Tage erstreckt. Sie fand erstmals 1986 statt und wuchs in jedem Jahr. Die umgangssprachlich EUREGIO genannte Veranstaltung wartet mit Themen wie Schoner Wohnen, Haus und Garten, Mode und Schonheit etc. sowie jahrlich neuen Sonderthemen auf. Uber das Jahr verteilt finden zahlreiche Markte in Aachen statt. Am bekanntesten sind der Europamarkt der Kunsthandwerker in der Innenstadt und der Historische Jahrmarkt in Aachen-Kornelimunster (derzeit pausiert).
Museales und Geschichtliches Uber das Jahr verteilt bieten verschiedene Institutionen einen Tag der offenen Tur. Dazu gehort der Tag des offenen Denkmals, der Tag der Architektur, die Lange Nacht der Museen und die Aachener lange Nacht der Kirchen. Die RWTH bietet außerdem die Wissenschaftsnacht und den Dies academicus.
= Kulinarische Spezialitaten =
Die lokale Spezialitat Aachens ist die Aachener Printe, ein Lebkuchengeback mit vielen aromatischen Gewurzen, die, je nach Sorte, auch mit Schokolade oder Zuckerguss uberzogen produziert wird. Außer zwischen den verschiedenen Sorten (wie Schokoladenprinten, Honigprinten, Prinzessprinten oder Krauterprinten) ist grundsatzlich zwischen Hart- und Weichprinten zu unterscheiden. Alle Printensorten sind (je nach Hersteller und Auswahl) als Hart- und Weichprinten beziehungsweise in Zwischenstufen erhaltlich. Die Sußwarenhersteller Lambertz und Lindt haben einen Werksverkauf in Aachen. Seit 1997 ist die Aachener Printe eine geschutzte geografische Angabe der Europaischen Union.
Zu Ostern wird in Aachen traditionell der Poschweck gegessen, ein Hefegeback mit Rosinen, Mandeln, Nussen, Zitronat und Orangeat.
Außerdem hervorzuheben ist das nach Angaben der Aachener Nachrichten in Aachen erfundene Streuselbrotchen, ein Weichbrotchen mit Streuseln, das außerhalb von Aachen kaum bekannt ist.
Bis in die jungste Zeit wurde in Aachen ein obergariges Bier gebraut, das dem Kolsch verwandte Ocher Lager. Hierzu gehorte unter anderem die 1989 geschlossene Brauerei Degraa, an die noch einige Brauhauser erinnern. Seit Ende 2010 gibt es wieder ein obergarig gebrautes Bier mit dem Namen Lennet Bier, benannt nach dem Aachener Original Lennet Kann. Zwischen 2011 und 2014 war auch Degraa wieder im Stadtgebiet erhaltlich, hier handelte es sich nun um ein Pils. Die Produktion wurde 2014 eingestellt. Daruber hinaus existierten bis Mitte der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts mehrere alteingessene Brauereibetriebe in Aachen, darunter die Aachener Exportbier-Brauerei, aus deren Filiale in Valkenburg aan de Geul ab 1921 die Brauerei De Leeuw entstanden ist.
Im Jahr 2021 kamen sowohl die Deutschen Meister der Hobbybrauer als auch der deutsche Vizemeister der Biersommeliere aus Aachen.
Herzhafte Spezialitaten sind der Aachener Sauerbraten, der anders als der rheinische Sauerbraten angerichtet wird, die Aachener Weihnachts-Leberwurst und der Puttes (Blutwurst), der so genannte „Ocher Kaviar“. Puttes gibt es gebraten mit Himmel und Erde, mit Kartoffelpuree und Kompes (Sauerkraut) oder gerauchert mit Senf zum Brot.
Auch das sogenannte Morre-Jemoß (Kartoffeln werden zusammen mit Mohren und Zwiebeln gekocht) erfreut sich großer Beliebtheit; dazu gibt es Rippchen oder Bratwurst mit Senf.
Sport = Sportstatten und Schwimmbader =
Die Stadt Aachen verfugt uber funf Schwimmhallen, wobei die Elisabethhalle besonders zu erwahnen ist, da sie direkt im Stadtzentrum liegt und beide Becken in weitgehend erhaltener Jugendstilarchitektur gebaut worden sind. Als weitere Einrichtung zum Schwimmen dient das Freibad Hangeweiher, direkt neben dem gleichnamigen See im Kaiser-Friedrich-Park, dessen Freibadsaison jeweils vom 1. Mai bis zum letzten Sonntag vor dem 16. September geht.
Im Stadtgebiet Aachen findet man auch zahlreiche Sportplatze und Sporthallen verschiedener Art vor, die sich fur diverse Sportarten eignen. Dazu gehoren auch eine Eislaufhalle, die Tivoli-Kletterhalle, sowie eine Boulderhalle. Es gibt, neben dem Tivoli-Stadion, noch drei weitere Stadien in Aachen, das Aachener Waldstadion, das Ludwig-Kuhnen-Stadion und das Reitstadion des Aachen-Laurensberger Rennvereins (ALRV), in dem jahrlich das CHIO-Turnier ausgetragen wird.
Tivoli-Stadion Das (neue) Tivoli-Stadion ist das Aachener Fußballstadion. Das Tivoli-Stadion hat eine Kapazitat von 32.960 Platzen. Es wurde am 12. August 2009 mit einem Freundschaftsspiel gegen den belgischen Fußballclub Lierse SK eroffnet, das Ergebnis war ein 2:2. Am 17. August 2009 fand das erste Pflichtspiel der Alemannia gegen den FC St. Pauli im neuen Stadion statt, das sie mit 0:5 verlor.Das alte Tivoli-Stadion mit einem Fassungsvermogen von 21.632 Zuschauern befand sich ebenfalls an der Krefelder Straße. Davon waren 3632 uberdachte Sitzplatze und 5800 uberdachte Stehplatze. Am 26. September 2011 wurde mit dem Abriss des alten Stadions begonnen.
Am 17. Mai 2008 erfolgte der erste Spatenstich zum Bau des neuen Stadions im Sportpark Soers.
= Vereine =
Aachener Sportvereine sind in verschiedensten Sportarten vertreten:
Fußball Im Fußball ist vor allem Alemannia Aachen zu nennen, die in der Saison 2006/07 nach 36 Jahren zum ersten Mal wieder in der 1. Bundesliga spielte, jedoch nach einem Jahr wieder abstieg. Nach mittlerweile zwei Insolvenzen spielte Alemannia Aachen von 2013 bis 2024 in der Fußball-Regionalliga West. Am Ende der Regionalligasaison 2023/24 gelang Alemannia als Meister der Staffel West der Wiederaufstieg in die 3. Fußball-Liga.
Die zweite Mannschaft der Alemannia spielte zuletzt in der Saison 2016/17 in der Landesliga Mittelrhein II und wurde anschließend im Rahmen der zweiten Insolvenz und den damit verbundenen maßgeblichen Umstrukturierungen ebenso wie das angeschlossene Nachwuchsleistungszentrum vom laufenden Spielbetrieb abgemeldet.
Weiterhin gibt es noch eine Vielzahl kleinerer Vereine, die in fast jedem Stadtbezirk beheimatet sind.
Volleyball und Handball Die Volleyball-Damenmannschaft des PTSV Aachen, die „Ladies in Black Aachen“, spielt seit der Saison 2008/09 in der Deutschen Volleyball-Bundesliga der Frauen. Die erste Herrenmannschaft des PTSV, die in der 3. Volleyball-Liga spielt, errang 1961 den deutschen Meistertitel. Beide Mannschaften waren im Jahr 2013 mit der gesamten Volleyballabteilung von der Alemannia Aachen zum PTSV gewechselt.
Des Weiteren ist der DJK-BTB Aachen (Burtscheider Turnerbund) im Handball in der Mittelrhein Oberliga aktiv. Daneben existieren viele weitere Vereine in fast allen darunter liegenden Ligen.
Boxen Im Boxen hat der Verein MTK Boxen Aachen im Jahre 2006 zwei deutsche Meister, einen deutschen Vizemeister, funf NRW- und funf Mittelrheinmeister aus seinen Reihen geformt. Der Verein wurde fur die beste Nachwuchsarbeit des Bezirks Aachen 2006 ausgezeichnet. In den Reihen der 2005 gegrundeten Pound4Pound Boxpromotion Aachen, die 2010 in eine GmbH umgewandelt wurde, steht mit der Aachenerin Jessica Balogun die Europameisterin und Weltmeisterin (Stand: August 2010) der Verbande GBU und WFC in drei Gewichtsklassen. Bei Pound4Pound Boxpromotion Aachen boxt zudem Mario Guedes jr., der zeitweise (August 2010) jungste Boxprofi Deutschlands.
Leichtathletik In Aachen selbst gibt es daruber hinaus neben vielen kleine vier große Leichtathletik-Vereine: Alemannia Aachen, die Aachener TG, DJK Frankenberg Aachen sowie den DLC Aachen mit seiner starken Triathlon-Abteilung. Die bekanntesten Leichtathleten der letzten Jahre sind Rita Wilden (Alemannia Aachen, ehemalige Weltrekordhalterin und Olympiateilnehmerin uber 200 m), Walter Rennschuh (DLC-Aachen, mehrfacher Seniorenweltmeister in den technischen Disziplinen und im Sprint), Jens Dautzenberg (Alemannia Aachen, mehrfacher Deutscher Meister uber 400 m), Andre Collet (Aachener TG, mehrfacher Deutscher Meister und Altersklassen-Weltmeister im 100-km-Lauf), Peter Schumm (Alemannia Aachen, mehrfacher Deutscher-, Europa- und Weltmeister im Sportgehen) sowie die Triathletin Astrid Stienen, 2013 Europameisterin beim Ironman Germany in Frankfurt am Main in der AK 30 sowie Weltmeisterin in der AK 30 beim Ironman Hawaii.
Reitsport Der Aachen-Laurensberger Rennverein (ALRV, ursprunglich nur Laurensberger Rennverein) wurde 1898 gegrundet, um offentliche Pferderennen zu organisieren. 1924 erwarb der Verein das Turniergelande in der Soers, wo außer Pferderennen auch Reit- und Fahrturniere ausgetragen wurden, aus denen sich der internationale Wettbewerb CHIO Aachen entwickelte. Das Hauptstadion des Vereins in der Soers fasst bis zu 50.000 Zuschauer und gilt damit als eines der großten Reitstadien der Welt.
Tanzen Mit dem Tanzsportverein TSC Schwarz-Gelb Aachen stellte Aachen dreimal in Folge – 1996, 1997 und 1998 – und 1992 den Weltmeister im lateinamerikanischen Formationstanz. Durch eine Fusion 2012 mit dem Aachener TSC Blau-Silber starten nun wieder vier Mannschaften im Ligabetrieb des DTV. Auch gibt es beim TSC Schwarz-Gelb Aachen eine Abteilung fur Rollstuhltanzen. Weitere wichtige Tanzsportvereine Aachens sind der TSC Grun-Weiß Aquisgrana Aachen mit uber 900 Mitgliedern aller Altersgruppen (Stand: 2011), dem großten Tanzsportverein des DTV in NRW, sowie das Tanzsportzentrum Aachen.
Tennis Im Tennis spielt der TK Kurhaus Aachen seit 2004 in der Bundesliga und wurde 2005 Deutscher Vizemeister sowie 2008 (verlustpunktfrei), 2009, 2011, 2012 und 2013 Deutscher Meister. Im Lacrosse gewann die 1. Herrenmannschaft des FC Inde Hahn 2006 die deutsche Meisterschaft.
Basketball Im Basketball ist die erste Herrenmannschaft der SG Aachen im Jahr 2006 in die 2. Regionalliga aufgestiegen. Die letzten großen Erfolge einer Aachener Basketball-Abteilung waren die Gewinne der deutschen Basketballmeisterschaft mit Alemannia Aachen in den Jahren 1963 und 1964. In der Basketballjugend hat sich der Brander TV seit Grundung seiner Basketballabteilung 1995 einen guten Namen gemacht und sich unter die ersten 30 von mehr als 290 Basketballvereinen in NRW geschoben. Von der U12 bis zur U18M sind alle Altersklassen in der Jugendregionalliga vertreten. 2008 haben sich die Haarener TE und der Brander TV zur Spielgemeinschaft Brand-Haaren zusammengefunden und bilden seitdem den großten Basketballclub im Raume Aachen. 2009 errangen The 4 Tigers den Deutschen Meistertitel im German Streetbasketball Championship, allesamt Mitglieder des Brander Turnverein 1883 e. V., trainiert von Josephina Hoffmann (Jose).
Football und Rugby Die erste Herrenmannschaft des Rugby Club Aachen ist im Jahr 2012 erstmals in die 1. Bundesliga aufgestiegen, spielt jedoch mittlerweile erfolgreich in der 2. Bundesliga. Im Hockey spielt die erste Herrenmannschaft des Aachener Hockey-Clubs seit 2019 wieder in der Regionalliga.
Seit 2005 besteht der American-Football-Club Aachen Vampires, der seine Heimspiele im Ludwig-Kuhnen-Stadion in Burtscheid austragt und derzeit (2018) in der Oberliga Nordrhein-Westfalen [IV] antritt.
Sonstiges Aufwarts Aachen spielt in der 1. Schachbundesliga. Der Aachener SV von 1856, der alteste Schachverein im Aachener Schachverband, ist mit seiner ersten Mannschaft in der 2. Bundesliga-Gruppe West vertreten. In Aachen sind noch sechs weitere Schachvereine ansassig.
Mit der Karlsschutzengilde vor 1198 Aachen e. V. besitzt Aachen den altesten Verein Deutschlands, der ursprunglich fur den Schutz der Aachener Pfalzkapelle zustandig war, sich aber mittlerweile erfolgreich auf dem Gebiet der olympischen Disziplinen im Sportschießen spezialisiert hat und der dazu uber einen anerkannten Leistungsstutzpunkt in Eilendorf verfugt.
Weitere national und international erfolgreiche Aachener Sportvereine sind die Aachener Schwimmvereinigung 06 im Schwimmen, der SV Neptun Aachen 1910 im Kunst- und Turmspringen, der Burtscheider Turnverein im Trampolinturnen, der BTB Aachen im Handball und der Allgemeine Turnverein Aachen im Rhonradturnen.
Der Aachener Eishockeyverein spielte zuletzt in der Saison 2012/13 in der NRW-Liga, wurde am Ende der Spielzeit aber vom Spielbetrieb zuruckgezogen.
= Veranstaltungen =
Aachen ist bekannt fur große Reitsport-Veranstaltungen. Hier findet jahrlich der CHIO Aachen statt, das weltweit großte Turnier fur Springreiten, Dressur und Wagenfahren und das einzige der Kategorie Concours Hippique International Officiel in Deutschland. 2006 fanden die Weltreiterspiele (World Equestrian Games) in Aachen statt sowie neun Jahre spater mit den FEI Europameisterschaften 2015 nochmals eine Veranstaltung vergleichbarer Große.
Seit mehr als 20 Jahren findet jedes Jahr im Juli der 5555 Meter lange Lousberglauf mit mehr als 2000 Teilnehmern statt, der um den Lousberg herumfuhrt mit einer Hohenamplitude von etwa 75 m. Ein weiterer Lauf ist der 18 km lange ATG Winterlauf der Aachener TG, der immer am dritten Sonntag im Dezember stattfindet. Mit uber 2000 Laufern ist er einer der großten Volkslaufe in der Region. Den Abschluss eines jeden Jahres bildet der von dem DLC Aachen ausgerichtete Silvesterlauf mit bis zu 2.500 Teilnehmern durch die Aachener Innenstadt.
Zwischen Dom und Rathaus auf dem Katschhof findet seit 2005 jahrlich das Domspringen, ein Stabhochsprung-Wettbewerb, statt.
Jedes Jahr finden an mehreren Abenden uber den ganzen Sommer verteilt Skatenights statt, an denen Skater, Rollschuhfahrer etc. auf abgesperrten Straßen durch die Stadt und die nahere Umgebung fahren.
Ebenfalls einmal jahrlich, im Dezember, findet in Aachen das bekannte Unicup-Eishockeyturnier zwischen den RWTH-Fakultaten Maschinenbau, Elektrotechnik und Medizin statt. Eher in den Bereich Fun-Sport gehort das jahrliche Seifenkistenrennen zwischen der RWTH Aachen und der FH Aachen.
Seit 2002 wird die Internationale Aachener Stadtmeisterschaft im Boxen ausgetragen. Dieses Turnier, das jedes Jahr im Dezember im Josefshaus stattfindet, wird vom MTK Boxen Aachen organisiert und veranstaltet.
Seit 2005 wird jedes Jahr im Juni der Alemannen-Cup, ein Badmintonturnier, veranstaltet.
Personlichkeiten Die Stadt Aachen hat im Laufe der Geschichte 18 Personen zu Ehrenburgern ernannt; diese finden sich in der Liste der Ehrenburger von Aachen.
In Aachen geborene Personlichkeiten sowie weitere fur Aachen bedeutende Personen sind in der Liste von Personlichkeiten der Stadt Aachen aufgefuhrt.
Literatur In der Reihenfolge des Erscheinens.
Richard Pick: Aus Aachens Vergangenheit. Beitrage zur Geschichte der alten Kaiserstadt. Anton Creutzer, Aachen 1895 (Digitalisat).
Aachen, Lexikoneintrag in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, 6. Auflage, Band 1, Leipzig/Wien 1905, S. 2–5.
Aachen, Rheinland, in: Meyers Gazetteer, mit Eintrag aus Meyers Orts- und Verkehrslexikon, Ausgabe 1912, sowie einer alten Landkarte der Umgebung von Aachen.
Albert Huyskens: Aachener Heimatgeschichte. Im Auftrage der Stadt Aachen und des Landkreises Aachen in Gemeinschaft mit zahlreichen Fachleuten herausgegeben von Albert Huyskens. La Ruelle’sche Accidenzdruckerei, Aachen 1924.
Heinz Cuppers, Walter Sage: Aachen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA). 2. Auflage. Band 1, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1973, ISBN 3-11-004489-7, S. 1–4.
Erich Stephany: Aachen (Deutsche Lande – Deutsche Kunst), mit Aufnahmen von Michael Jeiter. Deutscher Kunstverlag, Munchen/Berlin 1974.
Michael Schmitt: Stadtmappe Aachen. In: Heinz Stoob, Wilfried Ehbrecht, Jurgen Lafrenz, Peter Johannek (Hrsg.): Deutscher Stadteatlas. Band IV, 1. Teilband. Acta Collegii Historiae Urbanae Societatis Historicorum Internationalis. Serie C. Dortmund-Altenbeken 1989, ISBN 3-89115-031-8.
Anke Schutt: Aachener Sagen und Legenden. Mit Zeichnungen von Manfred Victor. Einhard Verlag, Aachen 1998, ISBN 3-930701-47-2.
Gerhard Curdes: Die Entwicklung des Aachener Stadtraumes. Der Einfluss von Leitbildern und Innovationen auf die Form der Stadt. Dortmunder Vertrieb fur Bau- und Planungsliteratur. Dortmund 1999, ISBN 3-929797-37-2.
Achim Walder: Sehenswertes in Aachen, der Euregio und Nordeifel. Schwerpunkt Kultur, Historik, Landschaft der Region, Walder Verlag, 2005, ISBN 3-936575-19-3.
Ulrike Schwieren-Hoger, Jorn Sackermann: Aachen. Bilder, Spuren, Hintergrunde. GEV (Grenz-Echo Verlag), Eupen 2005, ISBN 90-5433-200-X.
Michael Romling: Aachen – Geschichte einer Stadt. Tertulla-Verlag, Soest 2007, ISBN 978-3-9810710-2-3.
Bruni Mahlberg-Graper, Guido Bertemes: Unterwegs in Aachen und Umgebung. 2. Auflage, GEV, Eupen 2010, ISBN 3-86712-001-3.
Gedenkbuchprojekt fur die Opfer der Shoah aus Aachen e. V.: Gedenkbuch fur die Opfer der Shoah aus Aachen. Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 2019, ISBN 978-3-89086-311-5.
Weblinks Webprasenz der Stadt Aachen
Geoportal Aachen, Interaktiver Kartendienst mit zahlreichen Layern, z. B. Verwaltungsgliederung, Denkmalschutz usw.
Aachen Wiki auf fandom.com
Literatur von und uber Aachen im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Aachen [ˈaːxn] (Ocher Platt: Oche; franzosisch Aix-la-Chapelle [ɛkslaʃaˈpɛl]; niederlandisch Aken; lateinisch Aquæ Granni) ist eine kreisfreie Großstadt im nordrhein-westfalischen Regierungsbezirk Koln.
Die Aachener Pfalz war die bedeutendste Pfalz Karls des Großen und wurde seine Grablege. In der Folge wurde Aachen spater Reichsstadt und fast 600 Jahre lang Kronungsort von 31 deutschen Konigen. Das Wahrzeichen der Stadt, der Aachener Dom, geht auf die als Meisterwerk der karolingischen Baukunst geltende Pfalzkapelle der von Karl dem Großen gegrundeten Aachener Konigspfalz zuruck. Gemeinsam mit dem Domschatz wurde der Dom im Jahr 1978 als erstes deutsches und als weltweit zweites Kulturdenkmal in die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen.
Das heutige Aachen ist Mitglied des Landschaftsverbandes Rheinland und nach dem Aachen-Gesetz mit Wirkung vom 21. Oktober 2009 Verwaltungssitz der Stadteregion Aachen. 1890 uberschritt Aachen erstmals die Einwohnerzahl von 100.000 und ist seitdem die westlichste deutsche Großstadt. Aachen grenzt an die Niederlande und Belgien.
Mit der Rheinisch-Westfalischen Technischen Hochschule (RWTH), seit 2007 im Rahmen der Exzellenzinitiative gefordert, verfugt Aachen neben weiteren Hochschulen uber eine der großten und traditionsreichsten technischen Universitaten Europas. Die Stadt ist Bischofssitz des Bistums Aachen und Austragungsort des alljahrlich stattfindenden Reitsportturniers CHIO Aachen. Ferner ist sie insbesondere durch die Aachener Printen als lokale Spezialitat ein bedeutender Standort der deutschen Sußwarenindustrie.
Bedingt durch die Grenzlage „im Herzen Europas“ finden sich zahlreiche kulturelle, besonders auch architektonische Einflusse aus den Nachbarregionen, dem belgisch-niederlandischen Raum. Wohl nicht zuletzt auch aufgrund dieses europaischen Charakters – schon zu Lebzeiten wurde Karl der Große, der Aachen zum politischen, kulturellen und spirituellen Zentrum seines Reiches machte, Pater Europae („Vater Europas“) genannt – wird hier seit 1950 jahrlich der Internationale Karlspreis fur Verdienste um den europaischen Einigungsprozess an Personlichkeiten des In- und Auslands verliehen.
Aachen ist staatlich anerkanntes Heilbad fur die Kurbereiche Monheimsallee und Burtscheid mit ihren ergiebigen Thermalquellen. In der stadtischen Tourismuswerbung wird gelegentlich die Bezeichnung Bad Aachen verwendet; jedoch hat die Stadt niemals beantragt, das Pradikat Bad in ihren amtlichen Namen aufzunehmen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Aachen"
}
|
c-13986
|
Holland ist ein Teil der Niederlande. Man kann den Ausdruck auf die beiden (von zwolf) Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland beziehen, oder aber auf ein großeres Gebiet, das mehr der historischen Grafschaft Holland entspricht. Außerdem verwenden viele Menschen, insbesondere außerhalb der Niederlande, Holland als Synekdoche (oder Pars pro toto) fur die gesamten Niederlande.
Im Westen wird das Gebiet von der Nordsee, im Osten durch das IJsselmeer und die Provinzen Utrecht und Gelderland sowie im Suden von den Provinzen Noord-Brabant und Zeeland begrenzt. Holland, das lange als Grafschaft Holland auch eine politische Einheit war, ist seit 1840 auf die Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland verteilt. Die nordliche Grenze liegt bei Den Helder und der Insel Texel, die sudliche im Delta von Rhein, Maas und Schelde. In Holland liegen unter anderem die Großstadte Den Haag, Rotterdam und Amsterdam, die Teil des Ballungsraumes Randstad sind. Im Westen, an der Nordsee, befinden sich entlang der Kuste uberwiegend Dunen, landeinwarts sind flache Polder vorzufinden. Der Großteil Hollands liegt unterhalb des Meeresspiegels.
Der Name Holland wurde erstmals 866 als Holtland („Holzland“ oder „Waldland“) fur die Gegend um Haarlem erwahnt. In vielen Sprachen sagt man, zumindest umgangssprachlich, „Holland“ anstatt des korrekten Staatsnamens Niederlande (pars pro toto). Das liegt an der großen Bedeutung Hollands in den unabhangigen Niederlanden, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sind.
Vor der Teilung Hollands in zwei Provinzen lebten etwa 29 Prozent der Niederlander in Holland. Heutzutage leben in Nord-Holland und Sud-Holland zusammen etwa 6,2 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevolkerungszahl von ca. 17 Millionen (etwa 36 Prozent). Die stadtischen Gebiete der beiden Provinzen sowie der Provinz Utrecht und die Stadt Almere (Flevoland) nennt man zusammen die Randstad.
Niederlander nennen ihr eigenes Land durchgehend Nederland; allenfalls in fremden Sprachen weichen sie auf das bekanntere Holland aus oder zum Anfeuern der Nationalmannschaft. Im Niederlandischen verweist man nicht so sehr auf Holland, sondern auf die Randstad oder eventuell den Westen des Landes. Hollands (Sprache) oder Hollanders (Bewohner) wird durchaus von den Bewohnern der ubrigen Landesteile verwendet, um sich vom Westen abzugrenzen. Das gilt besonders fur Friesen und Limburger. Holland oder das Eigenschaftswort Hollands kann sich ferner auf etwas beziehen, das man als urtumlich und traditionell empfindet; dann kann es auch zur Abgrenzung gegenuber Einwanderergruppen verwendet werden.
Im Jahr 2020 hat die niederlandische Regierung in Absprache mit der Tourismus-Branche entschieden, dass man Holland nicht mehr als Synonym fur die Niederlande verwenden will. Bis dahin hatte zum Beispiel das staatliche niederlandische Amt fur Tourismus noch selbst stets Holland verwendet.
Geschichte Das Gebiet war fur einige Jahre unter Augustus als Germania magna Bestandteil des Romischen Reiches. Nach Jahrhunderten der Unabhangigkeit der Friesen wurde es dann Teil des Frankenreiches und des nachfolgenden Heiligen Romischen Reiches. 1384 kam es unter franzosischen Einfluss (Burgundische Niederlande). 1430 kam die Grafschaft Holland durch Erbschaft endgultig an das Haus Valois-Burgund und nach dem Tod des letzten Burgunderherzogs Karls des Kuhnen 1477 an das Haus Habsburg, spater an die spanische Linie der Habsburger (Spanische Niederlande).
In der deutschen Umgangssprache wird der Begriff „Holland“ oft pars pro toto fur die „Niederlande“ verwendet. Dieser Sprachgebrauch setzte mit Beginn des 17. Jahrhunderts ein, als die Grafschaft Holland zur einflussreichsten und handelsmachtigen Provinz der Republik der Vereinigten Niederlande aufstieg.
Hiermit trat eine Veranderung im internationalen Sprachgebrauch ein, denn bis Ende des 16. Jahrhunderts war das Land bei Handelspartnern im Ausland mehr unter der Bezeichnung „Flandern“ bekannt. Die Provinzen Flandern und Brabant waren dem Ausland eher ein Begriff, da sie bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert die aktivsten der siebzehn Provinzen im internationalen Handel waren.
Ab 1581 war die Grafschaft Holland fuhrende Provinz der Vereinigten Niederlande. Ab 1795 waren die Provinzen nur noch Verwaltungseinheiten der zentralistischen Batavischen Republik. Zeitweise erhielten sie auch andere Namen. Wahrend der napoleonischen Zeit gab es das Konigreich Holland (1806–1810), das fast die ganzen heutigen Niederlande umfasste. Um die Dominanz Hollands zu verringern, welches der kulturelle, politische und gesellschaftliche Hauptteil des Landes war, wurde es 1840 in die heutigen beiden Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland geteilt.
Siehe auch Liste der Grafen von Holland
Liste der Landesadvokaten und Ratspensionare
Liste der Statthalter in den Niederlanden
Weblinks Die offizielle Internetseite des Niederlandischen Buro fur Tourismus
Einzelnachweise
|
Holland ist ein Teil der Niederlande. Man kann den Ausdruck auf die beiden (von zwolf) Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland beziehen, oder aber auf ein großeres Gebiet, das mehr der historischen Grafschaft Holland entspricht. Außerdem verwenden viele Menschen, insbesondere außerhalb der Niederlande, Holland als Synekdoche (oder Pars pro toto) fur die gesamten Niederlande.
Im Westen wird das Gebiet von der Nordsee, im Osten durch das IJsselmeer und die Provinzen Utrecht und Gelderland sowie im Suden von den Provinzen Noord-Brabant und Zeeland begrenzt. Holland, das lange als Grafschaft Holland auch eine politische Einheit war, ist seit 1840 auf die Provinzen Noord-Holland und Zuid-Holland verteilt. Die nordliche Grenze liegt bei Den Helder und der Insel Texel, die sudliche im Delta von Rhein, Maas und Schelde. In Holland liegen unter anderem die Großstadte Den Haag, Rotterdam und Amsterdam, die Teil des Ballungsraumes Randstad sind. Im Westen, an der Nordsee, befinden sich entlang der Kuste uberwiegend Dunen, landeinwarts sind flache Polder vorzufinden. Der Großteil Hollands liegt unterhalb des Meeresspiegels.
Der Name Holland wurde erstmals 866 als Holtland („Holzland“ oder „Waldland“) fur die Gegend um Haarlem erwahnt. In vielen Sprachen sagt man, zumindest umgangssprachlich, „Holland“ anstatt des korrekten Staatsnamens Niederlande (pars pro toto). Das liegt an der großen Bedeutung Hollands in den unabhangigen Niederlanden, die in der Mitte des 16. Jahrhunderts entstanden sind.
Vor der Teilung Hollands in zwei Provinzen lebten etwa 29 Prozent der Niederlander in Holland. Heutzutage leben in Nord-Holland und Sud-Holland zusammen etwa 6,2 Millionen Menschen bei einer Gesamtbevolkerungszahl von ca. 17 Millionen (etwa 36 Prozent). Die stadtischen Gebiete der beiden Provinzen sowie der Provinz Utrecht und die Stadt Almere (Flevoland) nennt man zusammen die Randstad.
Niederlander nennen ihr eigenes Land durchgehend Nederland; allenfalls in fremden Sprachen weichen sie auf das bekanntere Holland aus oder zum Anfeuern der Nationalmannschaft. Im Niederlandischen verweist man nicht so sehr auf Holland, sondern auf die Randstad oder eventuell den Westen des Landes. Hollands (Sprache) oder Hollanders (Bewohner) wird durchaus von den Bewohnern der ubrigen Landesteile verwendet, um sich vom Westen abzugrenzen. Das gilt besonders fur Friesen und Limburger. Holland oder das Eigenschaftswort Hollands kann sich ferner auf etwas beziehen, das man als urtumlich und traditionell empfindet; dann kann es auch zur Abgrenzung gegenuber Einwanderergruppen verwendet werden.
Im Jahr 2020 hat die niederlandische Regierung in Absprache mit der Tourismus-Branche entschieden, dass man Holland nicht mehr als Synonym fur die Niederlande verwenden will. Bis dahin hatte zum Beispiel das staatliche niederlandische Amt fur Tourismus noch selbst stets Holland verwendet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Holland"
}
|
c-13987
|
Das Elsass (elsassisch ’s Elsass, ’s Elses, franzosisch Alsace [alˈzas]) ist eine Europaische Gebietskorperschaft in der Region Grand Est im Osten Frankreichs. Es erstreckt sich uber den sudwestlichen Teil der Oberrheinischen Tiefebene und reicht im Nordwesten mit dem Krummen Elsass bis auf das lothringische Plateau. Im Norden und Osten grenzt das Elsass an Deutschland und im Suden an die Schweiz. Hauptstadt der Gebietskorperschaft ist Straßburg.
Landschaftlich wird das Elsass meist als die Gegend zwischen Vogesen und Rhein beschrieben. Die politischen Grenzen, die das Elsass definieren, haben sich dagegen im Verlauf seiner Geschichte mehrfach geandert. Historisch bedeutend sind hier vor allem das Herzogtum Elsass (7. und 8. Jahrhundert), die beiden Landgrafschaften des Elsass (12.–17. Jahrhundert) innerhalb des Heiligen Romischen Reiches und die erstmals franzosische Provinz Elsass (17.–18. Jahrhundert). Ab dem 17. Jahrhundert wechselte das Elsass mehrmals seine politische Zugehorigkeit zwischen dem Heiligen Romischen Reich beziehungsweise dem Deutschen Reich einerseits und Frankreich andererseits.
Seine gegenwartigen Grenzen gehen auf die Franzosische Revolutionszeit zuruck, als die Departements eingerichtet wurden, sowie auf den Frankfurter Frieden von 1871, in dem Belfort abgetrennt wurde und die ubrigen Landesteile mit dem Reichsland Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich fielen. Heute besteht das Elsass aus den 2021 weitgehend zusammengefassten Departements Bas-Rhin und Haut-Rhin.
Zwischen 1973 und 2015 bildeten die beiden elsassischen Departements zusammen eine eigene franzosische Verwaltungsregion Elsass (Region Alsace). Mit 8280 km² war sie die flachenmaßig kleinste Region auf dem franzosischen Festland und hatte 1.920.462 Einwohner (Stand 1. Januar 2021). Im Rahmen der Regionsfusionen wurde am 1. Januar 2016 die Region Grand Est (Großer Osten) mit der Hauptstadt Straßburg gegrundet. Diese umfasst das Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne. Als „Europaische Gebietskorperschaft Elsass“ wurden die beiden Departements des Elsass mit Jahresbeginn 2021 wieder als eine politische Einheit zusammengefasst.
Name Der Name Elsass bezeichnet eine bereits im Fruhmittelalter bezeugte landschaftliche und politische Entitat. Fruhe mittellatinisierte Erwahnungen sind in pago alsacense (772) und in pago alisacense (774), rein deutsch erscheint der Name als elisazon erstmals in einer Urkunde von 877. Er leitet sich von althochdeutsch ali-sazzo „Bewohner des andern (zu erganzen:) Rheinufers“ oder aber, elliptisch gekurzt, von fruhalthochdeutsch ali-land-sazzo „Bewohner im fremden Land“ ab und ist damit eine Zusammensetzung von althochdeutsch ali-, eli- „ander-, fremd“, allenfalls land „Land“ sowie sazzo „Sitzender, Wohnender“. Unter den „Bewohnern des fremden Landes“ ist am ehesten an die frankischen Neusiedler zu denken, die nach der Schlacht von Zulpich im Jahr 496 von der frankischen Monarchie am linken Rheinufer zwischen Basel und der Pfalz angesiedelt wurden und dort auf Romanen und Alemannen trafen.
Aufgrund der wechselhaften Geschichte des Elsasses zwischen dem germanischen (deutschen) und romanischen (franzosischen) Kulturraum entstanden darauf basierende Bezeichnungen. Da das Elsass deutschsprachig war und es heute noch teilweise ist, steht bzw. stand im Elsass Welschi oder Walschi fur Innerfranzosen im Allgemeinen sowie fur die romanischen (lothringisch/franzosisch) Sprachenklaven auf der Ostseite der Vogesen (pays welche) im Besonderen und deren Sprache. Die Elsasser werden von den deutschsprachigen Nachbarregionen umgangssprachlich bis abwertend auch als Wackes bezeichnet, was in der elsassischen Mundart zunachst Landfahrer bzw. Arbeitslose bedeutete und teilweise dem umgekehrt verwendeten Begriff Boche entspricht.
Geographie Das Elsass grenzt an Deutschland (im Norden Rheinland-Pfalz, im Osten Baden-Wurttemberg) und an die Schweiz (Kantone Basel-Stadt, Basel-Landschaft, Solothurn und Jura). Im Westen grenzt das Elsass an Lothringen, im Suden an die Region Bourgogne-Franche-Comte.
Das heutige Elsass hat eine Nord-Sud-Ausdehnung von 190 Kilometern, wahrend die West-Ost-Ausdehnung nur 50 Kilometer betragt. Im Osten wird das Elsass durch den Rhein begrenzt, im Westen auf weiten Strecken durch den Hauptkamm der Vogesen. Im Norden markieren Bienwald und Pfalzerwald wichtige Grenzgegenden, im Suden der Nordrand des Jura und im Sudwesten, in der offenen Torlandschaft der Burgundischen Pforte, nahert sich die erst auf 1871 zuruckgehende Grenze an die Wasserscheide zwischen Rhone und Rhein an.
Die geologische Geschichte erstreckt sich vom Prakambrium bis zum Quartar.
Im Elsass finden sich folgende naturraumliche Haupteinheiten:
Der uberwiegende Teil wird von der Elsassischen Ebene (Plaine d’Alsace) eingenommen, die mit Breisgau und Ortenau auf der deutschen Seite, und das Petit und Grand Ried auf der elsassischen Seite den sudlichen Teil des Oberrheingrabens bildet. Sie wird von der Ill durchflossen und ist vom Getreideanbau gepragt. Es gibt auch große Waldgebiete wie den Hagenauer Forst im Norden und den Harthwald im Suden. Neben weiten Ebenen treten zudem wellige bis hugelige Gegenden auf (beispielsweise Kochersberg nordwestlich Straßburgs, westlicher Sundgau und ostliche Burgundische Pforte, Gebiet zwischen Hagenauer Wald und Bienwald).
Im Westen wird das Landschaftsbild von den Vogesen dominiert, die von den breiten Talern der Illzuflusse durchzogen sind. Hier findet man Hochweiden (Hautes Chaumes), die sich mit Waldern abwechseln. Der Große Belchen (Grand Ballon) ist mit 1424 m der hochste Gipfel im Elsass und in den Vogesen. In Frankreich werden auch die Gebiete nordlich der Zaberner Senke zu den Vogesen gezahlt (Vosges du Nord), sie bilden aber eine naturraumliche Einheit mit dem Pfalzerwald.
Zwischen Ebene und Vogesen vermittelt (analog zum westlichen Schwarzwaldrand) eine schmale Vorbergzone. Typisch fur dieses „Piemont der Vogesen“ ist der Weinanbau.
Ganz im Suden hat das Elsass auch noch Anteil am Jura (Pfirter Jura).
Wappen Blasonierung: In Rot ein weißer Schragrechtsbalken mit einem Lilienmaander und drei goldenen Kronen beidseitig nach dem Balken gelegt.
Geschichte = Vor- und Fruhgeschichte bis 58/52 v. Chr. =
Die heutige Region Elsass wurde etwa vor mindestens 700.000 Jahren erstmals von Menschen, vor etwa 50.000 Jahren vom Homo sapiens besiedelt. Die neolithische Revolution hielt im 6. Jahrtausend v. Chr. Einzug. Erste Funde, die auf eine politische Oberschicht hindeuten, wurden auf etwa 2000 v. Chr. datiert. Fur die etwa 550-jahrige keltische Zeit, die im Elsass von etwa 600 bis 58/52 v. Chr. dauerte, vermutet man das Vorherrschen kleiner Territorien.
= Romische Zeit 58/52 v. Chr. bis 476 n. Chr. =
Mit der Eroberung Galliens durch Caesar zwischen 58 und 52 v. Chr. kam auch das Elsass zum romischen Herrschaftsgebiet, bei dem es bis zum Ende des Westromischen Reiches um die Mitte des 5. Jahrhunderts verblieb. In diesen etwa 500 Jahren war der Rhein anfangs und wieder seit dem 3. Jahrhundert romische Reichsgrenze. Es entwickelte sich eine galloromische Bevolkerung, die seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. auch erste germanische Gruppen assimilierte, ebenso wie die seit etwa 350 dauerhaft siedelnden Alamannen. Letztere entwickelten nur im heutigen Sundgau eine Art vorstaatlicher (und vorfrankischer) Eigenstandigkeit.
Anfangs standen die eroberten Gebiete unter Militarverwaltung. Im Jahre 89 oder 90 wurde die Provinz Germania superior (Obergermanien) gegrundet, zu der auch das heutige Elsass kam. Im Zuge der diokletianischen Reichsreform wurde das sudliche Elsass 297 der Provinz Maxima Sequanorum, das nordliche der Provinz Germania prima (Germania I) zugewiesen. Die dabei gezogene Provinzgrenze entspricht weitestgehend den spateren bzw. heutigen Grenzen zwischen Sundgau, Oberelsass und Haut-Rhin auf der einen und Nordgau, Unterelsass und Bas-Rhin auf der anderen Seite.
= Interimszeit =
Nach dem Abzug der romischen Truppen um 476 kam das Elsass vermutlich zusammen mit Alemannien unter ostgotisches Protektorat. Bereits etwa zwei Dekaden spater, um 496, wurden Elsass und Alemannien Teil des Frankischen Reiches. Hierin zahlte das Elsass zum bis ins 7. Jahrhundert bestehenden Herzogtum Alemannien. Danach existierte bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts unter den Etichonen ein elsassisches Herzogtum.
= Frankisches Reich 511–925 =
In frankischer Zeit, von etwa 500 an, erfolgte eine starke Zuwanderung germanischer Siedler, die die galloromische Bevolkerung nach und nach uberwogen. Auf diese Zeit geht der Name „Elsass“ zuruck, dazu oben Naheres. Straßburg, seit 614 Bischofssitz, war neben Basel und Speyer die wichtigste Stadt der Region.
In der Folge der frankischen Reichsteilungen wechselte das Elsass zwischen 842 und 925 viermal die uberregionale politische Zuordnung: 842 zum Mittelfrankischen Reich, 870 zum Ostfrankenreich, 913 zum Westfrankenreich und schließlich 925 wieder zum Ostfrankenreich. Aus diesem wurde langsam der Staatenbund des Heiligen Romischen Reiches, als dessen Teil die meisten der sich entwickelnden elsassischen Regionen und Kleinstaaten bis ins 17. Jahrhundert angesehen wurden. Straßburg entwickelte sich zur zweitgroßten Stadt im Ostfrankenreich (nach Koln).
= Heiliges Romisches Reich 925–1648 =
Wieder beim Ostfrankenreich (925) spielte das Elsass anfangs eine politische Sonderrolle, bildete aber spatestens 988 bis 1254 einen Teil des Herzogtums Schwaben. Zwischen dem Ende des 8. und der Mitte des 10. Jahrhunderts wurden als Verwaltungsbezirke die zwei Grafschaften Nordgau und Sundgau eingerichtet. Dabei wurden die bisher zum Elsass gehorenden Juragebiete (sudlich bis zur Aare) abgetrennt.
Vor allem durch das Ende der Staufer 1254 und die damit verbundene Quasi-Auflosung ihres Herzogtums Schwaben, aber auch aufgrund des langsamen allgemeinen Zerfalls der Zentralgewalt im Reich bildeten sich viele verschiedene politische Herrschaften heraus. Diese wurden schnell zu den eigentlichen Tragern der wichtigsten politischen Regierungsgewalten. Sie agierten unter dem Dach des Reiches, seit dem 17. Jahrhundert unter dem des Konigreichs Frankreich, und waren in sehr unterschiedlichem Maße an das Reich bzw. an Frankreich gebunden. Regionale politische Institutionen waren die Landstande und die Reichskreise, in der franzosischen Zeit Intendance, Gouverneur und Conseil souverain.
Zu den wichtigsten Machten des Elsass dieser Zeit kann man die Furstenhauser Habsburg (nur bis 1648), Hanau-Lichtenberg, Wurttemberg und Rappoltstein, die Stadt Straßburg und die Stadte des Zehnstadtebunds, die weltlichen Herrschaften der Bistumer Straßburg und Basel, die Furstabtei Murbach sowie die Besitzungen der Unterelsassischen Ritterschaft rechnen. Die Reichsstadt Mulhausen schloss sich 1515 als Zugewandter Ort der alteren Schweizer Eidgenossenschaft an und blieb damit eines der wenigen Gebilde ohne franzosische landesherrliche Rechte (bis 1798).
= Franzosisches Konigreich 1648–1789 =
Zwischen 1633 und 1681 ubernahm das Konigreich Frankreich nach und nach, teils durch Vertrage (de jure), teils durch Annexion (de facto), in den meisten elsassischen Regionen die Landesherrschaft, meist aber nicht die unterhalb der Ebene der Landesherrschaft liegenden Rechte. Habsburg hingegen trat im Westfalischen Frieden 1648 all seine elsassischen Rechte und Besitzungen ab. Die Annexionen (zuletzt Straßburg 1681) fuhrte Frankreich vor allem im Rahmen seiner sogenannten Reunionspolitik durch. Aufgrund der Friedensschlusse von Rijswijk 1697 und Rastatt 1714 ubernahm das Konigreich Frankreich nun auch de jure die politische Gewalt in den annektierten Gebieten.
Die neu gewonnenen Gebiete zog Frankreich jedoch nicht zum eigenen Zollgebiet – die franzosische Zollgrenze verlief weiterhin uber die Vogesen. Viele Herrschaften standen nur unter franzosischer Oberhoheit, manche von ihnen konnten weiterhin mehr oder weniger autonom und selbstverwaltet agieren.
Die Verbindung von einheitlicher Oberherrschaft und dem Verbleib beim uberkommenen Zoll- und Wirtschaftsraum waren wichtige Faktoren der kulturellen und wirtschaftlichen Blutezeit, die das Elsass zwischen 1648 und 1789 erlebte. Das Franzosische verbreitete sich in Europa, und noch deutlich starker im Elsass, als Verwaltungs-, Handels- und Diplomatensprache innerhalb der stadtischen und landlichen Eliten. Ansonsten blieben die alemannischen (und romanischen) Dialekte im Elsass und die deutsche Sprache erhalten; an der Universitat Straßburg beispielsweise wurde nach wie vor auf Deutsch gelehrt.
= Revolutionszeit und napoleonische Zeit 1789–1815 =
Zu Beginn der franzosischen Revolution wurden 1789 im Zuge der Vereinheitlichung und Zentralisierung Frankreichs die uberkommenen Rechte der elsassischen Herrschaften aufgelost und die beiden Departements Haut-Rhin und Bas-Rhin gegrundet. Ende 1797 kam es zur schrittweisen Einfuhrung franzosischer Institutionen sowie der Gewerbefreiheit. Die Aufhebung der Feudalrechte, Religionsfreiheit, die Gleichheit aller vor dem Gesetz und vor der Steuer sowie die Zivilehe formten die Gesellschaft viel grundlegender um, als es den rheinischen Revolutionsanhangern zur Zeit der Mainzer Republik von 1792/1793 gelungen war. 1798 trat Mulhausen der franzosischen Republik bei.
Ab 1802 erfolgte im Zuge des Friedens von Luneville (1801) die vollstandige Integration der linksrheinischen Gebiete in die Franzosische Republik.
Die Eingliederung in den franzosischen Staat wurde ab 1806 durch Napoleons Kirchenpolitik und die Abschaffung des Revolutionskalenders, der 1793 vom Nationalkonvent eingefuhrt worden war, erleichtert. Ab 1810 wurden franzosische Straßennamen eingefuhrt.
Der zweite Frieden von Paris 1815 legte schließlich die bis heute gultigen franzosischen Außengrenzen fest (Landau und weitere kleinere Gebiete im Nordelsass kamen zu Bayern).
= Reichsland Elsaß-Lothringen 1871–1918 =
Annexion von 1871 Als Folge des zwischen Frankreich und Preußen unter Beteiligung der suddeutschen Staaten gefuhrten Krieges 1870–1871 wurden im Frankfurter Frieden von 1871 Teile Ostfrankreichs, der uberwiegende Teil der beiden elsassischen Departements und ungefahr das nordostliche Viertel des benachbarten Lothringen zum sogenannten „Reichsland Elsaß-Lothringen“ formiert und an das (1871 wahrend des Krieges gegrundete und von Preußen angefuhrte) Deutsche Kaiserreich abgetreten. Innerhalb des bundesstaatlich organisierten Deutschen Reiches bildeten die abgetretenen Gebiete zunachst kein den anderen Teilstaaten gleichrangiges Gebiet, sondern wurden von Behorden des Reichs und Preußens verwaltet. Erst 1911 wurde Elsass-Lothringen den ubrigen deutschen Bundesstaaten gleichgestellt.
Innerhalb der neuen Gebietsgrenzen des Elsass sprachen 94 % der Einwohner Deutsch und 6 % Franzosisch als Muttersprache. Aus primar außenpolitischen Grunden hatte Otto von Bismarck eine Grenzziehung bevorzugt, die sich im Wesentlichen an der deutsch-franzosischen Sprachgrenze orientierte. Dies sollte die internationale Akzeptanz der neuen Grenzziehung erhohen und franzosischen Revisionswunschen entgegenwirken. Die preußischen Militars befurworteten diesen Verlauf mit geringen Anpassungen ebenfalls, um im Suden eine moglichst kurze Grenzlinie zwischen Vogesen und Jura zu erreichen. Daher wurde der sudwestlichste Teil des Departements Haut-Rhin bzw. der elsassischen Region Sundgau mit Belfort und Umgebung, der ausschließlich franzosischsprachige Orte umfasste, abgetrennt und verblieb als neues Departement Territoire de Belfort bei Frankreich. Nur drei franzosischsprachige Ortschaften im Umfeld des Ortes Montreux-Vieux (dt. Altmunsterol) kamen aufgrund des Verlaufs der Bahnstrecke Paris–Mulhouse und der Lage des Grenzbahnhofes Altmunsterol zum Deutschen Reich. Auch im Raum Schirmeck wurde ein Gebiet mit einer (erst seit der franzosischen Neubesiedlung nach dem Dreißigjahrigen Krieg) ganz oder teilweise franzosischsprachigen Bevolkerung ostlich des Vogesenkamms in das Deutsche Reich einbezogen.
Der Frankfurter Friede beinhaltete auch die sogenannte „Option“: Bis zum Oktober 1872 konnten die Einwohner des neuen Landes Elsass-Lothringen entscheiden, ob sie bleiben oder lieber Staatsburger Frankreichs werden wollten, welchletztere Entscheidung bedeutete, Elsass-Lothringen verlassen zu mussen. Fur etwa ein Zehntel der Bevolkerung Elsass-Lothringens, ungefahr 161.000 Menschen, wurden Optionen bei den Behorden abgegeben, etwa 50.000 Burger nahmen sie letztendlich wahr. Franzosischsprachige Gemeinden und Familien Elsass-Lothringens sahen sich ahnlich wie die polnischsprachigen Regionen Preußens Germanisierungs- und Assimilationsversuchen ausgesetzt. Nur teilweise blieb dort das Franzosische Schul- und Amtssprache.
= Frankreich Zwischenkriegszeit 1918–1940 =
Sonderstatus seit Ende des Ersten Weltkriegs Nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag festgelegt, dass das 1871 abgetretene Gebiet wieder Frankreich angegliedert wurde. Das Territoire de Belfort, das bis 1871 Teil des nun wiedererrichteten Departement Haut-Rhin gewesen war, wurde nicht wieder mit diesem vereinigt. Das politische Leben formierte sich weitgehend anhand der Muster aus der Vorkriegszeit. Neben nun zwei liberalen Parteien grundete sich die Elsaß-Lothringische Zentrumspartei neu als Union Populaire Republicaine (UPR).
Die franzosische Sprache wurde als verbindliche Amts- und Schulsprache eingefuhrt. Die reichsdeutschen Beamten und nach 1871 Zugezogene und deren Nachfahren (insgesamt 300.000 Menschen) mussten das Elsass verlassen. Wer die deutsche „Option“ ausubte, wurde als preußischer Staatsburger eingeburgert (eine einheitliche deutsche Staatsburgerschaft gibt es erst seit 1934). Im Gegenzug kehrten viele altere Menschen zuruck, die 1871 nach Frankreich gezogen waren.
Die Euphorie nach der Wiedervereinigung mit Frankreich dauerte nicht lange und wurde durch Bitterkeit, Entfremdung und Frustration ersetzt, welche zu einer Autonomie-Bewegung fuhrten. Einer der Grunde war die Sprache. Von den 1.874.000 Einwohnern Elsass-Lothringens waren 1.634.000 als deutsche Muttersprachler registriert, wobei in „Deutsch-Lothringen“ der moselfrankische und im Elsass der alemannische Dialekt vorherrschte. Die sich vor diesem Hintergrund entwickelnden Ideen und Bestrebungen nach einer regionalen Autonomie innerhalb Frankreichs hatten keinen Erfolg, und der 1918 gegrundete Elsass-Lothringische Nationalrat loste sich bald wieder auf. Auch das 1919 gebildete Generalkommissariat verlor schnell an Bedeutung. Nach 1924 entstand eine Autonomiebewegung, die zuerst konfessionelle, dann eher kulturelle (auch sprachliche) Autonomie einforderte und 1927 in der Grundung der Autonomistischen Landespartei mundete. Nach dem sogenannten „Komplott-Prozess“ von Colmar (die vier Verurteilten wurden nach zwei Monaten begnadigt) entstand das parteiubergreifende Bundnis „Heimatrechtliche Volksfront“, deren Vertreter – insbesondere Charles Hueber – 1929 in Colmar und Straßburg zum Burgermeister gewahlt wurden. Aufgrund der Sympathien der Autonomistischen Landespartei fur die NSDAP zerbrach das Bundnis 1933 durch den Austritt der UPR.
= Reichsanschluss im Zweiten Weltkrieg 1940–1945 =
Mit dem Abschluss des Westfeldzugs 1940 besetzte zunachst die deutsche Wehrmacht das Elsass, unterstellte es einer reichsdeutschen „Zivilverwaltung“ und schloss es mit dem Gau Baden zum neuen Gau Baden-Elsass zusammen. Durch die Annexion (de facto) ubernahm der NS-Staat die Landesherrschaft; zur offiziellen Abtretung des Gebietes durch Vertrage (de jure) mit Frankreich kam es aufgrund des weiteren Kriegsgeschehens aber nicht mehr. Robert Wagner, der Gauleiter von Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsass, betrieb unabhangig von der Muttersprache eine gewaltsame Germanisierungspolitik, bei der 45.000 Menschen aus dem Elsass verwiesen bzw. deportiert wurden. Von den etwa 130.000 zwischen 1942 und 1944 als Volksdeutsche in die Wehrmacht und die Waffen-SS rekrutierten Elsassern und Lothringern (darunter auch viele Freiwillige) kamen etwa 42.500 ums Leben. Die meisten der im Elsass Malgre-nous (sinngemaß: gegen unseren Willen) genannten Soldaten waren an der Ostfront eingesetzt worden. Zuvor waren viele Elsasser von der franzosischen Armee rekrutiert worden, es gab jedoch auch elsassische Freiwillige der Waffen-SS. So wurden 14 Elsasser fur die Teilnahme am Massaker von Oradour verurteilt, an der die 3. Kompanie des SS-Panzergrenadier-Regiment 4 „Der Fuhrer“ der 2. SS-Panzer-Division „Das Reich“ beteiligt war. Wenige Elsasser gehorten dem franzosischen Widerstand (Resistance) an. In einer Offensive vom 12. November bis zum 19. Dezember 1944 ruckten US-Truppen unter Beteiligung der neuformierten franzosischen 1re Armee in weite Teile des Elsass ein und eroberten es fur Frankreich zuruck. Einige Teile des Nordelsass kamen erst im Marz 1945 durch die Operation Undertone unter ihre Kontrolle.
= Modellregion seit 1945 fur deutsch-franzosische und europaische Annaherung =
Nach Kriegsende ging die franzosische Verwaltung dazu uber, die Region ahnlich wie schon in der Zwischenkriegszeit an die franzosische Sprache und Kultur zu assimilieren, Deutsch oder Elsassisch zu sprechen war nun in der Offentlichkeit verpont und an Schulen bis in die 1970er Jahre nicht erlaubt.
1949 erhielt der neu gegrundete Europarat seinen Sitz in Straßburg; er begrundete die „europaische Tradition“ des Elsass. 1972 schuf Frankreich als Gebietskorperschaften 21 Regionen. Die beiden Departements am Rhein (Haut-Rhin und Bas-Rhin) bilden seitdem bis 2015 die „Region Elsass“ (Region Alsace). Die Regionshauptstadt Straßburg wurde 1979 zum Tagungsort des europaischen Parlaments gewahlt, was das Elsass zusammen mit dem Benelux zu einer Kernregion der Europaischen Union macht. Zunachst tagte das Europaische Parlament im Sitzungssaal (hemicycle) des Europarates; 1999 siedelte es in ein eigenes Gebaude uber.
Die Proteste gegen das Kernkraftwerk Fessenheim (bei Freiburg im Breisgau) und das geplante Kernkraftwerk bei Wyhl am Kaiserstuhl in der zweiten Halfte der 1970er Jahre gelten als Geburtsstunde der deutschen wie der franzosischen Okologiebewegung. In dieser Zeit entwickelte sich auch wieder eine Autonomiebewegung mit Forderung nach Erhalt der Zweisprachigkeit, die allerdings (auch weil alles Deutsche lange Zeit durch die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus belastet war) nur geringe Erfolge erzielte.
In den 1980er Jahren zahlte die deutsche Bundesregierung eine finanzielle Entschadigung fur die wahrend des Zweiten Weltkriegs in die Wehrmacht eingezogenen Elsasser, durchschnittlich etwas mehr als 3.000 DM pro Berechtigtem.
Seit 1945 wurde die elsassische Sprache und Kultur von amtlicher und politischer Seite marginalisiert, so dass ein großer Teil der Bevolkerung zu Franzosisch als Standardsprache uberging: Schon in der Zwischenkriegszeit war die stadtische Bourgeoisie franzosischsprachig, die Arbeiterschaft und die landliche Bevolkerung folgten spater. Durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft, Verstadterung und Einwanderungen aus anderen Teilen Frankreichs sowie aus dem Maghreb, Italien, Portugal und der Turkei veranderte sich außerdem die Zusammensetzung der Bevolkerung. Wahrend noch 1946 91 % der Bevolkerung angaben, Elsassisch zu sprechen, waren es 1997 noch 63 % und 2022 nur noch 43 %. Amtssprache im Elsass ist heute ausschließlich Franzosisch. Kenntnisse der autochthonen alemannischen Dialekte (zusammengefasst im Begriff Elsassisch) oder des Hochdeutschen sind daher rucklaufig und vorwiegend noch bei alteren Menschen zu finden. Naheres im Abschnitt Kultur.
Enge wirtschaftliche Verflechtungen zu Nachbarregionen finden sich vor allem innerhalb der Regio Basiliensis sowie im Großraum Straßburg-Kehl, die Zahl der Grenzpendler und der grenzuberschreitende Einkaufs- und Tagestourismus sind hier in den letzten Jahren stark angestiegen. Deshalb gibt es inzwischen an der gesamten Ostgrenze des Elsass zunehmende wirtschaftliche und verkehrsmaßige Verflechtungen, die – im Rahmen der deutsch-franzosischen Beziehungen – seit den 1970er Jahren zur Intensivierung der grenzuberschreitenden Zusammenarbeit an Oberrhein beigetragen haben.
Zum 1. Januar 2016 wurde die bisherige Region Elsass mit den Regionen Lothringen und Champagne-Ardenne zur Region Grand Est fusioniert, was zu Protesten in der Bevolkerung fuhrte. Die franzosische Nationalversammlung beschloss 2019 die Schaffung der Collectivite Europeenne, in der die beiden Departements des Elsass ab 2021 zusammengefasst wurden (s. o.).
Stadte Die bevolkerungsreichsten Stadte im Elsass sind:
Politik = Politische Gliederung =
Die Region Elsass wurde 1972 geschaffen und im Zuge einer Verwaltungsreform 2016 mit den Regionen Lorraine und Champagne-Ardenne fusioniert, was zu Protestkundgebungen mit funfstelliger Teilnehmerzahl gefuhrt hat. Die 2021 aufgrund der Proteste geschaffene Europaische Gebietskorperschaft Elsass umfasst dasselbe Gebiet wie die bis 2015 bestehende Region. Sie gliedert sich in zwei Departements:
Das Elsass hat eine hohe Zahl von Gemeinden, da es in Frankreich – anders als in Deutschland oder in der Schweiz – nie zu nennenswerten Gemeindefusionen kam. Viele Gemeinden haben sich lediglich zu einem Gemeindeverband zusammengeschlossen, an den sie aber nur einige Rechte delegiert haben. Je nach Große und Status werden sie als Metropole, Communaute urbaine (CU), Communaute d’agglomeration (CA) oder Communaute de communes (CC) bezeichnet.
Die Eurometropole de Strasbourg wurde bereits 1966 als Communaute urbaine gegrundet und 2015 in die Rechtsform einer Metropole erhoben. Als Eurometropole hat sie auch grenzuberschreitende Kontakte zu knupfen. Sie umfasst derzeit 33 Gemeinden mit etwa 505.916 Einwohnern.
Im Elsass gibt es zwei Communautes d’agglomeration. Die Mulhouse Alsace Agglomeration umfasst 32 Gemeinden und 255.000 Bewohner, die Colmar Agglomeration 9 Gemeinden und 95.000 Bewohner.
Am 7. April 2013 fand ein Referendum uber die Schaffung einer elsassischen Gebietskorperschaft durch Zusammenlegung der Conseil general du Haut-Rhin und Bas Rhin sowie des Conseil regional d’Alsace statt. Das Referendum wurde zwar von einer Mehrheit der Abstimmenden angenommen, jedoch war die Wahlbeteiligung zu gering, so dass es keine Rechtskraft erlangte.
→ Eine Auflistung und Gegenuberstellung franzosischer und standarddeutscher Versionen elsassischer Ortsnamen findet sich in der Liste deutsch-franzosischer Ortsnamen im Elsass.
= Regionalverwaltung =
Regionalregierung und Spitze der Regionalverwaltung war bis 2015 der Conseil Regional d’Alsace, der Regionalrat. Sitz des Regionalrats war Straßburg. Eine Liste der Prasidenten des Regionalrates findet sich hier. Das Elsass ist traditionell burgerlich-konservativ gepragt und neigt der politischen Rechten zu, zwischen 2010 und 2015 war es die einzige Region, die nicht von einer linken Regierung gefuhrt wurde: Die Regierungspartei UMP und ihre Verbundeten stellten 28 Vertreter im Regionalrat, Sozialisten und Grune 14, der Front National, der hier lange Zeit eine seiner Hochburgen hatte (siehe unten), inzwischen aber hier nur noch durchschnittliche Wahlergebnisse erzielt, 4.
Parteien mit regionalistischer Ausrichtung sind Alsace d’abord und Unser Land.
= Partnerregionen =
Der fruhere Regionalrat schloss ein „Abkommen zur internationalen Zusammenarbeit“ (Accord de cooperation internationale) mit folgenden Regionen ab:
Gyeongsangbuk-do, Sudkorea
Jiangsu, China
Niederschlesien, Polen
Oberosterreich, Osterreich
Oblast Moskau, Russland
Quebec, Kanada
Westrumanien, Rumanien
Wirtschaft Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 28.470 Euro pro Einwohner stand das Elsass an zweiter Stelle der Regionen (in alter Form bis 2015) in Frankreich. Im Vergleich mit dem BIP der EU, ausgedruckt in Kaufkraftstandards, erreicht die Region einen Index von 107,2 (EU-25: 100) (2003).
Im Jahr 2002 kamen rund 38,5 % der elsassischen Importe aus Deutschland. Wahrend das Elsass in den 1990er Jahren eine niedrige Arbeitslosigkeit vorweisen konnte, anderte sich dies durch seit 2002 und noch einmal verstarkt durch die Weltfinanzkrise 2007–2008. Im 4. Quartal 2019 lag die Arbeitslosenquote im Bas-Rhin bei 6,8 und im Haut-Rhin bei 7,8 % (nationaler Durchschnitt: 8,1 %). Verursacht wurde dies vor allem durch die wirtschaftlichen Probleme der Industriebetriebe, die etwa ein Viertel der Elsasser beschaftigen. Die elsassische Wirtschaft versucht sich daher umzuorientieren und neue Arbeitsfelder auf dem Dienstleistungssektor und in der Forschung zu erschließen.
Das Elsass ist wirtschaftlich stark international ausgerichtet: An etwa 35 % der Unternehmen im Elsass sind Firmen aus Deutschland, der Schweiz, den USA, Japan und Skandinavien beteiligt. Zahlreiche deutsche Unternehmen wie Adidas, Schaeffler, Merck oder Liebherr unterhalten Niederlassungen oder Produktionsstandorte im Elsass.
= Land- und Forstwirtschaft =
Der landwirtschaftliche Sektor ist gepragt durch ausgedehnten Weinbau, der vor allem in der Gegend zwischen Schlettstadt und Colmar an der Elsasser Weinstraße betrieben wird. Das Weinbaugebiet Elsass hat AOC-Status. Der Hopfenanbau spielt fur das regionale Brauwesen eine Rolle; die Halfte der franzosischen Bierproduktion kommt aus dem Elsass, vor allem aus der Gegend von Straßburg wie Schiltigheim und Obernai. Kronenbourg wird seit 1664 in Straßburg gebraut, der Name des Biers leitet sich ab von der Kronenburg bei Marlenheim. Die Waldflache im Elsass betragt 312.000 Hektar. Das Elsass ist eines der großten europaischen Anbaugebiete fur Weißkohl, der zu Sauerkraut weiterverarbeitet wird. Seit dem Mittelalter spielte auch der Flachsanbau und die Leinenweberei insbesondere in der Gegend um Colmar eine große Rolle. Ein typisch elsassisches Leinengewebe ist der karierte Kelsch.
Als Wahrzeichen des Elsass gilt der Weißstorch, der in vielen Dorfern seine Nester hat. Als Stofftier kann man den Storch in vielen Souvenirladen kaufen. Im nahegelegenen Hunawihr gibt es den NaturOparC, ein Zentrum fur die Wiedereinfuhrung von Storchen und Ottern. Dies ist ein 5 Hektar großer Tierpark, der sich fur den Schutz der bedrohten lokalen Arten einsetzt, zu denen der Weißstorch gehort.
= Industrie, Bergbau und Rohstoffgewinnung =
Im industriellen Sektor ist die Automobilindustrie vorherrschend: Das Stellantis-Werk in Mulhausen produziert mit uber 6000 Mitarbeitern taglich mehr als 1000 Fahrzeuge der Baureihen Peugeot 308 III, Peugeot 508 II und DS 7 Crossback. Daruber hinaus produziert Bugatti Automobiles am historischen Standort in Molsheim Supersportwagen der Luxusklasse. Die chemische Industrie verfugt uber große Produktionskapazitaten in Ottmarsheim (Borealis, Pec-Rhin) und Chalampe (Butachimie, 35 % der globalen Produktion von Adiponitril). Im Bergbau, der ein Jahrhundert lang rund 560 Millionen Tonnen Kalisalz gefordert hat, arbeiteten noch im Jahr 1950 etwa 13.000 Beschaftigte im Kalirevier. Heute ist der Bergbau nur noch Thema eines Museums bei Wittelsheim. Die erste Forderung von Erdol auf europaischem Boden war in Pechelbronn im Elsass, entsprechend befindet sich dort das Musee du Petrole.
= Energiewirtschaft =
In der Energiewirtschaft sind die neun, von der EDF betriebenen Wasserkraftwerke am Oberrhein pragend, die im Jahr durchschnittlich mehr als 7 Milliarden kWh elektrische Energie liefern. Bis Mitte 2020 war das Kernkraftwerk Fessenheim in Betrieb. Im letzten vollstandigen Betriebsjahr vor der Stilllegung (2019) produzierte es 12,3 Milliarden kWh elektrische Energie. Bis zur Stilllegung 2011 verarbeitete die Raffinerie Reichstett bei Straßburg Rohol aus der bis ins Elsass reichenden Sudeuropaischen Pipeline.
= Biotechnologie =
Die Unternehmen der Biotechnologie und deren Forschungseinrichtungen sind im grenzubergreifenden Verband Biovalley vernetzt.
= Tourismus =
Im Jahr 2018 verzeichnete das Elsass 23 Millionen Besucher, davon waren 15 Millionen Ubernachtungsgaste und 8 Millionen Tagestouristen.
Verkehr = Straßennetz =
Die wichtigste Straßenverbindung im Elsass ist die mautfreie Autobahn A 35, sie ist die Nord-Sud-Verbindung von Lauterbourg bis Saint-Louis bei Basel. Sudlich von Straßburg verlauft die A 35 auf einer kurzen Strecke als Nationalstraße, wobei geplant ist, diese Lucke zu schließen.
Die vielbefahrene A 4 fuhrt von Straßburg nach Saverne und weiter bis Paris. Sie ist ab der Mautstelle bei Hochfelden (20 km nordwestlich von Straßburg) mautpflichtig. Die A 36 fuhrt von der deutschen A 5 vom Autobahndreieck Neuenburg aus nach Westen in Richtung Paris/Lyon und wird ab der Mautstelle bei Burnhaupt-le-Haut mautpflichtig.
In den 1970er und 1980er Jahren wurden die Autobahnen in Transitstrecken und in Ausfallstraßen fur die großen Ballungsgebiete umgewandelt. Seitdem fließt der Durchgangsverkehr auf zwei bis drei Fahrspuren in 1 km Entfernung um Straßburg und in 1,5 km Entfernung um Mulhausen herum. Die hohe Verkehrsdichte verursacht starke Umweltbelastungen, das gilt vor allem auf der A 35 bei Straßburg mit 170.000 Fahrzeugen pro Tag (Stand: 2002). Auch der starke Stadtverkehr auf der A 36 bei Mulhausen hat regelmaßig Verkehrsbehinderungen zur Folge. Dies konnte nur vorubergehend durch den Ausbau auf drei Fahrspuren pro Richtung vermindert werden.
Um den Nord-Sud-Durchgangsverkehr aufzunehmen und Straßburg zu entlasten, verlauft seit 2021 die mautpflichtige Autobahn A355 westlich der Stadt. Diese Trasse verbindet das Autobahndreieck bei Hœrdt im Norden mit Innenheim im Suden.
Hinzu kommt wegen der Einfuhrung der Lkw-Maut in Deutschland 2005 eine erhebliche Zunahme des zuvor uber die deutsche A 5 gefahrenen Lastverkehrs auf die parallel verlaufende und mautfreie elsassische Autobahn. Daher forderte Anfang 2005 Adrien Zeller, der damalige Prasident der Region Alsace, die Ausweitung des deutschen Mautsystems Toll Collect auf die elsassische Strecke.
= Schienennetz =
Im Elsass besteht ein Schienennetz, das sowohl an den Hochgeschwindigkeits- wie den Regionalverkehr angeschlossen ist. Die LGV Rhin-Rhone von Dijon nach Mulhausen und weiter in Richtung Basel und nach Freiburg ist großtenteils seit 2011 fertiggestellt. Die LGV Est europeenne von Paris nach Straßburg und weiter uber die Europabahn nach Stuttgart bzw. Munchen, sowie mit Abzweig uber Saarbrucken nach Frankfurt wurde 2016 fertiggestellt. Betreiber des regionalen Schienenverkehrs ist seit der Neugliederung der Regionen im Jahr 2016 der TER Grand Est, zuvor war es der TER Alsace. Straßenbahnen (Trams) finden sich in Straßburg (Straßenbahn Straßburg) und Mulhausen (Straßenbahn Mulhausen). Das Tarifangebot Alsa plus ist eine Tageskarte zur Nutzung des OPNV in Teilbereichen oder im gesamten Elsass.
Im Elsass (und im lothringischen Departement Moselle) benutzen die Zuge bei zweigleisigen Verbindungen entgegen der sonst in Frankreich gultigen Regel das rechte Gleis, daher sind an den entsprechenden Schnittstellen Uberwerfungsbauwerke vorzufinden.
Der Vogesentunnel von Sainte-Marie-aux-Mines (Markirch) nach Saint-Die war bis 1973 ein Eisenbahntunnel. Seit 1976 ist er als Mautstrecke dem Straßenverkehr vorbehalten. Das Bauwerk war von 2004 bis 2008 zur Erweiterung der Sicherheitsvorrichtungen gesperrt und wurde am 1. Oktober 2008 wiedereroffnet.
= Wasserstraßen =
Mehr als 420 km Wasserwege im Elsass sind schiffbar und es existieren 36 Anlegestellen und Hafen fur die Sportschifffahrt. Nach Suden, Richtung Mittelmeer, geht der Rhein-Rhone-Kanal, nach Westen, Richtung Paris, der Canal de la Marne au Rhin. In den elsassischen Hafen werden uber 15 Millionen Tonnen Guter umgeschlagen. Drei Viertel davon entfallen auf Straßburg, das den zweitgroßten Binnenhafen Frankreichs hat. Die Erweiterung des Rhein-Rhone-Kanals, der die Rhone und damit das Mittelmeer mit dem mitteleuropaischen Flussnetz (Rhein) und damit der Nordsee und der Ostsee verbindet, wurde 1998 wegen der Kosten und der Zerstorung der Landschaft, vor allem im Tal des Doubs, eingestellt. Der Canal de la Bruche wurde bis 1939 genutzt.
= Flugverkehr =
Es gibt im Elsass zwei internationale Flughafen:
den Flughafen Straßburg (Aeroport de Strasbourg) bei Entzheim sudwestlich von Straßburg
den binationalen Flughafen Basel-Mulhausen (EuroAirport Basel Mulhouse Freiburg) in Saint-Louis zwischen Mulhausen und Basel
Beide Flughafen hatten 2022 zusammen ein Aufkommen von knapp 8 Millionen Passagieren.
Des Weiteren gibt es Flugplatze in Habsheim, Colmar, Straßburg-Neuhof, Saverne-Steinbourg, Haguenau und Sarre-Union.
= Radwege =
Das Elsass besitzt knapp 2.700 Kilometer ausgebaute Radwege.
Drei EuroVelo-Routen fuhren durch das Elsass:
die EV5: Via Francigena von London nach Rom/Brindisi uber den Saarkanal und den Rhein-Marne-Kanal
die EV6: vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer – von Nantes nach Budapest uber den Rhein-Rhone-Kanal
die EV15: Veloroute Rhin/Rheinradweg von Andermatt (Schweiz) nach Rotterdam
Kleinere Verbindungen verlinken das Elsass mit den benachbarten Pfalz und Baden, darunter:
der Pamina-Radweg Lautertal (Itineraire cyclable de la Lauter) von Lauterbourg nach Dahn uber Wissembourg
Baden-Baden – Hagenau
Offenburg (Badische Weinstraße) – Molsheim (Elsassische Weinstraße) – Itineraire cyclable europeen (Europaischer Radwanderweg) via Kehl – Straßburg
Elzach im Schwarzwald – Ville in den Vogesen uber den Kaiserstuhl
Alle Treidelwege der elsassischen Kanale (Saarkanal, Rhein-Marne-Kanal, Breuschkanal, Rhein-Rhone-Kanal) sind asphaltiert. Viele stillgelegte Bahntrassen sind als Radwege nutzbar, so zum Beispiel:
Lembach–Walbourg (ehemalige Bahn der Maginot-Linie)
Surbourg–Betschdorf und Hatten (Bas-Rhin)–Niederroedern
2,5 km westlich von Obermodern bis vor Bouxwiller und nach Bouxwiller uber Neuwiller-les-Saverne bis vor Dossenheim-sur-Zinsel
Odratzheim–Westhoffen (ehemalige Straßenbahntrasse von Straßburg nach Westhoffen)
Romanswiller–Wasselonne–Marlenheim
Marlenheim–Molsheim an der Elsassischen Weinstraße.
Kultur = Sprachen und Dialekte =
→ Siehe auch: Sprachen und Dialekte im Elsass, Elsassisch, Grenzorte des alemannischen Dialektraums, Romanische Dialekte im Elsass, Welche
Seit dem Fruhmittelalter sind im Elsass germanische Mundarten beheimatet. Sie werden heute unter dem Begriff „Elsassisch“ (seltener auch „Elsasserdeutsch“) zusammengefasst. Unter diesen herrschen alemannische Dialekte vor, uberwiegend Oberrheinalemannisch, ganz im Suden auch Hochalemannisch. Sudfrankische Dialekte werden ganz im Norden um Wissembourg und Lauterbourg und Rheinfrankisch im nordwestlichen Zipfel des Krummen Elsass um Sarre-Union gesprochen. Die Anwendung einer deutschen Standardsprache hing von politischen Gegebenheiten ab.
Im Fruhmittelalter wurde jedoch nicht das ganze heutige Elsass sprachlich germanisiert: Romanische Dialekte (Patois) bzw. die franzosische Sprache sind daher bereits traditionell in manchen Gebieten der Vogesen (oberes Breuschtal, Teile des Weilertals, um Sainte-Marie-aux-Mines und um Lapoutroie) und im westlichen Sundgau (um Montreux) verankert (siehe Romanische Dialekte im Elsass und Grenzorte des alemannischen Dialektraums). Auch das heutige Territoire de Belfort, das bis 1648 bzw. 1789 Teil des habsburgischen bzw. koniglich-franzosischen Sundgau war und erst 1871 vom Departement Haut-Rhin abgetrennt wurde, ist traditionell romanisch- bzw. franzosischsprachig.
Das Franzosische gewann vor allem zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert sukzessive an Gewicht. Das hing vor allem mit der politischen Geschichte, insbesondere den Folgen des Dreißigjahrigen Krieges zusammen, aber auch partiell mit dem Ansehen, das das Franzosische vor allem in der Fruhen Neuzeit europaweit in Adel und gehobenem Burgertum genoss.
Nach der Eroberung durch franzosische Truppen 1639–1681 kam das Franzosische beispielsweise mit den koniglichen Verwaltungsbeamten sowie Einwanderern und Handlern aus Zentralfrankreich ins Elsass. Die uberwiegenden Bevolkerungskreise verwendeten jedoch weiterhin Deutsch bzw. ihren jeweiligen germanischen oder romanischen Dialekt.
Das Franzosische verbreitete sich in Europa und noch starker im Elsass als Verwaltungs-, Handels- und Diplomatensprache innerhalb der stadtischen und landlichen Eliten. Ansonsten blieben die germanischen (und romanischen) elsassischen Dialekte und die deutsche Sprache erhalten; an der Universitat Straßburg beispielsweise wurde nach wie vor auf Deutsch gelehrt.
Nach der Franzosischen Revolution anderte sich die Sprachpolitik des franzosischen Staates, der nun fur Frankreich sprachliche Einheit propagierte. Daruber hinaus fand Franzosisch vor allem in diejenigen Bevolkerungskreise Eingang, die mit den Ideen der Revolution sympathisierten. Deutsch bzw. die deutschen Dialekte waren nun Teil einer Entwicklung zu partieller Zweisprachigkeit. In den Gegenden des Patois setzte sich aufgrund des Schulunterrichts das Franzosische durch. Wie in anderen nicht franzosischsprachigen Regionen Frankreichs oder anderen Minderheitenregionen anderer europaischer Staaten wurde die Minderheitensprache vor allem in den Schulen zunehmend durch die Sprache der Mehrheit erganzt oder von ihr verdrangt.
Wahrend der Zugehorigkeit zum Deutschen Kaiserreich (Reichsland Elsaß-Lothringen, 1871–1918) wurde die „Sprachenfrage“ in einem Gesetz vom Marz 1872 zunachst so geregelt, dass als Amtssprache grundsatzlich Deutsch bestimmt wurde. In den Landesteilen mit uberwiegend franzosischsprachiger Bevolkerung sollte den offentlichen Bekanntmachungen und Erlassen jedoch eine franzosische Ubersetzung beigefugt werden. In einem weiteren Gesetz von 1873 wurde fur diejenigen Verwaltungseinheiten, in denen Franzosisch ganz oder teilweise vorherrschte, der Gebrauch des Franzosischen als Geschaftssprache zugelassen. In einem Gesetz uber das Unterrichtswesen von 1873 wurde geregelt, dass in den deutschsprachigen Gebieten Deutsch ausschließliche Schulsprache war, wahrend in den franzosischsprachigen Gebieten der Unterricht ausschließlich auf Franzosisch gehalten werden sollte. Franzosischsprachige Gemeinden und Familien Elsass-Lothringens sahen sich ahnlich wie die polnischsprachigen Regionen Preußens insgesamt jedoch Germanisierungs- und Assimilationsversuchen ausgesetzt. Nur teilweise blieb dort das Franzosische Schul- und Amtssprache.
Die franzosische Sprachpolitik zwischen 1918 und 1940 war streng gegen die deutsche Sprache bzw. den elsassischen Dialekt ausgerichtet. Die franzosische Sprache wurde als verbindliche Amts- und Schulsprache eingefuhrt. In Schule und Verwaltung wurde ausschließlich Franzosisch zugelassen. Seit den Wahlen vom November 1919 und bis Anfang 2008 war es jedoch den Kandidaten aus den drei Departements Haut-Rhin, Bas-Rhin und Moselle gestattet, Wahlkampfschriften in beiden Sprachen, Franzosisch und Deutsch, zu verbreiten.
Wahrend der Besetzung durch den NS-Staat zwischen 1940 und 1944 erlebte das Elsass erneut eine Steigerung an restriktiver Sprachpolitik. Diese war rucksichtslos an die NS-Ideologie angepasst. Die Umwandlung von franzosischen Vornamen in deutsche gehort sicherlich zu den harmloseren, aber typischen Beispielen. Die Politik der NSDAP und der von ihr beherrschten Zivilverwaltung (Unterdruckung der Bevolkerung, Germanisierungspolitik, groteske antifranzosische Kulturpolitik, Einzug in die Wehrmacht und Anderes) forderte nachhaltig die Abwendung des Elsass von Deutschland.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Franzosisch zur Verkehrs-, Amts- und Schulsprache. Kenntnisse bzw. vor allem aktiver Gebrauch der autochthonen alemannischen, sud- oder rheinfrankischen Dialekte (zusammengefasst im Begriff Elsassisch) oder des Standarddeutschen sind daher rucklaufig und zunehmend auf die altere Generation beschrankt.
Die franzosische Sprachpolitik der Vorkriegszeit setzte sich im Prinzip fort, verstarkt infolge die Erfahrung der Besetzung Frankreichs und des nationalsozialistischen Terrors, die dazu fuhrte, dass alles Deutsche misstrauisch bis ablehnend betrachtet wurde. Die alteren Generationen kommunizierten weiterhin in elsassischen Dialekten, wahrend die Transmission, die Weitergabe an die Folgegenerationen, mehr und mehr nachließ – vor allem in der Sorge, dass die Kinder „gutes Franzosisch“ lernen mussten. Wahrend das Elsassische in den ersten Nachkriegsjahrzehnten seine Position als Sprache der Bevolkerungsmehrheit behielt, begann ab den 1970er-Jahren ein starker Ruckgang der Transmission des Elsassischen. Die jungeren Generationen, insbesondere in den großeren Stadten, benutzen entsprechend ihrer Schulbildung mehr und mehr die franzosische Sprache. In den Schulen wird Deutsch uberwiegend als Fremdsprache unterrichtet. Erst in den 1990er-Jahren wurden erstmals Maßnahmen getroffen, um den Ruckgang sowohl des Dialekts als auch des Hochdeutschen zu stoppen. 1991 wurden die ersten zweisprachigen Schulen mit sowohl deutscher als auch franzosischer Unterrichtssprache gegrundet. Seitdem steigt kontinuierlich die Anzahl der Schuler, die bilinguale Schulen bzw. Kindergarten besuchen. 2016 wurden bilinguale Schulen im Elsass von uber 34.000 Schulern besucht. Im Schuljahr 2020/21 besuchten 18,5 % der elsassischen Vor- und Grundschuler eine zweisprachige Schule.
Wahrend es im statistisch stark erforschten Frankreich keine offiziellen Erhebungen uber „Privates“ wie zum Beispiel die Muttersprache, gibt, zeigen Umfragen, dass sich selbst im dritten Jahrtausend noch mehr als die Halfte der Bevolkerung selbst Fahigkeiten im regionalen Dialekt zuschreibt. Wie das in Straßburg ansassige Office pour la Langue et Culture d’Alsace (OLCA, „Amt fur Sprache und Kultur im Elsass“) angibt, bezeichneten sich 2022 noch 46 % (2012: 43 %, 2001: 61 %, 1997: 63 %) der Befragten einer Studie als „dialektsprachig“ (dialectophone) – das entsprache knapp 900.000 Einwohnern. Am starksten finden sich diese Elsassischsprecher im landlichen Raum, in Dorfern, in geringerem Umfang aber auch in den Stadten. Neben diesen 46 % Elsassischsprechern gaben 19 % an, wenig zu sprechen, und 34 % gaben an, uber keine Elsassisch-Kenntnisse zu verfugen. Selbst unter den 18- bis 29-Jahrigen fanden sich 1997 noch 38 % Elsassischsprecher, 2012 waren es nur noch 12 %. Zudem erklarten 2022 54 % der Befragten, Hochdeutsch fließend oder gut zu sprechen, nur 23 % gaben an, uberhaupt kein Hochdeutsch zu konnen.
Unter dem Motto E Friehjohr fer unseri Sproch („Ein Fruhjahr fur unsere Sprache“) finden sich seit 2001 Theater- und Musikgruppen, Mundartdichter, Heimatvereine und Sprachpfleger zusammen, um Werbung fur den Erhalt des Elsassischen zu machen. Zudem subventioniert der Regionalrat elsassische Sprachkurse. France 3 Alsace sendet von Montag bis Freitag die Nachrichtensendung „Rund Um“, in der ausschließlich Elsassisch gesprochen wird. Eine Gefahr besteht in der Folklorisierung der Dialekte, eine Tendenz, die aber auch in deutschsprachigen Landern beobachtet werden kann. Das Verschwinden des Deutschen bzw. der elsassischen Dialekte ist Thema mancher bekannter Schriftsteller geworden (Rene Schickele, Andre Weckmann, Hans Arp u. a.).
In der politischen Debatte um den Erhalt des Deutschen ist eine eindeutige Praferenz zugunsten der Dialekte und zu Ungunsten des Standarddeutschen gesetzt worden. Man orientiert sich also weniger an der Schweiz, wo Mundart und zugehorige Standardsprache nebeneinander existieren (Diglossie), sondern mehr an Sprachmodellen wie Luxemburg, wo der Dialekt gegenuber der zugehorigen Standardsprache hoher bewertet wird und sogar zur Schriftsprache ausgebaut wird. So hat man sich beispielsweise in Straßburg im Zusammenhang mit der Dokumentation von deutschen Straßennamen auf Straßenschildern nach langer Diskussion nicht fur Standarddeutsch, sondern fur die Straßburger Mundart entschieden. Das Problem bei der Hoherbewertung der Dialekte gegenuber der zugehorigen Standardsprache ist, dass auch im Elsass Mundarten regional und sozial starke Unterschiede aufweisen. Ein Uberleben der Dialekte hangt dann moglicherweise auch davon ab, inwiefern ein „Standardelsassisch“ etabliert ist oder etabliert werden kann.
Die 1992 von der franzosischen Regierung unterzeichnete Europaische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wurde bis heute (Stand: 2015) nicht vom franzosischen Parlament ratifiziert und besitzt daher weiterhin keine gesetzliche Geltung in Frankreich.
Im Elsass lag der Anteil der Schuler, die Deutsch 2018 zumindest als Fremdsprache lernten, bei 82,5 %, was deutlich hoher ist als der landesweite Schnitt von 16,5 %. 98 % aller Grund- und Vorschuler lernen Deutsch an elsassischen Schulen. In der Mittelstufe waren es im Jahr 2010 es noch 73,2 %, im Gymnasium (Lycee) dann 15,4 %. Dies sind alles Werte weit uber dem franzosischen Durchschnitt. Auch werden ein Viertel aller AbiBac-Abschlusse in Frankreich im Elsass gemacht. Dennoch ist aus Sicht des Schulamts die Erfolgsbilanz durchwachsen. Zwar steigen 10 % der Kindergartenschuler in einen paritatischen Deutschunterricht ein, aber von den anfanglichen 19.000 Schulern sind im College nur noch 3500 ubrig. Im Gymnasium sind es nur noch unter 1000 Schuler. Zudem besteht ein Lehrermangel, den man durch Kooperationen mit deutschen Schulen bekampfen will. Insgesamt ist eine Investition von einer Million Euro zur Forderung des deutschsprachigen Unterrichts vorgesehen. Zu den Bemuhungen gehort auch eine Werbekampagne fur die deutsche Sprache. Die Politik unterstutzt dies, da nur noch rund 1 % der Erstklassler Elsassisch beherrschten und sich die Elsasser seit 2005 auf 10.000 Stellen nicht mehr bewerben konnten, weil es an Sprachkenntnissen mangele.
Entwicklung der topografischen Namen Der mehrfache Wechsel des Elsass zwischen Deutschland und Frankreich hat auch Einfluss auf die Entwicklung der topografischen Namen gehabt. Ursprunglich waren die Namen deutsch, wurden dann aber seit dem 17. Jahrhundert teilweise franzosisiert. Wahrend der deutschen Annexionen von 1871 bis 1918 und 1940 bis 1944 wurde diese Entwicklung teilweise ruckgangig gemacht, danach wurden wieder die franzosischen Namen eingefuhrt.
In einem Artikel von 2013 hat Claude Otto dieses Phanomen untersucht. Im Folgenden gilt immer <deutscher Name>/<franzosischer Name>:
Ab dem 17. Jahrhundert wurden zunachst nur militarische Anlagen und Regierungssitze bzw. Wohnsitze hoher franzosischer Adliger mit franzosischen Namen benannt, zum Beispiel Saint-Louis oder La Petite-Pierre. Manche Orte hatten schon fruh Namen im franzosischsprachigen Grenzland, zum Beispiel Kestenholz/Chatenois oder Rappoltsweiler/Ribeauville. Maursmunster/Marmoutier wurde nach der Abbaye de Marmoutier bei Tours benannt. Bei manchen Namen wurde nur die Orthografie angepasst, zum Beispiel Kolmar/Colmar und Worth/Wœrth, bei anderen der Name an die franzosische Aussprache angepasst, zum Beispiel Straßburg/Strasbourg, bzw. an die elsassische Aussprache angepasst, zum Beispiel Weißenburg/Wissembourg und Schlettstadt/Selestat. Wieder andere Namen wurden mit einer franzosischen Erganzung erweitert, zum Beispiel Dieffenbach-les-Wœrth und Oberhoffen-sur-Moder. Die Namensbestandteile „-hausen“ und „-weiler“ wurde gemaß der elsasserdeutschen Aussprache -huse und -wiler zu „-house“ und „-willer“ franzosisiert.
Auch nach der Franzosisierung blieben manche Namen fur „Innerfranzosen“ (Nicht-Elsasser Franzosen) unaussprechlich, zum Beispiel Souffelweyersheim, Scharrachbergheim. Wie auch fast uberall in Deutschland (Ausnahme: Baden), Osterreich und der Schweiz blieben deutsche Rechtschreibreformen ohne Einfluss auf die Schreibung der Ortsnamen, so wird zum Beispiel -tal weiterhin -thal geschrieben, zum Beispiel Jaegerthal.
Kunst = Religionen =
Christentum Das Elsass wurde im 5. Jahrhundert christianisiert und brachte im Mittelalter eine Reihe bedeutender Kirchen und Kloster hervor. In der Reformation spielte das Elsass durch Personlichkeiten wie Martin Bucer eine große Rolle, und die Reichsstadt Straßburg wurde zu einem Zentrum der Reformation in Sudwestdeutschland, jedoch blieb bis auf einige Territorien der großte Teil des Elsass katholisch. Auch andere Stadte in Elsass wurden zu Hochburgen der Reformation vor 1530: Hagenau, Mulhausen, und moglicherweise Wissembourg. Die christlichen Kirchen waren in Konsistorien organisiert, die vor der Revolution den lokalen Fursten, danach den Prafekten der beiden Departements unterstanden.
Die christlichen Konfessionen im Elsass haben sich bis heute ihre historisch bedingte Bindung an den Staat bewahrt. So bekommen die Gemeinden – anders als im restlichen Frankreich, wo 1905 das Gesetz zur Trennung von Religion und Staat eingefuhrt wurde – immer noch aufgrund der napoleonischen sogenannten Organischen Artikel Zuschusse zu der Pfarrerbesoldung vom Staat als Staatsleistung. Die Protestantische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses von Elsass und Lothringen gehort mit der Reformierten Kirche von Elsass und Lothringen zu der eigenstandigen Union Protestantischer Kirchen von Elsass und Lothringen. Der gleiche Status, der damit den Zustand des napoleonischen Konkordats von 1801 wiedergibt, gilt fur die Elsasser Gemeinden der Romisch-katholischen Kirche in Frankreich.
Insgesamt sind im Elsass etwa 70 % der Bevolkerung katholisch, 17 % protestantisch (die meisten davon Lutheraner, der Rest zumeist Reformierte), und 5 % gehoren anderen Religionen an. Das ist der hochste Anteil an Protestanten in allen heutigen franzosischen Regionen. Bis zu ihrer Verdrangung im Dreißigjahrigen Krieg hatten die Taufer eine große Prasenz in Elsass, insbesondere die Mennoniten (mit Kirchengebaude) und Amische (ohne Kirche). Einige mennonitische Gemeinden existieren noch heute, zum Beispiel in Geisberg bei Wissembourg.
Judentum Historisch waren die judischen Gemeinden stark vertreten, insbesondere im Vergleich zum inneren Frankreich. Dies hatte seinen Grund darin, dass die Juden schon im Mittelalter vollstandig aus Frankreich vertrieben wurden, wahrend sie sich im Elsass, das damals zum Heiligen Romischen Reich gehorte und erst viel spater zu Frankreich kam, behaupten konnten. In den Jahren 1940–1944 wurden viele elsassische Juden deportiert und ermordet, seit den 1960er Jahren siedelten sich vor allem in Straßburg viele sephardische Juden aus Nordafrika an, die die Gemeinden neu belebten. Organisatorisch sind die judischen Gemeinden vertreten durch das Consistoire Colmar und das Consistoire Straßburg.
Islam Inzwischen sind auch Muslime hier stark vertreten, insbesondere durch Einwanderer aus der Turkei und dem Maghreb. Damit ist das Elsass der „religioseste Teil Frankreichs“.
= Essen und Trinken =
Die Elsassische Kuche ist fur einige kulinarische Spezialitaten bekannt. Zu diesen gehoren:
Flammkuchen (tarte flambee) (elsassisch: Flammekuech – „ue“ als ue oder o gesprochen)
Gugelhupf (Hefe-Napfkuchen) (im Elsass: Kugelhopf; elsassisch: Kojelhopf, franzosisch oft Kouglof)
Choucroute (Sauerkraut) (elsassisch: Surkrut)
Baeckeoffe („Backerofen“: Eintopf aus Fleisch, Kartoffeln und Lauch, das elsassische Hauptgericht)
Schiffala (Geraucherte Schweineschulter, Schaufele)
Bredele („Brotlein“: Butterplatzchen mit Zimt und Nussen)
Mignardises (suße Tortchen)
Friands (suße Teigpasteten)
Birewecke (Fruchtebrot mit Birnen)
Cremant d’Alsace (elsassischer Schaumwein)
Quetsch d’Alsace (Zwetschgenwasser), das auf Grund alter (elsassisch/deutscher) Rechte in Hausbrennereien in zwei Brenndurchgangen hergestellt wird mit Alkoholgehalten uber 50 % (man vergleiche den franzosischen Artikel)
Tarte aux pommes (Elsasser Apfelkuchen) (elsassisch: Apfelwaia)
Tarte aux quetsches (Zwetschgentorte) (elsassisch: Zwatschgawaia)
Galettes de pommes de terre (kleine Kartoffelpfannkuchen) (elsassisch: Grumbeerekiechle, wortlich „Grundbirnenkuchlein“. Auch in den pfalzischen Dialekten sagt man Grumbeere oder Grumbiere fur „Kartoffel“), entsprechend dem osterreichischen Erdapfel und dem norddeutschen Erpel.
Tarte a l’oignon (Elsasser Zwiebelkuchen) (elsassisch: Zwiwwelkuech)
Coq au Riesling (Coq au Vin „Hahn in Wein“; unter Verwendung von Elsasser Riesling)
Foie gras (Pastete aus der Leber gestopfter Ganse oder Enten)
Munster (Munsterkase; intensiv schmeckender, cremiger Kase mit rotlicher Rinde) (elsassisch: Minschterkas)
= Sport =
Die Fußballer von Racing Straßburg spielten viele Jahre in der Ligue 1, der hochsten Spielklasse im franzosischen Fußball, und gehorten dort Ende der 1970er Jahre sogar zu den Spitzenmannschaften. 1979 wurde der Klub zum ersten und bisher einzigen Mal franzosischer Meister. Die meisten Vereine im Elsass haben, aufgrund dessen wechselhafter Geschichte, ihre Wurzeln in deutschen Vorgangerklubs. So zum Beispiel wurde Racing Straßburg 1906 als FC Neudorf gegrundet.
Zeitungen, Zeitschriften, Periodika Im Elsass erscheinende regionale Tageszeitungen sind die Dernieres Nouvelles d’Alsace (DNA) aus Straßburg und L’Alsace aus Mulhausen, die heute beide zur EBRA Mediengruppe gehoren.
Bekannte Elsasser Siehe auch Liste bedeutender Kirchen im Elsass
Bibliotheque Alsatique du Credit Mutuel
Elsgau
Cette histoire qui a fait l’Alsace
Filmografie Die Elsasser. Spielfilm, Frankreich, 1996, unter anderem mit Irina Wanka und Sebastian Koch (Der Film besteht aus vier Episoden von je 90 Minuten und erzahlt die Geschichte des Elsass zwischen 1870 und 1953 mittels Geschichten fiktiver Familien).
Bilderbuch. Elsass – Die sudliche Weinstraße. Dokumentation, 2007, 45 Min., Buch und Regie: Willy Meyer, Produktion: SWR, Erstsendung: 17. Juni 2007, Inhaltsangabe (Memento vom 25. September 2009 im Internet Archive) der ARD
Bilderbuch. Elsass – Die nordliche Weinstraße. Dokumentation, 2008, 45 Min., Buch und Regie: Willy Meyer, Produktion: SWR, Erstsendung: 9. Marz 2008, Inhaltsangabe (Memento vom 25. September 2009 im Internet Archive) der ARD
Die Linden von Lautenbach. TV-Spielfilm, Frankreich / BR Deutschland 1982, Regie Bernard Saint-Jacques, mit Mario Adorf. Nach dem Buch von Jean Egen.
Literatur Das Elsass. Ein literarischer Reisebegleiter. Insel, Frankfurt 2001, ISBN 3-458-34446-2 (elsassische Impressionen von funfzig Schriftsteller/-innen aus funf Jahrhunderten).
Michael Erbe (Hrsg.): Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten. Kohlhammer, Stuttgart 2002, ISBN 3-17-015771-X.
Gustav Faber: Elsass (= Artemis-Cicerone Kunst- und Reisefuhrer). Artemis, Munchen/Zurich 1989, ISBN 3-7608-0802-6.
Christopher F. Fischer: Alsace to the Alsatians? Visions and Divisions of Alsatian Regionalism, 1870–1939. Oxford-New York: Berghahn 2010.
Robert Greib, Frederic Hartweg, Jean-Michel Niedermeyer, Francois Schaffner: Sprache & Kultur im Elsass: Eine Geschichte. Salde-Verlag, Strasbourg 2016, ISBN 978-2-903850-40-1.
Frederic Hartweg: Das Elsaß. Stein des Anstoßes und Prufstein der deutsch-franzosischen Beziehungen. In: Robert Picht u. a. (Hrsg.): Fremde Freunde. Deutsche und Franzosen vor dem 21. Jahrhundert. Piper, Munchen 2002, ISBN 3-492-03956-1, S. 62–68.
Marianne Mehling (Hrsg.): Knaurs Kulturfuhrer in Farbe Elsaß. Droemer Knaur, Munchen 1984.
Hermann Schreiber: Das Elsaß und seine Geschichte, eine Kulturlandschaft im Spannungsfeld zweier Volker. Katz, Gernsbach 1988, ISBN 3-925825-19-3; NA: Weltbild, Augsburg 1996.
Bernard Vogler: Kleine Geschichte des Elsass. DRW-Verlag, Leinfelden-Echterdingen 2010, ISBN 3-7650-8515-4.
Bernard Wittmann: Alsace, une langue qu’on assassine. Livre noir du jacobinisme scolaire en Alsace. Salde, Straßburg [2020], ISBN 978-2-903850-62-3.
Jean-Michel Niedermeyer: Die Orte einer Sprache. Elsassische Sprache ab 1789 in Bilder und Karikaturen. SALDE-Verlag, 2020, ISBN 978-2-903850-62-3.
= Alteres Schrifttum =
Martin Zeiller: Topographia Alsatiae etc. Hrsg.: Matthaus Merian (= Topographia Germaniae. Band 3). 1. Auflage. Matthaeus Merian, Frankfurt am Main 1643 (Volltext [Wikisource]).
Weblinks Linkkatalog zum Thema Elsass bei curlie.org (ehemals DMOZ)
Literatur zum Elsass im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Regionale Kultur auf alsace-culture.com
Rolf Muller: Erinnerungen an eine Zeit, als im Elsass nach Erdol gebohrt wurde. In: Badische Zeitung, 7. April 2018 (musee-du-petrole.com Musee du Petrole)
Elsass: im Herzen Europas auf france.fr
Visit Alsace, die offizielle Tourismus-Website des Elsass
Christiane Kohser-Spohn: Der Traum vom gemeinsamen Europa. Autonomiebewegungen und Regionalismus im Elsaß 1870–1970 (PDF; 4,3 MB). In: Philipp Ther, Holm Sundhaussen (Hrsg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in europaischen Zwischenraumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Herder-Institut, 2003, S. 89–112
Einzelnachweise
|
Das Elsass (elsassisch ’s Elsass, ’s Elses, franzosisch Alsace [alˈzas]) ist eine Europaische Gebietskorperschaft in der Region Grand Est im Osten Frankreichs. Es erstreckt sich uber den sudwestlichen Teil der Oberrheinischen Tiefebene und reicht im Nordwesten mit dem Krummen Elsass bis auf das lothringische Plateau. Im Norden und Osten grenzt das Elsass an Deutschland und im Suden an die Schweiz. Hauptstadt der Gebietskorperschaft ist Straßburg.
Landschaftlich wird das Elsass meist als die Gegend zwischen Vogesen und Rhein beschrieben. Die politischen Grenzen, die das Elsass definieren, haben sich dagegen im Verlauf seiner Geschichte mehrfach geandert. Historisch bedeutend sind hier vor allem das Herzogtum Elsass (7. und 8. Jahrhundert), die beiden Landgrafschaften des Elsass (12.–17. Jahrhundert) innerhalb des Heiligen Romischen Reiches und die erstmals franzosische Provinz Elsass (17.–18. Jahrhundert). Ab dem 17. Jahrhundert wechselte das Elsass mehrmals seine politische Zugehorigkeit zwischen dem Heiligen Romischen Reich beziehungsweise dem Deutschen Reich einerseits und Frankreich andererseits.
Seine gegenwartigen Grenzen gehen auf die Franzosische Revolutionszeit zuruck, als die Departements eingerichtet wurden, sowie auf den Frankfurter Frieden von 1871, in dem Belfort abgetrennt wurde und die ubrigen Landesteile mit dem Reichsland Elsaß-Lothringen an das Deutsche Reich fielen. Heute besteht das Elsass aus den 2021 weitgehend zusammengefassten Departements Bas-Rhin und Haut-Rhin.
Zwischen 1973 und 2015 bildeten die beiden elsassischen Departements zusammen eine eigene franzosische Verwaltungsregion Elsass (Region Alsace). Mit 8280 km² war sie die flachenmaßig kleinste Region auf dem franzosischen Festland und hatte 1.920.462 Einwohner (Stand 1. Januar 2021). Im Rahmen der Regionsfusionen wurde am 1. Januar 2016 die Region Grand Est (Großer Osten) mit der Hauptstadt Straßburg gegrundet. Diese umfasst das Elsass, Lothringen und Champagne-Ardenne. Als „Europaische Gebietskorperschaft Elsass“ wurden die beiden Departements des Elsass mit Jahresbeginn 2021 wieder als eine politische Einheit zusammengefasst.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Elsass"
}
|
c-13988
|
Deutsches Reich ist der Name des deutschen Nationalstaates zwischen 1871 und 1945. Anfangs nicht deckungsgleich, wurde der Name zugleich auch die staatsrechtliche Bezeichnung Deutschlands. Nach dem „Anschluss“ Osterreichs im Marz 1938 kam die Bezeichnung „Großdeutsches Reich“ in amtlichen wie propagandistischen Gebrauch. Ein Fuhrererlass Hitlers wies die Institutionen des Staates im Juni 1943 an, zukunftig diese Benennung zu verwenden.
Der Ausdruck Deutsches Reich wird gelegentlich auch gebraucht, um den deutschen Reichsteil des Heiligen Romischen Reiches (962–1806) zu bezeichnen: ein ubernationales, letztlich uberstaatliches Herrschaftsgebilde, das ab dem 15./16. Jahrhundert mit dem Zusatz „Deutscher Nation“ versehen worden war und in dem sich keine dauerhafte monarchische Zentralgewalt etablieren konnte, das aber von einem erwahlten romisch-deutschen Kaiser reprasentiert wurde.
Im Jahr 1848 entstand wahrend der Marzrevolution ein „Deutsches Reich“ als deutscher Bundesstaat. Dessen Reichsregierung und damit die provisorische Verfassung wurde vom Bundestag des Deutschen Bundes anerkannt. Im Fruhjahr 1849 jedoch ließ der preußische Konig Friedrich Wilhelm IV. die Revolution niederschlagen, und die ausgearbeitete Verfassung konnte sich nicht durchsetzen.
Beim Deutschen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet man allgemein mehrere Perioden: die Monarchie des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), die pluralistische, semiprasidentielle Demokratie der Weimarer Republik (1918/19–1933) und die Diktatur des NS-Staates in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945). In der folgenden Ubergangsperiode des besetzten Deutschland bis 1949 kam die Bezeichnung bereits weitgehend außer Gebrauch. In der zunachst umstrittenen Frage, ob das Deutsche Reich nach 1945 fortbestanden habe, setzte sich ab Ende der 1940er Jahre und schließlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 die These durch, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch von 1945 uberdauert habe. Die Bundesrepublik sei nicht dessen „Rechtsnachfolger“, vielmehr als Staat mit dem Staat „Deutsches Reich“ identisch; hinsichtlich der raumlichen Ausdehnung war die Alt-Bundesrepublik Deutschland bis 1990 „teilidentisch“ (teilkongruent). Aus der Formel von der raumlichen Teilidentitat folgte: „Die DDR gehort zu Deutschland“ (BVerfGE 36, 17), aber nicht zur Bundesrepublik.
Reichsgrundung 1871 Das Deutsche Reich entstand formell zum 1. Januar 1871 durch das Inkrafttreten einer gemeinsamen Verfassung. Der Verfassungstext entsprach dem Text der Norddeutschen Bundesverfassung in der Fassung nach dem badisch-hessischen Vertrag. Nachdem die deutschen Sudstaaten – Bayern, Wurttemberg, Baden und Hessen – mit den Novembervertragen 1870 beschlossen hatten, durch ihren Beitritt zum Norddeutschen Bund einen Deutschen Bund zu grunden, war am 10. Dezember noch vereinbart worden, die Bezeichnung „Deutscher Bund“ durch „Deutsches Reich“ zu ersetzen und dem „Bundesprasidium“ den Titel „Deutscher Kaiser“ zu geben. Als Nationalstaat fasste das Reich alle Deutschen zusammen, ausgenommen Deutsch-Osterreicher, Luxemburger und Liechtensteiner. Osterreich hatte der Ausdehnung des Norddeutschen Bundes uber die Mainlinie am 25. Dezember 1870 ausdrucklich zugestimmt und das Reich damit volkerrechtlich anerkannt.
Der Kaisertitel fur den preußischen Konig und auch die Reichsgrundung wurden als Angelegenheit der Fursten inszeniert. So ist auch die Kaiserproklamation des preußischen Konigs am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles zu verstehen. Dieses Datum wurde als Reichsgrundungstag begangen, aber nicht zum gesetzlichen Feiertag erhoben, da am 18. Januar bereits an die Kronung Friedrichs I. zum preußischen Konig erinnert wurde. Die wichtigen Feiertage des deutschen Kaiserreichs waren vielmehr Kaisers Geburtstag und Sedantag. 18 Tage nach den ersten gesamtdeutschen Reichstagswahlen, die nach dem Reichswahlgesetz vom 31. Mai 1869 stattfanden, eroffnete Kaiser Wilhelm I. am 21. Marz 1871 den Deutschen Reichstag. Der Reichstag redigierte die unvollstandig gebliebene „Verfassung des Deutschen Reiches“, deren Entwurf am 16. April 1871 vorlag, am 20. April verkundet wurde und am 4. Mai in Kraft trat.
Verfassungsgeschichte Der 1866 als Militarbundnis gegrundete Norddeutsche Bund hatte zum 1. Juli 1867 ein Verfassungsgesetz erhalten. Diese Verfassung des Norddeutschen Bundes hatte ihn zu einem monarchischen Bundesstaat unter preußischer Fuhrung geformt. Durch den Beitritt der Suddeutschen Staaten entstand Ende 1870 im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne kein neuer Staat, sondern es wurde lediglich eine Verfassung des Deutschen Bundes (Novemberverfassung vom 31. Dezember 1870) verabschiedet. Es wurden Sonderregeln fur bestimmte Staaten (Reservatrechte, wie ein eigenes Heer fur Bayern in Friedenszeiten) festgelegt. Hinzu kam die Entscheidung von Bundesrat und Reichstag im Dezember 1870, den Bund Deutsches Reich und das Bundesprasidium zusatzlich Deutscher Kaiser zu nennen. Die Verfassung vom 31. Dezember 1870 erklarte in Art. 80 eine große Anzahl norddeutscher Bundesgesetze fur Gesetze des Deutschen Bundes.
Auf dieser (neuen) Verfassung beruhte die nachfolgende Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871. Verandert waren vor allem einige Bezeichnungen, meist von Bund zu Reich. Es gab zudem keinen Art. 80 mehr, der die Bundesgesetze noch einmal erwahnt hatte. Formell war das Reich ein Furstenbund, weshalb der Bundesrat, die Vertretung der Gliedstaaten, sein hochstes Staatsorgan darstellte. Tatsachlich lagen die wesentlichen Machtbefugnisse beim Prasidium des Bundes, das der Konig von Preußen unter dem Titel ‚Deutscher Kaiser‘ innehatte. Der Kaiser setzte den Reichskanzler ein, der den Vorsitz im Bundesrat fuhrte, seine Geschafte leitete und einziger verantwortlicher Reichsminister war. Diese Verfassung galt dann fast funfzig Jahre lang ohne wesentliche Anderungen. Dass der Kaiser im August 1914 seine Befugnis zur Erteilung von Befehlen an die obersten Kommandobehorden des Feldheeres auf den Generalstab ubertrug, fuhrte zu einer zentralistischen Burokratie zu Lasten der Reichsleitung und der Bundesstaaten, die einer Militarregierung gleichkam. Erst mit der Oktoberreform 1918 erhielt der Reichstag das Recht zur Abwahl des Reichskanzlers und die Zustandigkeit fur Akte der kaiserlichen Befehls- und Kommandogewalt von politischer Bedeutung.
Am 9. November 1918 ubergab der letzte kaiserliche Reichskanzler, Max von Baden, die Kanzlerschaft dem SPD-Vorsitzenden Friedrich Ebert. Dies war nicht verfassungsgemaß, aber Ebert galt als Garant fur eine friedliche Entwicklung bis zur Neuordnung des Staates. Am 10. November 1918 trat eine revolutionare Regierung unter der Bezeichnung Rat der Volksbeauftragten an, mit Ebert und dem USPD-Politiker Hugo Haase als Vorsitzendem. Das am 10. Februar 1919 erlassene Gesetz uber die vorlaufige Reichsgewalt regelte die wichtigsten kunftigen Verfassungsorgane und beschrieb ihre Zustandigkeiten in der Ubergangsphase vom Deutschen Kaiserreich zur Weimarer Republik.
Die am 14. August 1919 verkundete Weimarer Verfassung loste dann das Gesetz uber die vorlaufige Reichsgewalt ab. Mit ihr wurde das Deutsche Reich zu einer foderativen Republik mit einem gemischt prasidialen und parlamentarischen Regierungssystem. Das Deutsche Reich hatte nach der Weimarer Verfassung als Staatsorgane den Reichstag, den Reichsprasidenten, die Reichsregierung, den Reichsrat und den Staatsgerichtshof. Das Amt des Reichsprasidenten war mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Er war in seiner Position mit dem starken Staatsoberhaupt der konstitutionellen Monarchie vergleichbar („Ersatzkaiser“). Der Reichsprasident ernannte und entließ die Mitglieder der Reichsregierung, reprasentierte das Volk, ernannte (auf Vorschlag des Reichsrates) Richter und hatte den Oberbefehl uber die Reichswehr. Besonders die Artikel 25 (Auflosung des Reichstags) und 48 (Recht, bei Gefahrdung der Ordnung Grundrechte außer Kraft zu setzen) zeigten sehr deutlich seine starke Machtposition.
Die Weimarer Verfassung galt auch nach der Machtergreifung der NSDAP am 30. Januar 1933 formell fort. Sie wurde jedoch bald durch verfassungsdurchbrechende Gesetze und Verordnungen weitgehend außer Kraft gesetzt, zunachst durch die Verordnung des Reichsprasidenten zum Schutz von Volk und Staat, besser bekannt als „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar 1933. Faktisch bedeutungslos machte die Verfassung das von der Reichsregierung Hitler am 1. August 1934 erlassene Gesetz uber das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches, dessen § 1 „das Amt des Reichsprasidenten […] mit dem des Reichskanzlers“ vereinigte und festhielt, dass mit dem Ableben Paul von Hindenburgs alle „bisherigen Befugnisse des Reichsprasidenten auf den Fuhrer und Reichskanzler Adolf Hitler“ ubergegangen seien. Den Ubergang der verfassungsgebenden Gewalt auf die Reichsregierung (und damit die Beseitigung dessen Vorbehaltes, dass Reichsrat und Reichstag unangetastet bleiben) regelte dann Artikel 4 des Gesetzes uber den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934.
Auch nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkrafte am 7. und 8. Mai 1945 und der Ubernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland durch den Alliierten Kontrollrat am 5. Juni 1945 blieb die Weimarer Verfassung zwar formal bestehen, war aber weiterhin außer Funktion.
Geschichte Die Geschichte des Deutschen Reiches gliedert sich in drei beziehungsweise, wenn man die Besatzungszeit mitrechnet, konkret vier Abschnitte:
1871–1918 Deutsches Kaiserreich unter der Bismarckschen Reichsverfassung
1871–1890 Zeit des Reichskanzlers Otto von Bismarck
1890–1918 Wilhelminische Epoche und Erster Weltkrieg
1919–1933 Weimarer Republik unter der Weimarer Reichsverfassung
1933–1945 Zeit des Nationalsozialismus mit dem NS-Staat als Herrschaftssystem; propagandistische Eigenbezeichnung bis 1939: „Drittes Reich“; offizielle Staatsbezeichnung ab 1943: „Großdeutsches Reich“
1945–1949 von den Hauptsiegermachten des Zweiten Weltkrieges in Besatzungszonen aufgeteilt, fortan als „Deutschland als Ganzes“ (“Germany as a whole”) bezeichnet und dem Alliierten Kontrollrat, der hochsten Regierungsgewalt, im Ganzen und den Militargouverneuren in den einzelnen Zonen als Treuhanderschaft unterstellt (→ Nachkriegsdeutschland, Deutschland 1945 bis 1949).
Als im Jahre 1868 die spanische Konigin Isabella II. gesturzt wurde, bot der Erbprinz Leopold des katholischen Furstenhauses Hohenzollern-Sigmaringen auf Veranlassung Bismarcks in der spanischen Thronfolgefrage seine Dienste als zukunftiger Konig an. Wegen der heftigen Reaktion in Frankreich zog er die Kandidatur sogleich zuruck. Dennoch eskalierte der diplomatische Konflikt zu einer nationalen Frage, da beide Seiten keinen Ansehensverlust ertragen wollten oder konnten. Frankreich fuhlte sich in seinem Prestige oder sogar in seiner Sicherheit bedroht und versuchte, die Konigswahl militarisch zu unterbinden. Durch die Emser Depesche fuhlte sich Frankreich herausgefordert und erklarte Preußen im Juli 1870 den Krieg. Der Deutsch-Franzosische Krieg verlief fur die deutschen Armeen erfolgreich, sie besetzten im Januar 1871 die franzosische Hauptstadt Paris. Bismarck nutzte den Krieg, um sein Ziel, die Einigung der deutschen Staaten, durch einen gemeinsamen Feind durchzusetzen.
Ab 1884 erwarb das Deutsche Reich mehrere Kolonien in Afrika, China und Ozeanien, die als „Schutzgebiete“ bezeichnet wurden. Die Frage nach deren staatsrechtlicher Zugehorigkeit konnte nicht widerspruchsfrei beantwortet werden: Die deutschen Kolonien galten nicht als Teile des Reiches, ihren nicht-europaischstammigen Bewohnern wurde die deutsche Staatsangehorigkeit verwehrt; selbst Kinder aus Mischehen wurde sie haufig verwehrt. Dennoch waren die sogenannten Eingeborenen der deutschen Staatsgewalt unterworfen. Die herrschende Meinung ging dahin, dass die deutschen Kolonien fur alle Drittstaaten Ausland waren, auf das sie keine Herrschaftsanspruche richten konnten. Fur das Reich waren sie aber nicht Inland, sondern „Objekte der Reichsherrschaft“.
Nach der militarischen Niederlage des Deutschen Reichs im Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland 1945 unter Besatzung durch britische, franzosische, amerikanische und sowjetische Truppen gestellt. Die Gebiete ostlich von Oder und Neiße und die westlich dieser Linie gelegenen Stadte Swinemunde (entsprechend den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens) und Stettin mit einem Teil seines Hinterlandes (insgesamt etwa ein Viertel der Flache von 1937) wurden faktisch vom Reich abgetrennt und, laut Potsdamer Abkommen, „vorlaufig“ unter polnische bzw. sowjetische Verwaltung gestellt – letztendlich aber de facto annektiert. Die in den Ostgebieten ansassige deutsche Bevolkerung wurde, soweit sie nicht bereits im Zuge des Kriegsgeschehens in Richtung Westen gefluchtet war, in den folgenden Jahren weitestgehend und volkerrechtswidrig vertrieben.
Mit der Wiederherstellung der Republik Osterreich ab 27. April 1945 (Unabhangigkeitserklarung) – bis 1955 unter den vier Besatzungsmachten, dann als souveraner Staat –, der Grundung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1949 horte das Deutsche Reich zwar unter historischen Gesichtspunkten faktisch (infolge volliger kriegerischer Niederkampfung und militarischer Besetzung), aber keineswegs de jure auf zu existieren: Die Weimarer Verfassung wurde auch nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945, die als militarischer Akt die rechtliche Substanz der deutschen Staatsgewalt nicht entscheidend treffen konnte, und der Ubernahme der Hoheitsgewalt uber Deutschland durch die vier Besatzungsmachte nicht offiziell aufgehoben und das Deutsche Reich nicht aufgelost. Die sich aus dieser De-jure-Fortexistenz ergebenden Folgen sind im Abschnitt Volkerrechtliche und staatsrechtliche Fragen nach 1945 erlautert.
Staatsoberhaupter und Regierungschefs Entstehung des Begriffs Die Verwendung des Begriffs Deutsches Reich knupfte an das Heilige Romische Reich an. Dieses hatte sich 1806 unter dem erheblichen Druck Napoleons und gemaß dem Wunsch der Rheinbundstaaten, ihre volle Souveranitat zu erlangen, aufgelost. Der Habsburger Kaiser Franz II., der sich 1804 nach Napoleons Vorbild zum Kaiser von Osterreich proklamiert hatte, legte nach dessen Ultimatum den Titel des Romischen Kaisers nieder und entließ alle Reichsbeamten und -organe aus ihren Verpflichtungen gegenuber Teutschland beziehungsweise dem „deutschen Reich“. Mit dem Akt der Niederlegung der Reichskrone endete das Heilige Romische Reich.
Die spatere Epoche des wilhelminischen Kaiserreiches wurde im Nachhinein als Zweites Reich bezeichnet. Diese Wortwahl deutete eine Nachfolgerschaft zum „ersten deutschen Reich“ an, ohne sie explizit auszusprechen. Der Begriff „Zweites Reich“ wurde 1923 von Arthur Moeller van den Bruck gepragt; in seinem Buch Das dritte Reich nannte er das romisch-deutsche Reich ein „Erstes Reich“ und das deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918 das „Zweite Reich“. Er erwartete, dass diesem ein „Drittes Reich“ folgen wurde. Van den Bruck verstarb 1925, erlebte es also nicht.
Die Vorstellung eines Dritten Reiches wurde rasch in die Propaganda der NSDAP ubernommen, die damit ihre Ablehnung der Weimarer Republik ausdruckte (→ „Drittes Reich“ im Nationalsozialismus). Allerdings sah der Nationalsozialismus bald wieder vom Begriff „Drittes Reich“ ab. „Reich“ hingegen blieb in Verwendung, uberspannt und pseudoreligios, dadurch wurde der Begriff im Laufe der Nachkriegszeit vermehrt mit dem Nationalsozialismus selbst in Verbindung gebracht.
Im angelsachsischen Raum spricht man noch heute von the Third Reich oder the German Reich. Das englische Wort Empire wird bei einer Republik als ungeeignet empfunden. Darum vermeidet man den Ausdruck German Empire fur die Zeit nach 1918, obwohl die Weimarer Verfassung in Art. 1 Abs. 1 ausdrucklich verfugt: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“.
Begriff nach 1945 Auch in den ersten Jahren nach 1945 war Deutsches Reich und Reich eine verbreitete Bezeichnung fur den wiederherzustellenden beziehungsweise neu zu organisierenden Staat. Das Subjekt des Staats- und Volkerrechts selbst blieb unangetastet; als solches wurde Deutschland bis 1948 durch den Kontrollrat vertreten, wahrend die hochste Regierungsgewalt in der jeweiligen Besatzungszone von den Oberbefehlshabern der alliierten Streitkrafte und fur Berlin von der Alliierten Kommandantur ausgeubt wurde. Die Alliierten selbst sprachen vor und wahrend der Besetzung Deutschlands in ihren Erklarungen nie vom Deutschen Reich, sondern nur von Deutschland oder Nazi-Deutschland.
In vielen Entwurfen fur eine neue Verfassung der Jahre 1946/1947, beispielsweise der CDU, FDP und DP bzw. deren Politikern, findet sich der Ausdruck „Deutsches Reich“ wieder. Auch die unter alliierter Herrschaft ausgegebenen Pfennigmunzen der Jahrgange 1945 bis 1948 trugen weiterhin die Bezeichnungen Reichspfennig und Deutsches Reich. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates uber das Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland, den in den westlichen Besatzungszonen geplanten deutschen Teilstaat, wurde im Oktober 1948 daruber diskutiert, ob dieser die Bezeichnung Deutsches Reich weiterfuhren sollte. Man entschied sich aus „Grunde[n] psychologischer Art“ dagegen: Das Reich habe „bei den Volkern um uns herum einen aggressiven Akzent“ und werde „als ein Anspruch auf Beherrschung“ verstanden, so Carlo Schmid wahrend der Beratung; Theodor Heuss sprach von einem „aggressiven Ton“, den das Wort bekommen habe. Schmid fuhrte im Mai 1949 aus: „So ehrwurdig auch die Tradition des Namens ‚Deutsches Reich‘ ist – die Erinnerung an die Untaten, die wahrend der nationalsozialistischen Zwingherrschaft in diesem Namen begangen worden sind, ist noch zu frisch“.
Volkerrechtliche und staatsrechtliche Fragen nach 1945 Die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht und die anschließenden Grundungen von Bundesrepublik und DDR warfen die Frage auf, ob der deutsche Staat uberhaupt noch existierte. Diese Frage war keineswegs nur akademisch, da bei einem Fortbestand des Deutschen Reichs von einer Okkupation auszugehen war, was bedeutete, dass die Besatzungsmachte in ihrem Handeln den Beschrankungen unterworfen waren, die die Haager Landkriegsordnung fur den Fall einer Besetzung feindlichen Territoriums vorsah. Existierte das Reich nicht mehr, waren sie gegenuber den Deutschen dieser Bindungen ledig.
Der osterreichisch-amerikanische Rechtswissenschaftler Hans Kelsen vertrat bereits 1944 und 1945 die These, das Deutsche Reich sei durch Debellatio untergegangen. Mit der Ubernahme der Regierungsgewalt („supreme authority“) in der Berliner Erklarung vom 5. Juni 1945 gebe es keine deutsche Staatsgewalt mehr, die eines der drei konstitutiven Elemente eines Staates sei. Annahmen, der deutsche Staat existiere gleichwohl fort, seien nur Rechtsfiktionen. In dem Diskussionsprozess, der sich ab 1945 in Deutschland entspann, herrschte dagegen bald das Kontinuitatstheorem vor, das den Deutschen einen besseren Rechtsschutz zu gewahrleisten schien. Kurz nach Bekanntwerden von Kelsens Argumentation in Deutschland widersprach etwa der deutsch-osterreichische Rechtswissenschaftler Rudolf Laun 1947 in der Zeit: Jedes Volk habe das Recht auf volkerrechtliche Vertretung, mithin auch auf Staatsorgane, die diese Vertretung wahrnehmen konnten. Laun organisierte eine Tagung an der Universitat Hamburg, auf der der Fortbestand des Deutschen Reiches argumentativ unterfuttert wurde. Auch in viel beachteten rechtswissenschaftlichen Veroffentlichungen von Erich Kaufmann, Wilhelm Grewe und Rolf Stodter aus dem Jahr 1948 wurde die Fortbestandsthese vertreten. Der weitere deutsche volkerrechtliche Diskurs fand in Gutachten der Verwaltungsburokratie der Lander statt sowie in den rechtswissenschaftlichen Fachzeitschriften, die ab Fruhjahr 1946 wieder zu erscheinen begannen. Eine große Rolle spielte das Deutsche Buro fur Friedensfragen, eine Behorde mehrerer deutscher Lander, in der, wie der Rechtshistoriker Bernhard Diestelkamp formuliert, Rechtswissenschaftler von der Politik „in den Dienst der nationalen Sache gestellt“ wurden. Die Abhangigkeit politischer Nutzlichkeitserwagungen bei der Beantwortung volkerrechtlicher Fragen zeigt sich deutlich auch beim spateren Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU). Dieser vertrat bei einer Sitzung des Ellwanger Kreises am 22. November 1947 die Ansicht, wenn man die Dinge „real, wie sie nun einmal sind“, betrachte, konne man „staatsrechtlich erhebliche Zweifel“ am Fortbestand des Deutschen Reiches nach 1945 haben. „Doch schon aus politischen Grunden glaube ich, dass wir diese Frage unbedingt bejahen mussen.“
Es gab aber auch Gegenstimmen. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher erklarte auf einer Sitzung des Parteivorstands am 22. August 1946, das Deutsche Reich bestehe nicht mehr, „denn die Reichsgewalt geht zur Zeit nicht von einem Reichsvolk aus.“ Auch in der CSU hing man noch der Untergangsthese an: Die fuhrenden bayerischen Politiker vertraten nachdrucklich die These, das Deutsche Reich sei untergegangen, die ihren foderalistischen Uberzeugungen entgegenkam. Beim Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, wo im August 1948 funfzehn Sachverstandige im Auftrag der damals elf westdeutschen Lander einen Verfassungsentwurf fur einen zu schaffenden westdeutschen Staat erarbeiteten, argumentierte der Leiter der Bayerischen Staatskanzlei Anton Pfeiffer, das Reich habe in einer debellatio mit der Kapitulation vom 8. Mai aufgehort zu existieren. Daher musse sich der neue Staat als Bundesstaat der bereits gegrundeten Lander, als „Bund Deutscher Lander“ konstituieren, ohne seine Souveranitat aus der Vergangenheit herzuleiten. In dieser Rechtsmeinung wurde er von dem Munchner Volkerrechtler Hans Nawiasky unterstutzt, der Mitglied seiner Delegation war. Gegen diese Position argumentierte vor allem Hermann Brill (SPD), der Leiter der Hessischen Staatskanzlei. Wie die Mehrheit der ubrigen Teilnehmer sah auch er die konstituierende Gewalt nicht in den Landern, sondern im weiterexistierenden Staatsvolk, dem nach dem Selbstbestimmungsrecht der Volker das Recht zustehe, in den Teilen des Staatsgebietes, wo eine freie Außerung seines Willens moglich sei, Inhalte und Formen seiner politischen Existenz zu gestalten. Dieses Recht sei durch die Kapitulation nicht aufgehoben, sondern nur zeitweise „suspendiert“ gewesen. Diese Haltung setzte sich im Ergebnis nicht nur in der Volkerrechtsdebatte, sondern auch im Parlamentarischen Rat durch, der von September 1948 bis Mai 1949 das Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland erarbeitete. Der Grundsatzausschuss betonte „die Kontinuitat des neuen Bundesstaates im Verhaltnis […] zum Deutschen Reich sowohl hinsichtlich der Staatsgewalt als auch hinsichtlich des Gebietes“. Diese werde in der Argumentation des Staatsrechtlers und SPD-Vertreters Carlo Schmid treuhanderisch durch den Alliierten Kontrollrat und durch die deutschen Lander und Kommunen wahrgenommen. Schmid trug entscheidend dazu bei, dass die These vom Fortbestand des Deutschen Reichs Eingang in die Praambel des Grundgesetzes fand und so von einer juristischen These zu einem Verfassungsgrundsatz wurde.
Die Siegermachte selbst nahmen zu dieser Kontroverse offiziell zwar nicht Stellung und beschrankten sich auf die symbolische Aufhebung weniger zentraler NS-Gesetze und entsprechender Verordnungen. Viele der nach 1933 verabschiedeten Gesetze blieben daher von einer Revision verschont, fur sie wurden generalklauselartige Anwendungs- und Auslegungsprinzipien festgelegt. Die alliierten Befehle verboten die Anwendung und Auslegung des fortbestehenden deutschen Rechts nach den nationalsozialistischen Wertungen.
Aber vor allem mit der Staatenpraxis der Siegermachte nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches lasst sich nach Ansicht des Staatsrechtslehrers Dieter Blumenwitz der Fortbestand des Deutschen Reiches unter der Bezeichnung ‚Deutschland als Ganzes‘ („Germany as a whole“) belegen. Ihnen sei es 1945 nicht zuletzt politisch auch darum gegangen, „endgultige Entscheidungen aufzuschieben, sich einen Schuldner fur alle Kriegsforderungen zu erhalten und sich in allen Status- und Sicherheitsfragen in Mitteleuropa ein Mitspracherecht zu sichern“. Ebenso folgert die Politikwissenschaftlerin Margit Roth aus der Tatsache, dass keine Annexion stattfand und das Potsdamer Abkommen von Deutschland als Ganzem ausging, sie seien von einem Fortbestand des Deutschen Reiches ausgegangen. Bernhard Diestelkamp und Manfred Gortemaker argumentieren dagegen, Frankreich habe den Standpunkt vertreten, das Deutsche Reich sei untergegangen. Nach Joachim Ruckert und Thomas Olechowski kam es den USA, Großbritannien und der Sowjetunion darauf an, bei ihrem Handeln moglichst freie Hand zu haben. Daher seien sie daran interessiert gewesen, ihre Rechte starker auszudehnen, als dies bei einer Okkupation volkerrechtlich ublich war. Andererseits aber hatten sie ihre Pflichten gegenuber der deutschen Bevolkerung gering halten wollen und die Frage des Fortbestands daher in der Schwebe gelassen. Seit 1946 erklarten ihre Militarregierungen, es handle sich um eine occupatio sui generis, auf die die Beschrankungen des Kriegsvolkerrechts keine Anwendung fanden. Nach Grundung der Bundesrepublik legten die Westmachte auf einer Tagung der Außenminister fest, welchen volkerrechtlichen Status die Bundesrepublik besaße. In einem Kommunique, das am 19. September 1950 in New York City bekannt gegeben worden war, anerkannten die Außenminister „die Regierung der Bundesrepublik Deutschland als die einzige frei und gesetzlich konstituierte deutsche Regierung“, die daher befugt sei, „in internationalen Angelegenheiten als Vertreter des deutschen Volkes fur Deutschland zu sprechen.“ In einer 30 Jahre lang geheimgehaltenen Mitteilung an die Bundesregierung, die eine „Formel zur Definition des rechtlichen Status der Bundesrepublik“ und ein Interpretativprotokoll („Interpretative Minute“) mit dem Datum desselben Tages enthielt, bestatigten die Außenminister einerseits, dass die Bundesregierung die einzige sei, die „legitimiert ist, fur das fruhere deutsche Reich zu sprechen“. Im Interpretationsprotokoll behielten sie den Besatzungsmachten die „oberste Gewalt“ vor und sprachen von dem „Fortbestehen des deutschen Staates“. Die „Herrschaftsgewalt“ der Bundesregierung sei auf das „Bundesgebiet“ beschrankt. Die Westmachte gingen in dieser Erklarung vom Weiterbestehen des deutschen Staates aus. Dabei unterschieden sie zwischen dem Gesamtstaat (Deutsches Reich) und der Bundesrepublik. Die Außenminister gestanden der Bundesrepublik mit Einschrankungen „das Recht zu, das deutsche Volk auf internationaler Ebene zu vertreten und Rechte und Pflichten des Reiches zu ubernehmen“ – Letzteres nur in dem Umfang, „wie die Bundesorgane de facto Rechte ausuben und Pflichten nachkommen konnten“. Die drei Machte hatten „wohl bis zur Wiedervereinigung“ eine andere Auffassung von der Rechtslage Deutschlands als die Bundesregierung. Obwohl Einigkeit uber das „Fortleben des deutschen Reiches als Staat und Volkerrechtssubjekt“ bestand, teilten die drei Machte nicht die deutsche These von „der rechtlichen Identitat zwischen Bundesrepublik und Reich“. Jochen Abraham Frowein weist dagegen auf die beschrankte Bedeutung der Erklarung hin: Zum einen gehe aus ihrem Text gerade nicht hervor, dass die Bundesregierung damit berechtigt gewesen ware, als Vertreterin fur das Deutsche Reich volkerrechtlich aufzutreten. Es sei vielmehr lediglich um ein Mitspracherecht gegangen. Zudem ubermittelten die Siegermachte gleichzeitig ein Auslegungsprotokoll, das nicht veroffentlicht wurde. Darin hieß es, dass die Bundesregierung nicht als de jure-Regierung Gesamtdeutschlands anerkannt werde, auch wenn die Fortbestandsthese bekraftigt wurde. Die Anerkennung der Bundesrepublik gelte aber nur vorlaufig bis zu einer Wiedervereinigung Deutschlands.
Die Diskussion wurde gleichwohl fortgesetzt. Die immer deutlicher dominierenden Anhanger der Fortbestandsthese argumentierten, dass die Siegermachte in der Berliner Erklarung explizit erklarten, Deutschland nicht annektieren zu wollen, das Deutsche Reich sei mithin nicht aufgelost worden. Die Masse der deutschen Gesetze nach 1945 blieb in Kraft, neu ernannte Beamte wurden als deutsche, nicht als alliierte Beamte eingesetzt. Eine Annexion deutschen Staatsgebietes fand ausdrucklich nicht statt. Das Land Preußen wurde aufgelost, die Republik Osterreich „wiederhergestellt“ in ihren Grenzen vor dem „Anschluss“ 1938; die historischen deutschen Lander blieben, wurden nur teils mit veranderten Grenzen neugegrundet. Die Bundesrepublik ist demnach als Volkerrechtssubjekt identisch mit dem Deutschen Reich, das als Gesamtstaat in Ermangelung staatlicher Organe nach 1945 nicht mehr handlungsfahig war. Dieser Auffassung entsprach, dass die Bundesrepublik alle Vertrage und sonstige Rechte und Pflichten des Deutschen Reichs ubernahm, insbesondere die, welche die Wiedergutmachung betrafen. Am 7. April 1954 erklarte Bundeskanzler Konrad Adenauer in einer Regierungserklarung, „daß es nur einen deutschen Staat gibt, gegeben hat und geben wird und daß es einzig und allein die Organe der Bundesrepublik Deutschland sind, die heute diesen niemals untergegangenen deutschen Staat vertreten“.
Bis etwa 1969 vertrat die Bundesrepublik Deutschland die Auffassung, nur einer der beiden deutschen Staaten, namlich sie selbst, reprasentiere den Gesamtstaat Deutsches Reich, nehme in treuhanderischer Weise seine Rechte und Aufgaben wahr und sei in rechtlicher Hinsicht mit diesem identisch. Mit dem Hinweis darauf, dass den Deutschen in der DDR freie Wahlen verwehrt waren und ihnen das Selbstbestimmungsrecht fehlte, erhoben die Regierungen der Bundesrepublik in den ersten zwei Jahrzehnten einen Alleinvertretungsanspruch auch fur die Burger der DDR. Die DDR galt als bloßes De-facto-Regime, als von einem Fremdstaat besetztes Territorium oder als ein neuer Staat, der durch Sezession entstanden sei. Nach dieser Schrumpfstaats- oder Kernstaatstheorie war das deutsche Staatsgebiet auf das Gebiet der Bundesrepublik eingeschrumpft worden. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt wich nur insofern von der bis dahin vertretenen Rechtsauffassung ab, als sie keine Identitat zwischen der Bundesrepublik und dem fortbestehenden Deutschen Reich annahm. Dies entsprach auch der Ansicht der Westalliierten.
Auch nach Grundung der Bundesrepublik erhoben sich noch lange juristische Stimmen gegen die These vom Fortbestand des Deutschen Reiches: Bei einer Tagung 1954 vertraten die prominenten Staatsrechtler Wolfgang Abendroth, Willibalt Apelt und Hans Nawiasky in einer Mindermeinung die Untergangstheorie. Noch 1977 verfocht der deutsche Staatsrechtler Helmut Ridder in scharfer Form die Debellationsthese. In den 1970er Jahren wurde auch die Dismembrationsthese vertreten, wonach das Deutsche Reich 1949 oder bei Inkrafttreten des Grundlagenvertrages mit der DDR in seine beiden Nachfolgestaaten zerfallen sei. Diese These ist aber schwer mit der Berliner Erklarung oder dem Potsdamer Abkommen von 1945 zu vereinbaren, wo von Deutschland in den Grenzen vom 31. Dezember 1937 die Rede ist.
Die Fortbestandstheorie wurde durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag mit der DDR vom 31. Juli 1973 zur hochstrichterlichen Rechtsprechung in der Bundesrepublik. Die Bayerische Staatsregierung hatte ein Normenkontrollverfahren angestrengt, da ihr der Vertrag gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes zu verstoßen schien. Die Klage wurde abschlagig beschieden. In der Begrundung stellte das Verfassungsgericht fest:
„Das Grundgesetz – nicht nur eine These der Volkerrechtslehre und der Staatsrechtslehre! – geht davon aus, daß das Deutsche Reich den Zusammenbruch 1945 uberdauert hat und weder mit der Kapitulation noch durch Ausubung fremder Staatsgewalt in Deutschland durch die alliierten Okkupationsmachte noch spater untergegangen ist; das ergibt sich aus der Praambel, aus Art. 16, Art. 23, Art. 116 und Art. 146 GG. Das entspricht auch der standigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, an der der Senat festhalt.
Das Deutsche Reich existiert fort (BVerfGE 2, 266 [277]; 3, 288 [319 f.]; 5, 85 [126]; 6, 309 [336, 363]), besitzt nach wie vor Rechtsfahigkeit, ist allerdings als Gesamtstaat mangels Organisation, insbesondere mangels institutionalisierter Organe selbst nicht handlungsfahig. Im Grundgesetz ist auch die Auffassung vom gesamtdeutschen Staatsvolk und von der gesamtdeutschen Staatsgewalt ‚verankert‘ (BVerfGE 2, 266 [277]). Verantwortung fur ‚Deutschland als Ganzes‘ tragen – auch – die vier Machte (BVerfGE 1, 351 [362 f., 367]).
Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegrundet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert […]. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ‚Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich‘, – in bezug auf seine raumliche Ausdehnung allerdings ‚teilidentisch‘, so daß insoweit die Identitat keine Ausschließlichkeit beansprucht. […] Sie beschrankt staatsrechtlich ihre Hoheitsgewalt auf den ‚Geltungsbereich des Grundgesetzes‘.
Die Bundesrepublik […] fuhlt sich aber auch verantwortlich fur das ganze Deutschland […]. Die Deutsche Demokratische Republik gehort zu Deutschland und kann im Verhaltnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden.“
Bundesrepublik und DDR seien Teilordnungen unter einem gemeinsamen Dach, weswegen diese Rechtsauffassung als Dachstaattheorie oder Teilordnungslehre bezeichnet wird. Die faktische Anerkennung der DDR, die der Grundlagenvertrag mit sich bringe, sei „besonderer Art“. Unbeschadet des Wiedervereinigungsgebots, das alle Verfassungsorgane binde, sei es zulassig, dass „eine zusatzliche neue Rechtsgrundlage […] die beiden Staaten in Deutschland enger als normale volkerrechtliche Vertrage zwischen zwei Staaten aneinander“ binde.
Bestatigt wurde diese Position mit Bezug auf die Identitat des deutschen Staatsvolks im sogenannten Teso-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1987. Darin ging es darum, ob der 1940 in Meißen geborene DDR-Burger Marco Teso, der aus der DDR in den Westen ubersiedelt war, die deutsche Staatsangehorigkeit zugesprochen werden durfe, die ihm bei Geburt wegen seines italienischen Vaters vom NS-Staat verweigert worden war. Das Bundesverfassungsgericht entschied im Sinne Tesos und bekraftigte, es gebe nur eine einzige deutsche Staatsangehorigkeit. Indes wich das Gericht hinsichtlich der Begriffswahl von 1973 ab: Nun war nicht mehr von dem „handlungsunfahigen Volkerrechtssubjekt Deutsches Reich“ die Rede, sondern von einer „Subjektsidentitat“ der Bundesrepublik mit dem „Volkerrechtssubjekt Deutsches Reich“. Diese Rechtsposition ist heute herrschende Meinung in den Rechtswissenschaften und in der Staatenpraxis international anerkannt; als Lehrmeinung hat sie sich vollstandig durchgesetzt. Der vormalige NS-Staat gliederte sich 1949 zu einem Bundesstaat auf. Die juristische Debatte uber die Fortbestandsthese ist zum Erliegen gekommen, da sie nunmehr auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben und rechtsverbindlich entschieden wurde.
In der Sowjetunion, der DDR und den Ostblockstaaten sah man das anders. Zunachst erhob die DDR in ihrer ersten Verfassung von 1949 noch den Anspruch, der Staat aller Deutschen und mithin mit dem Deutschen Reich identisch zu sein. Dieser Kontinuitatsanspruch lasst sich etwa am Gorlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 erkennen, in dem die DDR die Oder-Neiße-Linie als „Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen“ anerkannte. Auch am DDR-Staatsburgerrecht, das bis zum Gesetz uber die Staatsburgerschaft der DDR vom 20. Februar 1967 das Reichs- und Staatsangehorigkeitsgesetz von 1913 mit einigen Anderungen fortschrieb, lasst sich diese Rechtsauffassung ablesen. Von 1951 an setzte sich aber die Rechtsauffassung durch, die DDR sei als ein neuer Staat anzusehen, dessen Staatsgewalt in den Handen nicht mehr des Monopolkapitals liege, sondern aller Werktatigen. Das Deutsche Reich sei 1945 in einer debellatio untergegangen, es gebe nunmehr zwei deutsche Staaten. Dies zeigte sich in der DDR-Verfassung von 1968, in der die Wiedervereinigung als Staatsziel aufgegeben war. Die Sowjetunion scheint noch langer von einem Fortbestand des Deutschen Reichs ausgegangen zu sein, hielt sich mit entsprechenden Außerungen aus Rucksicht auf ihren Bundnispartner DDR jedoch zuruck.
Weblinks BVerfGE 36, 1 – Grundlagenvertrag
BVerfGE 77, 137 – Teso
Anmerkungen
|
Deutsches Reich ist der Name des deutschen Nationalstaates zwischen 1871 und 1945. Anfangs nicht deckungsgleich, wurde der Name zugleich auch die staatsrechtliche Bezeichnung Deutschlands. Nach dem „Anschluss“ Osterreichs im Marz 1938 kam die Bezeichnung „Großdeutsches Reich“ in amtlichen wie propagandistischen Gebrauch. Ein Fuhrererlass Hitlers wies die Institutionen des Staates im Juni 1943 an, zukunftig diese Benennung zu verwenden.
Der Ausdruck Deutsches Reich wird gelegentlich auch gebraucht, um den deutschen Reichsteil des Heiligen Romischen Reiches (962–1806) zu bezeichnen: ein ubernationales, letztlich uberstaatliches Herrschaftsgebilde, das ab dem 15./16. Jahrhundert mit dem Zusatz „Deutscher Nation“ versehen worden war und in dem sich keine dauerhafte monarchische Zentralgewalt etablieren konnte, das aber von einem erwahlten romisch-deutschen Kaiser reprasentiert wurde.
Im Jahr 1848 entstand wahrend der Marzrevolution ein „Deutsches Reich“ als deutscher Bundesstaat. Dessen Reichsregierung und damit die provisorische Verfassung wurde vom Bundestag des Deutschen Bundes anerkannt. Im Fruhjahr 1849 jedoch ließ der preußische Konig Friedrich Wilhelm IV. die Revolution niederschlagen, und die ausgearbeitete Verfassung konnte sich nicht durchsetzen.
Beim Deutschen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts unterscheidet man allgemein mehrere Perioden: die Monarchie des Deutschen Kaiserreichs (1871–1918), die pluralistische, semiprasidentielle Demokratie der Weimarer Republik (1918/19–1933) und die Diktatur des NS-Staates in der Zeit des Nationalsozialismus (1933 bis 1945). In der folgenden Ubergangsperiode des besetzten Deutschland bis 1949 kam die Bezeichnung bereits weitgehend außer Gebrauch. In der zunachst umstrittenen Frage, ob das Deutsche Reich nach 1945 fortbestanden habe, setzte sich ab Ende der 1940er Jahre und schließlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 die These durch, dass das Deutsche Reich den Zusammenbruch von 1945 uberdauert habe. Die Bundesrepublik sei nicht dessen „Rechtsnachfolger“, vielmehr als Staat mit dem Staat „Deutsches Reich“ identisch; hinsichtlich der raumlichen Ausdehnung war die Alt-Bundesrepublik Deutschland bis 1990 „teilidentisch“ (teilkongruent). Aus der Formel von der raumlichen Teilidentitat folgte: „Die DDR gehort zu Deutschland“ (BVerfGE 36, 17), aber nicht zur Bundesrepublik.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsches_Reich"
}
|
c-13989
|
Die Lubeck-Buchener Eisenbahn (LBE) war ein Unternehmen, das den Eisenbahnverkehr zwischen den Orten Lubeck und Buchen sowie Hamburg betrieb.
Geschichte = Vorgeschichte =
Die ersten Plane zum Bau einer direkten Eisenbahnverbindung zwischen Hamburg und Lubeck entstanden 1831. Die Initiative hierzu ging von dem Lubecker Kaufmann Emil Muller und dessen Vater Nikolaus Hermann Muller aus. Nikolaus Hermann Muller hatte sich nach dem Ende der Franzosenzeit fur bessere Verkehrsverbindungen Lubecks engagiert. So war er an der ersten Lubecker Dampfschiffgesellschaft des Kapitans Matthias Burring Lov beteiligt, die seit 1824 regelmaßig von Lubeck nach Kopenhagen verkehrte.
Als Emil Muller 1831 den Bau einer die Nord- und Ostsee verbindenden Eisenbahnstrecke Hamburg–Lubeck vorschlug, blieb seine Suche nach Mitstreitern in Lubeck vergeblich, weswegen er 1833 nach London reiste, wo er schließlich Investoren fand. Als leitenden Ingenieur konnte Muller Francis Giles gewinnen, der als Chefingenieur der Newcastle and Carlisle Railway (1829–1836) bereits Erfahrungen im Eisenbahnbau vorzuweisen hatte. Auch Marc Isambard Brunel und sein Sohn Isambard Kingdom Brunel, die Erbauer des Londoner Themse-Tunnels (1825–1843), boten Muller ihre Dienste an. Im September 1833 reiste Giles’ Assistent William Lindley nach Hamburg, der spater federfuhrend die Berlin-Hamburger Eisenbahn und die Hamburger Stadtentwasserung erbauen sollte, und begann mit Vermessungsarbeiten, die bis zum 6. November desselben Jahres dauerten. Aus Zeitgrunden verzichtete Lindley darauf, bei den danischen Behorden vorher einen Antrag auf Genehmigung dieser Vermessungsarbeiten zu stellen.
1834 fuhr Giles selbst nach Kopenhagen, wo er am 10. August eine Eingabe um Genehmigung der projektierten Eisenbahn einreichte. Erst bei dieser Gelegenheit informierte er den danischen Konig offiziell uber die stattgefundenen Vermessungsarbeiten, was am Hof fur Verstimmung sorgte und auch die zeitgleich stattfindenden Verhandlungen uber den Bau der Hamburg-Lubecker Chaussee belastete. Damit aber war auch die mogliche Unterstutzung der Hansestadte Lubeck und Hamburg fur das Projekt fraglich geworden, da diesen in erster Linie am Bau der Chaussee gelegen war. Daher verlief die folgende Aktienzeichnung der zu grundenden Bahngesellschaft (geplant war die Emission von 15.000 Aktien zu je 20 Britischen Pfund) nur noch schleppend und mundete schließlich 1839 nach dem Ausstieg Mullers in der Auflosung dieser ersten Lubecker Bahngesellschaft.
Zu einem neuen Anlauf kam es 1843, als der Lubecker Rat selbst den Bau einer Eisenbahnstrecke nach Hamburg in Angriff nahm und diesbezuglich mehrere Anfragen an die danische Regierung richtete. Das zwischen Hamburg und Lubeck liegende holsteinische Gebiet befand sich namlich unter danischer Herrschaft, und die danische Regierung verwehrte den Bau einer direkten Verbindung beider Stadte. Dies geschah vermutlich auf Drangen holsteinischer und speziell Kieler Kreise, die sich ihrerseits in ihren Handelsbestrebungen durch Hamburger und Lubecker Steuer- und Zollgesetze benachteiligt sahen.
Erst auf Druck anderer Staaten des Deutschen Bundes sowie Russlands und Frankreichs verpflichtete sich die danische Regierung am 23. Juni 1847, den Bau einer Eisenbahn in das lauenburgische Buchen an der Berlin-Hamburger Bahn zu genehmigen. Zu den Unterstutzern der Hansestadt gehorten so namhafte Personlichkeiten wie Alexander von Humboldt, Metternich und Preußens Konig Friedrich Wilhelm IV.
Die Zustimmung erfolgte drei Tage vor Beginn des Allgemeinen Deutschen Sangerfestes in Lubeck und drei Monate vor dem Beginn der Germanisten-Tage unter Vorsitz von Jacob Grimm, die auf der Sitzung des Vorjahres in Frankfurt am Main Lubeck unter anderem deshalb als Tagungsort ausgewahlt hatten, um die von Danemark blockierte Eisenbahnanbindung Lubecks als „nationale Frage“ zu unterstutzen; dies trotz der abgelegenen Lage Lubecks in Deutschland und angesichts der schlechten Erreichbarkeit durch die fehlende Bahnverbindung.
Damit wurde eine indirekte, um 35 Kilometer langere Verbindung von Lubeck nach Hamburg moglich. Dieser Kompromiss besaß aus Sicht der konkurrierenden Altona-Kieler Eisenbahn den Vorteil, dass die Verbindung von Lubeck uber Buchen nach Hamburg nun etwa die gleiche Streckenlange hatte wie die Eisenbahnverbindung zwischen dem damals noch holsteinischen Altona und dem ebenfalls holsteinischen Kiel.
= Aufbau des Streckennetzes =
Nach Grundung der Lubeck-Buchener Eisenbahn-Gesellschaft am 27. Februar 1850 begann diese mit dem Bau der Strecke von Lubeck uber Ratzeburg und Molln nach Buchen. 2500 zumeist ungelernte Arbeitskrafte waren bis zum April 1851 insgesamt 400.000 Arbeitstage mit den Erdarbeiten auf der Lubeck-Buchener Strecke beschaftigt.
Am 15. Oktober 1851 nahm sie den Betrieb auf, obwohl die danische Konzession wegen der Aufstande von 1848 erst 1857 nachtraglich erteilt wurde. Die erste Lokomotive erhielt den Namen „GAZELLE“. Der Bahnhof der LBE in Lubeck lag in unmittelbarer Nahe des Holstentores. Die Gleistrasse fuhrte durch die Wallanlagen der Lubecker Stadtbefestigung. Die Abholzung zahlreicher Alleebaume und die ursprunglich geplante Abtragung der Bastionen Rehbock und Scheune stießen dabei auf Widerstand in der Lubecker Bevolkerung. Daher entschieden Rat und Burgerschaft, die abgeholzten Baume auf Rechnung des Staates zu verkaufen und den Potsdamer Landschaftsarchitekten Peter Joseph Lenne zu beauftragen, vom damit erlosten Geld die verbleibenden Wallanlagen kunstlerisch zu gestalten. Großes Unbehagen hatte die Bevolkerung Ratzeburgs empfunden, dass der fur die Stadt bestimmte Bahnhof etwa drei Kilometer vom Mittelpunkt der Stadt, das entsprach etwa einer halben Stunde, entfernt in der Feldmark lag. Die Hoffnungen der Ratzeburger, dass die LBE eine Zweigstrecke in die Stadt errichten wurde, erwiesen sich als trugerisch. Erst uber 50 Jahre spater erbaute die Kleinbahn-Bau-Gesellschaft Lenz & Co. in Form der spateren Ratzeburger Kleinbahn die Verbindung in die Stadt. Auch die Teilung des Ziegelsees bei Molln durch einen Bahndamm rief unter den Anwohnern wenig Begeisterung hervor.
Wirtschaftlich war der Betrieb der Bahn ein Erfolg, sodass die LBE von den eingefahrenen Gewinnen die Lubecker Hafenbahn und eine Kokerei zur Versorgung ihrer Lokomotiven mit Koks errichten konnte. 1852 betrug die Streckenlange der LBE insgesamt 47,45 Kilometer.
Erst 1863 konnte die LBE endlich mit dem Bau einer direkten Strecke nach Hamburg beginnen und am 1. August 1865 den Betrieb aufnehmen. Die rund 63 Kilometer lange Strecke verlief von Lubeck uber Reinfeld, Oldesloe, Ahrensburg, Rahlstedt und Wandsbek bis zum Lubecker Bahnhof in Hamburg. Daran schloss sich nach Suden abknickend eine Verbindung zum Lubecker Guterbahnhof zwischen der Sonninstraße und dem heute zugeschutteten Lubecker Kanal an, die unterhalb des Berliner Bahnhofs in die Berlin-Hamburger Bahn mundete. Die LBE besaß damit 1870 ein Streckennetz von 111,27 Kilometer Lange. Wegen des starken Verkehrs erhielt die Strecke nach Hamburg schon 1875/1876 ein zweites Gleis.
Unter Walther Brecht entwickelte sich die LBE gut. Wahrend seiner 30 Jahre im Unternehmen brachte er dieses wirtschaftlich und finanziell zur vollsten Blute. So erweiterte er die Betriebsanlagen, fuhrte erhebliche Verkehrsverbesserungen durch und regte diverse Ausgestaltungen an.
Am 1. August 1882 eroffnete die LBE eine Strecke von Lubeck nach Travemunde, die am 1. Juli 1898 vom heutigen Bahnhof Lubeck-Travemunde Hafen nach Travemunde Strand verlangert wurde. 1902 schloss Hermann Textor den zum hamburgischen Lubecker Bahnhof der LBE gehorenden Lubecker Guterbahnhof und verband die Strecke mit dem Guterbahnhof des Hannoverschen Bahnhofs in Rothenburgsort. Diese Anbindung war historisch betrachtet das erste Teilstuck der heutigen Hamburger Guterumgehungsbahn. Mit der Eroffnung der Zweigstrecke vom Travemunder Hafenbahnhof nach Niendorf (Ostsee) im Jahr 1913 erreichte das Streckennetz der LBE mit 160,87 Kilometer seine großte Ausdehnung.
= Entstehung der Knotenpunkte =
Gleichzeitig mit der Buchener Strecke der LBE hatte die Berlin-Hamburger Eisenbahn-Aktiengesellschaft 1851 eine Zweigstrecke von Buchen zum sudlich davon gelegenen Lauenburg eroffnet. Bereits im Grundungsjahr 1850 bewilligte der Ausschuss der LBE einen Betrag von 7000 Talern Preußisch Kurant fur technische Prufungen zum Bau einer Elbquerung bei Lauenburg. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen den beteiligten Regierungen entschied man sich schließlich fur den Bau eines Trajekts uber die Elbe.
Am 15. April 1862 wurde eine Bekanntmachung bezuglich des Vertrags zwischen Schleswig-Holstein und Hannover im Gesetzblatt des Konigreiches Hannover veroffentlicht, in der es hieß:
„Seine Majestat der Konig haben, unter Zustimmung der allgemeinen Standeversammlung des Konigreichs, Allerhochst zu beschließen geruht, daß eine Eisenbahn von Luneburg nach Hohnstorf auf Kosten des Landes erbaut und durch eine in Gemeinschaft mit den Verwaltungen der Berlin-Hamburger und der Lubeck-Buchener Eisenbahnen anzulegende Elb-Traject-Anstalt zwischen Hohnstorf und Lauenburg mit den rechtselbischen Eisenbahnen in Verbindung gesetzt werde. Der Plan fur den Bau der Eisenbahn ist mit Allerhochster Genehmigung wie folgt fertiggestellt: Die Bahnlinie zweigt unmittelbar nordlich vom Bahnhofe zu Luneburg von der Lehrte-Harburger Eisenbahn in nordostlicher Richtung ab, fuhrt ostlich an der Domaine Lune und dem Dorfe Adendorf vorbei, wendet sich darauf in einer schwachen Curve ostlich, laßt das Dorf Echem westlich und nimmt dicht vor der Elbe eine nordliche Richtung an, um zwischen den Dorfern Sassendorf und Hohnstorf – Lauenburg gegenuber – den Elbdeich zu erreichen, neben welchem der Endbahnhof angelegt werden wird.“
Das fur den Betrieb benotigte Dampfschiff wurde bei der Maschinenbauanstalt der Hamburg-Magdeburger Dampfschiffahrts-Gesellschaft in Auftrag gegeben und 1864 in Dienst gestellt. Im Februar 1869 wurde wegen des sich insgesamt positiv entwickelnden Verkehrs ein zweites Trajektschiff in Dienst gestellt. Zahlreiche Betriebsstorungen durch Vereisung im Winter und durch mehrere Unfalle zeigten jedoch deutlich, dass der Trajektverkehr keine dauerhafte Losung des Querungsproblems darstellte. Mit der Annexion des Konigreichs Hannover durch Preußen waren zudem militarische Grunde fortgefallen, die vorher gegen eine solche feste Elbquerung gesprochen hatten. So wurde schließlich der Bau einer Drehbrucke uber die Elbe beschlossen, die ab 1878 nach zweijahriger Bauzeit den durchgehenden Zugverkehr von Lubeck nach Luneburg ermoglichte.
Am Bahnhof der LBE in Lubeck endete seit 1870 auch die Großherzoglich Mecklenburgische Friedrich-Franz-Eisenbahn nach Kleinen, uber die 1871 erstmals durchgehende Schnellzuge zwischen Hamburg und Stettin verkehrten. Uber die Strecke der Eutin-Lubecker Eisenbahn besteht seit 1873 eine Verbindung von Lubeck nach Kiel. Die 1916 eroffnete Lubeck-Segeberger Eisenbahn nach Bad Segeberg wurde von Beginn an von der LBE betrieben, erst nach dem Zweiten Weltkrieg verfugte sie uber eigene Fahrzeuge.
Ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt wurde auch Bad Oldesloe. Hier zweigt seit 1875 die von der Altona-Kieler Eisenbahn-Gesellschaft errichtete Strecke nach Neumunster ab, die 1884 von der Eisenbahndirektion Altona der preußischen Staatseisenbahn ubernommen wurde. Diese eroffnete 1884 mit den Strecken nach Schwarzenbek und 1897 uber Ratzeburg nach Hagenow (Kaiserbahn) zwei weitere Verbindungen zur Berliner Bahn. Ab 1907 endete auch die Elmshorn-Barmstedt-Oldesloer Eisenbahn in Oldesloe.
1899 erhielt Molln uber eine Querverbindung der Staatsbahn nach Hollenbek Anschluss an deren Strecke Ratzeburg–Hagenow. Ab 1903 bestand in Ratzeburg von der Ratzeburger Kleinbahn und ab 1904 in Rahlstedt von der Elektrischen Kleinbahn Alt-Rahlstedt–Volksdorf–Wohldorf Ubergang zum Netz der LBE. Dieses wurde durch zahlreiche Industrieanschlusse insbesondere im Stadtgebiet von Lubeck, Wandsbek und Hamburg erganzt.
Eine Verbindung ihres Ahrensburger Bahnhofs mit der Hamburger Walddorferbahn verweigerte die LBE in den 1910er Jahren mit dem Ergebnis, dass diese Strecke, die heute Teil der Linie U 1 der Hamburger U-Bahn ist, sudlich der Stadt die Hamburger Eisenbahnstrecke ohne Umsteigemoglichkeit unterquert.
= Neues Verwaltungsgebaude =
Vor dem Empfangsgebaude des Lubecker Hauptbahnhofs wurde ein großer, von drei Seiten zuganglicher Platz zur Bewaltigung des Wagen- und Straßenbahnverkehrs geschaffen. Umsaumt wurde dieser von dreigeschossigen Hausern, Hotels, Restaurants und dem Verwaltungsgebaude der Lubeck-Buchener Eisenbahngesellschaft in geschlossener Bauweise. Zur Bauzeit wurde vielfach kritisiert, dieser Platz sei viel zu groß, wenn er nicht gerade zum Aufmarsch einiger Ehrenkompanien diente wie beim Besuch von Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1913. Auch nach dem Kriege wie 1927 zum Stahlhelm- und Treubundtag wurde er zu diesen Zwecken instrumentalisiert. Man war der Ansicht, dass der Verkehr niemals eine entsprechende Große erreichen wurde und dass die stadtebauliche Wirkung des Platzes schlecht sei, da er keinen Charakter hatte. Nach Suden war er ohne jeglichen Abschluss. Nach damaliger Wahrnehmung bestand ein eigenartiges Missverhaltnis zwischen dem „Herrn“, dem Empfangsgebaude, und den im Abhangigkeit zu diesem stehenden „Reihenhausbauten“. Die erdruckende Wirkung des reprasentativen Empfangsgebaudes war kaum zu leugnen. Erst in den 1920er Jahren schloss der Handelshof die Lucke im Suden.
Diese Kritik erwies sich zumindest teilweise als unbegrundet. Ein Jahr nach der Bahnhofseroffnung verlegte die Lubecker Straßenbahn, die bis dahin den Bahnhof nur mit einer Linie uber die Fackenburger Allee tangierte, ihren Schwerpunkt nordlich des Bahnhofs. Von dort lief der Verkehr uber den Bahnhofsvorplatz und entwickelte sich so stark, dass heute der zentrale Umsteigeknoten des Busverkehrs ZOB aus Platzmangel nicht mehr vor dem Bahnhof, sondern auf dem Platz sudlich des ehemaligen Verwaltungsgebaudes liegt. Hier verkehren die Linien des Lubecker Stadtverkehrs, der Autokraft und des Verkehrsunternehmens Dahmetal. Vom Bahnhof aus ist er am schnellsten durch den 2007 verbreiterten Gang durch das einstige Verwaltungsgebaude erreichbar.
Unter asthetischen Gesichtspunkten war die Hohe der den Platz umgebenden Gebaude, die aus wirtschaftlichen Grunden erforderlich war, im Sinne des Empfangsgebaudes zu bedauern. Der Versuch, diese Momente in Einklang zu bringen, sei beim Verwaltungsgebaude noch gelungen, beim Hotel Viktoria mit seinen missgluckten Giebeln und dem Haus Automat (nach dem Krieg stand hier die Post und befinden sich heute die Lindenarcaden) jedoch eher missraten.
Bedingt durch die dem Bahnhofsgebaude verwandten Formen wirkt das Verwaltungsgebaudes edel und vornehm. Die im stumpfen Winkel gebrochene Front ist durch Pilaster in einfachster, jedoch straffer Weise rhythmisch gegliedert. Obwohl der Turm laut der zeitgenossischen Kritik zu entbehren gewesen ware, sei es frei von Ubertriebenheiten, materialgerecht und wurdig. Die Dachlosung, die ahnlich dem Leibholz-Haus in der Innenstadt war, fand hier im Gegensatz zur Holstenstraße in der Komposition der Gebaude allgemeines Wohlgefallen. Das Verwaltungsgebaude der Lubeck-Buchener Eisenbahngesellschaft wurde 1997 unter Denkmalschutz gestellt. 2017 folgten die Gebaude der ehemaligen Marzipanmanufaktur und Konditorei Konrad-Adenauer-Straße 3 und die Gebaude des ehemaligen Viktoria-Hotels Am Bahnhof 17/19.
Die Zuwegung zum Bahnhof war von einem malerischen Reiz, der seinesgleichen suchte. Zwar beeindruckte das schwere, wuchtige Holstentor den Besucher am alten Bahnhof als ein Zeuge großer Vergangenheit (ahnlich wie der Kolner Dom am Kolner Hauptbahnhof), jedoch wirkten der Eingang in die Holstenstraße mit dem abfallig als Warenhauswand bezeichneten Leibholz-Haus und die Geschaftshauser an der Untertrave eher beschamend als reprasentativ. Uber dem Grun des Lindenplatzes ragt schlank der Petrikirchturm empor. Geht man auf ihn zu, baut sich ein Teil der Altstadt auf. Nach dem Durchschreiten der alten Linden geht es uber die neue Puppenbrucke, von deren Scheitel man auch das Holstentor und die Marienkirche erblickt. Die Steigerung der Bildschonheiten ist das Charakteristische des Weges.
= Neue Hauptbahnhofe =
In der Umgebung des Lubecker Bahnhofs in Hamburg gab es Anfang des 20. Jahrhunderts drei weitere Fernbahnhofe (Berliner Bahnhof, Hannoverscher Bahnhof, Bahnhof Klosterthor), von denen keiner eine direkte Verbindung zur Strecke der LBE besaß. Ab dem 6. Dezember 1906 wurden sie durch den neuen Hamburger Hauptbahnhof ersetzt, zu dem auch die LBE ihre Strecke verlangerte und ihren bisherigen Bahnhof aufgab. Ostlich davon richtete sie einen neuen Haltepunkt am Berliner Tor ein.
In Lubeck wurden zwischenzeitlich die Bahnanlagen nach Westen verschwenkt und der Bahnhof in den Bereich der Retteich-Wiesen an seinen heutigen Standort verlegt. Am 1. Mai 1908 lief der erste Zug in den neuen Lubecker Hauptbahnhof ein, der bis zur Verstaatlichung der LBE der großte deutsche Privatbahnhof blieb. Die Gleisanlagen im nordlichen Vorfeld des alten Bahnhofs waren bis in die 1980er Jahre noch auf der Wallhalbinsel vorhanden; heute befinden sich dort die Musik- und Kongresshalle und verschiedene Hotels. Der sudliche Teil der alten Trasse ist durch den Verlauf der Possehlstraße, der Berliner Straße und der Berliner Allee noch erkennbar. Am Bahnhofsvorplatz errichtete die LBE ihr reprasentatives Verwaltungsgebaude.
Die alten Bahnhofsanlagen auf der Wallhalbinsel wurden nicht gleich abgerissen. Das alte Hauptverwaltungsgebaude diente weiterhin der Bahnverwaltung, zusatzliche Buros wurden in den bisherigen Wartesalen eingerichtet. Raumlichkeiten des Guterbahnhofs wurden nach deren Ubereignung an die Finanzdeputation von einer der St.-Lorenz-Schulen in Beschlag genommen und als Klassenraume verwendet. Der alte Guterschuppen am Holstentor wurde ab 1920 als Fischmarkt genutzt. Nach dem Umzug der LBE-Hauptverwaltung in das neue Gebaude gegenuber dem Bahnhof wurden die alten Bahnanlagen sukzessive abgebrochen. Ein Teil der alten Gleisanlagen ging an das Gleismuseum in Osnabruck. Zuletzt fiel 1934 das alte Empfangsgebaude, das bis dahin noch von der Hafenbahn genutzt worden war.
= Hamburg-Lubeck-Schnellverkehr =
Auf Anregung der Gesellschaft zur Forderung gemeinsamer Interessen Hamburgs und Lubecks e. V. (kurz: Gesellschaft Hamburg-Lubeck) entwickelte die LBE 1928 das Konzept einer neuen Schnellzugverbindung zwischen Hamburg und Lubeck. Diese Zuge sollten ursprunglich nur in den Wintermonaten fahren, ohne Zwischenhalt zwischen den beiden Hansestadten verkehren und eine Fahrzeit von lediglich 51 Minuten haben. Geplant waren drei Verbindungen taglich in beide Richtungen.
Die Kosten pro Zugpaar kalkulierte die LBE mit monatlich 7.904 Reichsmark, die Gesamtkosten fur drei Zugpaare somit auf rund 23.700 Reichsmark. Angesichts ihrer angespannten Finanzlage erschien der Gesellschaft das finanzielle Risiko einer solchen Zugverbindung zu hoch, weshalb sie diese nicht ohne eine staatliche Burgschaft einrichten wollte. Daher wandte sich die Gesellschaft Hamburg-Lubeck zur Jahreswende 1928/1929 an den Hamburger Senat mit der Bitte, der LBE die Einrichtung dieser Schnellzuge durch eine Ausfallgarantie in Hohe von 23.700 Reichsmark zu ermoglichen. Der Senat unterstutzte diesen Antrag und uberwies ihn am 8. Februar 1929 zur Beschlussfassung an die Burgerschaft. Auch hier fand der Antrag eine Mehrheit, sodass er in der Sitzung vom 13. Marz 1929 angenommen wurde. Zwischenzeitlich hatte auch der Lubecker Senat einem entsprechenden Antrag zugestimmt. Schließlich einigten sich Hamburg und Lubeck auf eine gemeinsame Burgschaft, von der Lubeck 1/5 (4.740 Mark) und Hamburg 4/5 (18.960 Mark) trugen.
Damit war der Weg frei fur den Hamburg-Lubeck-Schnellverkehr („H-L-Schnellverkehr“), der am 1. April 1929 mit Inkrafttreten des Sommerfahrplans aufgenommen wurde. 1570 Fahrgaste nutzten in der ersten Woche das neue Angebot. Bis zum Sommer stiegen die Fahrgastzahlen steil an und verdreifachten sich annahernd.
Doch trotz seiner großen Beliebtheit und der daraus resultierenden hohen Auslastung verkehrte der H-L-Schnellverkehr nicht kostendeckend. Auch die Aufhebung der 4. Wagenklasse zum Winterfahrplan 1928, mit der die LBE einer entsprechenden Entscheidung der Deutschen Reichsbahn folgte, konnte an der schlechten Ertragslage wenig andern.
Daher beschloss der Vorstand der LBE 1932, den Einsatz von Triebwagen zu erproben. Als Prototyp wurde hierfur gemeinsam mit dem Unternehmen Henschel ein neuartiger Doble-Dampftriebwagen unter der Betriebsnummer DT 2000 entwickelt. Das Fahrzeug bot gegenuber dem Lokomotivbetrieb zahlreiche Vorteile: So war es leichter und damit energiesparender, schneller betriebsbereit zu machen (Aufheizzeit: funf Minuten), konnte im Einmannbetrieb gefahren werden und ließ sich dank einer neuartigen elektrischen Fernsteuerung bei Ruckwartsfahrt vom optional kuppelbaren Steuerwagen aus bedienen, wodurch gegenuber dem Lokomotivbetrieb zeitraubende Wendemanover an den Kopfbahnhofen entfielen.
Bei ersten Erprobungsfahrten erreichte der Triebzug eine Geschwindigkeit von 115 km/h. Fur die Strecke Hamburg–Lubeck benotigte er zwischen 44 und 49 Minuten, war damit funf bis zehn Minuten schneller als die bisher hier eingesetzten Schnellzuge. Am 15. Mai 1934 wurde das neue Fahrzeug in den Planbetrieb aufgenommen und verkehrte dreimal taglich zwischen den Hansestadten. Seine Beliebtheit war schon bald so groß, dass die Gesellschaft den Triebwagenverkehr an Sonntagen und wahrend der Hauptreisezeit durch lokomotivbespannte Zuge erganzen musste.
= Das Modernisierungsprogramm von 1933 =
Die Hochinflation und spater die Wirtschaftskrise hatten die LBE schwer getroffen und die Rucklagen des bis dahin gesunden Unternehmens weitgehend aufgezehrt. Die LBE reagierte hierauf mit einem Modernisierungsprogramm, das die Gesellschaft rentabler machen sollte. Im Einzelnen umfasste dieses Programm die Ertuchtigung der Hauptbahngleise fur 20 Tonnen Achslast (statt bisher 16 bis 18 Tonnen), die Beschleunigung des gesamten Bahnverkehrs, namentlich der Reisezuge zwischen Hamburg und Lubeck und der Guterzuge, bei gleichzeitiger Verdichtung des Fahrplans. Hierfur waren umfangreiche Umbaumaßnahmen im gesamten Netz der Gesellschaft notig, darunter die Erneuerung des Oberbaus zwischen Hamburg und Lubeck, die Einfuhrung dreibegriffiger Vorsignale im 1000-Meter-Abstand zu Hauptsignalen und die Einrichtung des elektrischen Streckenblocks. Außerdem sollte neues Fahrzeugmaterial beschafft werden, das gleichermaßen im Hamburger Vorortverkehr und im Schnellverkehr Hamburg–Lubeck eingesetzt werden konnte.
Da der Dampftriebzug mit seinen 137 Platzen dem wachsenden Verkehrsaufkommen zwischen Hamburg und Lubeck schon bald nicht mehr gewachsen war, entwickelte LBE-Baurat Paul Mauck im Rahmen des Modernisierungsprogramms zusammen mit Georg Heise vom Unternehmen Henschel & Sohn einen neuartigen klimatisierten Doppelstockwagen, der im Verbund mit einer fernsteuerbaren Lokomotive eingesetzt werden sollte. Dieses Konzept vereinte die Vorteile des Lokomotivverkehrs (hohe Zugkraft und damit große Sitzplatzzahl) mit denen des Triebwagenverkehrs (geringes Fahrzeuggewicht pro Fahrgast, kein Wenden oder Umsetzen an Endstationen notwendig).
Zu den Doppelstockwagen wurden bei Henschel neuentwickelte Stromlinienlokomotiven in Auftrag gegeben. Die im Volksmund wegen ihrer grauen Stromlinien-Verkleidung auch „Micky-Mause“ genannten Zweikuppler waren fur Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/h ausgelegt und konnten damit die Fahrzeit zwischen Hamburg und Travemunde auf werbewirksame 60 Minuten verkurzen. Eine technische Besonderheit war die hier weltweit erstmals eingebaute Dampfzug-Wendesteuerung, mit der zeitraubende Wendemanover an den Endbahnhofen Hamburg und Travemunde gespart werden konnten. Zu diesem Zweck ließen sich die Lokomotiven von einem Steuerstand in einem Doppelstockwagen bedienen.
Mit Beginn des Sommerfahrplans 1936 nahmen die neuen Zuge ihren Betrieb auf und wurden sofort ein großer Erfolg. Schon bald mussten zu den zwei vorhandenen noch sechs weitere Doppelstockwagen und eine zusatzliche „Micky-Maus“ in Auftrag gegeben werden. Außerdem rustete die LBE funf ihrer alteren T12-Loks mit einer Stromlinien-Verkleidung aus. Der betriebliche Nutzen der windschnittigen Verkleidungen war allerdings nur gering.
Bei Kriegsausbruch beendete die Deutsche Reichsbahn, die mittlerweile Eigentumer der LBE geworden war, das Schnellverkehrsprogramm. Die Doppelstockzuge der LBE wurden fortan nur noch im Vorortverkehr eingesetzt und schließlich 1978 außer Dienst gestellt, die „Micky-Maus“-Lokomotiven − als Splittergattungen und wegen ihrer Scharfenbergkupplungen kaum im allgemeinen Zugverkehr einsetzbar − wurden nur noch im Verschiebedienst genutzt und ab 1942 als Heizloks verwendet.
= Verstaatlichung =
Die Deutsche Reichsbahn besaß seit Anfang der 1930er Jahre die Aktienmehrheit der Lubeck-Buchener Eisenbahn, und am 1. Januar 1938 wurde die LBE vollstandig eingegliedert. Der lubeckische Staat hatte seine ursprungliche Aktienmehrheit an der LBE bereits 1883 uber ein Bankenkonsortium unter Fuhrung der Berliner Handelsbank an die Borse gebracht. In der Hochinflation 1922/1923 hatte das Reichsverkehrsministerium Aktien der LBE erworben. Den Grundstock bildeten hierbei jene 200 Aktien (Nennwert 1.200 Mark), die die LBE nach halbjahrigem Streit im August 1923 als Gegenleistung fur einen Kredit uber 50 Milliarden Papiermark an das Reichsverkehrsministerium abgetreten hatte. 1937 besaß das Deutsche Reich schließlich rund 86 Prozent der Gesellschaftsanteile. Begrundet wurde die Entscheidung zur Verstaatlichung mit der Bedeutung der Reichsbahnstrecken, die durch die LBE verbunden wurden. Die Ubernahme sollte der „Forderung der Verkehrseinheit“ dienen.
Die Liquidation der LBE erfolgte zum 1. Januar 1938. Die verbliebenen freien Aktionare wurden mit zu 4,5 Prozent verzinsten Schatzanweisungen der Deutschen Reichsbahn abgefunden. Ende Marz war die Integration in die Deutsche Reichsbahn vollzogen, und die Uberleitungsstelle der Lubeck-Buchener Eisenbahn wurde zum 1. April 1938 aufgelost.
Zustandige Eisenbahndirektionen fur das Streckennetz der bisherigen LBE wurden die Reichsbahndirektion Schwerin und fur den Abschnitt Hamburg – Bad Oldesloe die Reichsbahndirektion Hamburg. Zu dieser kam nach 1945 das gesamte Streckennetz der ehemaligen LBE. Ab 1949 wurde daraus die Bundesbahndirektion Hamburg.
Die Verstaatlichung der LBE stand am Anfang mehrerer Verstaatlichungen im Zuge der Planungen fur die Vogelfluglinie. Diese uber die Ostseeinsel Fehmarn fuhrende kurzeste Verbindung von Nordwestdeutschland nach Skandinavien hatten die Deutsche Reichsbahn und die Danischen Staatsbahnen seit den 1920er Jahren geplant und mit ihrem Bau 1941 begonnen; 1963 wurde sie eroffnet.
Plane des nationalsozialistischen Staats, die Verbindung Hamburg–Lubeck wegen ihrer moglichen kriegsstrategischen Bedeutung in die Deutsche Reichsbahn einzugliedern, konnen als unwahrscheinlich angesehen werden. So war das weiter nordlich gelegene Kiel als Reichskriegshafen und Endpunkt des Nord-Ostsee-Kanals mit seinen Verbindungen nach Hamburg und Berlin militarisch von viel großerer Bedeutung als Lubeck, und in den Planen von 1941 fur eine Drei-Meter-Breitspurbahn, durch die Deutschland mit dem Osten verbunden werden sollte, tauchte Lubeck nicht auf.
= Denkmal =
Auf einer Einweihungsfeier am 6. Marz 1921 enthullte Hauptpastor Wilhelm Mildenstein von der 1914 gegrundeten Luthergemeinde den Gedenkstein fur die im Ersten Weltkrieg gefallenen Beamten und Arbeiter der Lubeck-Buchener Eisenbahngesellschaft auf dem lubeckischen Ehrenfriedhof. Es handelt sich dabei um Granitstein in Form eines Obelisken mit wuchtiger Unterbrechung durch ein weit auskragendes Gesims. Fur den Entwurf des Denkmals zeichnete der Lubecker Architekt Wilhelm Schurer verantwortlich. Auf der Vorderseite steht unter dem geflugeltem Rad, dem Symbol der Eisenbahn, die Widmung an die Gefallenen:
„Dem Andenken / der im Kampfe / fur das Vaterland / gefallenen / Beamten und / Arbeiter der / Lubeck-Buchener / Eisenbahn“
Auf den ubrigen drei Seiten stehen deren nach Jahren geordnete 118 Namen.
Auf Veranlassung des Angestelltenausschusses der Lubeck-Buchener Eisenbahngesellschaft fertigten die Lubeckischen Architekten Schurer & Siebert den Entwurf an. Ausgefuhrt wurde er durch das Lubeckische Granit- und Marmorwerk Ludwig Bruhn vorm. Plettner & Bruhn.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Inschrift um den Zusatz
„und / Bundesbahn / in den beiden / Weltkriegen“
erweitert. Heute sind die Inschriften verwittert und nahezu unlesbar.
Strecken = Lubeck–Buchen =
Eingleisige Strecke, Lange 49,3 Kilometer. Heute zwischen Ratzeburg und Buchen vom RE83 innerhalb des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV) befahren.
Lubeck Hbf
Lubeck-Blankensee (Hp, aufgelassen / Neueroffnung als Lubeck Flughafen Ende Mai 2008)
Sarau (Pogeez, Hp, aufgelassen)
Ratzeburg
Molln
Guster (Hp, aufgelassen)
Roseburg (Hp, aufgelassen)
Nussau (Hp, aufgelassen)
Buchen
= Hamburg–Lubeck =
Zweigleisige Bahnstrecke Lubeck–Hamburg, Lange 63,1 Kilometer. Heute zwischen Hamburg Hbf und Reinfeld (Holst) von den Linien RE8, RE80 und RB81 innerhalb des HVV befahren.
Hamburg Hbf
Hamburg Lubecker Bahnhof (1908 aufgelassen)
Hasselbrook (Hp)
Wandsbek (seit dem Inkrafttreten des Groß-Hamburg-Gesetzes und der damit verbundenen Eingemeindung 1937 Hamburg-Wandsbek)
Tonndorf (bis 2005 Wandsbek-Ost) (Hp)
Rahlstedt (analog zu Wandsbek seit 1937 Hamburg-Rahlstedt)
Ahrensburg
Ahrensburg-Gartenholz (seit 2011)
Bargteheide
Kupfermuhle (Hp)
Bad Oldesloe
Reinfeld/Holstein
Lubeck-Niendorf (Hp, aufgelassen)
Lubeck Hbf
= Lubeck–Travemunde =
Eingleisige Bahnstrecke Lubeck–Lubeck-Travemunde Strand, Lange 20,6 Kilometer, wird jetzt von der Linie RB86 befahren
Lubeck Hbf
Schwartau-Waldhalle (Hp, aufgelassen)
Lubeck-Danischburg (Hp, aufgelassen / Neueroffnung als Lubeck-Danischburg/IKEA Ende 2014 an anderer Stelle)
Lubeck-Kucknitz (Hp, aufgelassen; 2002 Neueroffnung an anderer Stelle)
Lubeck-Poppendorf (Hp, aufgelassen)
Lubeck-Travemunde-Skandinavienkai, (Hp, seit etwa 1980 – im Jahr 2005 versetzt)
Lubeck-Travemunde Hafen
Lubeck-Travemunde Strand
= Travemunde–Niendorf =
Eingleisige Bahnstrecke Lubeck-Travemunde Hafen–Niendorf (Ostsee), Lange 4,8 Kilometer, im Jahr 1974 stillgelegt und abgebaut
Lubeck-Travemunde Hafen
Lubeck-Travemunde Nord (Hp)
Lubeck-Brodten (Hp)
Niendorf (Ostsee)
Fahrzeuge Bei Betriebsaufnahme 1852 verfugte die Lubeck-Buchener Eisenbahn uber sechs Dampflokomotiven, 15 Reisezug- und 85 Guterwagen. 1870, nach Beschaffung der Erstausstattung fur die Hamburger Bahn, waren es schon 21 Lokomotiven, 60 Reisezug- und 293 Guterwagen. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war der Fahrzeugbestand auf 90 Lokomotiven, 340 Reisezug- und 1338 Guterwagen angewachsen und sank in der Folgezeit bis zur Verstaatlichung 1938 wieder etwas ab.
Die Dampflokomotiven der LBE entsprachen abgesehen von den Werksbauarten der Anfangszeit grundsatzlich den Lokomotiven der preußischen Staatseisenbahnen, wiesen aber zumeist, wie beispielsweise die Baureihen LBE S 10 und LBE T 10, mehr oder weniger gravierende Abweichungen hinsichtlich verschiedener Parameter wie Kesselgroße, Achsstand oder Raddurchmesser auf. Die bemerkenswertesten Lokomotiven der LBE, die drei Schnellfahr-Tenderloks mit Stromlinienverkleidung LBE Nr. 1 bis 3, waren speziell fur den ab 1936 zwischen Hamburg und Lubeck verkehrenden Doppelstock-Stromlinien-Wendezug gebaut worden. Sie konnten vom anderen Zugende aus vom Lokfuhrer ferngesteuert werden.
Detaillierte Angaben zu den Triebfahrzeugen der LBE finden sich in der Liste der Lokomotiven und Triebwagen der LBE.
= Doppelstock-Stromlinien-Wendezug =
Ab Mai 1936 setzte die LBE Stromlinien-Schnellzuge mit Doppelstockwagen auf der Strecke Hamburg Hauptbahnhof – Lubeck-Travemunde Strand ein, die weltweit Aufsehen erregten. Sie waren bereits damals als Wendezuge mit Steuerwagen, automatischen Scharfenberg-Kupplungen sowie als Zweier-Einheiten mit einem gemeinsamen Jakobsdrehgestell ausgestattet. Die acht Doppelstockwagen wurden von den Firmen WUMAG in Gorlitz und Linke-Hofmann in Breslau geliefert. Sie wurden stets mit den speziell fur den Wendezugbetrieb ausgerusteten Lokomotiven LBE Nr. 1 bis 3 gefahren.
Die LBE-Doppelstockwagen boten einen fur damalige Zeiten großen Komfort mit gepolsterten Sitzen in der 3. Klasse. Großeres Gepack wurde beim Einsteigen von Pagen in Empfang genommen, im Gepackabteil verstaut und beim Verlassen des Wagens wieder ausgehandigt.
Literatur Friedrich Kruger: Die Verkehrsprotektion in Holstein und die direkte Lubeck-Hamburger Eisenbahn, Hamburg 1858.
Alfred Dreyer: Eisenbahnpolitik um Lubeck – Zur Vorgeschichte der Lubeck-Buchener, in: Der Wagen 1942–44, S. 58–70.
Alfred B. Gottwald: Die Lubeck Buchener Eisenbahn (LBE), Dusseldorf 1999, ISBN 3-87094-235-5.
Gerd Wolff: Deutsche Klein- und Privatbahnen, Teil 1: Schleswig-Holstein/Hamburg, Gifhorn 1972, ISBN 3-921237-14-9.
125 Jahre Eisenbahn in Lubeck, Sonderheft Oktober 1976, Verein Lubecker Verkehrsfreunde.
Rudiger Otahal: Lubeck-Buchener Eisenbahn, Munchen 2002, ISBN 3-7654-7130-5.
Lorenz Steinke Emil Muller. In: Hamburgische Biographie, Bd. 3, Gottingen 2006, ISBN 978-3-8353-0081-1.
Lorenz Steinke: Die Bedeutung der Lubeck-Buchener Eisenbahn fur die Wirtschaft der Region Hamburg-Lubeck in den Jahren 1851 bis 1937, Lubeck 2006, ISBN 3-7950-0483-7.
Gerd Wolff: Deutsche Klein- und Privatbahnen, Band 12: Schleswig-Holstein 1 (ostlicher Teil) EK-Verlag, Freiburg 2010, ISBN 978-3-88255-671-1 (vollstandige Neubearbeitung).
Klara Nemeckova: Wegbereiter einer modernen Eisenbahnkultur. Die Lubeck-Buchener Eisenbahn in den 1920er und 1930er Jahren. In: Oliver Gotze / Ursula Bartelsheim / Janina Baur (Hrsg.): Design & Bahn. Eine Gestaltungsgeschichte. Prestel, Munchen 2021, ISBN 978-3-7913-7921-0, S. 90–95.
Weblinks Victor von Roll: Enzyklopadie des Eisenbahnwesens –- Lubeck-Buchener Eisenbahn
Private Seite uber die LBE
Nachbau der Strecke Kucknitz bis TR-Strand bzw. Niendorf (Ostsee) als Computersimulation (EEP)
Fruhe Dokumente und Zeitungsartikel zur Lubeck-Buchener Eisenbahn in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Einzelnachweise
|
Die Lubeck-Buchener Eisenbahn (LBE) war ein Unternehmen, das den Eisenbahnverkehr zwischen den Orten Lubeck und Buchen sowie Hamburg betrieb.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Lübeck-Büchener_Eisenbahn"
}
|
c-13990
|
Das Jahr 1936 bietet den Nationalsozialisten gleich mit zwei großen internationalen Sportereignissen die Gelegenheit, das Deutsche Reich nach außen glanzend zu prasentieren. Die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen, bei denen erstmals ein Fackellauf durchgefuhrt wird, und insbesondere die Olympischen Sommerspiele in Berlin werden auch entsprechend propagandistisch ausgeschlachtet. Die perfekte Inszenierung wird aus Sicht der Nazis nicht einmal dadurch getrubt, dass mit Jesse Owens ein Afroamerikaner erfolgreichster Athlet der Spiele wird. Immerhin wird mit dem Deutschen Reich zum ersten Mal eine andere Nation als die Vereinigten Staaten erfolgreichste Nation bei Olympischen Sommerspielen.
Innenpolitisch wird die Unterdruckung und Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten konsequent fortgesetzt und außenpolitisch wird immer unverhohlener der Krieg vorbereitet. Adolf Hitler kundigt die Vertrage von Locarno und lasst die Wehrmacht im entmilitarisierten Rheinland einmarschieren, ein aggressiver Akt, dem Frankreich und Großbritannien keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Mit dem faschistischen Italien Benito Mussolinis, das gerade Athiopien uberrannt und die Kolonie Italienisch-Ostafrika gegrundet hat, wird die Achse Berlin-Rom geschlossen, mit dem Japanischen Kaiserreich der gegen die Sowjetunion gerichtete Antikominternpakt.
In Spanien bricht inzwischen der Burgerkrieg aus. Die faschistische Falange und die nationale Rechte im Militar unter Francisco Franco versucht mit einem Putsch an die Macht zu gelangen, stoßt jedoch auf unerwartet starke Gegenwehr der republikanischen Regierung. Nachdem Internationale Brigaden – Freiwilligenverbande bestehend aus Angehorigen zahlreicher europaischer und amerikanischer Nationen – die Republik bei ihrem Abwehrkampf unterstutzen, entsendet das Deutsche Reich die Legion Condor zur Unterstutzung der Faschisten, eine willkommene Generalprobe fur die Kriegstauglichkeit der deutschen Streitkrafte.
Die britische Monarchie wird Ende des Jahres von einem Skandal erschuttert. Konig Edward VIII. gibt seiner Beziehung mit der in Scheidung lebenden Burgerlichen Wallis Simpson den Vorzug und dankt ab. Sein Bruder Albert folgt ihm als George VI. auf den Thron nach.
Die kulturellen Hohepunkte des Jahres sind die Urauffuhrung von Sergei Prokofjews musikalischem Marchen Peter und der Wolf, Margaret Mitchells Roman Vom Winde verweht, die International Surrealist Exhibition in London, sowie die Premiere von Charlie Chaplins satirischem Stummfilm Modern Times.
Sportlich wird das perfekte Jahr fur das Deutsche Reich durch den Sieg Max Schmelings im Boxen gegen den bisher ungeschlagenen Joe Louis ausgerechnet in New York „abgerundet“. Und dem Osterreicher Sepp „Bubi“ Bradl gelingt der erste Sprung eines Menschen mit Skiern uber 100 Meter.
Ereignisse = Politik und Weltgeschehen =
Spanischer Burgerkrieg 16. Februar: Das am 15. Januar von mehreren linken und liberalen Parteien gegrundete Wahlbundnis Frente Popular gewinnt die Parlamentswahlen in Spanien. Premierminister Manuel Azana bildet eine Regierung.
13. Mai: Nach der Wahl Manuel Azanas zum Prasidenten wird Augusto Barcia Trelles interimistisch Ministerprasident. Am 16. Mai ubernimmt Santiago Casares Quiroga das Amt.
13. Juli: Der spanische Oppositionspolitiker Jose Calvo Sotelo wird von Angehorigen der Guardia de Asalto und der Zivilgarde ermordet.
17. Juli: Mit einem Militarputsch der nationalen Rechten unter General Emilio Mola und Francisco Franco in Spanisch-Marokko beginnt der bis 1939 dauernde Spanische Burgerkrieg.
19. Juli: Santiago Casares Quiroga tritt als Ministerprasident zuruck. Ihm folgt Diego Martinez Barrio ins Amt, der allerdings schon nach drei Stunden von Jose Giral Pereira abgelost wird.
19. Juli bis 16. August: Die Belagerung von Gijon endet mit der Einnahme der Stadt durch anarchistische Milizen. Die verteidigenden spanischen Armeesoldaten und Offiziere der Guardia Civil, die sich dem Franco-Aufstand angeschlossen haben, werden nach dem Ende der Kampfe hingerichtet.
19. Juli bis 16. Oktober: Bei der Belagerung von Oviedo halt die Stadtgarnison unter dem Befehl von Oberst Antonio Aranda Mata, die sich gegen die Zweite Spanische Republik erhoben hat, der Belagerung der Regierungstruppen bis zum Eintreffen der nationalistischen Truppen stand.
21. Juli: Jose Moscardo, Militargouverneur der Provinz Toledo, ruft in Toledo das Kriegsrecht aus. Am nachsten Tag beginnen republikanische Einheiten mit der Belagerung des Alcazars von Toledo.
24. Juli: In Burgos rufen die Nationalisten unter General Mola eine Gegenregierung aus.
7. August: Die nationalistische Armee erobert Almendralejo.
10./11. August: Die Nationalisten unter Juan Yague siegen in der Schlacht von Merida.
11. August: Wahrend der Offensive von Guipuzcoa erobern Nationalisten die alte baskische Hauptstadt Tolosa.
13. August: Beim Angriff von Francos Luftwaffe auf ein republikanisches Kriegsschiff kommen erstmals deutsche Soldaten in Spanien zum Einsatz.
14. August: In der Schlacht von Badajoz gelingt den Truppen Francisco Francos einer der ersten großeren Siege im Spanischen Burgerkrieg und die Eroberung der Stadt Badajoz.
16. August bis 4. September: Die Schlacht um Mallorca, eine amphibische Landung der republikanischen Armee, um die Insel Mallorca wieder unter die Kontrolle der Zweiten Spanischen Republik zu bringen, scheitert nach anfanglichen Erfolgen. Insgesamt gibt es auf beiden Seiten mindestens 1.500 Gefallene.
17. bis 21. August: Der Sieg in der Schlacht in der Sierra Guadalupe ist ein großer Schritt fur die Nationalisten unter Juan Yague auf dem Marsch nach Madrid. Am 21. August fallt Guadalupe in die Hande von Major Antonio Castejon Espinosa. Am 27. August treffen sich die drei nationalistischen Truppenteile in Navalmoral und beginnen mit den ersten Luftangriffen auf Madrid.
September: Die drei Anarchistinnen Lucia Sanchez Saornil, Mercedes Comaposada und Amparo Poch y Gascon grunden gemeinsam mit anderen Frauen die anarchafeministische Organisation Mujeres Libres. Der basisdemokratischen Organisation gehoren zeitweise uber 20.000 Frauen an, die sich zivilgesellschaftlich engagieren, aber auch an der Front gegen die Franquisten kampfen.
3. September: Republikanische Milizen versuchen bei Talavera de la Reina den Marsch der Nationalisten auf Madrid aufzuhalten. Die Schlacht von Talavera de la Reina endet mit einer Niederlage der Republikaner und leitet wenig spater die Belagerung von Madrid ein.
4. September: Francisco Largo Caballero wird zum Ministerprasidenten der Republik ernannt.
23. September: Die Nationalisten erobern San Sebastian im Baskenland und beenden damit die Offensive von Guipuzcoa.
26. September: Nationalistische Truppen treffen nordlich von Toledo ein. Die Republikaner brechen daraufhin die aussichtslos gewordene Belagerung des Alcazars von Toledo ab.
28. September: Nationalistische Truppen erobern im Spanischen Burgerkrieg Toledo und befreien die eingeschlossenen Verteidiger des Alcazars. Mehr als 200 zuruckgebliebene Republikaner werden massakriert.
29. September: Die spanischen Nationalisten ernennen General Francisco Franco zum Staatschef und militarischen Oberbefehlshaber.
9. Oktober: Nach einem Beschluss der Komintern vom 3. August werden mit Unterstutzung Stalins die ersten Internationalen Brigaden zugunsten der Republikanischen Regierung aufgestellt. Militarischer Befehlshaber der XI. Internationalen Brigade wird Manfred Stern. Am 12. Oktober erreichen die ersten 650 Freiwilligen mit dem Dampfer Ciudad de Barcelona den Hafen von Alicante, wo sie in drei Bataillone aufgeteilt werden und direkt nach Madrid marschieren.
16. Oktober: Mit der gesetzlichen Integration der nach dem Putsch ad hoc entstandenen Volksmilizen in die regulare Armee entsteht die Volksarmee Ejercito Popular de la Republica.
Oktober: Die Belagerung von Madrid durch Franco-Truppen beginnt.
25. Oktober: Vom spanischen Hafen Cartagena werden auf Befehl der republikanischen Regierung uber 500 t Gold, ca. dreiviertel der Goldreserven der spanischen Nationalbank, einer der großten Goldschatze weltweit, nach Odessa in die UdSSR verbracht, um sie vor dem Zugriff der Nationalisten zu schutzen.
Anfang November: Die deutsche „Legion Condor“ greift in den Spanischen Burgerkrieg ein
20. November: Der Anfuhrer der faschistischen Partei Falange, Jose Antonio Primo de Rivera, wird von den Republikanern hingerichtet. Sein Nachfolger wird Francisco Franco. Von Anhangern des Franquismus wird dieser Tag bis heute als 20-N begangen.
Deutsches Reich 1. Januar: Nur noch Mitglieder der Hitlerjugend sollen in Deutschland fur die Beamtenlaufbahn zugelassen werden.
7. Marz: Deutschland kundigt die Vertrage von Locarno. Truppen der Wehrmacht besetzen das entmilitarisierte Rheinland (Rheinlandbesetzung). Großbritannien verweigert Frankreich Unterstutzung fur eine militarische Ruckeroberung, womit diese unterbleibt.
16. Marz: Rudolf Heß verbietet als „Stellvertreter des Fuhrers“ allen studierenden Angehorigen der NSDAP die Mitgliedschaft bei einer Studentenverbindung.
29. Marz: Die Reichstagswahl 1936 findet zugleich mit der Volksabstimmung zur Rheinlandbesetzung statt. Zugelassen fur diese Scheinwahl ist nur eine Einheitsliste der NSDAP. Juden und sogenannte Judische Mischlinge sind nach dem Reichsburgergesetz erstmals von der Wahl ausgeschlossen. Die Wahl bringt ebenso wie die Abstimmung – wie vom NS-Regime vorgesehen – eine deutliche Zustimmung.
17. Juni: Der Erlass uber die Einsetzung eines Chefs der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern liefert die rechtliche Grundlage fur die institutionelle Verklammerung des NSDAP-Parteiamtes Reichsfuhrer SS mit dem des neu eingefuhrten staatlichen Amtes eines Chefs der Deutschen Polizei und ist damit vorlaufiger Hohepunkt der bereits weit fortgeschrittenen Verschmelzung des SS-Apparats mit der Polizei der Weimarer Republik zu einem Instrument totaler und willkurlicher Fuhrergewalt.
3. Juli: Der Kunstler und Journalist Stefan Lux erschießt sich wahrend einer Generalversammlung des Volkerbundes vor versammeltem Plenum, um auf die Judenverfolgung im Deutschen Reich aufmerksam zu machen.
11. Juli: Im Juliabkommen zwischen Deutschland und Osterreich anerkennt die deutsche Reichsregierung die volle Souveranitat des Bundesstaates Osterreich und bekundet, weder die Absicht noch den Willen zu haben, sich in die inneren osterreichischen Verhaltnisse einzumengen; Osterreich etwa zu annektieren oder anzuschließen. Das Abkommen ist Folge der Annaherung Hitlerdeutschlands an das faschistische Italien, das bisher eine außenpolitische Stutze Osterreichs dargestellt hat, sowie des Bestrebens Osterreichs, die Aufhebung der Tausend-Mark-Sperre zu erreichen. Noch im Tagesverlauf des 11. Juli wurden vom osterreichischen Bundesprasidenten Wilhelm Miklas auf Vorschlag von Kanzler Kurt Schuschnigg die beiden Deutschen Edmund Glaise von Horstenau zum Minister ohne Geschaftsbereich und Guido Schmidt zum Staatssekretar des Außenministeriums ernannt.
26. August: Hitler befiehlt in seiner Denkschrift zum Vierjahresplan, die Armee musse in vier Jahren „einsatzfahig“ und die Wirtschaft „kriegsfahig“ sein.
18. September: Die Militarparade auf der Großenengliser Platte ist Teil der militarischen Vorbereitung fur die Mobilmachung im Deutschen Reich. Die Parade zwischen Großenenglis und Udenborn ist die großte Militarparade von Geratetypen im Schwalm-Eder-Kreis nach dem Ersten Weltkrieg und gleichzeitig eine Machtdemonstration der Nationalsozialisten in Europa. Ihre politische Bedeutung wird durch die Anwesenheit von Adolf Hitler unterstrichen.
20. September: Der Runderlass zur Neuordnung der Reichskriminalpolizei beseitigt die organisatorische Selbstandigkeit der Kriminalpolizei der deutschen Lander und unterstellt sie einem zentralen und einheitlichem Vollzugsdienst der Reichskriminalpolizei. Mit Erlass vom 10. Oktober 1936 wird zusatzlich die Reichszentrale zur Bekampfung der Homosexualitat und der Abtreibung gegrundet. Dieser Erlass wird nicht im Reichsministerialblatt der inneren Verwaltung (RMBliV) veroffentlicht, aber an alle Staats- und Kriminalpolizeistellen ubermittelt.
25. Oktober: Die Annaherung Italiens und Deutschlands wird vertraglich bekraftigt (Achse Rom-Berlin).
18. November: Der Kreuzkampf im Oldenburger Munsterland beginnt.
25. November: Abschluss des Antikomintern-Paktes zwischen Deutschland und Japan
1. Dezember: Die Hitlerjugend (HJ) wird per Gesetz zur „Staatsjugend“ erklart.
Italien/Abessinienkrieg 21. bis 24. Januar: Erste Tembienschlacht
27. bis 29. Februar: In der Zweiten Tembienschlacht kommt es zur volligen Vernichtung der athiopischen Verbande.
31. Marz: Die Schlacht von Mai Ceu, in der die Italiener Kriegsverbrechen durch den massiven Abwurf von Senfgas (Lost) begehen, entscheidet den Italienisch-Abessinischen Krieg endgultig zu Gunsten Italiens.
5. Mai: Italienische Truppen ziehen in Addis Abeba ein und beenden damit militarisch den Italienisch-Athiopischen Krieg.
9. Mai: Der Abessinienkrieg findet in der Annexion Athiopiens durch das faschistische Italien seinen Abschluss. Die Kolonie Italienisch-Ostafrika wird gegrundet, Konig Viktor Emanuel III. wird zum Kaiser von Athiopien proklamiert.
Osterreich 17. Februar: Der Tod von Wilhelm Berliner, Generaldirektor des osterreichischen Phonix-Lebensversicherungskonzerns, lost den Phonix-Skandal in Osterreich aus. Sein Nachfolger Eberhard Reininghaus erfahrt am 28. Februar, dass keine Mittel fur die Lohnauszahlungen vorhanden sind.
16. Marz: Vor dem Wiener Landesgericht beginnt der „Große Sozialistenprozess“, ein Hochverratsprozess gegen 28 Mitglieder der nach dem austrofaschistischen Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Untergrund agierenden Revolutionaren Sozialisten. Federfuhrender Verteidiger ist Heinrich Steinitz. Aufgrund des internationalen Medieninteresses fallen die Urteile am 24. Marz verhaltnismaßig milde aus. Die Hauptangeklagten Karl Hans Sailer und Maria Emhart, fur die der Staatsanwalt die Todesstrafe beantragt hat, werden zu 20 bzw. 18 Monaten Haft, Bruno Kreisky zu 12 Monaten Kerker verurteilt. Franz Jonas wird freigesprochen.
15. Mai: Kanzler Kurt Schuschnigg lost Ernst Rudiger Starhemberg als Frontfuhrer der Einheitspartei Vaterlandische Front ab.
11. Juli: Der Standestaat schließt das Juliabkommen mit dem Deutschen Reich. Am selben Tag ernennt Bundesprasident Wilhelm Miklas die beiden betont-nationalen (großdeutsch orientierte Nicht-Nationalsozialisten) Edmund Glaise von Horstenau zum Minister ohne Geschaftsbereich und Guido Schmidt zum Staatssekretar des Außenministeriums. Die deutsche Tausend-Mark-Sperre wird aufgehoben.
10. Oktober: Die Heimwehrverbande werden aufgelost und in die Frontmiliz uberfuhrt.
Schweiz 1. Januar: Albert Meyer wird Bundesprasident der Schweiz.
4. Februar: Gustloff-Affare: Wilhelm Gustloff, Landesgruppenleiter in der NSDAP-Auslandsorganisation in der Schweiz, wird von dem judischen Medizinstudenten David Frankfurter erschossen, woraufhin Gustloff von den Nationalsozialisten zum „Blutzeugen“ hochstilisiert wird.
Griechenland 26. Januar: Die Parlamentswahl in Griechenland fuhrt zu instabilen Verhaltnissen. Die Anhanger des exilierten Eleftherios Venizelos erhalten etwa gleich viele Sitze wie seine Gegner, die Kommunisten sind mit 15 Abgeordneten als dritte Partei das „Zunglein an der Waage“.
12. April: Ministerprasident Konstantinos Demertzis stirbt nach wenigen Monaten im Amt an einem Herzinfarkt. Konig Georg II. ernennt daraufhin den Monarchisten Ioannis Metaxas zu dessen Nachfolger, obwohl seine Partei nur sieben Sitze im Parlament hat. Die Regierung von Metaxas wird mit weitreichenden legislativen Befugnissen ausgestattet und soll nur provisorisch zur Stabilisierung der Lage fungieren, ein Parlamentsausschuss dient zur Kontrolle.
9. Mai: Ein Streik der Tabakarbeiter in Thessaloniki wird blutig niedergeschlagen. 12 Menschen werden getotet, rund 300 verletzt, als die Polizei das Feuer auf die Arbeiter eroffnet. Am nachsten Tag veroffentlicht die kommunistische Parteizeitung Rizospastis ein Foto von einem Toten und seiner Mutter, die mitten auf der Odos Egnatia um ihn trauert. Unter dem Eindruck dieses Fotos schreibt der Lyriker Giannis Ritsos den Gedichtszyklus Epitaphios.
4. August: Der griechische Regierungschef General Ioannis Metaxas entlasst das Parlament, annulliert die Verfassung und begrundet den diktatorischen „Neuen Staat“ (Neon Kratos). Er stoßt dabei kaum auf Widerstand, nur Georgios Papandreou und die kommunistische Partei stellen sich offen gegen Metaxas, was dieser mit Verfolgungen und der Grundung von Lagerinseln beantwortet.
Bei einer Bucherverbrennung wird unter anderem der Epitaphios von Ritsos offentlich verbrannt. Metaxas fuhrt aber auch einen Mindestlohn und den 8-Stunden-Tag in Griechenland ein.
7. November: Die Jugendorganisation Ethniki Organosis Neoleas (EON) wird ins Leben gerufen.
Sowjetunion 5. Dezember: In der Sowjetunion wird eine stalinistische Verfassung verabschiedet. Sie tritt an die Stelle der sowjetischen Verfassung von 1924.
Die Kasachische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik wird aus der RSFSR ausgegliedert und unter dem Namen Kasachische Sozialistische Sowjetrepublik eine eigenstandige Unionsrepublik.
Die Karakalpakische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik wird in die Usbekische Sozialistische Sowjetrepublik eingegliedert.
Weitere Ereignisse in Europa 16. Februar: Front von Morges
20. Juli: Der Vertrag von Montreux gibt der Turkei die volle Souveranitat uber die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus zuruck, die nach dem Ersten Weltkrieg unter internationaler Kontrolle gestellt wurden, und regelt den freien Schiffsverkehr durch diese Gewasser.
31. August: Radio Praha, der Auslandssender des tschechoslowakischen Rundfunks, geht auf Sendung. In den Jahren bis 1939 gilt der Prager Sender als wichtige propagandafreie Informationsquelle aus Mitteleuropa.
10. Dezember: Eduard VIII. verzichtet mit His Majesty’s Declaration of Abdication Act 1936 zugunsten der Beziehung zu seiner burgerlichen und geschiedenen Lebensgefahrtin Wallis Simpson auf die britische Krone. Sein Nachfolger wird sein Bruder Albert als Georg VI.
Antonio de Oliveira Salazar grundet in Portugal die Legiao Portuguesa, eine Freiwilligenorganisation nach dem Vorbild der deutschen SA, sowie die Jugendorganisation Mocidade Portuguesa. Die beiden Organisationen werden mit einiger Begeisterung aufgenommen und verankern das autoritare System des Estado Novo in der Bevolkerung.
Vereinigte Staaten von Amerika 3. November: Der amtierende US-Prasident Franklin D. Roosevelt wird bei der Prasidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten fur eine zweite Amtszeit wiedergewahlt. Mit deutlicher Mehrheit schlagt er den Republikaner Alf Landon.
Dem Nye Committee in den USA werden die Mittel entzogen.
Lateinamerika 1. April: Der mexikanische Staatsprasident Lazaro Cardenas del Rio schickt Plutarco Elias Calles, den letzten im Land befindlichen General mit diktatorischen Ambitionen, in die Verbannung.
China Ende Februar: Bailingmiao-Aufstand
12. Dezember: Der Warlord Zhang Xueliang kidnappt den Kuomintang-Fuhrer Chiang Kai-shek bei einem Truppenbesuch. Der Zwischenfall von Xi’an endet mit der Freilassung Chiangs nach zwei Wochen.
Weitere internationale Ereignisse 26. Februar: Wahrend eines Putschversuchs in Tokio durch Angehorige der Partei Kodo-ha besetzen 1.400 Offiziere das Parlament, das Kriegsministerium und die Hauptquartiere der Polizei. Der Aufstand wird bis zum 29. Februar niedergeschlagen.
19. April: Der Tod von sechs protestierenden Arabern in Jaffa durch britische Polizisten gibt dem arabischen Aufstand gegen die britische Mandatsmacht Auftrieb.
28. April: Mit dem Tod seines Vaters Fu'ad I. wird der 16-jahrige Faruq neuer Konig von Agypten. Er befindet sich zu diesem Zeitpunkt zur Offiziersausbildung an der Militarakademie Woolwich in London. Fur den Herrscher ubernimmt ein Jahr lang ein Regentschaftsrat die Vormundschaft.
19. Juni/31. August: Der Native Trust and Land Act bestimmt, dass die Reservatsflachen, die der schwarzen Bevolkerung im Natives Land Act von 1913 zugeteilt worden sind, von 7,13 % (9.709.586 Hektar) auf ungefahr 13,6 % der Gesamtflache von Sudafrika zu vergroßern sind. Der Anteil der schwarzen Bevolkerung an der Gesamtbevolkerung des Landes betragt zu diesem Zeitpunkt rund 61 %.
26. August: Durch einen britisch-agyptischen Bundnisvertrag wird die militarische Besetzung durch die Briten auf die Suezkanalzone beschrankt.
Internationale Konferenzen und Vertrage 6. November: Zweite Londoner Flottenkonferenz: Das Londoner U-Boot-Protokoll regelt international, dass U-Boote gegenuber Handelsschiffen volkerrechtlich den Bestimmungen fur Uberwasserschiffe gleichgestellt sind.
1. Dezember: Die Inter-American Conference for the Maintenance of Peace (Inneramerikanische Konferenz zur Erhaltung des Friedens) beginnt auf US-amerikanische Initiative in Buenos Aires.
23. Dezember: In Buenos Aires wird das multilaterale Ubereinkommen uber den Bau des Schnellstraßennetzes Panamericana unterzeichnet.
= Wirtschaft =
Geldwirtschaft 25. September: Die Regierungen von Frankreich, England und den USA schließen das Tripartite-Abkommen zur Festlegung fester Wechselkurse zwischen dem Dollar, dem Pfund und dem Franc um den Abwertungswettlauf zu beenden.
26. September: Belgien schließt sich dem Tripartite-Abkommen an.
21. November: Die Niederlande und die Schweiz schließen sich dem Tripartite-Abkommen vom 25. September an.
Internationale Ausstellungen 15. Februar: Die I.G. Farben warten bei der Internationalen Automobil-Ausstellung in Berlin mit dem ersten Autoreifen aus dem Kautschukersatz Buna auf.
30. November: Der Londoner Kristallpalast (Crystal Palace), ein glasernes Ausstellungsgebaude aus dem Jahr 1851, wird durch einen Brand zerstort.
Patente und Unternehmensgrundungen 18. Februar: Das United States Patent Office erteilt Frank A. Redford ein Design Patent fur eine Gebaudeform, das zum Entstehen der Wigwam Motels fuhrt.
5. Marz: Die Motorenfabrik Humboldt-Deutz aus Koln ubernimmt den Nutzfahrzeugbauer Magirus aus Ulm. Auf diese Fusion geht die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Markt etablierte Marke Magirus-Deutz zuruck, die zeitweise der zweitgroßte Nutzfahrzeughersteller Deutschlands ist und zwischen 1975 und 1983 in IVECO aufgeht.
22. Mai: In Dublin wird die irische Fluggesellschaft Aer Lingus gegrundet.
10. Juni: In Moskau wird das Unternehmen Sojusmultfilm gegrundet, das Trickfilme produziert. Das Unternehmen entwickelt sich zum bedeutendsten Animationsfilmstudio der Sowjetunion.
23. November: Die erste Ausgabe des fotojournalistischen Magazins Life erscheint in den USA.
In Stockholm grunden Wilhelm Klingspor und Robert von Horn die Risikokapital-Beteiligungsgesellschaft Kinnevik.
Verkehr 27. Mai: Die Jungfernfahrt der Queen Mary findet von Southampton uber Cherbourg nach New York City statt.
16. Juni: Die Waalbrucke Nijmegen wird nach funfjahriger Bauzeit eroffnet. Sie ersetzt die bisherige Fahre.
21. November: Das Schkeuditzer Kreuz wird als erstes Autobahnkreuz Europas in Betrieb genommen.
Sonstiges 17. Februar: Nach dem Tod von Wilhelm Berliner kommt es zum Phonix-Skandal in Osterreich.
26. Oktober: Der erste Generator des errichteten Hoover Dam liefert in den Vereinigten Staaten die erste Energie in das Stromnetz.
2. November: Die landesweit sendende Rundfunkanstalt Canadian Broadcasting Corporation (CBC) beginnt ihr Programm.
Die Lex Stahlverein ermoglicht die Reprivatisierung der Vereinigten Stahlwerke (Vestag) in Deutschland.
Der erste Diesel-PKW geht in Serie.
Die Lebkuchen-Spezialitat Dominostein wird von Herbert Wendler erfunden.
= Wissenschaft und Technik =
Luftfahrt und Verkehr 4. Marz: Die LZ 129 Hindenburg, das großte jemals gebaute Luftfahrzeug, hat ihre Jungfernfahrt mit 85 Personen von Friedrichshafen uber Meersburg zuruck nach Friedrichshafen. Die drei Stunden dauernde Fahrt uber 180 Kilometer wird von Ernst A. Lehmann, Hans von Schiller und Hugo Eckener gefuhrt. Am 19. Marz wird das Starrluftschiff an die Deutsche Zeppelin-Reederei (DZR) abgeliefert. Die erste kommerzielle Passagierfahrt in Richtung USA startet am Abend des 6. Mai um 21:30 Uhr in Frankfurt und endet nach der Rekordzeit von 61,5 Stunden am 9. Mai um 6:10 Uhr am Ankermast von Lakehurst. Bis Ende des Jahres fahrt die Hindenburg zehnmal in die USA und siebenmal nach Brasilien und befordert rund 1.600 Menschen.
11. Mai: Die Reichsbahn stellt mit einer Lok der Baureihe 05 einen Geschwindigkeitsweltrekord fur Dampfloks auf. Die Lok erreicht eine Geschwindigkeit von 200,4 km/h.
8. Juli: Zum ersten Mal landet ein Flugzeug, eine Ju 52, auf dem Flug- und Luftschiffhafen Rhein-Main, der damit offiziell eroffnet wird. Am 14. Juli landet mit LZ 127 Graf Zeppelin erstmals ein Luftschiff auf dem neuen Flughafen.
Juli: Der deutsche Oberingenieur und Erfinder Engelbert Zaschka veroffentlicht eine der ersten in deutscher Sprache verfassten Schriften uber das Wesen des Hubschraubers mit dem Titel Drehflugelflugzeuge. Trag- und Hubschrauber.
5. September: Mit einer Bruchlandung in Neuschottland endet der erste Alleinflug uber den Atlantik in Ost-West-Richtung der Pilotin Beryl Markham.
24. November: Maurice Claisse erreicht mit einem Breguet-Koaxialhubschrauber „Gyroplane-Laboratoire“ eine Flughohe von 158 Metern: Weltrekord.
Technische Errungenschaften 1. Marz: Der Hoover Dam wird nach seiner Fertigstellung der US-Regierung formell ubergeben. Der erste Generator liefert am 26. Oktober Strom.
5. Oktober: Der Rugendamm zwischen Stralsund und der Insel Rugen wird eroffnet.
Der Bau der Wesertalsperre bei Eupen in Belgien beginnt.
Emil Lumbeck entwickelt das nach ihm benannte handwerkliche Verfahren zur Klebebindung von Buchern und wird damit zum Wegbereiter des Taschenbuchs.
Sonstiges 20. Mai: In Oslo wird das Frammuseum eroffnet. Das Museum widmet sich der Geschichte der norwegischen Polarforschungsreisen, insbesondere den drei großen norwegischen Polarforschern Fridtjof Nansen, Otto Sverdrup und Roald Amundsen. Den Mittelpunkt des Museums bildet das Forschungsschiff Fram.
22. Juni: An der Universitat Wien ermordet der ehemalige Student Hans Nelbock seinen Hochschullehrer Moritz Schlick. Der Wiener Kreis, in dem Logischer Empirismus als ein philosophischer Ansatz diskutiert wird, endet mit Schlicks Tod.
22. Juni: Mit dem Bockstensmann wird im Sudwesten Schwedens eine aus dem 14. Jahrhundert stammende Moorleiche mit nahezu vollstandig erhaltener Kleidung gefunden.
Die Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose wird von dem Schweizer Guido Fanconi entdeckt.
John Maynard Keynes’ The General Theory of Employment, Interest and Money (Allgemeine Theorie der Beschaftigung, des Zinses und des Geldes) erscheint in Großbritannien.
Zweite Deutsch-Osterreichische Alpenvereinsexpedition in den Peruanischen Anden
= Kultur =
Bildende Kunst 11. Juni: In den 'New Burlington Galleries' in London beginnt die Kunstausstellung International Surrealist Exhibition, die dem britischen Publikum Werke des Surrealismus prasentiert. 64 Kunstler aus 14 Landern zeigen ihre Arbeiten. Die Ausstellung wird von Andre Breton eroffnet. Bis zum 4. Juli sehen die sehr erfolgreiche Ausstellung taglich ca. 1000 Besucher.
Grundung der American Abstract Artists in New York City.
Film 5. Februar: Charlie Chaplins satirischer Stummfilm Modern Times hat in New York Premiere. Der Film, der eine Satire auf den Taylorismus in der Arbeitswelt darstellt, wird zu einem von Chaplins erfolgreichsten Werken.
Literatur 17. Februar: Die erste Folge des Comicstrips Phantom von Lee Falk wird veroffentlicht.
30. Juni: Margaret Mitchells Roman Vom Winde verweht (Gone With the Wind) erscheint.
Der Roman Absalom, Absalom von William Faulkner erscheint.
Joseph Roth verfasst den Roman Beichte eines Morders, erzahlt in einer Nacht.
Maximilian Scheers Buch Das deutsche Volk klagt an. Hitlers Krieg gegen die Friedenskampfer in Deutschland. Ein Tatsachenbuch erscheint im Pariser Exil
Musik und Theater 4. Januar: Das US-amerikanische Magazin The Billboard veroffentlicht erstmals auf der Welt eine Hitparade beliebter Musiktitel.
11. April: Das Musical On Your Toes von Richard Rodgers mit Musiktexten von Lorenz Hart hat seine Urauffuhrung am Broadway im Imperial Theatre. Rodgers und Hart unternehmen mit dem in Zusammenarbeit mit George Abbott entstandenen Book musical erstmals den Versuch, Ballett als handlungstragenden Teil im Stuckaufbau zu verwenden. Die Choreographie stammt von George Balanchine.
19. April: Das Violinkonzert von Alban Berg wird nach dem Tod des Komponisten unter der Leitung von Hermann Scherchen auf dem Musikfest im Palau de la Musica Catalana in Barcelona uraufgefuhrt.
2. Mai: Das musikalische Marchen Peter und der Wolf von Sergei Prokofjew wird nach der Ruckkehr des Komponisten in die Sowjetunion uraufgefuhrt, angeregt von Natalija Saz, der kunstlerischen Leiterin des Moskauer Zentralen Kindertheaters, um Kinder mit den Instrumenten des Sinfonieorchesters vertraut zu machen. Das Stuck erregt nur geringe Aufmerksamkeit.
26. Mai: Die Oper Doktor Johannes Faust von Hermann Reutter wird an den Stadtischen Buhnen in Frankfurt am Main unter der Regie von Walter Felsenstein uraufgefuhrt. Das Libretto stammt von Ludwig Andersen alias Ludwig Strecker dem Jungeren. Es basiert auf dem alten Puppenspiel Doktor Faust in der Fassung von Karl Simrock.
27. Juli: Im nachtlich erleuchteten Park des Nymphenburger Schlosses findet erstmals die Nacht der Amazonen statt.
9. Oktober: Unter dem Titel Auf der grunen Wiese wird an der Volksoper Wien die osterreichische Fassung der tschechischen Operette Na ty louce zeleny von Jara Benes uraufgefuhrt.
15. November: Die Urauffuhrung der Oper Enoch Arden oder der Mowenschrei von Ottmar Gerster findet in Dusseldorf statt.
6. Dezember: Die Oper Schwarzer Peter von Norbert Schultze wird an der Hamburgischen Staatsoper uraufgefuhrt.
26. Dezember: Das neu gegrundete Israel Philharmonic Orchestra gibt, geleitet von Arturo Toscanini sein erstes Konzert.
31. Dezember: Die Urauffuhrung der Operette Liebe in der Lerchengasse von Arno Vetterling findet in Magdeburg statt.
Johannes Kuhlo fuhrt den 1. Reichsposaunentag.
Das Lied Franklin D. Roosevelt’s Back Again erscheint nach Roosevelt’s Wahlsieg bei der Prasidentenwahl am 3. November.
= Gesellschaft =
16. Januar: Der US-amerikanische Serienmorder Albert Fish wird auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Die Anzahl seiner Opfer ist unbestimmt, man vermutet 16 oder mehr Menschen.
21. Mai: In Tokio wird Abe Sada von Polizisten festgenommen. In ihrer Handtasche befinden sich die abgetrennten Genitalien ihres Geliebten, den sie drei Tage zuvor beim erotischen Spiel stranguliert hat. Der Fall erregt nationales Aufsehen.
= Religion =
26. Juni: Mit der Enzyklika Vigilanti cura (Mit wachsamer Sorge) „uber die Lichtspiele“ weist Papst Pius XI. darauf hin, dass der Film auch fur die religiose Bildung ein ernst zu nehmendes Hilfsmittel ist.
= Katastrophen =
17. April: Beim Englanderungluck sterben 5 englische Schuler auf einer Schwarzwaldwanderung.
26. Mai: Beim Fahrungluck von Nove Mlyny ertrinken 31 Kinder aus Rakwitz.
= Sport =
6. Februar: Eroffnung der IV. Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen, Deutschland
15. Marz: Sepp „Bubi“ Bradl gelingt der erste Sprung eines Menschen mit Skiern uber 100 m.
13. April bis 13. September: Austragung der 4. Grand-Prix-Europameisterschaft
19. Juni: Durch einen Knockout (K. o.) in der 12. Runde besiegt Max Schmeling in New York den bis dahin ungeschlagenen Amerikaner Joe Louis.
1. August: Eroffnung der XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin und zugleich Eroffnung des neugebauten Olympiastadions
14. August: Unter dem Einfluss der Georgischen Eisenbahn entsteht in Tiflis der Fußballverein Lokomotive Tiflis.
13. September: Bernd Rosemeyer gewinnt die Grand-Prix-Europameisterschaft.
22. Oktober: Der Krefelder Willi Munstermann grundet den Krefelder Eislaufverein.
11. Dezember: Der Liechtensteinische Skiverband wird gegrundet.
Der VfB Leipzig gewinnt nach einem 2:1 gegen den FC Schalke 04 den Tschammerpokal.
= Nobelpreise =
= Fields-Preise =
Geboren = Januar =
01. Januar: Hans Schenk, deutscher Speerwerfer und Speerwurftrainer († 2006)
02. Januar: Ivan Erod, osterreichischer Komponist, Pianist und Universitatslehrer († 2019)
02. Januar: Paul Freeman, US-amerikanischer Dirigent († 2015)
02. Januar: Maria Gasienica Bukowa-Kowalska, polnische Skilanglauferin († 2020)
02. Januar: Claus T. Helmig, deutscher Baseballspieler († 2016)
02. Januar: Josef Huchler, deutscher Politiker und Unternehmer († 2007)
02. Januar: Roger Miller, US-amerikanischer Country-Sanger und Songwriter († 1992)
03. Januar: Raul Garello, argentinischer Bandoneonist, Orchesterleiter und Bandoneonist († 2016)
03. Januar: Roberto Gomes Guimaraes, brasilianischer romisch-katholischer Bischof († 2025)
04. Januar: Mario Ambrosino, italienischer Schauspieler, Buhnen- und Kostumbildner
04. Januar: Christoph Bantzer, deutscher Schauspieler
04. Januar: Jean-Paul Flachsmann, Schweizer Politiker († 2001)
05. Januar: John Bridges, britischer Automobilrennfahrer († 1998)
05. Januar: Ayla Neusel, deutsche Hochschul- und Frauenpolitikerin
06. Januar: Darlene Hard, US-amerikanische Tennisspielerin († 2021)
06. Januar: Julio Maria Sanguinetti, Journalist, Politiker und Staatsprasident von Uruguay
07. Januar: Amiri Mangashti, iranischer Gewichtheber († 2021)
08. Januar: Jyotindra Nath Dixit, indischer Diplomat († 2005)
08. Januar: Robert May, australischer Physiker, Zoologe und Prasident der Royal Society († 2020)
08. Januar: Erwin Porzner, deutscher Handballspieler und Handballtrainer
09. Januar: Georg Bamberg, deutscher Politiker und MdB († 2023)
09. Januar: Philip John Kennedy Burton, britischer Ornithologe und Tierillustrator († 2023)
09. Januar: Klaus-Dieter Uelhoff, deutscher Politiker und MdB
10. Januar: Stephen E. Ambrose, US-amerikanischer Historiker und Biograf († 2002)
10. Januar: Robert Woodrow Wilson, US-amerikanischer Physiker
11. Januar: Eva Hesse, deutsch-US-amerikanische Kunstlerin († 1970)
11. Januar: Peter Rohs, deutscher Philosoph
12. Januar: Emile Lahoud, libanesischer Staatsprasident
12. Januar: Raimonds Pauls, lettischer Komponist
13. Januar: Karl Dietrich, Schweizer Verkehrsingenieur († 2007)
13. Januar: Wolfgang Kaiser, Schweizer Polymerwissenschaftler und Hochschullehrer
13. Januar: Edward Rell Madigan, US-amerikanischer Politiker († 1994)
14. Januar: Thomas Briccetti, US-amerikanischer Komponist, Pianist und Dirigent († 1999)
14. Januar: H. G. Francis, deutscher Science-Fiction-Autor († 2011)
14. Januar: Reiner Klimke, deutscher Dressurreiter und Politiker († 1999)
16. Januar: Peter Bares, deutscher Organist und bedeutender Komponist fur Kirchenmusik († 2014)
16. Januar: Tinus Bosselaar, niederlandischer Fußballspieler († 2018)
18. Januar: Hugh Anderson, neuseelandischer Motorradrennfahrer
19. Januar: Peter Abraham, deutscher Schriftsteller († 2015)
19. Januar: Rainer Brandt, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 2024)
19. Januar: Radovan Radovic, jugoslawischer Basketballspieler († 2022)
19. Januar: Willie „Big Eyes“ Smith, US-amerikanischer Blues-Musiker († 2011)
20. Januar: Edward Feigenbaum, US-amerikanischer Informatiker
20. Januar: Frances Shand Kydd, Mutter von Diana, Princess of Wales († 2004)
22. Januar: Vartan Achkarian, armenisch-katholischer Weihbischof († 2012)
22. Januar: Ong Teng Cheong, singapurischer Politiker († 2002)
22. Januar: Juliette Mayniel, franzosische Schauspielerin († 2023)
22. Januar: Alan J. Heeger, US-amerikanischer Chemiker und Physiker
23. Januar: Jerry Kramer, US-amerikanischer American-Football-Spieler
23. Januar: Horst Mahler, deutscher Rechtsanwalt und Grundungsmitglied der RAF
23. Januar: Joachim Pukaß, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher
24. Januar: Jack Scott, kanadischer Country-Pop- und Rockabilly-Musiker († 2019)
25. Januar: Karel Adriaan Deurloo, niederlandischer reformierter Pfarrer und Alttestamentler († 2019)
27. Januar: Wolfgang Bohmer, Ministerprasident des Landes Sachsen-Anhalt († 2025)
27. Januar: Henri Grandsire, franzosischer Automobilrennfahrer und Schauspieler
27. Januar: Manfred Molzberger, deutscher Leichtathlet († 2003)
27. Januar: Samuel Chao Chung Ting, US-amerikanischer Physiker
28. Januar: Alan Alda, US-amerikanischer Schauspieler
28. Januar: Ismail Kadare, albanischer Schriftsteller († 2024)
29. Januar: Heinz Angstwurm, deutscher Neurologe und Hochschullehrer
29. Januar: Patrick Caulfield, britischer Pop-Art Kunstler († 2005)
29. Januar: James Jamerson, US-amerikanischer Bassist († 1983)
29. Januar: Eva-Maria Geisler, deutsch-osterreichische Malerin und Grafikerin († 2005)
29. Januar: Joaquin Peiro, spanischer Fußballspieler und -trainer († 2020)
30. Januar: Ladislav Falta, tschechoslowakischer Sportschutze († 2021)
30. Januar: Horst Jankowski, deutscher Jazzpianist und Bandleader († 1998)
31. Januar: Roland Hoffmann, deutscher Baseballspieler und -trainer († 2022)
31. Januar: Hiroshi Hoshina, japanischer Komponist und Dirigent
31. Januar: Arnold Vitarbo, US-amerikanischer Sportschutze († 2022)
= Februar =
01. Februar: Andreina Ardizzone Emeri, italienische Politikerin, Frauenrechtlerin und Anwaltin († 1985)
01. Februar: Klaus Held, deutscher Philosoph († 2023)
01. Februar: Serge Korber, franzosischer Filmregisseur († 2022)
01. Februar: Sigram Schindler, deutscher Hochschullehrer und Unternehmer († 2025)
01. Februar: Manfred Schott, deutscher Schauspieler, Synchronsprecher († 1982)
02. Februar: Hermann Ament, deutscher Prahistoriker
02. Februar: Wolfgang Wiester, Richter des Bundesverfassungsgerichts († 2016)
05. Februar: Horst Fascher, deutscher Manager und Musikpromoter
05. Februar: Norma Thrower, australische Leichtathletin und Olympionikin
06. Februar: Obed Asamoah, ghanaischer Politiker
07. Februar: William Bennett, britischer Flotist († 2022)
07. Februar: Manfred Hermanns, deutscher Sozialwissenschaftler
07. Februar: Hector Moni, argentinischer Ruderer († 2022)
08. Februar: Elisabeth Orth, osterreichische Schauspielerin († 2025)
09. Februar: Robert Bartholomew, US-amerikanischer Gewichtheber († 2021)
09. Februar: Georg Kardinal Sterzinsky, Erzbischof von Berlin († 2011)
11. Februar: Martin Mußgnug, deutscher Jurist und Politiker († 1997)
11. Februar: Burt Reynolds, US-amerikanischer Schauspieler († 2018)
12. Februar: Joe Don Baker, US-amerikanischer Schauspieler († 2025)
12. Februar: Benjamin Ben Eliezer, israelischer Militar und Politiker († 2016)
12. Februar: Fang Lizhi, chinesischer Astrophysiker († 2012)
12. Februar: Martial Raysse, franzosischer Kunstler des Nouveau Realisme
13. Februar: Hiroshi Sakagami, japanischer Schriftsteller († 2021)
14. Februar: David Yonggi Cho, koreanischer christlicher Evangelist († 2021)
14. Februar: Joan O’Brien, US-amerikanische Schauspielerin und Sangerin († 2025)
15. Februar: Manfred Bopp, deutscher Fußballspieler († 2006)
15. Februar: Hansjurgen Verweyen, deutscher Fundamentaltheologe († 2023)
16. Februar: Dieter Ahrendt, deutscher Fußballspieler
16. Februar: Herbert Anton, deutscher Literaturwissenschaftler († 2023)
16. Februar: Carl Icahn, US-amerikanischer Multi-Milliardar
16. Februar: Eliahu Inbal, israelischer Dirigent
16. Februar: Joe Frank Harris, US-amerikanischer Politiker
16. Februar: Pino Solanas, argentinischer Filmemacher († 2020)
17. Februar: Johann Attenberger, deutscher Motorradrennfahrer († 1968)
17. Februar: Jim Brown, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2023)
17. Februar: Jose Luis Serna Alzate IMC, kolumbianischer Altbischof († 2014)
18. Februar: Jean M. Auel, US-amerikanische Schriftstellerin
19. Februar: Sieglinde Ahrens, deutsche Organistin und Hochschullehrerin
19. Februar: Klaus Bartels, deutscher Altphilologe († 2020)
19. Februar: Jurgen Voß, deutscher Chemiker
20. Februar: Mohammed Taki Abdoulkarim, Prasident der Komoren († 1998)
20. Februar: Lars Arnesson, schwedischer Fußballspieler und -trainer († 2023)
20. Februar: Larry Hovis, US-amerikanischer Schauspieler und Sanger († 2003)
20. Februar: Shigeo Nagashima, japanischer Baseballspieler und -manager († 2025)
21. Februar: Laszlo Barczay, ungarischer Schachgroßmeister († 2016)
21. Februar: Traudl Oberhorner, deutsche Volksschauspielerin
22. Februar: John Michael Bishop, US-amerikanischer Virologe
22. Februar: Adam Bodor, ungarischsprachiger rumanischer Schriftsteller
22. Februar: Eduardo Cabrera, kubanischer Pianist, Arrangeur und Bandleader († 2002)
22. Februar: Karol Divin, slowakischer Eiskunstlaufer († 2022)
22. Februar: Ernie K-Doe, US-amerikanischer Sanger († 2001)
23. Februar: Federico Luppi, argentinischer Schauspieler († 2017)
24. Februar: Klaus Eickhoff, deutscher evangelischer Theologe, Evangelist, Gemeindeberater und Autor († 2022)
24. Februar: Armin Halle, deutscher Journalist, Moderator und Medientrainer († 2023)
24. Februar: Mohamed Maouche, algerisch-franzosischer Fußballspieler und -trainer
24. Februar: Rut Speer, deutsche Journalistin und Fernsehmoderatorin († 2019)
25. Februar: Rolf Lyssy, Schweizer Filmemacher
26. Februar: Jose Kardinal da Cruz Policarpo, Patriarch von Lissabon († 2014)
26. Februar: Adem Demaci, albanischer Schriftsteller und Unabhangigkeitskampfer († 2018)
26. Februar: Philippe Farjon, franzosischer Automobilrennfahrer († 2021)
27. Februar: Johannes Kaiser, deutscher Leichtathlet († 1996)
27. Februar: Peter Krause, deutscher Rechtswissenschaftler († 2023)
27. Februar: Roger Michael Kardinal Mahony, Erzbischof von Los Angeles
27. Februar: Virginia Maskell, britische Schauspielerin († 1968)
29. Februar: Henri Richard, kanadischer Eishockeyspieler († 2020)
29. Februar: Sharon Webb, US-amerikanische Schriftstellerin († 2010)
= Marz =
01. Marz: Ursula von Brockdorff, deutsche Politikerin und Sozialministerin von Schleswig-Holstein († 1989)
01. Marz: Vaclav Sloup, tschechoslowakischer bzw. tschechischer Schauspieler († 2014)
01. Marz: Georgina Spelvin, US-amerikanische Pornodarstellerin
02. Marz: Buell Neidlinger, US-amerikanischer Kontrabassist, Cellist und Hochschullehrer († 2018)
04. Marz: Jay Chevalier, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker († 2019)
04. Marz: Jim Clark, britischer Automobilrennfahrer († 1968)
04. Marz: Aribert Reimann, deutscher Komponist und Pianist († 2024)
05. Marz: Max Asam, deutscher General († 2015)
05. Marz: Canaan Banana, methodistischer Priester und erster Prasident von Simbabwe († 2003)
05. Marz: Manfred Lepa, deutscher Richter am Bundesgerichtshof
06. Marz: Jorge Abbondanza, uruguayischer Kulturjournalist, Kritiker und Kunstler († 2020)
06. Marz: Elmar Schloter, deutscher Organist und Dirigent († 2011)
07. Marz: Loren Acton, US-amerikanischer Physiker und Astronaut
07. Marz: Bruno Muller-Oerlinghausen, deutscher Facharzt fur Pharmakologie, Toxikologie und Klinische Pharmakologie
07. Marz: Georges Perec, franzosischer Schriftsteller († 1982)
07. Marz: Julio Terrazas Sandoval, Erzbischof von Santa Cruz de la Sierra († 2015)
08. Marz: Wilhelm Pahls, deutscher Evangelist
08. Marz: Martin Scharfe, deutscher Volkskundler († 2025)
09. Marz: Gerhard Ammann, osterreichischer Politiker († 2004)
09. Marz: Mickey Gilley, US-amerikanischer Country-Sanger und Pianist († 2022)
10. Marz: Sepp Blatter, Prasident des Weltfußballverbandes FIFA
10. Marz: Samuel Danishefsky, US-amerikanischer Chemiker
10. Marz: Karl-Bernhard Schmitz, Richter am Bundesgerichtshof
11. Marz: Harald zur Hausen, Mediziner und Nobelpreistrager († 2023)
11. Marz: Antonin Scalia, US-amerikanischer Jurist und Beisitzender Richter am Supreme Court († 2016)
12. Marz: Eddie Sutton, US-amerikanischer Basketballtrainer († 2020)
13. Marz: Lothar Ahrendt, Minister des Inneren der DDR
13. Marz: Ingrid Reschke, deutsche Filmregisseurin († 1971)
13. Marz: Michał Wesołowski, polnischer Pianist und Musikpadagoge
15. Marz: Alexander Bernstein, britischer Politiker († 2010)
15. Marz: Paul Fierlinger, US-amerikanischer Animator und Regisseur († 2025)
15. Marz: Francisco Ibanez, spanischer Comiczeichner († 2023)
15. Marz: Don Sundquist, US-amerikanischer Politiker, Gouverneur von Tennessee († 2023)
15. Marz: Hans Super, Komiker aus Koln (Colonia Duett) († 2022)
16. Marz: Alois Albrecht, deutscher romisch-katholischer Priester und Liedtexter, ehemaliger Generalvikar und Domdekan des Bamberger Kaiserdoms († 2022)
16. Marz: Rafe de Crespigny, australischer Sinologe
16. Marz: Elisabeth Volkmann, deutsche Schauspielerin, Komikerin und Synchronsprecherin († 2006)
17. Marz: Hanna Harnisch, deutsche Sprachwissenschaftlerin und Hochschullehrerin
17. Marz: Jurgen Hentsch, deutscher Schauspieler († 2011)
17. Marz: Anatoli Iwanow, sowjetischer bzw. russischer Schauspieler († 2000)
17. Marz: Ladislav Kupkovic, slowakischer Komponist, Dirigent und Hochschullehrer († 2016)
17. Marz: Klaus Lohmann, deutscher Politiker
17. Marz: Ken Mattingly, US-amerikanischer Astronaut († 2023)
18. Marz: Frederik Willem de Klerk, sudafrikanischer Politiker, Prasident († 2021)
18. Marz: Anthony Nash, britischer Bobfahrer († 2022)
19. Marz: Ursula Andress, Schweizer Schauspielerin
19. Marz: Eduard Gufeld, ukrainischer Schachspieler († 2002)
19. Marz: Heinrich Neisser, osterreichischer Politiker
20. Marz: Marie Daveluy, kanadische Sangerin und Musikpadagogin
20. Marz: Johanna Luttge, deutsche Leichtathletin († 2022)
20. Marz: Lee Perry, jamaikanischer Musikproduzent († 2021)
21. Marz: Mike Westbrook, britischer Jazzmusiker
22. Marz: Hans Burghart, deutscher Arzt († 2020)
22. Marz: Roger Whittaker, britischer Sanger und Liedermacher († 2023)
23. Marz: Wolfgang Fritz Haug, deutscher Philosoph
23. Marz: Rudolf Koppler, deutscher Politiker († 2025)
23. Marz: Jannis Kounellis, griechischer Kunstler († 2017)
24. Marz: Peter B. Bensinger, US-amerikanischer Regierungsbeamter († 2025)
24. Marz: Maciej Giertych, polnischer Forstwissenschaftler und Politiker
24. Marz: Alex Olmedo, US-amerikanischer Tennisspieler († 2020)
24. Marz: David Suzuki, kanadischer Wissenschaftsmoderator und Umweltaktivist
25. Marz: Giora Feidman, argentinischer Klarinettist
25. Marz: Carl Kaufmann, deutscher Leichtathlet († 2008)
26. Marz: Luz Maria Aguilar, mexikanische Schauspielerin
26. Marz: Heribert Gottelmann, deutscher Generalmajor des Heeres
26. Marz: Eder Jofre, brasilianischer Boxer († 2022)
26. Marz: Jurgen Meyer, deutscher Politiker, MdB, Universitatsprofessor und Rechtsanwalt
26. Marz: Erich Urbanner, osterreichischer Komponist und Musikpadagoge
27. Marz: Leonore Ackermann, deutsche Politikerin
27. Marz: Malcolm Goldstein, US-amerikanischer Komponist, Violinist und Improvisationsmusiker
27. Marz: Otmar Issing, deutscher Okonom
28. Marz: Veronika Fitz, deutsche Volksschauspielerin († 2020)
28. Marz: Jurgen Lodemann, deutscher Schriftsteller
28. Marz: Amancio Ortega, spanischer Textilunternehmer
28. Marz: Mario Vargas Llosa, peruanischer Schriftsteller († 2025)
28. Marz: Erika Zwierlein-Diehl, deutsche Klassische Archaologin († 2025)
29. Marz: Andree Anderson, US-amerikanische Eiskunstlauferin
29. Marz: Renato Arlati, Schweizer Schriftsteller († 2005)
29. Marz: Danny Marino, italienischer, vorwiegend in Deutschland tatiger Chanson- und Schlagersanger sowie Liedtexter († 2003)
29. Marz: Joseph P. Teasdale, US-amerikanischer Politiker († 2014)
30. Marz: Walter Augustin, deutscher Politiker († 2020)
30. Marz: Erwin J. Haeberle, deutscher Sexualwissenschaftler († 2021)
31. Marz: Hans Wilhelm Gab, deutscher Automobilmanager und Tischtennisspieler († 2025)
31. Marz: Marge Piercy, US-amerikanische Schriftstellerin und Feministin
31. Marz: Aung Thwin, myanmarischer Bildhauer
= April =
01. April: William Cox, australischer Jurist und Richter
01. April: Jean-Pascal Delamuraz, Schweizer Politiker (FDP) († 1998)
01. April: Oldsiisaichany Erdene-Otschir, mongolischer Ringer († 2017)
03. April: Scott LaFaro, US-amerikanischer Musiker († 1961)
03. April: Jimmy McGriff, US-amerikanischer Blues-, Soul- und Jazz-Organist († 2008)
04. April: Hans Grodotzki, deutscher Leichtathlet
05. April: Ronnie Bucknum, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 1992)
06. April: Jean-Pierre Changeux, Professor fur molekulare Neurobiologie
06. April: Fernando Masone, italienischer Polizeichef († 2003)
06. April: Manfred Schoof, deutscher Jazztrompeter
06. April: Jaroslav Zeman, tschechischer Komponist († 2022)
07. April: Bert Breuer, deutscher Maschinenbauingenieur († 2023)
08. April: Reinhold Aman, deutscher Chemieingenieur und Hochschullehrer († 2019)
08. April: Klaus Lowitsch, deutscher Schauspieler († 2002)
09. April: John Archer, englischer Fußballtorhuter († 1987)
09. April: Valerie Solanas, US-amerikanische Feministin († 1988)
09. April: Frauke Stein, deutsche Prahistorikerin und Mittelalterarchaologin († 2023)
11. April: Jocy de Oliveira, brasilianische Pianistin und Komponistin
11. April: Benito Rigoni, italienischer Bobfahrer († 2021)
11. April: Jimmy Sabater, US-amerikanischer Musiker und Songwriter († 2012)
12. April: Tony Earl, US-amerikanischer Politiker († 2023)
12. April: Franketienne, haitianischer Schriftsteller († 2025)
13. April: Jose Rosinski, franzosischer Automobilrennfahrer und Journalist († 2011)
14. April: Joan Bradshaw, US-amerikanische Schauspielerin
14. April: Ivan Kardinal Dias, indischer Kurienkardinal († 2017)
14. April: Edison Perez Nunez, peruanischer Fußballschiedsrichter
14. April: Robert Scheer, US-amerikanischer Journalist
15. April: Albert Darboven, deutscher Unternehmer
15. April: Petre Ivanescu, rumanischer Handballspieler und -trainer († 2022)
15. April: Raymond Poulidor, franzosischer Radrennfahrer († 2019)
15. April: Hector Quintanar, mexikanischer Komponist († 2013)
16. April: Dieter Adler, deutscher Sportjournalist († 2024)
16. April: William Robinson, australischer Maler und Lithograf
17. April: Wibke von Bonin, deutsche Kulturhistorikerin
17. April: Siegfried Schmidt-Joos, deutscher Musik- und Kulturjournalist († 2025)
17. April: Hilde Schramm, deutsche Erziehungswissenschaftlerin und Politikerin
17. April: Urs Wild, Schweizer Chemiker († 2022)
19. April: Bernhard Klee, deutscher Dirigent und Pianist
20. April: Hilmar Ahnert, deutscher Fußballspieler
20. April: Pat Roberts, US-amerikanischer Politiker
20. April: Heinz Schleußer, deutscher Gewerkschafter und Politiker († 2000)
21. April: Jakob Adlhart, osterreichischer Architekt († 2021)
22. April: C. D. B. Bryan, US-amerikanischer Autor und Journalist († 2009)
22. April: Glen Campbell, US-amerikanischer Country-Sanger († 2017)
22. April: Michael Holtzel, deutscher Hornist und Musikprofessor († 2017)
23. April: Adelheid Duvanel, Schweizer Schriftsteller († 1996)
23. April: Pal Gomory, ungarischer Regattasegler († 2021)
23. April: Lutz Jurgen Heinrich, deutsch-osterreichischer Wirtschaftswissenschaftler († 2022)
22. April: Dieter Kronzucker, deutscher Journalist und Moderator
23. April: Peter Horst Neumann, deutscher Lyriker, Essayist und Literaturwissenschaftler († 2009)
23. April: Roy Orbison, US-amerikanischer Country- und Rock-Sanger († 1988)
23. April: Bruno Thost, deutsch-osterreichischer Schauspieler († 2019)
24. April: Akwasi Afrifa, Staatschef von Ghana († 1979)
24. April: Jill Ireland, englische Schauspielerin und Produzentin († 1990)
24. April: Kare Kolberg, norwegischer Komponist und Organist († 2014)
25. April: Henck Alphonsus Eugene Arron, surinamischer Politiker († 2000)
26. April: Klaus Jepsen, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 2005)
26. April: Carson Parks, US-amerikanischer Sanger und Texter († 2005)
26. April: Heinz Vollmar, deutscher Fußballspieler († 1987)
27. April: Hans Selmair, deutscher Gastroenterologe († 2022)
28. April: Arnold Esch, deutscher Historiker
28. April: Klaus Seybold, deutscher evangelischer Pfarrer und Alttestamentler († 2011)
29. April: Wiktor Agejew, sowjetischer Wasserballspieler († 2023)
29. April: Frieder Burda, deutscher Kunstsammler († 2019)
29. April: Zubin Mehta, indischer Dirigent
29. April: Alejandra Pizarnik, argentinische Dichterin († 1972)
29. April: Lane Smith, US-amerikanischer Schauspieler († 2005)
= Mai =
02. Mai: Norma Aleandro, argentinische Schauspielerin
02. Mai: Tom Andersen, norwegischer Psychiater und Psychotherapeut († 2007)
02. Mai: Joseph Arnaouti, syrischer Patriarchal
02. Mai: Helga Brauer, deutsche Schlagersangerin († 1991)
02. Mai: Engelbert, britisch-US-amerikanischer Schlagersanger
03. Mai: Jon Idigoras, Grunder der baskischen Separatisten-Partei Herri Batasuna († 2005)
06. Mai: Kazimierz Gierzod, polnischer Pianist und Musikpadagoge († 2018)
06. Mai: Jorg Lehne, deutscher Bergsteiger († 1969)
07. Mai: Jurgen Hohne, deutscher Laiendarsteller († 2015)
07. Mai: Hans Neunhoeffer, deutscher Chemiker und Hochschullehrer († 2018)
07. Mai: Tony O’Reilly, irischer Rugbyspieler und Unternehmer († 2024)
07. Mai: Howard Rovics, US-amerikanischer Komponist, Pianist und Musikpadagoge
07. Mai: Jimmy Ruffin, US-amerikanischer Soulsanger († 2014)
08. Mai: Henning Frederichs, deutscher Komponist, Dirigent und Musikpadagoge († 2003)
08. Mai: Kazuo Koike, japanischer Mangaka († 2019)
08. Mai: James R. Thompson, US-amerikanischer Politiker († 2020)
09. Mai: Albert Finney, britischer Schauspieler und Produzent († 2019)
09. Mai: Glenda Jackson, britische Schauspielerin und Politikerin († 2023)
09. Mai: Ulrich Kienzle, deutscher Journalist († 2020)
10. Mai: Manfred Riedel, deutscher Philosoph († 2009)
11. Mai: Carla Bley, US-amerikanische Musikerin und Komponistin († 2023)
11. Mai: Georg Eberl, deutscher Eishockeyspieler († 2023)
11. Mai: Inge Fuhrmann, deutsche Sprinterin
12. Mai: Klaus Doldinger, deutscher Musiker, Komponist und Saxophonist
12. Mai: Guillermo Endara Galimany, Jurist, Politiker und Staatsprasident von Panama († 2009)
12. Mai: Frank Stella, US-amerikanischer Maler und Bildhauer († 2024)
14. Mai: Bobby Darin, US-amerikanischer Popmusiker († 1973)
14. Mai: Charlie Gracie, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker († 2022)
14. Mai: Robert Klymasz, kanadischer Ethnologe und Volksliedforscher († 2024)
14. Mai: Richard John Neuhaus, kanadischer und US-amerikanischer lutherischer Theologe, romisch-katholischer Priester und Autor († 2009)
14. Mai: Gotz Dieter Plage, deutscher Naturfilmer († 1993)
14. Mai: Billy Sprowls, mexikanischer Automobilrennfahrer († 2024)
15. Mai: Jean Balissat, Schweizer Komponist und Professor († 2007)
15. Mai: Wally Deane, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker († 1986)
15. Mai: Wavy Gravy, US-amerikanischer Aktivist, Hippie, Clown und Autor
15. Mai: Ralph Steadman, britischer Autor, Illustrator, Cartoonist und Karikaturist
16. Mai: Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz († 2018)
16. Mai: Manfred Stolpe, deutscher Politiker († 2019)
17. Mai: Philippe Boesmans, belgischer Komponist und Organist († 2022)
17. Mai: Lars Gustafsson, schwedischer Schriftsteller († 2016)
17. Mai: Dennis Hopper, US-amerikanischer Schauspieler und Filmemacher († 2010)
17. Mai: Karoly Klimo, ungarischer Maler und Graphiker
18. Mai: Melanio Asensio, spanischer Leichtathlet († 2021)
20. Mai: Heinz Dehne, deutscher Chemiker und Hochschullehrer († 2017)
20. Mai: Gerhard Paul, Redemptorist und Autor Neuer Geistlicher Lieder († 1994)
20. Mai: Anthony Zerbe, US-amerikanischer Schauspieler
21. Mai: Gunter Blobel, deutscher Biomediziner († 2018)
21. Mai: Jacques Grelley, franzosischer Unternehmer und Automobilrennfahrer († 2014)
22. Mai: M. Scott Peck, US-amerikanischer Psychiater, Psychotherapeut und Schriftsteller († 2005)
22. Mai: Eckard Wimmer, Virologe und Biochemiker
23. Mai: Herbert Demetz, italienischer Automobilrennfahrer († 1965)
23. Mai: Charles Kimbrough, US-amerikanischer Schauspieler und Synchronsprecher († 2023)
24. Mai: Samy Molcho, israelischer Pantomime
24. Mai: Werner von Moltke, deutscher Leichtathlet († 2019)
25. Mai: Tom T. Hall, US-amerikanischer Countrymusiker († 2021)
25. Mai: Waldemar Pappusch, deutscher Handballspieler und -trainer († 2024)
25. Mai: Willfried Penner, deutscher Politiker
25. Mai: Ely Tacchella, Schweizer Fußballspieler († 2017)
27. Mai: Louis Gossett Jr., US-amerikanischer Schauspieler († 2024)
28. Mai: Gitta Nickel, deutsche Regisseurin († 2023)
28. Mai: Betty Shabazz, Witwe von Malcolm X († 1997)
29. Mai: Josef Deimer, deutscher Politiker
29. Mai: Wyn Hoop, deutscher Schlagersanger
29. Mai: Wjatscheslaw Owtschinnikow, russischer Komponist († 2019)
29. Mai: Klaus Winter, deutscher Jurist († 2000)
30. Mai: Peter Dehoust, deutscher Publizist und Herausgeber († 2020)
30. Mai: Keir Dullea, US-amerikanischer Schauspieler
31. Mai: Carl Heinz Choynski, deutscher Schauspieler
31. Mai: Hector Demarco, uruguayischer Fußballspieler († 2010)
31. Mai: Hans-Dieter Schwind, deutscher Jurist und Politiker († 2025)
= Juni =
01. Juni: Theodor Buhl, deutscher Schriftsteller († 2016)
01. Juni: Peter Sodann, deutscher Schauspieler, Regisseur und Intendant († 2024)
02. Juni: Wolodymyr Holubnytschyj, ukrainischer Geher und Olympiasieger († 2021)
03. Juni: Enric Gensana, spanischer Fußballer († 2005)
03. Juni: Heinrich Hugendubel, deutscher Buchhandler († 2005)
04. Juni: Yvette Amice, franzosische Mathematikerin († 1993)
04. Juni: Klaus Mobius, deutscher Physiker († 2024)
04. Juni: Frantisek Tondra, slowakischer Bischof († 2012)
05. Juni: Jacques Dewatre, franzosischer Offizier und Diplomat († 2021)
06. Juni: Levi Stubbs, Sanger der Rhythm’n’Blues-Gruppe „The Four Tops“ († 2008)
06. Juni: Dwight Winenger, US-amerikanischer Komponist
08. Juni: James Darren, US-amerikanischer Sanger, Schauspieler und Regisseur († 2024)
08. Juni: Robert Floyd, US-amerikanischer Informatiker († 2001)
08. Juni: Kenneth Wilson, US-amerikanischer Physiker († 2013)
09. Juni: Filippo Coarelli, italienischer Klassischer Archaologe, Grazist und Altertumswissenschaftler
09. Juni: Jurgen Schmude, deutscher Politiker († 2025)
10. Juni: Eugenio Bersellini, italienischer Fußballspieler und -trainer († 2017)
10. Juni: Thomas Hopker, deutscher Fotograf († 2024)
10. Juni: Wjatschaslau Kebitsch, belarussischer Politiker († 2020)
10. Juni: Maria Magdefrau, deutsche Schauspielerin und Regisseurin
11. Juni: Wolfgang Romer, Richter am Bundesgerichtshof
12. Juni: Hans Eibl, osterreichischer Komponist und Professor († 2019)
12. Juni: Jim Wagstaff, US-amerikanischer American-Football-Spieler und -Trainer († 2010)
13. Juni: Christian Meyer-Oldenburg, deutschsprachiger Science-Fiction-Autor († 1990)
13. Juni: Helena Ruzickova, tschechische Schauspielerin († 2004)
14. Juni: Wolfgang Behrendt, deutscher Boxer
14. Juni: Renaldo Benson, US-amerikanischer Soul- und R&B-Sanger († 2005)
14. Juni: Josef Haselbach, Schweizer Komponist und Organist († 2002)
14. Juni: Mack Yoho, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2020)
15. Juni: Herbert Asbeck, deutscher Schriftsteller († 2019)
15. Juni: Claude Brasseur, franzosischer Filmschauspieler († 2020)
15. Juni: Hans-Georg Koppensteiner, deutsch-osterreichischer Rechtswissenschaftler († 2025)
15. Juni: William Joseph Kardinal Levada, Kurienkardinal († 2019)
16. Juni: Lincoln Almond, US-amerikanischer Politiker († 2023)
16. Juni: Anthony Olubunmi Kardinal Okogie, Erzbischof von Lagos
17. Juni: Ken Loach, britischer Filmregisseur
17. Juni: Christine Krohn, Richterin am Bundesgerichtshof
17. Juni: Gerhard O. Pfeffermann, deutscher Politiker († 2019)
17. Juni: Jude Wanniski, US-amerikanischer politischer Okonom, Publizist und Journalist († 2005)
18. Juni: Ronald Venetiaan, Staatsprasident von Suriname
19. Juni: Peter Corterier, deutscher Politiker († 2017)
19. Juni: Shirley Goodman, US-amerikanische R&B-Sangerin († 2005)
19. Juni: Zacharias Heinesen, faroischer Maler
19. Juni: Dusan Martincek, slowakischer Komponist und Musikpadagoge († 2006)
21. Juni: Juri Burago, russischer Mathematiker
21. Juni: Annick Le Thomas, franzosische Botanikerin († 2024)
22. Juni: Kris Kristofferson, US-amerikanischer Country-Musiker und Schauspieler († 2024)
22. Juni: Hermeto Pascoal, brasilianischer Musiker
23. Juni: Richard Bach, US-amerikanischer Schriftsteller
23. Juni: Paolo Barison, italienischer Fußballspieler und -trainer († 1979)
23. Juni: Richard Johnstone, neuseelandischer Radrennfahrer († 2022)
23. Juni: Gunter Steckkonig, deutscher Automobilrennfahrer
23. Juni: Konstantinos Simitis, griechischer Politiker, Ministerprasident († 2025)
25. Juni: Gerhard Andrees, deutscher Maler und Objektkunstler
25. Juni: Bacharuddin Jusuf Habibie, indonesischer Politiker, Staatsprasident († 2019)
25. Juni: Rexhep Qosja, albanischer Schriftsteller, Literatur- und Kulturwissenschaftler
26. Juni: Hal Greer, US-amerikanischer Basketballspieler († 2018)
26. Juni: Reinhard Stollreiter, deutscher Chorleiter und Hochschullehrer
26. Juni: Jean-Claude Turcotte, Erzbischof von Montreal († 2015)
27. Juni: Ayda Ignez Arruda, brasilianische Logikerin und Hochschulprofessorin († 1983)
27. Juni: Gunter Auerswald, deutscher Radrennfahrer
28. Juni: Jesus Alfonso Arreola Perez, mexikanischer Historiker und Politiker († 2010)
28. Juni: Tom Drake, kanadischer Singer-Songwriter, Drehbuchautor und Regisseur († 2008)
28. Juni: Gisela Kraft, deutsche Schriftstellerin und literarische Ubersetzerin († 2010)
28. Juni: Kurt Krenn, osterreichischer Bischof († 2014)
28. Juni: Heiner Muller-Merbach, deutscher Wirtschaftsinformatiker († 2015)
28. Juni: Andrzej Pstrokonski, polnischer Basketballspieler und -trainer († 2022)
29. Juni: Kazimierz Braun, polnischer Theaterregisseur, -wissenschaftler und -padagoge
30. Juni: Assia Djebar, algerische Schriftstellerin, Regisseurin, Historikerin und Hochschullehrerin († 2015)
30. Juni: Klaus Kutzer, Richter am Bundesgerichtshof
30. Juni: Wiard Popkes, baptistischer Theologe († 2007)
30. Juni: Dave Van Ronk, US-amerikanischer Blues-Musiker († 2002)
= Juli =
01. Juli: Gerard Soeteman, niederlandischer Drehbuchautor († 2025)
01. Juli: Bruce J. McFarlane, australischer Wirtschaftswissenschaftler († 2022)
01. Juli: Roger Staub, Schweizer Skirennlaufer († 1974)
02. Juli: Rex Gildo, deutscher Sanger und Schauspieler († 1999)
02. Juli: Manfred Kluth, deutscher Ruderer († 2010)
03. Juli: Leo Wilden, deutscher Fußballspieler († 2022)
05. Juli: Piet Fransen, niederlandischer Fußballspieler († 2015)
05. Juli: Shirley Knight, US-amerikanische Schauspielerin († 2020)
05. Juli: James Mirrlees, britischer Okonom († 2018)
05. Juli: George De Peana, guyanischer Leichtathlet und Gewerkschafter († 2021)
05. Juli: Richard E. Stearns, amerikanischer Informatiker
06. Juli: Stuart H. Pappe, US-amerikanischer Filmeditor
06. Juli: Chris White, US-amerikanischer Jazz-Bassist († 2014)
07. Juli: Francoise Cotron-Henry, franzosische Pianistin und Komponistin († 1975)
07. Juli: Friedhelm Dohl, deutscher Professor fur Komposition († 2018)
08. Juli: Istvan Csoboth, deutscher Brigadegeneral des Heeres der Bundeswehr
09. Juli: Helmut Ackermann, deutscher Grafiker und Maler († 2017)
10. Juli: O. Chandrasekhar, indischer Fußballspieler († 2021)
10. Juli: Silvan Kindle, liechtensteinischer Skirennlaufer
10. Juli: Lutz Meyer-Goßner, Richter am Bundesgerichtshof
11. Juli: Hanns Kneifel, deutscher Schriftsteller († 2012)
11. Juli: Smokey Wilson, US-amerikanischer Bluesgitarrist († 2015)
13. Juli: Ernst Hirsch, deutscher Kameramann und Regisseur
13. Juli: Joan Jonas, US-amerikanische Kunstlerin
14. Juli: Gunther Jansen, MdB, Landesminister in Schleswig-Holstein
15. Juli: Jon Morton Aase, US-amerikanischer Padiater und Morphologe
15. Juli: Peter Albert, deutscher Architekt und bildender Kunstler
15. Juli: Larry Cohen, US-amerikanischer Regisseur, Produzent und Drehbuchautor († 2019)
15. Juli: Leo Mazakarini, osterreichischer Schriftsteller, Verleger und Schauspieler († 2020)
15. Juli: George Voinovich, US-amerikanischer Politiker († 2016)
16. Juli: Cornelis Koch, niederlandischer Leichtathlet († 2021)
16. Juli: Johann Sengstschmid, osterreichischer Klangreihenkomponist
17. Juli: Nick Brignola, US-amerikanischer Musiker († 2002)
17. Juli: Klaus Francke, deutscher Politiker († 2020)
17. Juli: Tao Ho, Architekt und Designer aus Hongkong († 2019)
18. Juli: Gerd Bottcher, deutscher Schlagersanger und Schauspieler († 1985)
18. Juli: Damian Luca, rumanischer Musiker
18. Juli: Hermann Wimmer, deutscher Politiker und MdB
19. Juli: Wolfgang Bohm, deutscher Agrarwissenschaftler († 2022)
19. Juli: Guy Reibel, franzosischer Komponist, Musikpadagoge und Chorleiter
20. Juli: Walter Eichhorn, deutscher Verkehrsflugzeug- und Kunstflugpilot († 2025)
20. Juli: Barbara Mikulski, US-amerikanische Politikerin
20. Juli: Christian Rode, deutscher Schauspieler und Synchronsprecher († 2018)
21. Juli: Taijiro Amazawa, japanischer Dichter, Ubersetzer und Literaturwissenschaftler († 2023)
21. Juli: Anatoli Andrianow, russischer Mathematiker († 2020)
21. Juli: Alain Gree, franzosischer Kinderbuchautor († 2025)
21. Juli: Ursula Schroder-Feinen, deutsche Opernsangerin († 2005)
21. Juli: Keiichi Tanaami, japanischer Kunstler († 2024)
22. Juli: Klaus Bresser, deutscher Journalist, Chefredakteur des ZDF
22. Juli: Don Patterson, US-amerikanischer Jazzorganist († 1988)
23. Juli: Don Drysdale, US-amerikanischer Baseballspieler († 1993)
23. Juli: Christian Tomuschat, Inhaber des Lehrstuhls fur offentliches Recht, Volker- und Europarecht
24. Juli: Arthur Brauss, deutscher Schauspieler
24. Juli: Ruth Buzzi, US-amerikanische Schauspielerin († 2025)
24. Juli: Dan Inosanto, US-amerikanischer Kampfsportler
25. Juli: Gerry Ashmore, britischer Automobilrennfahrer († 2021)
25. Juli: Karin Johannsen-Bojsen, Schriftstellerin
25. Juli: Glenn Murcutt, australischer Architekt
25. Juli: Dave Sime, US-amerikanischer Sprinter und Olympiazweiter († 2016)
26. Juli: Antonio Mastrogiovanni, uruguayischer Komponist und Musikpadagoge († 2010)
27. Juli: Siegbert Alber, deutscher Politiker († 2021)
27. Juli: Karin Lenzke, deutsche Hochspringerin
28. Juli: Victor Moscoso, US-amerikanischer Kunstler
28. Juli: Milan Uhde, tschechischer Schriftsteller und Politiker
29. Juli: Jean-Charles Capon, franzosischer Jazzcellist († 2011)
29. Juli: Elizabeth Dole, US-amerikanische Politikerin und Senatorin
29. Juli: Just Jahn, deutscher Ruderer († 2007)
29. Juli: Rolf Presthus, norwegischer konservativer Politiker und Jurist († 1988)
30. Juli: Luciana Aigner-Foresti, italienischer Archaologe
30. Juli: Lazaro Aristides Betancourt, kubanischer Leichtathlet († 2025)
30. Juli: Buddy Guy, US-amerikanischer Bluesmusiker
30. Juli: Maria del Pilar von Spanien, Infantin von Spanien, Herzogin von Badajoz und Schwester Konig Juan Carlos I. († 2020)
30. Juli: Istvan Zelenka, ungarischer Komponist († 2022)
= August =
01. August: William D. Hamilton, englischer Biologe († 2000)
01. August: Yves Saint Laurent, franzosischer Modeschopfer († 2008)
01. August: Carl von Wurttemberg, deutscher Unternehmer († 2022)
01. August: Horst Josef Zugehor, Richter am Bundesgerichtshof
02. August: Andre Gagnon, kanadischer Komponist, Pianist, Dirigent und Schauspieler († 2020)
02. August: Anthony Payne, britischer Komponist († 2021)
03. August: Gosta Agren, finnlandschwedischer Dichter, Ubersetzer und Literaturwissenschaftler († 2020)
04. August: Claude Ballot-Lena, franzosischer Automobilrennfahrer († 1999)
04. August: Mani Matter, Schweizer Mundart-Liedermacher und Jurist († 1972)
05. August: Joseph Akl, libanesischer Politiker, Jurist und Richter
05. August: Gordon Johncock, US-amerikanischer Automobilrennfahrer
05. August: Hans Hugo Klein, deutscher Politiker und Richter des Bundesverfassungsgerichts
05. August: Gary Winram, australischer Schwimmer († 2022)
06. August: Ray Doggett, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker, Songschreiber und Produzent († 2002)
09. August: Ray Middleton, britischer Geher († 2023)
10. August: Barbara von Wulffen, deutsche Autorin († 2021)
11. August: Rolf Krenzer, Kinderbuchautor und Musicalkomponist († 2007)
12. August: Hermann Anders, deutscher Jazzposaunist
12. August: Heinz Anterist, deutscher Rechtsanwalt († 2020)
12. August: Iosif Bukossy, rumanischer Fußballspieler und -trainer († 2006)
12. August: Margot Eskens, deutsche Schlagersangerin († 2022)
12. August: Karl-Ernst Herrmann, deutscher Buhnenbildner und Opernregisseur († 2018)
12. August: Rachid Mekhloufi, franzosisch-algerischer Fußballspieler und -trainer († 2024)
12. August: John Poindexter, US-amerikanischer Admiral und Politiker
12. August: Gerold Tandler, deutscher Politiker
12. August: Jurgen Wohlrabe, deutscher Politiker, Prasident des Berliner Abgeordnetenhauses († 1995)
13. August: Gunther Heyenn, deutscher Politiker († 2009)
13. August: Siegfried Kampl, osterreichischer Politiker
13. August: Thomas Schamoni, deutscher Filmregisseur und Drehbuchautor († 2014)
13. August: Sabina Sesselmann, deutsche Schauspielerin († 1998)
13. August: Marcio Veloz Maggiolo, dominikanischer Schriftsteller, Archaologe, Anthropologe, Diplomat und Politiker († 2021)
13. August: Vyjayantimala, indische Schauspielerin
13. August: Yang Seok-il, japanischer Schriftsteller koreanischer Herkunft († 2024)
15. August: Lothar Buchmann, deutscher Fußballspieler und Trainer († 2023)
15. August: Mike Henry, US-amerikanischer Schauspieler und American-Football-Spieler († 2021)
16. August: Anita Gillette, US-amerikanische Schauspielerin
16. August: Carolyn Jennings, US-amerikanische Komponistin und Musikpadagogin
17. August: Tsegaye Gabre-Medhin, athiopischer Schriftsteller († 2006)
18. August: Gulzar, indischer Dichter und Filmregisseur
18. August: Robert Redford, US-amerikanischer Schauspieler und Regisseur
18. August: Derek Woodman, britischer Motorradrennfahrer
20. August: Regine Heinecke, deutsche Malerin, Grafikerin und Illustratorin († 2019)
20. August: Alice und Ellen Kessler, deutsche Sangerinnen und Filmschauspielerinnen
20. August: David Macdonald, kanadischer Politiker
20. August: Felix Meier, Minister fur Elektrotechnik und Elektronik der DDR († 2019)
20. August: Antonio Maria Kardinal Rouco Varela, Erzbischof von Madrid
20. August: Hideki Shirakawa, japanischer Chemiker, Trager des Chemie-Nobelpreises 2000
20. August: Bernhard Wessel, deutscher Fußballspieler († 2022)
20. August: Andrzej Zielinski, polnischer Sprinter († 2021)
21. August: Wilt Chamberlain, US-amerikanischer Basketballspieler († 1999)
21. August: Francois Pinault, franzosischer Unternehmer
21. August: Klaus Christian Plonzke, deutscher IT-Unternehmer
22. August: Karl-Heinz Klostermeier, deutscher Volkswirt und Rundfunkintendant († 2002)
22. August: Werner Stengel, deutscher Ingenieur und Achterbahnkonstrukteur
23. August: Henry Lee Lucas, US-amerikanischer Serienmorder († 2001)
24. August: A. S. Byatt, britische Schriftstellerin († 2023)
25. August: Hugh Hudson, britischer Filmregisseur († 2023)
26. August: Benedict Anderson, US-amerikanischer Politikwissenschaftler († 2015)
27. August: Hans Georg Bertram, deutscher Komponist und Organist († 2013)
27. August: Lien Chan, taiwanischer Politiker
27. August: Elroy Dietzel, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker († 1990)
27. August: Philippe Labro, franzosischer Filmregisseur († 2025)
27. August: Hans Scheibner, deutscher Satiriker, Liedermacher und Kabarettist († 2022)
28. August: Bert Schneider, osterreichischer Motorradrennfahrer († 2009)
29. August: Gilbert Amy, franzosischer Komponist und Dirigent
29. August: John McCain, US-amerikanischer Politiker († 2018)
29. August: Inga Woronina, sowjetische Eisschnelllauferin († 1966)
30. August: Torsten Wolfgramm, deutscher Politiker († 2020)
31. August: Holger Obermann, deutscher Fußballtorhuter und Fernsehreporter († 2021)
= September =
01. September: Herbert Kastner, deutscher Mathematiker, Autor, Herausgeber und Bibliophiler
01. September: Clemens Mettler, Schweizer Schriftsteller († 2020)
02. September: Ferdinand Fischer (Ferdy Fischer, Ferdinand G. B. Fischer), deutscher Autor
02. September: Virginia Joan Bennett, Ehefrau von Edward Kennedy
02. September: Klaus Koch, deutscher Jazzmusiker († 2000)
02. September: Helmut Werner, deutscher Industriemanager († 2004)
03. September: Zine el-Abidine Ben Ali, Prasident von Tunesien (1987–2011) († 2019)
03. September: John Olver, US-amerikanischer Politiker († 2023)
03. September: Marion Rushing, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2013)
04. September: Judea Pearl, amerikanischer Informatiker
05. September: John Danforth, US-amerikanischer Jurist, Politiker und Pfarrer
06. September: Roger Asmussen, deutscher Politiker († 2015)
06. September: Clifford Thornton, US-amerikanischer Jazzposaunist und -trompeter († 1983)
07. September: Helga de Alvear, deutsche Kunstsammlerin († 2025)
07. September: Buddy Holly, US-amerikanischer Rock-’n’-Roll-Musiker und Komponist († 1959)
07. September: Jean-Yves Tadie, franzosischer Literaturwissenschaftler
08. September: Werner Huß, deutscher Althistoriker († 2023)
09. September: Walter Zuber Armstrong, US-amerikanischer Musiker, Komponist, Arrangeur und Hochschullehrer († 1998)
09. September: Ute Vinzing, deutsche Opern- und Kammersangerin
10. September: Andre Adam, belgischer Diplomat († 2016)
10. September: Peter Lovesey, britischer Krimi-Schriftsteller († 2025)
10. September: Wayne Riddell, kanadischer Dirigent, Organist und Musikpadagoge († 2022)
11. September: Bill Asprey, englischer Fußballspieler und Trainer († 2025)
11. September: Charles Dierkop, US-amerikanischer Schauspieler († 2024)
12. September: Wiesław Glos, polnischer Fechter († 2021)
13. September: Juozas Asembergas, litauischer Diplomat und Politiker
13. September: Werner Hollweg, deutscher Opernsanger und Opernregisseur († 2007)
13. September: Abderrahmane Soukhane, algerisch-franzosischer Fußballspieler († 2015)
14. September: Wolfgang Estorf, deutscher General
14. September: Manfred Kock, deutscher Theologe, Ratsvorsitzender der EKD
14. September: Walter Koenig, US-amerikanischer Schauspieler
14. September: Anatoli Michailow, sowjetischer Leichtathlet († 2022)
14. September: Ferid Murad, US-amerikanischer Wissenschaftler und Nobelpreistrager († 2023)
14. September: Nicol Williamson, britischer Schauspieler († 2011)
15. September: Ashley Cooper, australischer Tennisspieler († 2020)
15. September: Jurij Koch, sorbischer Schriftsteller
15. September: Jurgen Timm, deutscher Politiker
15. September: Lothar Warneke, deutscher Regisseur und Drehbuchautor († 2005)
16. September: Ekkehard Gries, deutscher FDP-Politiker († 2001)
16. September: Claus Seibel, deutscher TV-Journalist († 2022)
17. September: Urs Frauchiger, schweizerischer Musiktheoretiker, Autor und Cellist († 2023)
17. September: Antioco Piseddu, italienischer romisch-katholischer Bischof († 2025)
18. September: Ruth Hesse, deutsche Opernsangerin († 2024)
18. September: Bahman Nirumand, iranisch-deutscher Germanist und Iranist
19. September: Joao Cravinho, portugiesischer Politiker († 2025)
19. September: Gene Dinwiddie, US-amerikanischer Blues-Saxophonist († 2002)
19. September: Martin Fay, irischer Musiker († 2012)
19. September: Jurgen von Gerlach, deutscher Richter
19. September: Al Oerter, US-amerikanischer Leichtathlet († 2007)
20. September: Paulus Bohmer, deutscher Schriftsteller († 2018)
20. September: Andrew Davies, britischer Lehrer, Schriftsteller und Drehbuchautor
21. September: Dickey Lee, US-amerikanischer Sanger und Songschreiber
21. September: Juri Luschkow, russischer Politiker († 2019)
21. September: Sunny Murray, US-amerikanischer Jazzmusiker († 2017)
21. September: Jean Putz, deutscher Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator
23. September: Rink Babka, US-amerikanischer Diskuswerfer († 2022)
23. September: Klaus Knall, deutscher Dirigent und Kantor
23. September: Manfred Tummler, deutscher Synchronsprecher und Filmschauspieler († 1990)
23. September: Peter E. Palmquist, amerikanischer Fotohistoriker und Sammler († 2003)
24. September: Jim Henson, US-amerikanischer Regisseur und TV-Produzent († 1990)
25. September: Jorg Bostrom, deutscher Maler und Fotograf († 2025)
25. September: August Kuhn, deutscher Schriftsteller († 1996)
25. September: Moussa Traore, Prasident von Mali (1968–1991) († 2020)
26. September: Winnie Madikizela-Mandela, sudafrikanische Politikerin († 2018)
29. September: Silvio Berlusconi, italienischer Politiker und Ministerprasident († 2023)
30. September: Flemming Flindt, danischer Balletttanzer und Choreograph († 2009)
30. September: Dieter Heistermann, deutscher Politiker († 2010)
= Oktober =
01. Oktober: Lea Rosh, deutsche Fernsehjournalistin und Publizistin
01. Oktober: Inge Wettig-Danielmeier, deutsche Politikerin
02. Oktober: Lutz Zulicke, deutscher Chemiker
03. Oktober: Jerzy Gajek, polnischer Pianist und Musikpadagoge († 2017)
03. Oktober: Marylu Poolman, niederlandische Schauspielerin († 2004)
03. Oktober: Steve Reich, US-amerikanischer Komponist
04. Oktober: Christopher Alexander, Architekt, Architekturtheoretiker und Buchautor († 2022)
04. Oktober: Gunther Arzt, deutscher Rechtswissenschaftler
04. Oktober: John Albert Knebel, US-amerikanischer Politiker
04. Oktober: Cynthia McLeod, surinamische Schriftstellerin
04. Oktober: Gustav Reingrabner, osterreichischer evangelisch-lutherischer Theologe († 2025)
05. Oktober: Gerard Aygoui, franzosischer Fußballspieler († 2021)
05. Oktober: Richard Blystone, US-amerikanischer Journalist († 2018)
05. Oktober: Vaclav Havel, tschechischer Schriftsteller und Politiker († 2011)
05. Oktober: Dietmar Kamper, Philosoph, Schriftsteller und Kultursoziologe († 2001)
05. Oktober: Annerose Schmidt, deutsche Pianistin († 2022)
06. Oktober: Ephraim Silas Obot, nigerianischer Bischof († 2009)
06. Oktober: Paolo Savona, italienischer Wirtschaftswissenschaftler und Politiker
07. Oktober: Charles Dutoit, schweizerisch-kanadischer Dirigent
07. Oktober: Joanna Glass, kanadische Schriftstellerin
07. Oktober: Frantisek Oldrich Kinsky, tschechisch-argentinischer Adliger († 2009)
08. Oktober: Henry Konig, deutscher Schauspieler († 2025)
08. Oktober: Alfons van Gelder, Richter am Bundesgerichtshof
09. Oktober: Nicole Croisille, franzosische Sangerin und Tanzerin († 2025)
09. Oktober: Jan Voss, deutscher Kunstler
10. Oktober: Gerhard Ertl, deutscher Physiker, Nobelpreistrager
11. Oktober: Billy Higgins, US-amerikanischer Jazz-Schlagzeuger († 2001)
11. Oktober: Jurgen Mittelstraß, deutscher Philosoph
11. Oktober: Alberto Vazquez-Figueroa, spanischer Schriftsteller
12. Oktober: Inge Bruck, deutsche Sangerin
12. Oktober: Frederick Nnabuenyi Ugonna, nigerianischer Linguist und Literaturwissenschaftler († 1990)
13. Oktober: Shlomo Aronson, israelischer Historiker († 2020)
13. Oktober: Hans Joachim Meyer, Minister fur Bildung und Wissenschaft der DDR († 2024)
13. Oktober: Christine Nostlinger, osterreichische Schriftstellerin († 2018)
13. Oktober: Peter Schneck, deutscher Medizinhistoriker († 2018)
14. Oktober: Jurg Schubiger, Schweizer Psychologe und Schriftsteller († 2014)
15. Oktober: Michel Aumont, franzosischer Filmschauspieler († 2019)
15. Oktober: Ingo Richter, Professor fur Padiatrische Onkologie und Hamatologie, Mitbegrunder der SPD in Mecklenburg-Vorpommern
16. Oktober: Klaus Ernst, deutscher Soziologe, Hochschullehrer und Diplomat
16. Oktober: Gerardo Gandini, argentinischer Komponist († 2013)
16. Oktober: Andrei Tschikatilo, sowjetischer Serienmorder († 1994)
16. Oktober: Renate Zimmermann, deutsche Organistin
18. Oktober: J. C. Moses, US-amerikanischer Jazz-Schlagzeuger († 1977)
18. Oktober: Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna († 2019)
21. Oktober: Heidrun Hegewald, deutsche Malerin und Grafikerin
21. Oktober: Mahi Khennane, algerisch-franzosischer Fußballspieler und -trainer
21. Oktober: Barbara Raetsch, deutsche Malerin
22. Oktober: Jacques Berndorf, deutscher Journalist und Schriftsteller († 2022)
22. Oktober: Peter Cook, britischer Architekt und Autor
22. Oktober: Rolf Gleiter, deutscher Chemiker
23. Oktober: Jean-Pierre Hanrioud, franzosischer Automobilrennfahrer
22. Oktober: Wolfgang Sieg, deutscher Schriftsteller († 2015)
23. Oktober: Philip Kaufman, US-amerikanischer Regisseur und Drehbuchautor
23. Oktober: Hans Zehetmair, deutscher CSU-Politiker († 2022)
23. Oktober: HP Zimmer, deutscher Maler und Bildhauer († 1992)
24. Oktober: Juri Arrak, estnischer Maler, Graphiker, Kunstschmied und Animationskunstler († 2022)
24. Oktober: Friedrich Blumenrohr, Richter am Bundesgerichtshof
24. Oktober: Jimmy Dawkins, US-amerikanischer Blues-Gitarrist († 2013)
24. Oktober: Rainer Kunad, deutscher Komponist († 1995)
24. Oktober: Bill Wyman, englischer Bassist, Mitglied der Rolling Stones
25. Oktober: Joaquin Perez, mexikanischer Reiter († 2011)
26. Oktober: Hans Hubert Anton, deutscher Historiker († 2024)
26. Oktober: Al Casey, US-amerikanischer Gitarrist († 2006)
26. Oktober: Christiane Herzog, Journalistin und Gattin des Bundesprasidenten Roman Herzog († 2000)
26. Oktober: Gyorgy Pauk, ungarischer Violinist († 2024)
27. Oktober: Dave Charlton, sudafrikanischer Automobilrennfahrer († 2013)
28. Oktober: Nikolaus Aidelsburger, deutscher Politiker († 2012)
28. Oktober: Horst Antes, deutscher Maler
28. Oktober: Charlie Daniels, US-amerikanischer Rockmusiker († 2020)
28. Oktober: Carl Davis, US-amerikanischer Komponist († 2023)
28. Oktober: Juan Carlos Harriott, argentinischer Polospieler († 2023)
28. Oktober: German Trajano Pavon Puente, ecuadorianischer romisch-katholischer Bischof († 2025)
28. Oktober: Joe Spinell, US-amerikanischer Schauspieler († 1989)
30. Oktober: Polina Astachowa, ukrainische Turnerin († 2005)
30. Oktober: Dick Vermeil, US-amerikanischer American-Football-Trainer
31. Oktober: Michael Landon, US-amerikanischer Schauspieler († 1991)
31. Oktober: Nicolas de Jesus Kardinal Lopez Rodriguez, Erzbischof von Santo Domingo
31. Oktober: Gawriil Popow, russischer Politiker, Oberburgermeister von Moskau
31. Oktober: Rudiger Rogge, Richter am Bundesgerichtshof
= November =
02. November: Norbert Angermann, deutscher Historiker
02. November: Marta Casals Istomin, US-amerikanische Musikerin und Musikpadagogin
02. November: Gerhard Grill, deutscher Handballspieler († 2014)
02. November: Jack Starrett, US-amerikanischer Schauspieler († 1989)
03. November: Roy Emerson, australischer Tennisspieler
03. November: Paula Marosi, ungarische Fechterin († 2022)
04. November: Egon Evertz, deutscher Unternehmer, Automobilrennfahrer, Musiker und Schachspieler
04. November: Didier Ratsiraka, madagassischer Politiker († 2021)
05. November: Klaus Enderlein, deutscher Motorradrennfahrer († 1995)
05. November: Uwe Seeler, deutscher Fußballspieler und -manager († 2022)
06. November: Barbara Heller, deutsche Komponistin und Pianistin
06. November: Leonard Pietraszak, polnischer Schauspieler († 2023)
06. November: Heinz Rolleke, deutscher Philologe und Erzahlforscher († 2023)
07. November: Al Attles, US-amerikanischer Basketballspieler und -trainer († 2024)
07. November: Guido Carlesi, italienischer Radrennfahrer († 2024)
07. November: Tserendonoin Sandschaa, mongolischer Ringer († 2019)
07. November: Roger Vangheluwe, belgischer Bischof
08. November: Klaus Borrmann, deutscher Forstmann, Heimatforscher und Autor
09. November: Conny Freundorfer, deutscher Tischtennisspieler († 1988)
09. November: Bob Graham, US-amerikanischer Politiker († 2024)
09. November: Michail Tal, lettisch-sowjetischer Schachspieler († 1992)
10. November: Claudio Barrientos, chilenischer Boxer († 1982)
12. November: Ingrid Holzhuter, deutsche Politikerin († 2009)
12. November: Tamas Ungvary, ungarisch-schwedischer Dirigent, Komponist und Musikpadagoge († 2024)
13. November: Dacia Maraini, italienische Schriftstellerin
14. November: Carey Bell, US-amerikanischer Blues-Musiker († 2007)
14. November: Horst Blanck, deutscher Archaologe († 2010)
14. November: Ruben Hector Sosa, argentinischer Fußballspieler († 2008)
15. November: Wolf Biermann, deutscher Liedermacher
16. November: Skip Barber, US-amerikanischer Automobilrennfahrer
16. November: Isaac Berger, US-amerikanischer Gewichtheber († 2022)
16. November: Gian Paolo Dallara, italienischer Automobilkonstrukteur und Unternehmer
16. November: Adrian Leo Doyle, australischer romisch-katholischer Bischof
16. November: Antonio Gades, spanischer Tanzer, Choreograf († 2004)
16. November: John Moore, australischer Politiker († 2025)
16. November: Gudrun Ritter, deutsche Film- und Theaterschauspielerin
17. November: Dalia Rabikovich, israelische Dichterin und Friedensaktivistin († 2005)
18. November: Ennio Kardinal Antonelli, Erzbischof von Florenz
18. November: Don Cherry, Jazzmusiker († 1995)
19. November: Dick Cavett, US-amerikanischer Talkshow-Moderator und Filmschauspieler
19. November: Michel Decoust, franzosischer Komponist
19. November: Yuan T. Lee, taiwanischer Chemiker
20. November: Don DeLillo, US-amerikanischer Schriftsteller
20. November: Florian Scheck, deutscher Physiker († 2024)
21. November: James DePreist, US-amerikanischer Dirigent und Musikpadagoge († 2013)
22. November: Edgar Augustin, deutscher Bildhauer und Zeichner († 1996)
22. November: Karlheinz Stierle, deutscher Romanist und Literaturwissenschaftler
22. November: Hans Zender, deutscher Dirigent und Komponist († 2019)
23. November: Jimmy Evans, US-amerikanischer Rockabilly-Musiker († 2011)
23. November: Roswitha Trexler, deutsche Sangerin (Sopran, Mezzosopran)
24. November: Gisela Fritsch, deutsche Schauspielerin und Synchronsprecherin († 2013)
24. November: Jan Netopilik, tschechoslowakischer Leichtathlet († 2022)
25. November: William McIlvanney, britischer Schriftsteller († 2015)
25. November: Stephen Raskovy, australischer Ringer († 2021)
26. November: Freimut Duve, deutscher Publizist und Politiker († 2020)
28. November: Theodore-Adrien Kardinal Sarr, Erzbischof von Dakar
28. November: Philippe Sollers, franzosischer Schriftsteller († 2023)
29. November: Davide Anzaghi, italienischer Komponist und Hochschullehrer
29. November: Burkhard Malich, deutscher Schachgroßmeister
29. November: Gerti Tetzner, deutsche Schriftstellerin
30. November: Dmitri Wiktorowitsch Anossow, russischer Mathematiker († 2014)
30. November: Tulsidas Balaram, indischer Fußballspieler († 2023)
30. November: Arndt Bause, deutscher Komponist († 2003)
30. November: Abbie Hoffman, US-amerikanischer Sozial-Aktivist († 1989)
30. November: Lucha Villa, mexikanische Sangerin und Schauspielerin
= Dezember =
01. Dezember: Akira Kubo, japanischer Schauspieler
01. Dezember: Klaus Manchen, deutscher Schauspieler und Horspielsprecher († 2024)
01. Dezember: Peter Sutcliffe, britischer Automobilrennfahrer und Unternehmer
02. Dezember: Peter Michael Braun, deutscher Komponist († 2019)
02. Dezember: Peter Duesberg, deutscher Virologe
03. Dezember: John Arpin, kanadischer Komponist, Pianist, Musiker, Arrangeur und Entertainer († 2007)
03. Dezember: Lothar Gall, deutscher Historiker († 2024)
04. Dezember: John Giorno, US-amerikanischer Performancekunstler und Poet († 2019)
04. Dezember: Katharina Lind, deutsche Schauspielerin
04. Dezember: Michiko Yamamoto, japanische Schriftstellerin
05. Dezember: Lewis Nkosi, sudafrikanischer Schriftsteller († 2010)
06. Dezember: Heinz Hergert, deutscher Fußballspieler
07. Dezember: Oleksandr Scharkowskyj, ukrainischer Mathematiker († 2022)
08. Dezember: Maja Beutler, Schweizer Schriftstellerin und Dramatikerin († 2021)
08. Dezember: David Carradine, US-amerikanischer Schauspieler († 2009)
08. Dezember: Marian Leszczynski, polnischer Ruderer († 2020)
08. Dezember: Helmut Markwort, deutscher Journalist
09. Dezember: Abraham B. Jehoshua, israelischer Schriftsteller († 2022)
09. Dezember: Emile Aiti Waro Leru’a, kongolesischer Altbischof von Isiro-Niangara
10. Dezember: Ara Baliozian, armenischer Schriftsteller († 2019)
10. Dezember: Thor Helland, norwegischer Mittel- und Langstreckenlaufer († 2021)
11. Dezember: Hans van den Broek, niederlandischer Politiker († 2025)
11. Dezember: Erich Hagen, deutscher Radsportler († 1978)
12. Dezember: Iolanda Balas, rumanische Hochspringerin († 2016)
12. Dezember: Hans Fischer, deutscher Motorradrennfahrer († 2008)
13. Dezember: Karim Aga Khan IV., Oberhaupt (49. Imam) der Ismailiten († 2025)
14. Dezember: Robert A. Parker, US-amerikanischer Astronaut
15. Dezember: Joe D’Amato, italienischer Filmregisseur († 1999)
15. Dezember: Christine Ostermayer, osterreichische Schauspielerin
15. Dezember: Eddie Palmieri, US-amerikanischer Sanger, Pianist und Orchesterleiter
16. Dezember: Christoph Anders, deutscher Politiker
16. Dezember: Elisabeth Kopp, Schweizer Politikerin († 2023)
16. Dezember: Rene Ligonnet, franzosischer Automobilrennfahrer
17. Dezember: Jorge Mario Bergoglio, unter dem Namen Franziskus Papst († 2025)
17. Dezember: Klaus Kinkel, deutscher Politiker, Justizminister, Außenminister († 2019)
17. Dezember: Tommy Steele, britischer Sanger, Schauspieler und Entertainer
18. Dezember: Barbara Buhl, deutsche Richterin († 2025)
19. Dezember: Remy A. Presas, philippinischer Kampfkunst-Trainer († 2001)
21. Dezember: Eric Gaudibert, schweizerischer Komponist und Musikpadagoge († 2012)
21. Dezember: Hershel W. Gober, US-amerikanischer Politiker († 2024)
21. Dezember: John Webb, britischer Geher († 2022)
22. Dezember: Hector Elizondo, puerto-ricanischer Schauspieler
23. Dezember: Willie Wood, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 2020)
24. Dezember: Chris McGregor, sudafrikanischer Pianist, Komponist und Bandleader († 1990)
25. Dezember: Jo de Haan, niederlandischer Radrennfahrer († 2006)
25. Dezember: Ismail Merchant, indisch-britischer Filmproduzent († 2005)
25. Dezember: Prinzessin Alexandra, britische Adlige
25. Dezember: Christel Schulze, deutsche Sangerin
26. Dezember: Trevor Taylor, britischer Automobilrennfahrer († 2010)
27. Dezember: Carlos Blixen, uruguayischer Basketballspieler († 2022)
27. Dezember: James Christopher Harrison, australischer Blutspender († 2025)
27. Dezember: Martin Wienbeck, deutscher Gastroenterologe († 2005)
28. Dezember: Jim McDermott, US-amerikanischer Psychiater und Politiker
28. Dezember: Engelbert Obernosterer, osterreichischer Schriftsteller
29. Dezember: Anthony Buck, britischer Ringer († 2021)
29. Dezember: Ray Nitschke, US-amerikanischer American-Football-Spieler († 1998)
29. Dezember: Jo Pestum, deutscher Schriftsteller und Filmautor († 2020)
29. Dezember: Wolfgang Rumpf, deutscher Forstmann und Politiker († 2006)
29. Dezember: Mary Tyler Moore, US-amerikanische Schauspielerin und Komodiantin († 2017)
30. Dezember: Joe Buzzetta, US-amerikanischer Automobilrennfahrer († 2023)
31. Dezember: William French Anderson, US-amerikanischer Arzt, Gentechniker und Molekular-Biologe
31. Dezember: Siw Malmkvist, schwedische Schlagersangerin
= Genaues Geburtsdatum unbekannt =
Gerard J. M. van den Aardweg, niederlandischer Psychologe und Psychoanalytiker
Ahmed Abdou, Premierminister der Komoren
Muhammad Amin Muhammad Ahmad, kurdischer Politiker
Dieter Arnold, deutscher Agyptologe
Francisco Asensi, spanischer Schriftsteller († 2013)
Ali Askari, kurdischer Guerillafuhrer und Politiker († 1978)
Tariq Aziz, irakischer Politiker († 2015)
Jozef Brejza, polnischer Hornist
William Hodson Brock, britischer Chemiker († 2025)
Craig Fisher, kanadischer Automobilrennfahrer († 2018)
Maria Grevesmuhl, deutsche Violinistin und Hochschuldozentin († 1996)
Eugen Schonebeck, deutscher Maler
Melaku Worede, athiopischer Genetiker und Biologe († 2023)
Gestorben = Januar/Februar =
02. Januar: Harry B. Smith, US-amerikanischer Lyriker und Librettist (* 1860)
03. Januar: Friedrich Losch, deutscher Pfarrer und Heimatforscher (* 1860)
06. Januar: Louise Bryant, US-amerikanische Journalistin und Autorin (* 1885)
06. Januar: Nicolae Gropeanu, rumanischer Maler (* 1863)
11. Januar: Ikuta Choko, japanischer Literaturkritiker und Ubersetzer (* 1882)
12. Januar: Leon Fabert, franzosischer Automobilrennfahrer (* 1881)
13. Januar: Gabriel Veyre, franzosischer Filmschaffender (* 1871)
16. Januar: Oskar Barnack, deutscher Feinmechaniker (* 1879)
18. Januar: Rudyard Kipling, britischer Schriftsteller, Journalist und Nobelpreistrager (* 1865)
19. Januar: Gonzalo Carrasco Espinosa, mexikanischer Geistlicher und religioser Maler (* 1859)
20. Januar: George V., Konig von Großbritannien und Irland/Nordirland sowie Kaiser von Indien (* 1865)
22. Januar: Louis Glass, danischer Komponist (* 1864)
25. Januar: Edmond Aman-Jean, franzosischer Maler (* 1858)
28. Januar: Oscar K. Allen, US-amerikanischer Politiker (* 1882)
29. Januar: Joe Delahanty, US-amerikanischer Baseballspieler (* 1875)
31. Januar: Henri-Gabriel Ibels, franzosischer Maler, Graphiker und Autor (* 1867)
31. Januar: Eva Stort, deutsche Landschaftsmalerin (* 1855)
04. Februar: Wilhelm Gustloff, Nationalsozialist (* 1895)
04. Februar: Rudolf Heydel, deutscher Automobilrennfahrer (* 1912)
04. Februar: Hugo Krabbe, niederlandischer Staatsrechtler (* 1857)
07. Februar: O. P. Heggie, australischer Schauspieler (* 1877)
10. Februar: Roy D. Chapin, US-amerikanischer Unternehmer und Politiker (* 1880)
10. Februar: May French Sheldon, US-amerikanische Forschungsreisende und Autorin (* 1847)
12. Februar: Ibra Charles Blackwood, US-amerikanischer Politiker (* 1878)
14. Februar: Karl Ludwig Hampe, deutscher Mediavist (* 1869)
18. Februar: Carl Peters, Kolner Unternehmer (* 1868)
20. Februar: Victor H. Metcalf, US-amerikanischer Politiker (* 1853)
20. Februar: Max Schreck, deutscher Schauspieler (* 1879)
24. Februar: Gotthold Anders, deutscher Politiker (* 1857)
26. Februar: Antonio Scotti, italienischer Sanger (Bariton) (* 1866)
24. Februar: Albert Ritchie, US-amerikanischer Politiker (* 1876)
27. Februar: Joshua W. Alexander, US-amerikanischer Politiker (* 1852)
27. Februar: Iwan Pawlow, russischer Physiologe, Nobelpreistrager (* 1849)
28. Februar: Charles Nicolle, franzosischer Arzt und Mikrobiologe (* 1866)
= Marz/April =
03. Marz: Theodor Albin Findeisen, deutscher Kontrabassist und Padagoge (* 1881)
04. Marz: Ruben Liljefors, schwedischer Komponist (* 1871)
04. Marz: Eduard Zarncke, deutscher Altphilologe (* 1857)
05. Marz: Friedrich Wilhelm Ruhfus, deutscher Buchdrucker, Unternehmer und Verleger (* 1839)
06. Marz: Bertha von Tarnoczy, osterreichische Malerin und Kunstpadagogin (* 1846)
08. Marz: Rudolf Much, osterreichischer Germanist und Skandinavist (* 1862)
09. Marz: Sidney Johnston Catts, US-amerikanischer Politiker (* 1863)
09. Marz: Franz Philip Hosp, deutschamerikanischer Landschaftsgartner und Baumschuler (* 1853)
09. Marz: Eduard Stucken, deutscher Schriftsteller (* 1865)
09. Marz: Sri Yukteswar, indischer Yogi und Guru (* 1855)
10. Marz: Peter Emil Isler (* 1851)
11. Marz: Yumeno Kyusaku, japanischer Schriftsteller (* 1889)
12. Marz: Felix Granet, franzosischer Politiker (* 1849)
15. Marz: John Scott Haldane, englischer Physiologe (* 1860)
17. Marz: Jules Breitenstein, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1873)
18. Marz: Eleftherios Venizelos, griechischer Politiker und Regierungschef (* 1864)
24. Marz: Rosa Kruger, deutsche Blumen- und Interieurmalerin (* 1861)
24. Marz: Makino Shin’ichi, japanischer Schriftsteller (* 1896)
25. Marz: Edmond Bourlier, franzosischer Autorennmobilfahrer (* 1895)
26. Marz: Adolf II., Furst zu Schaumburg-Lippe (* 1883)
29. Marz: Hans Osten, deutscher Kaufmann und Astronom (* 1875)
30. Marz: Karel Hoffmann, tschechischer Geiger und Musikpadagoge (* 1872)
30. Marz: Fritz Liebrich, Schweizer Lehrer und Schriftsteller in Mundart (* 1879)
02. April: William Louis Abbott, US-amerikanischer Arzt, Naturforscher und Ornithologe (* 1860)
02. April: Friedrich Stolz, deutscher Chemiker (* 1860)
03. April: Armando Quezada Acharan, chilenischer Politiker und Wirtschaftswissenschaftler (* 1873)
06. April: John Hammill, US-amerikanischer Politiker (* 1875)
07. April: Hans Steffen, deutscher Geograph (* 1865)
08. April: Robert Barany, ungarischer Mediziner und Neurochemiker (* 1876)
09. April: Ferdinand Tonnies, Soziologe, Nationalokonom und Philosoph (* 1855)
11. April: Karl Schell, schweizerischer Komponist, Dirigent und Organist (* 1864)
14. April: Georg Wiegner, deutscher Agrikulturchemiker und Bodenkundler (* 1883)
15. April: Hilda Sehested, danische Pianistin und Komponistin (* 1858)
17. April: Fritz Hommel, deutscher Orientalist (* 1854)
17. April: Julius Spengel, deutscher Komponist, Dirigent und Pianist (* 1853)
18. April: Ottorino Respighi, italienischer Komponist (* 1879)
27. April: Karl Pearson, englischer Mathematiker (* 1857)
28. April: Otto Arendt, deutscher Publizist und Politiker (* 1854)
28. April: Fu'ad I., Konig von Agypten (* 1868)
30. April: Oran Pape, US-amerikanischer American-Football-Spieler (* 1904)
= Mai/Juni =
02. Mai: Robert Michels, deutscher Soziologe (* 1876)
07. Mai: Emil Kranzlein, Fabrikant (* 1850)
08. Mai: Oswald Spengler, deutscher Geschichtsphilosoph und Kulturhistoriker (* 1880)
14. Mai: Edmund Allenby, 1. Viscount Allenby, britischer Soldat und Hochkommissar von Agypten (* 1861)
16. Mai: Albert Nikolajewitsch Benois, russischer Maler (* 1852)
16. Mai: Julius Schreck, Anhanger der NS-Bewegung (* 1898)
17. Mai: Len Small, US-amerikanischer Politiker (* 1862)
20. Mai: Luis Andreoni, italienischer Ingenieur und Architekt (* 1853)
25. Mai: Jan Levoslav Bella, slowakischer Komponist (* 1843)
27. Mai: Anton Schmutzer, osterreichischer Musiker und Komponist (* 1864)
28. Mai: Bertha Pappenheim, Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin (* 1859)
03. Juni: Abram Andrew, US-amerikanischer Politiker (* 1873)
04. Juni: Mathilde Verne, englische Pianistin und Musikpadagogin (* 1865)
05. Juni: Luigi Forino, italienischer Cellist und Musikpadagoge (* 1868)
10. Juni: Marcel Chailley, franzosischer Geiger und Musikpadagoge (* 1881)
12. Juni: Karl Kraus, osterreichischer Schriftsteller (* 1874)
13. Juni: Marie-Louise Bougle, franzosische Feministin (* 1883)
14. Juni: G. K. Chesterton, britischer Schriftsteller (* 1874)
14. Juni: Hans Poelzig, deutscher Maler und Architekt (* 1869)
15. Juni: Hans Bottcher, deutscher Rundfunkpionier, Horspielregisseur und -sprecher (* 1898)
17. Juni: Henry Le Chatelier, franzosischer Chemiker, Metallurge und Physiker (* 1850)
17. Juni: Duncan U. Fletcher, US-amerikanischer Politiker (* 1859)
18. Juni: Maxim Gorki, russischer Dichter (* 1868)
18. Juni: Heinrich Lersch, deutscher Arbeiterdichter (* 1889)
18. Juni: Edith Miller, kanadische Sangerin (* 1875)
19. Juni: Toni Babl, deutscher Motorradrennfahrer (* 1906)
21. Juni: Matthias Auckenthaler, osterreichischer Alpinist (* 1906)
22. Juni: Moritz Schlick, einer der Begrunder des logischen Empirismus (* 1882)
26. Juni: Christiaan Snouck Hurgronje, niederlandischer Arabist und Islamkundiger (* 1857)
27. Juni: Suzuki Miekichi, japanischer Roman- und Kinderbuchautor (* 1882)
27. Juni: Bernard Rubin, britischer Automobilrennfahrer (* 1896)
28. Juni: Alexander Berkman, Anarchist und Schriftsteller (* 1870)
28. Juni: Archibald Hunter, britischer General (* 1856)
= Juli/August =
03. Juli: Stefan Lux, tschechoslowakischer Kunstler und Journalist (* 1887)
07. Juli: Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin, russischer Politiker und Außenminister (* 1872)
08. Juli: Friedrich Maurer, deutscher Mediziner (* 1859)
12. Juli: Auguste Adib Pacha, libanesischer Politiker (* 1859)
13. Juli: Jose Calvo Sotelo, spanischer Minister (* 1893)
15. Juli: Charles-Henri-Joseph Binet, Erzbischof von Besancon und Kardinal (* 1869)
16. Juli: Richard L. Murphy, US-amerikanischer Politiker (* 1875)
19. Juli: Marcel Lehoux, franzosischer Automobilrennfahrer (* 1888 oder 1889)
19. Juli: Hans Winkler, deutscher Motorradrennfahrer (* 1898)
20. Juli: Francisco Ascaso, spanischer Anarchist (* 1901)
20. Juli: Jose Sanjurjo, spanischer General (* 1872)
20. Juli: Arthur Whiting, US-amerikanischer Komponist, Organist und Pianist (* 1861)
22. Juli: Toni Kurz, deutscher Bergsteiger (* 1913)
24. Juli: Georg Michaelis, deutscher Jurist und Politiker (* 1857)
25. Juli: Heinrich Rickert, deutscher Philosoph (* 1863)
30. Juli: Wilhelm Baldensperger, franzosischer evangelischer Theologe (* 1856)
02. August: Louis Bleriot, franzosischer Luftfahrtpionier (* 1872)
02. August: Maurice Harvey, britischer Automobilrennfahrer (* 1895)
04. August: Henry Schoenefeld, US-amerikanischer Komponist (* 1857)
05. August: Jennie Augusta Brownscombe, US-amerikanische Malerin, Designerin, Radiererin und Illustratorin (* 1850)
06. August: Willi Ostermann, deutscher Liedermacher und Karnevalist (* 1876)
09. August: Maximo Arrates Boza, panamaischer Komponist (* 1859)
10. August: Emery J. San Souci, US-amerikanischer Politiker (* 1857)
11. August: Blas Infante, spanischer Politiker, Schriftsteller, Historiker und Musikwissenschaftler (* 1885)
14. August: Nicolae Berechet, rumanischer Boxer (* 1915)
15. August: Grazia Deledda, italienische Schriftstellerin (* 1871)
15. August: Stanisław Niewiadomski, polnischer Komponist, Dirigent, Musikpadagoge und -kritiker (* 1859)
16. August: Ralph Scott, US-amerikanischer American-Football-Spieler und -Trainer (* 1894)
17. August: John Avena, US-amerikanischer Krimineller (* 1893)
17. August: Haldis Halvorsen, norwegische Opernsangerin (* 1889)
18. August: Albertus Antonie Nijland, niederlandischer Astronom (* 1868)
19. August: William Agnew, schottischer Fußballspieler und -trainer (* 1880)
19. August: Federico Garcia Lorca, spanischer Schriftsteller (* 1898)
20. August: Eduard Arning, deutsch-englischer Dermatologe und Lepraforscher (* 1855)
22. August: Floyd B. Olson, US-amerikanischer Politiker (* 1891)
23. August: Juliette Adam, franzosische Schriftstellerin, Polemikerin, republikanische Salonniere und Frauenrechtlerin (* 1836)
25. August: Lew Kamenew, sowjetischer Politiker, Opfer des stalinistischen Terrors (* 1883)
25. August: Grigori Sinowjew, sowjetischer Politiker, Opfer des stalinistischen Terrors (* 1883)
25. August: Iwan Smirnow, sowjetischer Politiker, Opfer des stalinistischen Terrors (* 1881)
27. August: George Henry Dern, US-amerikanischer Politiker (* 1872)
30. August: Albert Schneider, deutscher Motorradrennfahrer (* 1900)
31. August: William F. Whiting, US-amerikanischer Politiker (* 1864)
= September/Oktober =
02. September: Charles A. Rawson, US-amerikanischer Politiker (* 1867)
05. September: Federico Borrell Garcia, republikanischer Soldat im Spanischen Burgerkrieg (* 1912)
06. September: Cornelius Osten, deutscher Kaufmann und Botaniker (* 1863)
07. September: Victor Franke, deutscher Kommandeur (* 1866)
12. September: Hermann Hirt, deutscher Indogermanist (* 1865)
13. September: Magnus Johnson, US-amerikanischer Politiker (* 1871)
14. September: Irving Thalberg, US-amerikanischer Filmproduzent (* 1899)
15. September: Adolf Schenck, deutscher Geograph und Botaniker (* 1857)
16. September: Karl Buresch, Rechtsanwalt und christlichsozialer Politiker (* 1878)
18. September: Konrad Burdach, deutscher Germanist (* 1859)
21. September: Antoine Meillet, franzosischer Sprachwissenschaftler (* 1866)
28. September: Hans Affolter, Schweizer Jurist und Politiker (SP) (* 1870)
29. September: Alfonso Carlos de Borbon, carlistischer Thronpratendent in Spanien und Frankreich (* 1849)
30. September: Karl Eschweiler, deutscher katholischer Theologe und Religionsphilosoph (* 1886)
06. Oktober: Charles Edward Adams, US-amerikanischer Politiker (* 1867)
06. Oktober: Gyula Gombos, ungarischer General, Politiker und Ministerprasident (* 1886)
08. Oktober: Ahmed Tevfik Pascha, letzter Großwesir des Osmanischen Reiches (* 1845)
09. Oktober: Otto Behaghel, deutscher Germanist (* 1854)
09. Oktober: Emil Artur Longen, tschechischer Regisseur, Dramaturg, Maler, Autor (* 1885)
09. Oktober: Friedrich von Oppeln-Bronikowski, deutscher Schriftsteller und Kulturhistoriker (* 1873)
12. Oktober: Benno von Achenbach, Begrunder der deutschen Kutschfahrkunst (* 1861)
17. Oktober: Joseph Ambuhl, Schweizer Bischof von Basel (* 1873)
19. Oktober: Lu Xun, chinesischer Schriftsteller (* 1881)
26. Oktober: Rodney Heath, australischer Tennisspieler (* 1884)
29. Oktober: Otto Immisch, deutscher Altphilologe (* 1862)
30. Oktober: Jafar Pascha al-Askari, osmanischer Offizier (* 1885)
30. Oktober: Ferdynand Ruszczyc, polnischer Maler (* 1870)
30. Oktober: Franz von Segesser von Brunegg, Schweizer romisch-katholischer Geistlicher und Padagoge (* 1854)
30. Oktober: Hildegard Voigt, deutsche Schriftstellerin (* 1856)
= November/Dezember =
01. November: Lucia True Ames Mead, US-amerikanische Pazifistin und Feministin (* 1856)
02. November: Martin Lowry, britischer Chemiker (* 1874)
04. November: Etkar Andre, Politiker (KPD) und Antifaschist (* 1894)
05. November: Nathan E. Kendall, US-amerikanischer Politiker (* 1868)
06. November: Littleton Groom, australischer Politiker (* 1867)
17. November: Roger Salengro, franzosischer Politiker (* 1890)
17. November: Ernestine Schumann-Heink, osterreichische Opernsangerin (* 1861)
20. November: Buenaventura Durruti, spanischer Syndikalist und anarchistischer Revolutionar (* 1896)
20. November: Jose Antonio Primo de Rivera, faschistischer spanischer Politiker (* 1903)
22. November: Antanas Adomaitis, litauischer Geistlicher, Organist und Professor (* 1902)
23. November: Martha Koepp-Susemihl, deutsche Malerin (* 1872)
24. November: Horacio Abadie Santos, uruguayischer Politiker, Rechtsanwalt und Journalist (* 1886)
27. November: Edward Bach, englischer Arzt, Entwickler der Bach-Blutentherapie (* 1886)
27. November: Robert de Vogue, franzosischer Geschaftsmann, Funktionar, Politiker und Marineoffizier (* 1870)
27. November: Basil Zaharoff, griechischer Waffenhandler und Spielbankbesitzer (* 1849)
28. November: George W. Clarke, US-amerikanischer Politiker (* 1852)
30. November: Fred W. Green, US-amerikanischer Politiker (* 1871)
06. Dezember: Emil Adamic, slowenischer Komponist (* 1877)
06. Dezember: Leyla Saz, turkische Komponistin (* 1850)
07. Dezember: Alfred Wiedemann, deutscher Agyptologe (* 1856)
08. Dezember: William C. Carl, US-amerikanischer Organist und Musikpadagoge (* 1865)
10. Dezember: Luigi Pirandello, italienischer Schriftsteller (* 1867)
10. Dezember: Hubert Schnofl, osterreichischer Politiker, Landtagsabgeordneter und Burgermeister (* 1868)
10. Dezember: Hans Stumme, deutscher Orientalist und Linguist (* 1864)
10. Dezember: Max Turkheimer, deutscher Ingenieur und Unternehmer (* 1860)
13. Dezember: Friedrich Vitzthum von Eckstadt, deutscher Gutsbesitzer, Diplomat und Politiker (* 1855)
14. Dezember: Joseph Bloch, Publizist, Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte (* 1871)
18. Dezember: Andrija Mohorovicic, kroatischer Geophysiker (* 1857)
19. Dezember: Theodor Wiegand, deutscher Archaologe (* 1864)
20. Dezember: Ferdinand Karsch, deutscher Entomologe und Sexualwissenschaftler (* 1853)
23. Dezember: Karel Navratil, tschechischer Komponist (* 1867)
25. Dezember: Pierre Maurice, Schweizer Komponist (* 1868)
25. Dezember: Carl Stumpf, Philosoph und Psychologe (* 1848)
26. Dezember: Adolf Arenson, deutscher Komponist, Theosoph und Anthroposoph (* 1855)
26. Dezember: Auguste Gampert, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1870)
27. Dezember: Louis Aubert, Schweizer evangelischer Geistlicher und Hochschullehrer (* 1856)
27. Dezember: Mehmet Akif Ersoy, turkischer Dichter (* 1873)
27. Dezember: Hans von Seeckt, Generaloberst der Reichswehr in Deutschland (* 1866)
31. Dezember: Jack Underwood, US-amerikanischer American-Football-Spieler (* 1894)
= Genaues Todesdatum unbekannt =
Leopold Anton Johann Armbruster, deutscher Bildhauer (* 1862)
Occide Jeanty, haitianischer Komponist (* 1860)
Mihran Mardirossian, armenischer Buchhandler und Publizist (* 1870)
Papken I. Gulesserian, armenischer Koadjutor-Katholikos des Großen Hauses von Kilikien der Armenischen Apostolischen Kirche (* 1868)
Weblinks Lebendiges virtuelles Museum Online
|
Das Jahr 1936 bietet den Nationalsozialisten gleich mit zwei großen internationalen Sportereignissen die Gelegenheit, das Deutsche Reich nach außen glanzend zu prasentieren. Die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen, bei denen erstmals ein Fackellauf durchgefuhrt wird, und insbesondere die Olympischen Sommerspiele in Berlin werden auch entsprechend propagandistisch ausgeschlachtet. Die perfekte Inszenierung wird aus Sicht der Nazis nicht einmal dadurch getrubt, dass mit Jesse Owens ein Afroamerikaner erfolgreichster Athlet der Spiele wird. Immerhin wird mit dem Deutschen Reich zum ersten Mal eine andere Nation als die Vereinigten Staaten erfolgreichste Nation bei Olympischen Sommerspielen.
Innenpolitisch wird die Unterdruckung und Verfolgung von Juden und anderen Minderheiten konsequent fortgesetzt und außenpolitisch wird immer unverhohlener der Krieg vorbereitet. Adolf Hitler kundigt die Vertrage von Locarno und lasst die Wehrmacht im entmilitarisierten Rheinland einmarschieren, ein aggressiver Akt, dem Frankreich und Großbritannien keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Mit dem faschistischen Italien Benito Mussolinis, das gerade Athiopien uberrannt und die Kolonie Italienisch-Ostafrika gegrundet hat, wird die Achse Berlin-Rom geschlossen, mit dem Japanischen Kaiserreich der gegen die Sowjetunion gerichtete Antikominternpakt.
In Spanien bricht inzwischen der Burgerkrieg aus. Die faschistische Falange und die nationale Rechte im Militar unter Francisco Franco versucht mit einem Putsch an die Macht zu gelangen, stoßt jedoch auf unerwartet starke Gegenwehr der republikanischen Regierung. Nachdem Internationale Brigaden – Freiwilligenverbande bestehend aus Angehorigen zahlreicher europaischer und amerikanischer Nationen – die Republik bei ihrem Abwehrkampf unterstutzen, entsendet das Deutsche Reich die Legion Condor zur Unterstutzung der Faschisten, eine willkommene Generalprobe fur die Kriegstauglichkeit der deutschen Streitkrafte.
Die britische Monarchie wird Ende des Jahres von einem Skandal erschuttert. Konig Edward VIII. gibt seiner Beziehung mit der in Scheidung lebenden Burgerlichen Wallis Simpson den Vorzug und dankt ab. Sein Bruder Albert folgt ihm als George VI. auf den Thron nach.
Die kulturellen Hohepunkte des Jahres sind die Urauffuhrung von Sergei Prokofjews musikalischem Marchen Peter und der Wolf, Margaret Mitchells Roman Vom Winde verweht, die International Surrealist Exhibition in London, sowie die Premiere von Charlie Chaplins satirischem Stummfilm Modern Times.
Sportlich wird das perfekte Jahr fur das Deutsche Reich durch den Sieg Max Schmelings im Boxen gegen den bisher ungeschlagenen Joe Louis ausgerechnet in New York „abgerundet“. Und dem Osterreicher Sepp „Bubi“ Bradl gelingt der erste Sprung eines Menschen mit Skiern uber 100 Meter.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/1936"
}
|
c-13991
|
Ein Doppelstockwagen, veraltet Doppeldeckwagen oder Etage(n)wagen, umgangssprachlich auch Doppeldecker, Doppelstocker oder kurz Dosto genannt, ist ein Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen beziehungsweise -triebwagen mit Sitzplatzen in zwei ubereinanderliegenden Ebenen. Gegenuber einstockigen Personenwagen konnen Doppelstockwagen bei gleicher Lange mehr Reisende aufnehmen, was insbesondere auf kurzen Bahnsteigen die Kapazitat erhoht. Die baulichen Grenzen sind durch die Fahrzeugbegrenzungslinie vorgegeben.
Geschichte Erste Straßenbahnwagen und Omnibusse wurden bereits fruh zweistockig gebaut, um mehr Personen befordern zu konnen – letztere bezeichnet man als Doppeldeckerbus. Spater wurden auch doppelstockige Oberleitungsbusse gebaut, in neuerer Zeit auch doppelstockige Seilbahngondeln (wie beispielsweise bei der neuen Stanserhorn-Seilbahn).
Das Prinzip wurde von den Postkutschen ubernommen, bei denen sich oft auf dem Dach der Kutschbock und nicht selten zusatzliche Passagiersitze befanden. So wurde bereits bei den ersten, noch mit Arbeitspferden gezogenen Personenwagen auf Schienen (Pferdebahnen) das Dach zur zusatzlichen Personenbeforderung benutzt, auf einigen Wagen waren auch feste Sitze auf dem Dach montiert. Vergleiche hierzu die Geschichte der Stockton and Darlington Railway. Im Allgemeinen bezeichnet man personenbefordernde Landfahrzeuge mit offenem Oberdeck als Decksitzwagen oder bei Pferdebahnen als Imperialwagen.
Fur die Altona-Kieler Eisenbahn wurden bereits 1868 Doppelstockwagen geliefert. Die Wagen waren unten als Abteilwagen und oben als Durchgangswagen ausgefuhrt und hatten stahlerne gekropfte Langstrager. Unten fanden 50 Reisende Platz, im oberen Stock wurden 32 Platze angeboten. Im gleichen Jahr schaffte sich die Sjaellandske Jernbaneselskab in Danemark Doppelstockwagen an. 60 Passagiere konnten im unteren Wagenteil mitreisen, 40 im Oberdeck. 1873 fuhrte die Staats-Eisenbahn-Gesellschaft (StEG) in Osterreich ebenfalls Doppelstocker ein. Nur ein Jahr spater folgte die osterreichische Nordostbahn (NOB) diesem Schritt. Zwolf Etagenwagen bestellte die Niederschlesisch-Markische Eisenbahn 1873, die Wagen kamen aber erst 1876 zum Einsatz. Sie waren die ersten Fahrzeuge, die auf der Berliner Ringbahn eingesetzt wurden. Bei der franzosischen Compagnie du chemin de fer Bayonne–Anglet–Biarritz zwischen Bayonne und Biarritz wurden um 1876 doppelstockige Personenwagen benutzt, die Wagen der Lartigue-Einschienenbahn Feurs-Panissieres in Frankreich von 1895 hatten offene Sitzplatze auf dem Dach, die mit Drahtkafigen gesichert waren. Auch die franzosische Staatsbahn (ETAT) und die franzosische Ostbahn (EST) setzten ab 1879 Doppelstockwagen ein. Ab 1883 wurden Doppelstock-Dampftriebwagen popular. Zu den ersten Bahngesellschaften, von denen sie eingesetzt wurden, zahlen die Hessische Ludwigsbahn und die Koniglich Bayerische Staats-Eisenbahnen.
Deutschland = Vorortverkehr von Hamburg und Berlin =
Im 19. Jahrhundert wurden im Hamburger und Berliner Vorortverkehr Doppelstockwagen eingesetzt, beispielsweise ab 1867 auf der Altona-Blankeneser Eisenbahn oder ab 1878 auf der Gorlitzer Bahn zwischen Berlin und Grunau. Aufgrund der Entwicklung hin zu elektrischen Triebzugen wurden diese Doppelstockwagen nicht beibehalten.
= LBE-Wagen =
Die ersten modernen Eisenbahn-Doppelstockwagen wurden in Deutschland ab Mai 1936 von der Lubeck-Buchener Eisenbahn (LBE) im sogenannten Schnellverkehr auf der Strecke Hamburg–Lubeck–Travemunde Strand eingesetzt. Sie waren bereits damals als Wendezuge mit Steuerwagenabteil, automatischen Scharfenbergkupplungen sowie als Doppeleinheiten mit einem gemeinsamen Jakobsdrehgestell ausgestattet. Nach erfolgreichem Betrieb mit zunachst einer Einheit wurden sechs weitere Doppelstockwagen gleichzeitig von den Firmen WUMAG in Gorlitz und Linke-Hofmann-Lauchhammer AG in Breslau gebaut. Die mit dem Zug verwendeten Dampflokomotiven LBE Nr. 1 bis 3 waren Schnellverkehrs-Tenderlokomotiven mit Stromlinienverkleidung, die vom anderen Zugende aus vom Lokfuhrer ferngesteuert werden konnten.
Die LBE-Doppelstockwagen hatten Abteile der zweiten und dritten Klasse, wobei die Abteile der zweiten Klasse außen mit gelber Farbgebung gegenuber dem Graugrun an den ubrigen Abteilen gekennzeichnet waren. Sowohl in der zweiten als auch in der dritten Klasse waren die Sitze gepolstert; die Wagen hatten Klimaanlagen. Großeres Gepack wurde beim Einsteigen von Pagen abgenommen, im Gepackabteil verstaut und beim Verlassen des Wagens wieder ausgehandigt. Als die LBE am 1. Januar 1938 in der Deutschen Reichsbahn aufging, wurden die Doppelstockwagen mit ubernommen. Der Schnellverkehr zwischen Hamburg und Lubeck wurde dann nicht mehr im Wendezugbetrieb, sondern im normalen Zugdienst betrieben. Auch die Klimaanlagen wurden nicht weiter betrieben.
= Breitspurbahn =
Im Mai 1942 wurden Reichsbahn und Reichsverkehrsministerium von Adolf Hitler mit der Entwicklung einer Breitspurbahn beauftragt. Fur den Personenverkehr waren doppelstockige Wagen in außerst luxurioser Bauweise vorgesehen. Das Projekt scheiterte schließlich im Mai 1945 bei Kriegsende in der Planung.
= Deutsche Bundesbahn =
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Deutsche Bundesbahn die ehemaligen LBE-Doppelstockwagen wieder auf der Stammstrecke Hamburg–Lubeck im Eilzugverkehr ein. Mit Wiedereinfuhrung des Wendezugbetriebes ab Mai 1959 wurden diese LBE-Wagen wieder als Steuerwagen mit einer vorgespannten Diesellokomotive des Typs Baureihe V 200 verwendet. Nach Ausmusterung von vier Wagen liefen die restlichen vier Doppeldecker als Verstarkungswagen im Wendezugbetrieb Hamburg–Lubeck. Trotz ihrer geringen Stuckzahl und des damit verbundenen Unterhaltungsaufwands hielten sich die Wagen wegen ihres großen Platzangebotes auf der Strecke Hamburg–Lubeck bis zum September 1977 und wurden 1978 ausgemustert. Nach uber 25 Jahren fahren auf dieser Strecke seit 2006 aber inzwischen wieder moderne Doppelstockwagen.
Anfang der 1950er Jahre entwickelte die Bundesbahn sechs Prototypen fur neue Doppelstockeinzelwagen mit 22,4 und 26,4 Meter Lange und eingezogenen Endeinstiegen am Wagenende sowie einem Mitteleinstieg im unteren Bereich. Gebaut wurden drei 22,4 Meter lange Wagen mit der Gattungsbezeichnung DBC4upwe-50 (spater DAByg 548) mit Gepackabteil, DC4upwe-50 (spater DByg 546) und DCR4upwe-50 mit Speiseraum und Kuche (spater DByg 547) mit Ganzfenstern. Da sich das Buffetabteil nicht bewahrt hatte, wurde es spater ausgebaut, auch erhielten die Wagen 1955 UIC-Ubersetzfenster. Drei weitere Prototypen erhielten die spatere UIC-Standardlange von 26,4 Metern. Auch hier wurde je ein DC4umg, DBC4umg und ein DBCRumg (der ebenfalls spater das Speiseabteil verlor) gebaut. Die Wagen wurden uberwiegend in Eilzugen in Nordrhein-Westfalen, u. a. auf der Eifelbahn eingesetzt. Bei diesen sechs Prototypen ist es bei der DB geblieben. Alle Wagen waren zunachst stahlblau gestrichen, 1955 erfolgte ein Anstrich in Flaschengrun, 1967 schließlich in Chromoxidgrun. Fur den neuen Fernzug Rheingold entstanden 1962 je funf teilweise doppelstockige Speise- und Aussichtswagen. Bei den Speisewagen diente der obere Teil als Vorratsraum; in den Aussichtswagen befanden sich unter der Aussichtskanzel Post- und Gepackraume.
1989 verkehrten probeweise einzelne S-Bahnen mit niederlandischen Doppelstockwagen uber die S-Bahn-Stammstrecke Munchen. Gleichwohl die Erprobung zufriedenstellend verlief, wurde insbesondere aufgrund zu langer Fahrgastwechselzeiten im Berufsverkehr von einem S-Bahn-Einsatz abgesehen.
= Deutsche Reichsbahn =
Mehrteilige Doppelstockeinheiten In der DDR entwickelte 1952 der VEB Waggonbau Gorlitz (ehemals Waggon- und Maschinenbau AG (WUMAG)) fur die Deutsche Reichsbahn auf den LBE-Fahrzeugen aufbauende zwei- und vierteilige Doppelstockzuge. Von den 39,9 Meter langen und 76 Tonnen schweren Zweiteilern DB7, spater DBz, lieferte Gorlitz 1955 nur zwolf Einheiten aus. Sie verfugten uber 228 Sitz- und 210 Stehplatze. Die vierteiligen 73,4 Meter langen DB13, spater DBv, waren mit 152 Exemplaren im Betriebsmittelpark der DR vertreten. Sie boten insgesamt 906 Fahrgasten Platz. Zwei- und vierteilige Einheiten waren fast identisch, bei den zweiteiligen fehlten nur die Mittelwagen.
Wie bei den LBE-Wagen lagen je zwei einzelne Wagen auf einem Jakobsdrehgestell auf, die Turen befanden sich uber den Drehgestellen. Aus Achslastgrunden insbesondere beim Einsatz auf Nebenbahnen waren die Jakobsdrehgestelle im Gegensatz zu denen der LBE-Wagen dreiachsig. Der Wagenkasten war in selbsttragender Ganzstahl-Leichtbauweise ausgefuhrt. Lauftechnisch waren die Fahrzeuge fur 120 km/h ausgelegt, bremstechnisch betrug die zulassige Geschwindigkeit anfangs 100 km/h. Die Einheiten wurden mit Hildebrand-Knorr-Personenzugbremse geliefert, wegen des hohen Anteils der Reisenden an der Gesamtmasse von Anfang an mit automatischer Lastabbremsung (Hik-GP-A). Die Wagen hatten beidseitig zwei Doppelturen mit einer lichten Breite von 1,5 Metern im einstockigen Bereich uber den Drehgestellen. In den Endwagen befanden sich im einstockigen Bereich auch eine Toilette und ein Dienstabteil. Innenturen zwischen Einstiegs- und Fahrgastraumen wurden bei den zwei- und vierteiligen Einheiten nicht vorgesehen. Die Fenster im Oberstock waren geteilt, der untere, senkrechte Teil konnte mit einer Kurbel geoffnet werden. Bei den ubrigen Fenstern war das obere Drittel nach innen klappbar. Die Sitzplatzanordnung betrug 2+3 bei halbhohen Ruckenlehnen, bei der Abschaffung der dritten Wagenklasse wurden die Fahrzeuge in die zweite Klasse umgestuft. Der Ubergang zwischen den Wagen war mit Faltenbalgen geschutzt. Ein großer Teil der Lieferung hatte vom Werk aus nur Dampfheizung, die elektrische Heizung wurde spater nachgerustet. Einstiegs- und Ubergangsturen waren mit Stangenschlossern ausgerustet.
Die Vierteiler wurden auch in großen Stuckzahlen an weitere Eisenbahnen des RGW geliefert und sind zum Teil dort noch im Einsatz, so etwa bei der polnischen PKP und der rumanischen CFR, die einige Einheiten aufwendig modernisierte (klimatisiert und behindertengerecht).
Ab 1957 wurden funfteilige Doppelstockgliederzuge (DGB[e]) geliefert, bei denen die End- und Mittelwagen durch kurze Zwischenwagen (DGZ), die sich auf den Drehgestellen abstutzten, verbunden waren. Die Zwischenwagen enthielten dabei die Einstiegsraume und wurden durch Lenkerstangen zwischen den benachbarten Wagen sowohl vertikal als auch horizontal winkelhalbierend gefuhrt. Zwischen den Einstiegs- und den Fahrgastraumen gab es im Unterstock Schiebe- und im Oberstock zweiflugelige Pendelturen. Die Toiletten befanden sich unter den Treppen zum Oberstock, damit fielen sie etwas beengt aus. Insgesamt wurden 33 Einheiten geliefert. Diese Fernverkehrsvariante mit hochliegenden Ubergangen wurde um funf doppelstockige Buffet-DGR und passende Gepackwagen DDg[e] erganzt. Diese Gepackwagen waren jedoch trotz ihrer Dachform und der hochliegenden Ubergange nur einstockig. Die Wagenkasten der Mittel- und Endwagen waren selbsttragende Konstruktionen aus dunnwandigen Abkantprofilen. Die Rohre im Fahrgastraum, an denen die Sitzgestelle und Gepackraufen befestigt waren, gehorten als Aussteifung zur tragenden Struktur. Im Oberstock gab es eine markante Stufe zwischen Mittelgang und Abteilen. Problematisch war trotz Leichtbau die Achsfahrmasse bei hoher Besetzung. Erreichte diese 200 Prozent, uberschritt die Achsfahrmasse der Zwischenwagen auch die auf Hauptbahnen zulassigen Werte. Die Doppelstockgliederzuge hatten ebenfalls die Hildebrand-Knorr-Bremse Hik-GP-A.
1961 erfolgte wiederum eine Lieferung vierteiliger Doppelstockzuge, die außerlich der Bauart von 1952 bis 1955 glichen, deren Wagenkasten aber nach dem Leichtbauprinzip der Doppelstockgliederzuge konstruiert waren. Damit sank die Fahrzeugmasse der vierteiligen Einheit von 145 auf 131 Tonnen. Auch die Sitzbauart und -teilung (2+2 mit hohen Lehnen) entsprach der der Gliederzuge, der Fußboden war jedoch auch im Oberstock eben. Eine veranderte Raumaufteilung an den Enden der Einheit ermoglichte die Unterbringung zweier Toiletten und eines kleinen Dienstabteils. Ab der Bauart 1961 wurden alle Doppelstockfahrzeuge mit Knorr-Bremse mit Einheitswirkung (KE-GP-A) geliefert. Damit betrug die zulassige Geschwindigkeit 115 km/h, nach einigen Jahren wurde sie auf 120 km/h heraufgesetzt. Die Geschwindigkeitserhohung betraf auch die Fahrzeuge aus den Lieferjahren 1952 bis 1955.
Ab 1970 begann der Bau 31 funfteiliger Doppelstockgliederzuge (DGBgq[e] mit Wendezugsteuerabteil, DGBgu[e] nur mit Steuerleitung) fur den Einsatz im Ballungsraum-Nahverkehr, wobei sich der Wagenubergang am Nicht-Fuhrerstandsende auf der normalen Fußbodenhohe befand. Um Achslastuberschreitungen zu vermeiden und die Fahrzeuge freizugig einsetzbar zu machen, wurden die End- und Mittelwagen um je ein Abteil verkurzt. Erstmals lagen die Fenster im Oberstock vollstandig in der Dachschrage, sie konnten nach oben geoffnet werden. Die Endwagen waren fur den Einbau der automatischen Mittelpufferkupplung vorbereitet. Die Treppen zum Unterstock wurden nur noch einseitig vorgesehen, die Toilettenraume befanden sich an Stelle der entfallenen Treppen. Die Turen zwischen Einstiegs- und Fahrgastraumen entsprachen denen der Bauart 1957. Diese Einheiten wurden im Chemiearbeiterverkehr im Großraum Halle/Saale, im Schnellverkehr Leipzig–Halle, im Sputnik-Verkehr auf dem Berliner Außenring und bei den S-Bahnen von Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg eingesetzt. Sie liefen auf Drehgestellen der Bauart Gorlitz VI-Do-K. Die Einstiegsturen wurden mit Kiekert-Schlossern verriegelt, wodurch die Turgriffe asymmetrisch ausfielen. Erstmals wurde eine Turschließeinrichtung eingebaut, jedoch in der Regel nicht genutzt.
Die letzten vierteiligen Einheiten mit Jakobsdrehgestellen wurden 1971 geliefert. Diese erhielten ebenfalls ein Wendezugsteuerabteil, der Einstiegsraum dahinter war als Dienstabteil durch Turen vom Fahrgastraum abgetrennt. In der Folge wurden auch altere Einheiten mit einem Steuerabteil ausgerustet, ebenso wurden verschlissene Turen mit Stangenschlossern durch solche in Sandwichbauweise mit Kiekert-Schlossern ersetzt.
Ausgemustert wurden die Doppelstock- und Doppelstockgliederzuge in Deutschland bis 1995. Die Doppelstockgliederzuge von 1957 schieden wegen ihrer abweichenden Bauart mit den hochliegenden Ubergangen schon Anfang der 1980er Jahre aus, nachdem sie schon zehn Jahre zuvor aus dem hochwertigen Dienst zuruckgezogen worden waren. Weil man nicht mehr aufarbeitungswurdige Mittelwagen schon vorher ausmusterte, liefen in den letzten Jahren auch drei- und vierteilige Doppelstock- und Doppelstockgliederzuge.
Doppelstock-Einzelwagen 1974 begann der Bau von Doppelstock-Einzelwagen (zwei Musterwagen waren schon 1972 gebaut worden). Konstruktiv bauten diese vom Hersteller Doppelstock-Standard-Sitzwagen genannten Fahrzeuge auf den Doppelstockgliederzugen von 1970 auf. Sie hatten aber den Einstieg im Unter- statt wie fruher im hoher gelegenen Zwischenstock, was das Benutzen mit Traglasten wesentlich erleichterte und bei einer Bahnsteighohe von 550 Millimetern einen stufenlosen Einstieg gewahrleistete. Durch den Einbau außenlaufender Schiebeturen konnte man auf Turtaschen verzichten und die Kastenkonstruktion vereinfachen. Der Ubergang befindet sich auch hier auf normaler Wagenbodenhohe wie bei einstockigen Wagen, was das freizugige Kuppeln mit anderen Durchgangswagen ermoglichte. Diese Wagen wurden zum Vorlaufer der heutigen Doppelstockwagen mit Niederflureinstieg. Von dieser Bauart lieferte Gorlitz 672 Wagen, darunter 100 Steuerwagen. Ab 1986 wurden die Neubaufahrzeuge mit Scheibenbremsen ausgeliefert. Die Doppelstockeinzelwagen sind auch heute noch in mehrfach umgebauter Form in den S-Bahn-Netzen und Regionalbahnlinien vorwiegend in den neuen Bundeslandern im Einsatz.
Eingesetzt wurden die Doppelstockwagen vor allem im S-Bahn- und Vorortverkehr. Im Volksmund wurden sie Wendeei genannt. Aufgrund der ab 1979 eingefuhrten beige-braunen Farbgebung der Doppelstock-Einzelwagen (davor waren die Wagen dunkelgrun lackiert) war auch die Bezeichnung Senftopf ublich. In diesen Farben wurden bereits die Baumuster geliefert, sie hatten allerdings blau lackierte Turen. Diese sollten den Reisenden das Auffinden der Einstiege erleichtern. Die Wagen fur den Berliner Vorortverkehr wurden im damals aktuellen »Hauptstadtanstrich« weinrot-elfenbein geliefert. Nach umfangreichen Modernisierungen ab 1992 sind die Wagen weiterhin im Einsatz. Sie erhielten zusatzliche Fenster, im geschlossenen Zustand außenwandbundige Schwenkschiebeturen und eine vollig neue Inneneinrichtung. Die Steuerwagen wurden in gleicher Weise umgebaut, auf der Wagenseite hinter dem Fuhrerstand wurden Erste-Klasse-Abteile eingebaut. Ab 1997 erhielten etliche Steuerwagen moderne GFK-Kopfe.
= Deutsche Bahn =
Ab Mitte der 1990er Jahre wurden die von der Deutschen Waggonbau (ehemalige Wumag bzw. Kombinat Schienenfahrzeugbau, inzwischen von Bombardier Transportation ubernommen) neu entwickelten Doppelstockwagen zunehmend in ganz Deutschland eingesetzt. Diese werden als Wendezuge typischerweise mit Elektrolokomotiven der Baureihen 111, 112, 114, 143, 146, 147, 182 oder 193 aber auch mit Diesellokomotiven der Baureihen 218 oder 245 bespannt und haben auf vielen Strecken die umgebauten Silberlinge und Halberstadter Mitteleinstiegswagen, teilweise auch die DR-Doppelstockwagen abgelost.
1992 baute die Waggon- und Maschinenbau in Gorlitz 100 neue Steuerwagen DABgbuzf, die spater die Bauartnummer 760 erhielten. Wegen des zuruckgegangenen Verkehrsaufkommens nach der Wende in der DDR waren mehr Mittelwagen vorhanden als benotigt wurden. Um damit mehr Wendezuge bilden zu konnen, wurden neue Doppelstocksteuerwagen gebaut, zumal durch den zuruckgehenden Guterverkehr auch vermehrt wendezugtaugliche elektrische Lokomotiven der Baureihe 143 frei wurden. Weil auch die Regionalzuge der DR mit erster Klasse fahren sollten, wurde ein gemischtklassiges Fahrzeug verwirklicht. Die Fahrzeugbegrenzungslinie der Wagen wurde im Vergleich mit den DR-Vorgangerbauarten erweitert, um mehr Schulterfreiheit im Oberstock zu gewinnen. Die Wagen erhielten im Oberstock erstmals gewolbte Fenster. Dafur war eine Ausnahmegenehmigung des Bundesverkehrsministers erforderlich, denn der Wagenumriss ubersteigt die zulassige UIC-Fahrzeugbegrenzungslinie. Der Fuhrerstand entspricht dem der Baureihe 143, ist allerdings in hellen Farbtonen gehalten. Erstmals wurde neben der konventionellen Wendezugsteuerung mit 34-poliger Steuerleitung die zeitmultiplexe Wendezugsteuerung eingebaut, die nicht nur die Funktion der Auf-Ab-Steuerung, sondern die volle der Hauptsteuerung mit Geschwindigkeitsvorwahl bietet.
Diese 26,8 Meter langen Fahrzeuge wurden, entsprechend den damaligen DB-Produktfarben des Nahverkehrs, Mintturkis/Pastellturkis/Lichtgrau abgeliefert. Damit passten sie zu den modernisierten DR-Einzelwagen, die ebenfalls den damals aktuellen DB-Nahverkehrslack erhalten hatten. Die im Unterstock gelegenen Einstiege sind an gleicher Position wie bei den bisherigen Einzelwagen, es wurden aber erstmals im geschlossenen Zustand außenwandbundige Schwenkschiebeturen eingebaut. 96 Sitzplatze gibt es in der zweiten Klasse, 28 in der ersten, die sich am Fuhrerstandsende uber beide Etagen verteilt befindet. Die Wagen sind mit der eingebauten Knorr-Bremse mit Einheitswirkung und automatischer Lastabbremsung KE-PR-A fur eine Hochstgeschwindigkeit von 140 km/h zugelassen. Eine Magnetschienenbremse ist nachrustbar, sie wurde jedoch bisher nicht eingebaut.
Die nach langerer Zeit ersten Doppelstockwagen der damaligen Bundesbahn wurden Anfang 1992 bestellt. Die 75 Fahrzeuge waren fur den Raum Munchen bestimmt. Die Bestellung umfasste nur Zweite-Klasse-Mittelwagen (55 Stuck) und gemischtklassige Mittelwagen (20 Stuck). Beide Bauarten hatten die Turen uber den Drehgestellen.
Diese Wagen waren ein Lizenzbau der Wagen von Schindler fur die S-Bahn Zurich, welche auf einem Patent der franzosischen CIMT (Compagnie industrielle de materiel de transport) und einer Basislizenz der Talbot Doppelstockwagen fur die Niederlandische Staatsbahn beruhen. Die elektrische Ausrustung stammte von ABB Schweiz, die Drehgestelle von SIG. Ursprunglich sollten die Wagen bei Schindler gebaut werden, aber der Auftrag musste nach der Wende aus politischen Grunden in einen Lizenzvertrag fur Gorlitz umgewandelt werden. Unmittelbar danach wurden weitere Doppelstockwagen beschafft, dazu auch Steuerwagen. 1996 wurden die ersten Doppelstockwagen mit Klimaanlage bei der Deutschen Bahn AG in Dienst gestellt, seitdem werden alle Doppelstockwagen mit Klimaanlage beschafft. Einige unklimatisierte Wagen wurden in der vergangenen Zeit modernisiert und erhielten dabei ebenfalls eine Klimaanlage. Wagen, die aus dem DR-Bestand stammen, wurden bislang nicht mit einer Klimaanlage ausgerustet.
Seit 1997/98 werden oft Drehgestelle mit Magnetschienenbremsen eingebaut, sodass damit versehene Wagen fur den schnellen Regional-Express-Verkehr mit 160 km/h zugelassen sind. Zuerst wurden planmaßig mit 160 km/h Hochstgeschwindigkeit verkehrende Regionalexpresslinien in Berlin-Brandenburg eingefuhrt, sind inzwischen aber auch in vielen anderen Teilen Deutschlands anzutreffen. 2008 wurden fur Hessen nochmals Wagen mit nur 140 km/h zulassiger Hochstgeschwindigkeit in Dienst gestellt.
Die 1997 eingefuhrte Kopfform haben bisher alle weiteren Steuerwagen aus Gorlitz erhalten. Die meisten bis 1990 beschafften DR-Steuerwagen wurden 1997/98 ebenfalls auf diese Kopfform umgebaut. Die Doppelstockwagen wurden in den vergangenen Jahren stetig weiterentwickelt, sodass es zahlreiche Unterschiede bei den einzelnen Bauserien gibt. Einzelne Baulose werden oft speziell fur bestimmte Einsatzgebiete beschafft, teilweise haben diese Wagen einige Besonderheiten in der Ausstattung – so sind manche Wagen mit Imbissautomat, LED-Beleuchtung oder Sitzplatzreservierung ausgestattet.
Seit Ende 2015 setzt DB Fernverkehr auch neue Doppelstockzuge im IC-Verkehr ein. Diese sollten ursprunglich lediglich bis zur Auslieferung der ICE-4-Triebzuge den alten Wagenpark erganzen und anschließend an DB Regio abgegeben werden. Auch nach Auslieferung der ICE 4 sollen die Wagen im Bestand bleiben und teils als Reserve, teils als Wagen in Planleistungen eingesetzt werden. Dazu wurden 27 neue Zuge bei Bombardier Transportation bestellt.
Einstiege Eine weitere Besonderheit je nach Einsatzregion sind die Einstiege. Man unterscheidet hierbei zwischen Wagen mit Tiefeinstieg (Niederflureinstieg) und Hocheinstieg.
Wagen mit Tiefeinstieg haben die Einstiege im Unterstock, der an 550 Millimeter hohen Bahnsteigen den Vorteil des stufenlosen Zuganges bietet. Ein oder zwei gegebenenfalls im Unterstock angeordnete Mehrzweckraume lassen sich so fur Reisende mit Rollstuhlen, Kinderwagen, Fahrradern oder großeren Traglasten leicht erreichen. In den Mehrzweckbereichen gibt es nur Klappsitze an den Seitenwanden, auf Hinweisschildern wird gebeten, diese Sitze fur Reisende mit oben genanntem Gepack freizuhalten. Nachteil dieser Variante sind die schmaler ausgefuhrten Turen und die langen Wege zum Ober- und Zwischenstock, sowie die Behinderung bei Ein- und Ausstieg, wenn die Mehrzweckraume bis in den Turbereich hinein belegt sind. Bei stark frequentierten Stationen kann dies zu einer Verlangerung der Fahrgastwechselzeit fuhren.
Bei Wagen mit Hocheinstieg liegen die Turen uber den Drehgestellen im Zwischenstock. Die Turen sind wesentlich breiter ausgefuhrt, und die Fahrgastmengen verteilen sich auf die gleich großen Ober- und Unterdecks gleichmaßiger auf beide Ebenen. Der Fahrgastwechsel ist daher in kurzerer Zeit moglich. Nachteilig sind die fehlenden Mehrzweckabteile und eine stets vorhandene Stufe beim Einstieg. Doppelstockwagen mit Hocheinstieg sind deshalb nicht behindertengerecht.
Steuerwagen gibt es ausschließlich mit Tiefeinstieg, sodass auch in Zugen mit Hocheinstiegsmittelwagen Mehrzweckabteile und eine behindertengerechte Ausstattung zur Verfugung stehen. Fur den stufenfreien Zugang auch bei 760 Millimetern hohen Bahnsteigen befinden sich in den Steuerwagen ausfahrbare Rampen fur Rollstuhlfahrer. Eine Sonderstellung nimmt hierbei die Bauart 761.2 ein, welche trotz Tiefeinstieg eine Einstiegshohe von 760 Millimetern aufweist. Die Rollstuhlrampe ist fur den Halt an niedrigeren Bahnsteigen dennoch vorhanden, ebenso eine zusatzliche Klapptrittstufe fur Bahnsteige in geringer Hohe.
In den neuen Bundeslandern werden vornehmlich Wagen mit Tiefeinstieg eingesetzt, die an den dort ublichen Bahnsteigen mit 550 Millimetern Hohe uber Schienenoberkante einen stufenlosen Einstieg ermoglichen. Der Vorteil dieser Ausfuhrung ist, dass der Fahrgastwechsel mit nur einer Stufe auch an Bahnsteigen mit einer Hohe von 380 und 760 Millimetern moglich ist.
In den alten Bundeslandern werden meist Mittelwagen mit Hocheinstieg eingesetzt, allerdings gibt es auch hier einzelne Regionen, in denen bevorzugt Tiefeinstiegwagen eingesetzt werden (Rheinland-Pfalz sowie in Teilen Baden-Wurttembergs und Bayerns). Zur Erhohung der Zahl an Mehrzweckabteilen insbesondere fur Kinderwagen und Fahrrader gibt es auch Regionen, die beide Mittelwagenbauarten gemischt einsetzen, z. B. in Niedersachsen beim Metronom. Bei beiden Einstiegsvarianten zeigen sich in Stoßzeiten Schwachen in der Fahrgastwechselkapazitat.
Wagenklassen Der Bereich der ersten Wagenklasse ist je nach Einsatzregion und Bauserie verschieden aufgeteilt. Neben reinen Zweite-Klasse-Wagen gibt es auch reine Erste-Klasse-Wagen sowie gemischtklassige Wagen, bei denen liegt die erste Klasse entweder in einer Wagenhalfte oder im Oberstock. Bei den IC2-Einheiten lauft der Erste-Klasse-Wagen DApza in der Regel unmittelbar hinter der Lokomotive.
In den Steuerwagen der Bauart DABgbuzf 760 und in den umgebauten aus dem DR-Bestand liegt die erste Klasse am Fuhrerstandsende im Ober-, Zwischen und Unterstock, in den nach 1994 beschafften Steuerwagen mit erster Klasse dagegen ausschließlich im Oberstock. In Berlin-Brandenburg wird die erste Klasse als Wolke 7 bezeichnet. Vor 1992 gab es in Doppelstockwagen bei der Deutschen Reichsbahn keine erste Klasse.
Einsatzgebiete Eingesetzt werden Doppelstockwagen bevorzugt auf Regional-Express-Linien mit hoher Fahrgastdichte und mittleren bis langen Halteabstanden. Doppelstockwagen im S-Bahn-Verkehr werden nur bei der S-Bahn Dresden eingesetzt. Allerdings widerspricht dieser Einsatz strenggenommen der Definition der S-Bahn, da nur sehr wenige, relativ schmale Turen zur Verfugung stehen und das hohe Gewicht einer zugigen Beschleunigung hinderlich ist. Der Einsatz von Doppelstockwagen auf S-Bahn-Linien hat eher traditionelle Grunde, da in der DDR Doppelstockwagen vorwiegend zur Bewaltigung des sehr starken Berufsverkehrs eingesetzt wurden. Im Nahverkehr waren die Platzverhaltnisse der Doppelstockwagen ausreichend. Seit der Abschaffung des Interregio kompensieren Regional-Express-Zuge jedoch auch den Bedarf ehemaliger Fernverkehrslinien. Dazu fehlen den Doppelstockwagen Ablagemoglichkeiten fur Gepack. Rucksacke und Reisetaschen mussen auf Sitzplatzen oder im Gang abgestellt werden, da die Ablageflachen oberhalb der Sitzplatze bauartbedingt sehr klein ausfallen. Die Eignung der gegenwartigen Doppelstockwagen fur Regional-Express-Linien ist daher umstritten.
= Doppelstocktriebzuge =
Sonderentwicklungen Die Deutsche Bahn beschaffte zwei Baureihen von Doppelstock-Triebwagen. Fur einen Einsatz auf Nahverkehrsstrecken wurden sechs dieselgetriebene der Baureihe 670 gebaut. Diese war von 1994 bis 2003 in Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Thuringen im Einsatz. Da sie jedoch sehr storanfallig waren, wurden sie nach nur kurzer Einsatzzeit abgestellt und an den Hersteller zuruckgegeben. Dieser verkaufte die Wagen an die Dessau-Worlitzer-Eisenbahn und an die Prignitzer Eisenbahn GmbH.
Die elektrische Baureihe 445 (Meridian), ahnlich dem RABe 514 der SBB, wurde von 2000 bis 2002 als Prototyp erprobt. Aufgrund mehrerer Probleme wurde dieses Projekt in Deutschland zunachst nicht weiter verfolgt. Der Einzelganger-Prototyp der Baureihe 445 wurde inzwischen zerlegt.
Im Jahr 2006 entstand durch Umbau ein doppelstockiger Fahrradwagen, der die Gattungsbezeichnung DBuza748 erhielt. Der Wagen bietet Platz fur 24 Fahrrader im Unter- und 12 im Zwischengeschoss und hat seit dem Umbau eine 2+1-Bestuhlung. Außerlich ist der Wagen an der Aufschrift FahrradExpress erkennbar. Er wurde zunachst auf der Strecke Elsterwerda–Zussow–Stralsund eingesetzt und lauft seit 2008 im Warnemunde-Express.
Fur den internationalen Einsatz in Nachtzugen wurde ab 1995 fur die City Night Line CNL AG ein doppelstockiger Schlafwagen entwickelt. Bei diesem sind zwischen den Drehgestellen die Schlafabteile doppelstockig ubereinander angeordnet, welche aber von einem normal-hohen Seitengang uber Treppen zuganglich sind. Bei einigen dieser Wagen besitzen die Abteile im Oberstock sogar eine eigene Dusche. Die DB ließ danach ahnliche Wagen fur sich selber bauen.
Bombardier Twindexx (Dosto 2010) Anfang 2009 haben Bombardier Transportation und die Deutsche Bahn den Rahmenvertrag zur Lieferung von 800 Doppelstockwagen vom Typ Bombardier Twindexx Vario (Dosto 2010), mit einem Gesamtvolumen von bis zu 1,5 Milliarden Euro unterzeichnet. Dabei handelt es sich um den bisher großten Fahrzeug-Rahmenvertrag, den die DB an einen einzelnen Lieferanten vergeben hat. Erstmals sind fur die Doppelstockwagen angetriebene Endwagen verfugbar. Die seit Mitte 2015 ausgelieferten Triebwagen sind am Fuhrerstandsende mit einer Scharfenbergkupplung ausgerustet, die eine Flugelung ermoglicht.
Stadler KISS Die Ostdeutsche Eisenbahn setzte seit Anfang 2013 auf den Regionalexpresslinien RE 2 und RE 4 im Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg Doppelstocktriebzuge vom Typ Stadler KISS ein. Seit Dezember 2022 ubernahm die Deutsche Bahn diese Leistungen, die bisherigen Fahrzeuge werden seither auf anderen Strecken in Brandenburg eingesetzt. Erstmals wurden damit in Deutschland (von der nur kurzzeitig eingesetzten Baureihe 670 abgesehen) auch Doppelstockwagen im Regelbetrieb eingesetzt, die nicht in Gorlitz gebaut wurden. Mit Einheiten des gleichen Typs bedient die Luxemburgische Bahn CFL seit Dezember 2014 den Abschnitt Luxemburg – Koblenz der Moselstrecke. Hierbei werden die Doppelstocktriebzuge aus Luxemburg in Trier Hauptbahnhof mit einstockigen Flirt-3-Triebwagen des Suwex aus Mannheim vereinigt.
Ein Zugpaar wird als Intercity weiter nach Dusseldorf durchgebunden.
Stadler KISS werden seit 2015 auch bei der Westfalenbahn im Mittelland-Netz (Braunschweig – Hannover (– Rheine/Bielefeld)) eingesetzt. Die Deutsche Bahn plant ab 2022 einen Einsatz zwischen Hamburg und Lubeck.
In der Schweiz verkehren Einheiten dieses Fahrzeugtyps bereits seit 2008, die ersten wurden als RABe 511 fur die S-Bahn Zurich geliefert.
= Triebzuge mit ein- und doppelstockigen Wagen =
Seit der Vorstellung des Siemens Desiro HC werden gemischte Triebzuge aus doppelstockigen und einstockigen Wagen auch in Deutschland popularer.
Die Fahrzeuge sollen bei einem erhohten Platzangebot die Vorteile beider Konzepte vereinen. Je nach Variante und Bahnsteighohe ist der Einstieg in die einstockigen- und/oder doppelstockigen Wagen barrierefrei. Ebenso ist die Platzierung des barrierefreien WCs und der Rollstuhlrampe variantenabhangig.
Siemens Desiro HC Bei den Desiro HC des Herstellers Siemens Mobility handelt es sich um elektrische Triebzuge bestehend aus zwei angetriebenen, einstockigen Endwagen und bis zu vier eingereihten, nicht barrierefreien Doppelstockwagen. Diese Wagen sind auch der Hauptunterschied zu den anderen Siemens Desiro, die komplett einstockig sind. »HC« steht hierbei fur High Capacity und richtet sich einer hoheren Kapazitat auf stark nachgefragten Strecken aus. Außerdem machen die Zuge durch ihre breiten Turen, einigen Innovationen bei Sicherheitssystemen sowie Barrierefreiheit auf sich aufmerksam. Die Hochstgeschwindigkeit der Zuge betragt 160 bzw. 190 km/h.
Die ersten Einheiten werden seit Dezember 2018 fur den Vorlaufbetrieb des Rhein-Ruhr-Expresses eingesetzt. Sie wurden seither fur zahlreiche weitere Netze in Deutschland und im Ausland bestellt.
Zu den Kunden zahlt insbesondere die »Ostdeutsche Eisenbahngesellschaft«, welche diesen Fahrzeugtyp seit Dezember 2022 im neuen Netz »Elbe-Spree« einsetzt. Insbesondere auf der Linie RE 1 (Magdeburg – Brandenburg – Berlin – Frankfurt Oder – Cottbus – Eisenhuttenstadt) und (Brandenburg – Berlin – Frankfurt Oder) verkehrt dieser Fahrzeugtyp seit Dezember 2022.
Alstom Coradia Max Triebzuge der Bauart Alstom Coradia Max (bis Ende 2023 Alstom Coradia Stream HC) wurden erstmals 2018 von der luxemburgischen CFL bestellt. Die CFL orderte insgesamt 34 Einheiten fur 160 km/h in zwei Konfigurationen mit 80 m bzw. 160 m Lange. 2021 folgte eine Bestellung von der Landesnahverkehrsgesellschaft Niedersachsen (LNVG) fur das Expresskreuz Bremen/Niedersachsen. Im Gegensatz zu den Desiro HC sind hier die Endwagen doppelstockig ausgefuhrt, wahrend die Mittelwagen einstockig sind. Erstmals wird fur diesen Auftrag ein neuer doppelstockiger Triebzug fur den deutschen Markt fur das Lichtraumprofil DE3 ausgelegt.
Weitere Auftrage erhielt Alstom fur verschiedene deutsche Netze, unter anderem fur die Kinzigtalbahn (Frankfurt–Fulda) und das Netz „Main-Weser“ (Frankfurt–Kassel) im Rhein-Main-Gebiet und RE-Linien in Mecklenburg-Vorpommern. Diese Zuge sind jeweils 160 km/h schnell und haben drei bis sechs Wagen. Fur den schnellen Regionalverkehr beispielsweise zwischen Hamburg und Kiel beziehungsweise Flensburg und weiter nach Danemark beschaffte der Nahverkehrsverbund Schleswig-Holstein (NAH.SH) vierteilige Coradia Max. Den bislang großten Auftrag vergab die Landesanstalt Schienenfahrzeuge Baden-Wurttemberg (SFBW) 2022: 130 vierteilige Zuge wurden fur RE- und MEX-Linien im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof bestellt. Fur den Betrieb auf der Schnellfahrstrecke zwischen Stuttgart und Ulm betragt die Hochstgeschwindigkeit 200 km/h.
= Intercity 2 =
Um alte Intercity-Wagen modernisieren zu konnen und die Fahrzeugreserve des Fernverkehrs zu erhohen, sollen bei DB Fernverkehr 135 Doppelstockwagen des Typs Bombardier Twindexx Vario im Intercity-Verkehr mit einer Hochstgeschwindigkeit von 160 km/h eingesetzt werden. Die aus jeweils einer Lokomotive der Baureihe 146.5, vier Mittelwagen und einem Steuerwagen gebildeten 27 Zuge sollten uber je 469 Sitzplatze verfugen, davon 70 in der ersten Klasse. Der Wert des an Bombardier Transportation vergebenen Auftrags wird mit 360 Millionen Euro beziffert.
Die (ohne Lokomotive) 134,50 Meter langen Zuge werden aus funf Wagen gebildet: Neben einem Steuerwagen („Servicewagen“, Bauart DBpbzfa 668.2) sind drei Mittelwagen zweiter Klasse (DBpza 682.2) und ein Mittelwagen erster Klasse (DApza 687.2) eingereiht. Insgesamt verfugt jeder Zug uber 468 Sitzplatze, davon 70 in der ersten Klasse sowie sechs Klappsitze, sowie uber 16 Fahrradstellplatze. Die Deutsche Bahn strebte zunachst eine spatere Zulassung fur eine Hochstgeschwindigkeit von 185 km/h an. Das gastronomische Angebot soll zunachst auf einen einfachen Am-Platz-Service beschrankt bleiben. Die Fahrzeuge werden seit 2015 als IC2 bezeichnet.
Im Jahr 2011 war geplant, 2013 die ersten Doppelstockwagen auf IC-Linien einzusetzen. Dieser Termin wurde Anfang 2013 auf Mitte 2014 verschoben, jedoch ebenfalls nicht eingehalten. Im Fruhjahr 2013 war der Einsatz ab Herbst 2014 geplant. Nach dem Stand von Ende 2013 sollten die Zuge nicht vor Mitte 2015 zur Verfugung stehen. Laut einem Pressebericht von Anfang 2014 wurde der Einfuhrungstermin auf Dezember 2015 verschoben. Bombardier begrundete die Lieferverzogerungen mit der Zulassung durch das Eisenbahn-Bundesamt, in deren Rahmen mehrfach zusatzliche Nachweise gefordert worden seien. Dieser Termin wurde mit dem erstmaligen Einsatz auf Relationen Norddeich Mole – Hannover – Leipzig eingehalten. Anfanglich gab es auf bestimmten Streckenabschnitten mit neu geschliffenen Schienen Beschwerden wegen des Wankens der Wagen. Weiterhin kam es in den ersten Tagen zu Ausfallen vereinzelter Toilettensysteme und Wagenturen.
Auf der InnoTrans 2014 wurden die ersten Wagen der Offentlichkeit vorgestellt. Erste Prototypen wurden im Herbst 2014 in Berlin und Leipzig prasentiert. Es gab vielfach Kritik, wie z. B. ein zu geringes Angebot an Stellflache fur Reisegepack, geringerer Sitzkomfort oder das Fehlen eines Bistro- oder Speisewagens.
Die Zuge sollten ab Februar 2016[veraltet] auf der Intercity-Linie von Leipzig uber Bielefeld und Hamm nach Koln und ab Marz 2016[veraltet] auf der Intercity-Linie 51 von Jena uber Kassel und Paderborn nach Koln bzw. Aachen eingesetzt werden. Weitere Einsatze sind im bis 2030 vorgesehenen Erganzungsnetz vorgesehen.
Im September 2013 wurde die Bestellung einer zweiten Charge von 17 Einheiten fur insgesamt 293 Millionen Euro bestatigt. Das Einsatzgebiet dieser Zuge sollte ab 2017 hauptsachlich in Sudwestdeutschland liegen.
Die Zuge verfugen unter anderem uber Kopfpolster, Fußstutzen, LTE-fahige Mobilfunkverstarker und Steckdosen. Im Oberdeck ist ein Kinderabteil eingerichtet, im Unterdeck Stauraum fur Gepack, in den Einstiegsbereichen Fahrradabstellmoglichkeiten. Die ehemalige Lufthansa-Tochter LSG Sky Chefs bietet einen Am-Platz-Service in beiden Klassen. Laut DB-Angaben zur Einfuhrung sei die Nachrustung eines Internetzugangs per WLAN und eines Bordrestaurants wahrscheinlich. Der Einstieg in den Steuerwagen ist bei einer Bahnsteighohe von 550 mm barrierefrei uber eine Spaltuberbruckung moglich, fur Hohen zwischen 380 und 760 mm ist eine Rampe vorgesehen.
Im Marz 2015 sprach die Deutsche Bahn von 120 neuen Doppelstock-Intercity-Zugen, die bis 2030 beschafft werden sollen. Die Zuge sollen uber Bordtechnik fur Telefon- und Internetnutzung verfugen. 17 neue Zuge, mit Lokomotiven der Baureihe 147.5 (TRAXXP160 AC3) sollen ab Dezember 2017[veraltet] zwischen Stuttgart und Zurich sowie zwischen Nurnberg und Karlsruhe zum Einsatz kommen. Ab Dezember 2019[veraltet] ist der Einsatz zwischen Rostock und Dresden (uber Berlin) sowie zwischen Munster, Siegen und Frankfurt am Main vorgesehen. Im Dezember 2022[veraltet] sollen die Linien zwischen Cottbus und Magdeburg (teilweise weiter nach Norddeich), Schwerin und Magdeburg (teilweise weiter nach Leipzig) sowie von (teilweise Berlin) Dresden uber Hof und Regensburg nach Munchen folgen, spatestens im Dezember 2026 die Linie von (teilweise Hamburg) Stralsund nach Berlin, spatestens im Dezember 2028 die Linie von Bamberg uber Wurzburg und Stuttgart nach Tubingen, spatestens im Dezember 2029 die Linie von Saarbrucken uber Stuttgart nach Lindau, spatestens im Dezember 2030 die Linien Leipzig uber Jena nach Nurnberg (teilweise weiter nach Karlsruhe) sowie von (teilweise Norddeich und Koln) Koblenz nach Trier sowie spatestens im Dezember 2032 die Linie von Chemnitz uber Gera und Paderborn nach Dusseldorf.
Die Zulassung durch das Eisenbahn-Bundesamt erfolgte im September 2015, anschließend begann die Ubergabe der Fahrzeuge an die Deutsche Bahn und die Personalschulung. Bis voraussichtlich 2017[veraltet] wird eine Zulassung von weiteren Lokomotivbaureihen angestrebt.
Die Kilometerkosten der Fahrzeuge betragen laut Angaben der Deutschen Bahn 18 Euro je Kilometer, bei alten Reisezugen wurden sie 25 Euro je Kilometer betragen.
Osterreich Die ersten Doppelstockwagen in Osterreich wurden 1873 bis 1883 von der Staats-Eisenbahn-Gesellschaft beschafft. In die untere Etage konnte uber separate Abteilturen eingestiegen werden, die obere Etage war als Großraum mit Zugang uber Treppen von den Enden her ausgefuhrt. Ubergange zwischen den Wagen waren nicht vorhanden. In einem zweiachsigen Wagen konnten so bis zu 90 Sitzplatze dritter Klasse oder 73 Sitzplatze im gemischtklassigen Wagen angeboten werden. Einzelne Wagen gingen 1909 noch an die k.k. osterreichische Staatsbahnen, danach wurden jedoch zunachst keine weiteren Doppelstockwagen beschafft.
Die Graz-Koflacher Eisenbahn (GKB) war die erste osterreichische Bahngesellschaft, die auf moderne Doppelstockwagen setzte. Im Jahr 1993 wurden von Simmering-Graz-Pauker 15 Fahrzeuge geliefert, davon zehn der zweiten Klasse und funf gleichartige Steuerwagen. Diese Wagen wurden ebenso wie die DB-Wagen nach Talbot-Patenten gebaut. Die GKB-Wagen haben Einstiege mit doppelt breiten Schwenkschiebeturen uber den Drehgestellen, die Steuerwagen sind mit einem Dieselaggregat zur Energieversorgung des Zuges ausgerustet, da die Diesellokomotiven der GKB nicht mit einer Zugsammelschiene ausgestattet sind.
1997 wurden von den Osterreichischen Bundesbahnen (OBB) 120 Doppelstockwagen fur den Einsatz auf der Sudbahn und auf der Franz-Josefs-Bahn beschafft. Da die Lander Niederosterreich und Wien finanzielle Hilfe leisteten, wurden die Mehrheit der Fahrzeuge mit einem Wiesel-ahnlichen Symbol verziert, eine Garnitur wurde seitlich mit Wiener Szene beschriftet. Mit dieser Maßnahme konnte kurzfristig eine Erhohung der Kapazitat und der Attraktivitat des offentlichen Nahverkehrs in Niederosterreich erreicht werden. Diese Wagen entsprechen der ostdeutschen Niederflur-Einstiegsbauart. Ein Teil der Wagen kommt als Flughafenzubringer CAT (City Airport Train) vom Bahnhof Wien-Mitte/Landstraße zum Flughafen Schwechat zum Einsatz. Dafur erhielten diese Wagen zusammen mit zwei Lokomotiven der Baureihe 1016 eine Sonderlackierung und bequemere Sitze.
In den letzten Jahren wurden von den OBB wieder Doppelstockwagen in leicht modernisierter Ausfuhrung nachbeschafft. Da diesmal kein Bundesland finanzielle Mittel stellte, bekamen die Wagen seitlich den OBB-Schriftzug.
Heute werden diese Garnituren auf der Bahnstrecke Absdorf-Hippersdorf–Krems an der Donau oder der Franz-Josefs-Bahn nach Wien Franz-Josefs-Bahnhof, auf der Nordbahn bzw. Nordwestbahn und Sudbahn uber Wien Mitte, auf der Westbahn zwischen Wien Westbahnhof und Sankt Valentin, bei der Tauernschleuse. Einzelne Garnituren als Verstarkung zum normalen Wagenpark verkehren zwischen Krems und St. Polten (mit einem Hercules), von Wien Meidling auf der Mattersburger Bahn uber Wiener Neustadt Hauptbahnhof, auf der Ostbahn uber Deutschkreutz und Wien Hbf und auf der Pottendorfer Linie sowie auf der Bahnstrecke Lindau–Bludenz. Es ist geplant, Garnituren mit Doppelstockwagen teilweise schaffnerlos zu fuhren.
Seit Dezember 2011 setzt die WESTbahn sieben sechsteilige Doppelstocktriebzuge ausschließlich auf der Strecke Wien – Salzburg im Stundentakt ein. Im Jahr 2017 wurden weitere vier sechs- sowie sechs vierteilige Doppelstocktriebzuge in Betrieb genommen, von denen eine vierteilige Garnitur unfallbedingt ausgeschieden ist. Alle siebzehn Triebzuge wurden bei Stadler Rail gebaut und sind fur 200 km/h zugelassen, druckertuchtigt sind jedoch nur die 2017 in Betrieb genommenen. Seit 2022 fahren die Doppelstockzuge der WESTbahn nun auch uber Salzburg und Rosenheim nach Munchen als auch uber das deutsche Eck nach Innsbruck und seit Dezember 2023 zwei tagliche Zuge uber Innsbruck nach Bregenz.
Im Februar 2022 haben die OBB einen Rahmenvertrag uber die Lieferung von 186 Doppelstock-Triebzugen vom Typ Kiss an die Firma Stadler Rail vergeben. Bei Bedarf konnen vier- bis sechsteilige Zuge abgerufen werden. Fur die Ostregion wurden 41 Fahrzeuge abgerufen, die Anfang 2026 in den Fahrgastbetrieb gehen sollen.
Schweiz = Regionalverkehr =
Anfange Die ersten Doppelstockwagen der Schweiz wurden 1872 in einer Serie von zehn Wagen von der Bodelibahn beschafft und von der SIG geliefert.
Die Nordostbahn bestellte 1874 versuchsweise einen Wagen, der als BC Nr. 1901 bezeichnet wurde. Auch die Tosstalbahn beschaffte bei der SIG eine Reihe ahnlicher Wagen.
Doppelstockpendelzuge (DPZ) In den Jahren 1989 bis 1997 kaufte die SBB fur die S-Bahn Zurich 342 Doppelstockwagen mit Hocheinstieg und dazu passenden Lokomotiven des Typs SBB Re 450. Diese verkehren seit Mai 1990 in Zugen zu Lok, zwei Mittelwagen und Steuerwagen, die betrieblich nicht getrennt werden und als DPZ fur DoppelstockPendelZug bezeichnet werden. DPZ konnen auch in Mehrfachtraktion von bis zu drei Einheiten eingesetzt werden.
Von 2011 bis 2018 wurden 115 DPZ Zuge im Projekt Lifting, Integration, Optimierung und Neugestaltung (LION) fur rund 600 Millionen Franken modernisiert. Mit der Modernisierung kamen auch Info-Bildschirme und Steckdosen an Sitzplatzen. Ein Mittelwagen zweiter Klasse wurde durch einen neugebauten Doppelstockwagen mit Tiefeinstiegen ersetzt und die frei gewordenen Mittelwagen aufgearbeitet, um an aufgearbeiteten SBB-Re-420-Lokomotiven betrieben zu werden.
Die aufgearbeiteten DPZ Zuge werden als DPZ Plus bezeichnet. Der neue Mittelwagen stellt den Fahrgasten ein behindertengerechtes WC zur Verfugung. Die Plumpsklos in den anderen Wagen werden außer Betrieb genommen. Weiter ist der ganze Zug mit einer Klimaanlage ausgerustet. An den Triebkopfen und Steuerwagen werden die Frontlichter durch LED-Lichter ersetzt und ein drittes Spitzenlicht eingebaut, dessen Funktion bis anhin von der Zugzielanzeige ubernommen wurde.
Die frei werdenden hochflurigen Zweite-Klasse-Wagen werden mit je zwei speziell aufgearbeiteten Re 420-Lokomotiven in Pendelzuge wahrend der Stoßzeiten eingesetzt, die einstockige Zuge ablosen und dadurch die Transportkapazitat in Spitzenzeiten erhohen.
Im Weiteren haben die SBB zwei ganze DPZ an die Sihltal-Zurich-Uetliberg-Bahn (SZU) verkauft, diese setzen die Zuge auf der Strecke Zurich–Langnau–Sihlwald ein. Die SZU erhalt ebenfalls acht Niederflur-Mittelwagen, womit sie einerseits ihre zwei DPZ verlangert und ihre einstockigen Pendelzuge erganzt.
Doppelstocktriebzuge Seit dem Jahr 2006 setzen die SBB in Zurich Doppelstocktriebzuge der Baureihe RABe 514 ein, welche auch als DTZ fur DoppelstockTriebZug bezeichnet werden. Die 61 vierteiligen Triebzuge mit Niederflureinstieg stammt aus der Desiro-Fahrzeugfamilie von Siemens. Sie konnen in Mehrfachtraktion von bis zu drei Einheiten eingesetzt werden. Gemischte Zuge aus DPZ und DTZ waren ursprunglich vorgesehen, kommen aber nicht zum Einsatz.
2008 wurden bei Stadler Rail von den SBB insgesamt 50 sechsteilige Dosto-Triebzuge bestellt, welche von den SBB als RABe 511 bezeichnet werden und seit Ende 2011 auf der Zurcher S-Bahn in Dienst stehen. Im April 2010, noch vor der Ablieferung des ersten Zugs, losten die SBB eine Option fur weitere 24 vierteilige Triebzuge desselben Typs ein. Seit Dezember 2012 kommen vierteilige Zuge in der Westschweiz als Regio-Express zum Einsatz. Weitere Nachbestellungen erfolgten 2014 fur 19 Zuge und im April 2021 von 60 Zugen des weiterentwickelten Typs RABe 512.
Fur die S-Bahn Bern beschaffte die BLS ebenfalls KISS-Triebzuge, eingereiht als RABe 515. Unter dem Namen MUTZ (»Moderner Universeller TriebZug«) werden Vier- und Sechswagenzuge eingesetzt.
= Fernverkehr =
Im Rahmen des Projekts Bahn 2000 wurden fur den Fernverkehr von den SBB 341 Doppelstockwagen mit Tiefeinstieg des Typs IC 2000 in Aluminiumbauweise beschafft. Bespannt konnen diese Wagen mit allen Lokomotiven werden, im Pendelzugbetrieb aber nur von solchen der Baureihe Re 460. Beschafft wurden in einer ersten Serie neun Steuerwagen Bt (98 Sitzplatze), deren Kopf dem der Re 460 entspricht, 28 B (126 Sitzplatze) mit zweiten Klasse, 13 A (86 Sitzplatze) und acht Halbgepackwagen AD (64 Sitzplatze) der ersten Klasse. Spater kamen weitere Wagen hinzu, darunter auch Bistrowagen, die bei den Fahrgasten allerdings auf Kritik stießen. Inzwischen wurden diese teilweise zu Restaurantwagen vom Typ WRB umgebaut.
Bei den Schweizer Doppelstock-IC ist die obere Ebene auch im Bereich der Einstiege und der Ubergange von Wagen zu Wagen weitergefuhrt, was die Benutzung von Service-Karren im Zug erleichtert.
Das Gewicht der in Leichtbauweise gefertigten Fahrzeuge liegt zwischen 44 und 50 Tonnen. Die Wagen sind fur eine Hochstgeschwindigkeit von 200 km/h zugelassen. Betrug der Nichtraucheranteil ursprunglich 75 Prozent, so sind es nach dem Rauchverbot in Schweizer Zugen komplette Nichtraucher-Garnituren.
Im April 2009 schrieben die Schweizerischen Bundesbahnen 59 Doppelstocktriebzuge fur den Intercity- und Interregio-Verkehr aus. Beschafft wurden 100 und 200 Meter lange Zuge, die je nach Bedarf zu bis 400 Meter langen Zugen gekuppelt werden konnen und eine Geschwindigkeit von 200 km/h erreichen. Am 12. Mai 2010 erteilten die SBB den Auftrag an Bombardier Transportation mit Zugen des Typs Twindexx Swiss Express, die Konkurrenten Stadler Rail und Siemens gingen leer aus. Der Auftrag hatte ein Volumen von 1,9 Milliarden Schweizer Franken. Die insgesamt 62 Zuge wurden als RABe 502 eingeordnet und werden von den SBB als FV-Dosto bezeichnet.
Belgien Auch Belgien setzt Doppelstockwagen ein. Dort wurden 1985 97 Wagen der zweiten Klasse mit 15 mit erster Klasse sowie 18 Steuerwagen vom Typ M5 geliefert, die im Großraum Brussel eingesetzt werden. Zuglokomotiven dieser Einheiten sind die Baureihen 2100 und 2700 der belgischen Staatsbahn. Anfangs waren die Wagen im roten Regionalbahnschema unterwegs, heute werden diese Wagen in das SNCB/NMBS-Standardweiß umlackiert.
Von 1999 bis 2011 beschafft die belgische Bahn fur den Einsatz hauptsachlich im IC-Dienst insgesamt 492 Doppelstockwagen vom Typ M6, hergestellt durch Bombardier und Alstom. Darunter befinden sich 64 Steuerwagen. Die Zuge werden auch als Flugelzuge eingesetzt, dazu verfugen jeweils am Ende des Zugverbandes sowohl der Steuerwagen als auch die Lokomotive vom Typ HLE 27 uber eine automatische Mittelpufferkupplung.
Am 18. Dezember 2015 schlossen die SNCB einen Kaufvertrag uber bis zu 1362 M7-Doppelstockwagen. Einige Endwagen sind angetrieben, sodass sowohl klassische Wendezuge als auch Triebzuge gebildet werden konnen.
Danemark Schon 1868 wurde der erste zweiachsige Doppelstockwagen angeschafft. Diesem Einzelstuck folgen in zwei Serien (1870 und 1877) noch weitere 17 doppelstockige Wagen ahnlicher Bauart. Sie wurden allesamt zwischen 1923 und 1935 ausrangiert.
Die Danischen Staatsbahnen (DSB) setzen auf Sjælland seit 2002 von Bombardier geleaste Doppelstockwagen auf den Regionalstrecken Kopenhagen–Kalundborg, Kopenhagen-Nykøbing F und bis Ende 2010 als InterRegionalzug Kopenhagen-Aarhus-Aalborg ein.
Gemaß einem Verkehrsabkommen im danischen Folketing Juni 2012 werden zusatzliche Doppelstockwagen gekauft bzw. die Ruckgabe geleaster Doppelstockwagen hinausgeschoben, um den Mangel an Fahrzeugen im Personentransportverkehr, hauptsachlich im Raum Kopenhagen, entgegenzuwirken.
Finnland Die finnische Talgo-Tochter Talgo OY entwickelte als Nachfolger der einstockigen InterCity-Wagen Doppelstockwagen des Typs InterCity2 fur die Finnischen Eisenbahnen (VR), die wegen des großen finnischen Lichtraumprofils besonders komfortabel gestaltet werden konnten. Die ersten, noch mit Gummiwulstubergangen gelieferten Wagen wurden inzwischen auf druckdichte SIG-Ubergange umgebaut und damit der Serienausfuhrung angepasst. Basierend auf den InterCity2-Wagen sind auch Schlafwagen gebaut worden, diese besitzen im Obergeschoss in den Abteilen jeweils Dusche und WC. Seit 2013 sind auch dazu passende Steuerwagen im Einsatz.
Unabhangig davon wurde mit dem Talgo 22 ein Doppelstockzug auf Basis der Talgo-Einzelradlaufwerke entwickelt, der im Ober- und Unterdeck durchgangig begehbar ist. Er ist als Trieb- und Wagenzug vorgesehen, wurde jedoch noch nicht bestellt und gebaut.
Frankreich In Frankreich nutzt die Bahn seit den Anfangen Doppelstockwagen. Sie werden hauptsachlich im Vorortsverkehr von Paris und im Hochgeschwindigkeitsverkehr eingesetzt.
= Zuge fur den Pariser Vorortverkehr =
Bereits 1855 beschafften die Chemins de fer de l’Ouest zweiachsige Doppelstockwagen fur die Arbeiterzuge im Pariser Vorortsverkehr. Ab 1933 setzte die Nachfolgegesellschaft ETAT siebenteilige Doppelstockzuge Voiture a etage Etat ein, die bereits einige Jahre vor den Doppelstockzugen der Lubeck-Buchener Eisenbahn im Wendezugbetrieb mit Tenderlokomotiven bis in die 1982 in Betrieb waren.
1973 entstand die Wagenserie Voiture de banlieue a deux niveaux (VB-2N) fur die RER mit Wagen zweiter Klasse Be (164 Platze), gemischtklassigen Fahrzeugen der Bauart ABe (66/78 Platze), Halbgepackwagen BDe (156 Platze) und Steuerwagen Bxe (134 Platze). Mit der Sitzteilung 3+2 in der zweiten Klasse und 2+2 in der ersten sind die Sitze schmaler als bei der Deutschen Bundesbahn.
Die in selbsttragender Bauweise hergestellten Wagen besitzen alle die gleichen Abmessungen und sind jeweils 24 280 Millimeter lang und bis zum Dachscheitel 4320 Millimeter hoch. Die zwei großen Außenschwing-Doppelturen sind in Hochflurbauweise ausgefuhrt. Die Wagen konnen sowohl im 1500-Volt-Gleichstromnetz als auch im 25-kV-Wechselstromnetz der SNCF verkehren. Die Serie VB-2N umfasst 589 in orange-grau lackierte Wagen.
Eine verbesserte Variante VO-N2 fur die westliche Region (Ouest) umfasste 100 Exemplare, fur die Region Nord wurden 51 VN-22N-Wagen beschafft. Die Auslieferung war 1987 abgeschlossen. Insgesamt sind 740 Doppelstockwagen im Pariser Vorortverkehr eingesetzt.
= Triebzuge im Pariser RER =
Seit 1983 verkehren auf der Pariser S-Bahn (RER) auch Doppelstock-Triebzuge. Die ZR-2N-Mittelwagen wurden aus den Banlieue-Wagen entwickelt, die beiden Triebwagen Z 5600 fur eine Einheit wurden neu entworfen. Diese Baureihe ist mit zwei oder drei Mittelwagen im Einsatz. Im oberen Stockwerk und im Mittelbereich sind Sitzplatze untergebracht, die Traktionsausrustung liegt hinter den Fuhrerstanden. Die Turen sind gegenuber den Mittelwagen etwas in die Wagenmitte versetzt. Bis 1985 wurden 104 Einheiten Z2 an die SNCF fur den Einsatz auf der RER-Linie C geliefert. Fur Gemeinschaftslinien mit dem Pariser Nahverkehrsbetrieb RATP wurde die Zweisystemvariante Z 8800 beschafft. Diese 116 Einheiten gleichen der Vorserie, nur die Triebwagen sind wegen des zusatzlichen Transformators etwas schwerer als die Vorgangerbauart. Oben gibt es 48, unten 46 Sitzplatze zweiter Klasse.
Fur den Einsatz auf den Linien C und D wurden bis 1988 an die SNCF 200 Zweisystemzuge der Reihe Z 20500 geliefert, deren Triebwagen eine moderne, steil abfallende Frontgestaltung erhielten. Die Mittelwagen erhielten mit 26,4 Metern dieselbe Lange wie die UIC-Typen X und Z.
Bis 1996 wurden fur das RER-Kernnetz 96 Triebwagen MI-2N in Doppelstockausfuhrung bestellt, die je Wagenseite drei Turen zum schnellen Fahrgastwechsel aufweisen. Ihr Einsatz erfolgt in der Ausfuhrung Z 1500 auf der Linie A, die von RATP und SNCF gemeinschaftlich betrieben wird, und als Z 22500 auf der von der SNCF betriebenen Linie E.
Seit 2011 werden die Zweisystemtriebwagen der Baureihe MI 09 von Alstom und Bombardier auf der RER-Linie A eingesetzt. Diese ersetzten u. a. die einstockigen Triebwagen der Baureihe MS 61.
Mit den RER NG werden weitere doppelstockige Triebzuge fur die RER-Linien D und E beschafft.
= Triebzuge im ubrigen Regionalverkehr =
Auch fur den Regionalverkehr außerhalb der großen Zentren, also die TER-Netze, gibt es Doppelstock-Triebzuge.
Die erste Generation wurde 1998 bis 2000 in Dienst gestellt und wird als TER 2N bezeichnet, volle Serienbezeichnung Z 23500, bestehend aus je einem Doppelstocktriebwagen und einem Doppelstocksteuerwagen.
Die nachste Generation wurde im Jahr 2000 in Auftrag gegeben und zwischen 2004 und 2010 in Dienst gestellt. Sie heißt TER 2N NG (NG steht fur «Nouvelle Generation») und tragt je nach Lange die Serienbezeichnung Z 24500 (Zweier- und Dreier-Kombinationen) oder Z 26500 (Vierer- und Funfer-Kombinationen). Bei diesen Triebzugen ist unter jedem Wagen ein Drehgestell an beiden Radsatzen angetrieben.
Mit den Regio 2N werden ab 2013 fast 500 Doppelstocktriebzuge fur den Regional- und Intercites-Verkehr ausgeliefert. Die Zuge laufen auf Jakobs-Drehgestellen und bestehen abwechselnd aus einstockigen und doppelstockigen Wagen.
= Fernverkehr =
Nach dem Vorbild der Wagen fur den Vorortsverkehr bestellten die SNCF 151 Doppelstockwagen fur den Fernverkehr. Die Serie umfasst 96 Be, 37 ABe und 18 BDxe-Steuerwagen. Diese Fahrzeuge tragen die Lackierung der Corail-Wagen und bieten geraumigere Sitzgelegenheiten als die Wagen fur den Vorortsverkehr.
Im Hochgeschwindigkeitsverkehr werden Doppelstock-Triebzuge als TGV Duplex eingesetzt. Von 1995 bis 2010 wurden 160 Zuge in vier verschiedenen Serien gebaut. Die ersten Einheiten waren zwischen Paris und Lyon im Einsatz.
Im April 2007 stellte der V150 einen Geschwindigkeitsweltrekord fur Schienenfahrzeuge mit 574,79 km/h auf. Der Zug bestand aus den zwei Triebkopfen des TGV POS 4402 sowie drei mit Antriebstechnik des AGV modifizierten Doppelstock-Mittelwagen des TGV Duplex.
Auch die neueste Generation des TGV, der TGV M, setzt auf doppelstockige Mittelwagen zwischen den beiden Triebkopfen.
Italien In den 1980er Jahren wurden von Casaralta nach Lizenzen Doppelstockwagen des franzosischen Typs VB 2N fur die Ferrovie dello Stato sowie die privaten Ferrovie Nord Milano (FNM) und Ferrovie del Sud Est gebaut. Sie wurden im Regionalverkehr eingesetzt.
In den 1990er Jahren wurden bei den FS und FNM die fur den Vorortverkehr konzipierten Elektrotriebzuge des Typs TAF in Dienst gestellt. Bei Trenord sind Zuge des Typs TSR, einer Eigenentwicklung, im Einsatz.
In den letzten Jahren wurden bei Trenitalia fur RegioExpress-Zuge die Vivalto-Wagen eingesetzt. Einige Wagen sind auch bei Trenord und den Ferrovie Emilia Romagna zu finden.
Die Rock-Triebzugen von Hitachi Rail Italia werden seit 2018 ausgeliefert und werden in großer Zahl bei der Trenitalia und der FNM eingesetzt.
Luxemburg Die luxemburgische Staatsbahn CFL setzt Doppelstock-Wagen von Bombardier ein, die den Typen dieses Herstellers fur die DB AG ahnlich sind, in ihrem Bestand, der u. a. mit der Reihe 4000 (ahnlich DB 185) im grenzuberschreitenden Verkehr nach Rheinland-Pfalz eingesetzt wird, als auch den franzosischen Doppelstock-Triebzug TER2N NG (Train Expresse Regional 2 Niveaux Nouvelle Generation) der Reihe 2200 (ahnlich SNCF 26500/24500) fur den Regionalverkehr nach Frankreich und Belgien (SNCB) auf der Athus-Meuse Linie (25 Kilovolt) bis Virton.
Seit 2014 setzt die CFL Triebzuge vom Typ Stadler KISS zum Einsatz, die als Baureihe 2300 eingeordnet werden. Seit dem 16. Marz 2015 fahren diese auf dem Abschnitt zwischen Trier und Koblenz gemeinsam mit den FLIRTs der DB Regio Sudwest in gemischten Mehrfachtraktionen als RE1/RE11 des SUWEX.
Weitere Doppelstockzuge sind die Coradia Stream HC der Baureihen 2400 und 2450 von Alstom. Sie bestehen aus doppelstockigen Endwagen und einstockigen Mittelwagen.
Niederlande = Wagentypen DDM, DD-AR, DDZ =
Anfang der 1980er Jahre nahm in den Niederlanden das Verkehrsaufkommen besonders zwischen Amsterdam und Den Helder dermaßen zu, dass neue Wege gesucht werden mussten. Dafur ließen die Nederlandse Spoorwegen (NS) bei der Waggonfabrik Talbot in Aachen neue Doppelstockzuge in Leichtbauweise entwickeln. Drei Wagentypen wurden an die NS ausgeliefert, reine Zweite-Klasse-Wagen, gemischtklassige Wagen erster und zweiter Klasse sowie Steuerwagen mit zweiter Klasse. Gekuppelt wurden diese Zuge am Anfang mit Elloks der Baureihen 1600 und 1700, die den SNCF-Lokomotiven BB 7200 entsprachen. Die Zuggarnituren konnten wie Triebwagen in Mehrfachtraktion verkehren. Geliefert wurden 10 Bv, 77 ABv und 79 Bkv-Steuerwagen. Diese Wagen sind 26,8 Meter lang, 4,60 Meter hoch und 2780 Millimeter breit. Die Masse der Wagen liegt je nach Ausfuhrung zwischen 43 und 52 Tonnen.
Um die Lokomotiven ablosen zu konnen, wurden sechsachsige Triebwagen mDDM passend zu den Doppelstockgarnituren beschafft. Im unteren Bereich befindet sich die Antriebstechnik, daruber finden 50 Reisende Platz.
Die erste Serie dieser Doppelstockwagen, 1985 gebaut, Typ DDM-1, wurde im September 2010 abgestellt, im Januar 2011 aufgrund winterlicher Engpasse jedoch zeitlich begrenzt wieder eingesetzt. Die 1991 bis 1994 gebauten Wagen der Typen DDM-2 und DDM-3 verrichten Dienst in den DD-AR-Zugen (dubbeldeksaggloregiomaterieel, etwa Doppelstockfahrzeuge fur den Einsatz in Ballungsraumen), bestehend aus einem Steuerwagen, drei Zwischenwagen und einer Lokomotive der Reihe 1700 – oder einem Steuerwagen, zwei Zwischenwagen und einem Triebwagen mDDM.
Diese Zugverbande vom Typ DD-AR wurden Anfang der 2010er Jahre modernisiert und werden jetzt im Intercity-Verkehr eingesetzt. Unter dem Namen Nieuwe Intercity Dubbeldekker (NID, deutsch „neuer Intercity-Doppeldecker“) wurden vier- und sechsteilige Zugverbande mit je einem Triebwagen gebildet. Diese Zuge werden auch als DDZ (Dubbeldekker Zonering) bezeichnet.
= Wagentypen DD-IRM, VIRM =
Fur den schnellen Interregio-Verkehr wurden zwischen 1994 und 1996 IRM-Doppelstocktriebwagen beschafft, die mit dem Spitznamen Regiorunner verkehren. Deren Breite von 3,02 Metern entspricht dem ICE-Maß. Es wurden 290 Einzelwagen als Triebwagen zweiter Klasse und gemischtklassige Mittelwagen geliefert, die zu drei- oder vierteiligen Zugeinheiten zusammengestellt wurden. Die Triebwagen mBvk bieten 93 Sitzplatze, von den Mittelwagen gibt es zwei Bauarten. Die ABv 3/4 weisen 47 Erste-Klasse-Platze im Ober- wie im Unterstock aus, die ABv 5 nur 23 Platze in 2+1-Anordnung im Unterstock. An Platzen der zweiten Klasse werden jeweils 47 bzw. 80 Sitze angeboten. Sie werden als DD-IRM gefuhrt.
2001 bis 2005 wurden leicht veranderte IRM-Einheiten in Dienst gestellt, 13 vier- und 12 sechsteilige Triebzugeinheiten. Bei den sechsteiligen Einheiten lauft einer der Mittelwagen ebenfalls auf Triebdrehgestellen. Wegen des allgemein gestiegenen Fahrgastaufkommens wurden die Triebzuge der ersten Lieferserie (DD-IRM) mit weiteren Mittelwagen versehen, sodass die ehemals dreiteiligen nun als vierteilige, die ehemals vierteiligen nun als sechsteilige Einheiten verkehren. Fortan heißt die gesamte Serie VIRM. – Verlengd interregiomaterieel, deutsch „verlangerte Interregiofahrzeuge“.
Am 27. Juni 2008 wurde der erste VIRM-4 vorgestellt. Diese abermals leicht veranderte Lieferserie besteht aus 50 vierteiligen Fahrzeugen. Sie ersetzten unter anderem die umgebauten ehemals deutschen Reisezugwagen Bm 235.
Portugal Doppelstockwagen kommen ausschließlich im Großraum Lissabon zum Einsatz. In Portugal gab es und gibt es lediglich eine einzige Baureihe von Doppelstockwagen, die von GEC Alstom/CAF produzierte CP-Baureihe 3500. Sowohl die staatliche Eisenbahngesellschaft CP (Comboios de Portugal) uber ihre Nahverkehrstochter CP Urbanos de Lisboa wie auch der private Nahverkehrsanbieter Fertagus nutzen Zuge dieser Baureihe im S-Bahn-Verkehr im Großraum Lissabon.
Russland Die staatliche Eisenbahngesellschaft RZD setzt seit November 2013 auf der Verbindung Moskau–Sotschi–Adler Nachtzuge mit 15 Doppelstockwagen ein. Die Doppelstockwagen dienen der Kapazitatssteigerung auf der Linie im Hinblick auf die Olympischen Winterspiele 2014. Die Wartung erfolgt im Wagendepot Mineralnyje Wody in der Region Stawropol. Die bestellten 50 doppelstockigen Schlafwagen wurden zusammen mit Alstom entwickelt und werden in vier verschiedenen Bauarten im Waggonwerk Twer gebaut. Sie sind fur eine Geschwindigkeit von 160 km/h zugelassen. Das erste Baulos umfasste 38 Wagen mit 16 Vierbettabteilen, 4 Wagen mit 15 Zweibettabteilen, 4 Wagen mit 12 Vierbettabteilen und Dienstabteil, sowie 4 Speisewagen mit 44 Sitzplatzen im Restaurant und 6 Platzen an der Bar.
Schweden In Schweden werden seit 2005 Doppelstocktriebzuge der Bauart Alstom Coradia Duplex als X 40 in der dicht bevolkerten Stockholmer Region eingesetzt, seit Fruhjahr 2011 auch auf den Strecken Stockholm-Goteborg und Goteborg-Malmo.
Die Transitio ER1 sind eine an Schweden angepasste vierteilige Variante der KISS-Triebzuge von Stadler und werden im Regionalverkehr eingesetzt.
Sowjetunion In den 1960er Jahren wurden beim Waggonbau Gorlitz einige Doppelstockwagen fur die Sowjetunion mit sowjetischem Lichtraumprofil gebaut. Sie wurden versuchsweise im Zugverkehr eingesetzt, bewahrten sich allerdings nicht und wurden dann ausgemustert.
Spanien Im Vorortverkehr der Stadte Madrid und Barcelona laufen ebenfalls Doppelstockwagen, die nach franzosischen Lizenzen von CAF gebaut wurden. Es gibt sowohl lokbespannte als auch Triebwagen-Garnituren.
Die spanische Waggonbaufirma Talgo entwickelte zudem, unter dem Namen Talgo 22, einen Doppelstockzug, der im Oberdeck breite Durchgange zum nachsten Wagen hat. Die Wagenkasten sind bei diesem Zug so eingehangt, dass sich die Wagenkasten in den Kurven leicht zur Seite neigen (passive Neigetechnik). Unter den Standern befinden sich die gelenkten Einzelrader. Dadurch ist eine Bauweise der Wagenkasten in Niederflurtechnik moglich. Bisher handelt es sich dabei jedoch nur um ein Projekt, es wurde noch kein Zug dieser Baureihe produziert.
Tschechien Im regionalen Vorortverkehr des Esko Prag und Esko v Moravskoslezskem kraji werden elektrische Doppelstocktriebzuge der Baureihe 471 eingesetzt. Wegen Ausfallen der Triebzuge der Reihe 680 (Pendolino) kamen wegen der guten Beschleunigungswerte zum Einhalten der Fahrplane auch im Fernverkehr gelegentlich Einheiten der Baureihe 471 zum Einsatz. Die beiden Prototypen der Reihe 470 wurden von 1992 bis 2009 eingesetzt. Fur den IC-Verkehr war die Beschaffung einer 160 km/h schnellen Variante der Baureihe 471 als Baureihe 675 geplant. Diese Plane wurden mit der Beschaffung der Reihe 660 (InterPanter) nicht weiterverfolgt. Seit 2021 verkehren in Mahren funf Wendezuggarnituren des Typs Skoda 13Ev. Sie werden bis zur Elektrifizierung der Strecke vorubergehend mit Diesellokomotiven bespannt.
Insbesondere auf den nicht elektrifizierten Strecken um Prag werden auch lokbespannte Zuge mit Gorlitzer Doppelstockeinzelwagen der Gattung Bmto eingesetzt.
Vereinigtes Konigreich Im Straßenbahn- und Busverkehr sind Doppelstockwagen in Großbritannien sehr verbreitet.
Bei den Fernbahnen lasst das kleine Lichtraumprofil im Prinzip keine Doppelstockwagen zu. Allerdings erforderten die im Berufsverkehr standig uberfullten Zuge im Vorortverkehr im Sudosten Londons, die von einer Zeitung gar als „Sardine Special“ (etwa Sardinensonderzug) bezeichnet wurden, großere Kapazitaten. Als 1948 das Thema sogar auf die Tagesordnung des House of Commons kam, wurde der Einsatz von Doppelstockwagen untersucht.
Lancing and Eastleigh Works fertigte zwei von Oliver Bulleid konstruierte Prototypen, die am 1. November 1949 der Offentlichkeit vorgestellt wurden. Sie bestanden aus zwei Triebwagen mit je einem Fuhrerstand, zwischen denen zwei Mittelwagen liefen, welche als Class 4DD bezeichnet wurden.
Die Sitzebenen des „Unterhauses“ und des „Oberhauses“ waren dabei langs im Zickzack ineinander geschachtelt. Da trotzdem die Fahrzeugbegrenzungslinie geringfugig uberschritten wurde, durften sie nur auf bestimmten Strecken verkehren. Die Zuge erlebten noch mehrere Werkstattaufenthalte, bis im Dezember 1950 entschieden wurde, keine weiteren zu beschaffen und stattdessen mit langeren Zugen zu fahren.
Neben langeren Haltezeiten, da mehr Fahrgaste pro Tur ein- und aussteigen mussten, war der nicht nur durch die Enge hervorgerufene mangelnde Komfort und die schlechte Beluftung ein Grund. Verscharft wurde das Platzproblem dadurch, dass die Fahrzeuge auf herkommlichen Rahmen saßen, um den Antrieb im Unterflur unterzubringen, weshalb dieser Bereich nicht als Fahrgastraum zur Verfugung stand.
Die Bulleid Double Decker Society versucht, die zwei englischen erhaltenen Triebwagen zu restaurieren und zu erhalten.
Ubersee = Argentinien =
Auf der breitspurigen Sarmiento-Linie in der Provinz Buenos Aires verkehrten Zuge mit Doppelstockwagen von Toshiba im Vorortsverkehr. Ein erster Prototyp dieser in Argentinien gebauten Zuge wurde 2005 ausgeliefert, die Serienfertigung begann 2008.
Die Zuge bestehen aus einstockigen Trieb- und Steuerwagen, die durch doppelstockige Zwischenwagen erganzt werden. Die neunteiligen Einheiten verkehren mit einer seitlichen Stromschiene.
= Australien =
Im Bundesstaat New South Wales werden fur den Vorort- und Regionalverkehr um Sydney seit den 1970er Jahren mit Gleichstrom betriebene elektrische Doppelstocktriebzuge eingesetzt.
In mehreren mit Buchstaben bezeichneten Serien sind uber tausend Wagen in Dienst, die als vier-, sechs- oder achtteilige Zuge verkehren. Die Wagen sind rund 20 Meter lang, 3 Meter breit und 4,4 Meter hoch. Der Großteil der Fahrzeuge gehort zur Waratah-Serie, von der 119 Achtwagenzuge in Betrieb sind.
Auf den drei Intercitylinien von NSW TrainLink werden seit 2023 je 61 vier- und sechsteilige Doppelstockzuge des Typs D Mariyung eingesetzt.
= China =
Bereits in den 1960er Jahren wurden von Qingdao in Sifang ein Triebzug mit doppelstockigen Zwischenwagen und dieselhydraulischem Antrieb gebaut, der aber nicht in Serienfertigung ging.
Vom CSR Wagenwerk Puscheng in Nanjing wurde 1987 eine kleinere Serie klimatisierte Doppelstockwagen mit gesickten Seitenwande gebaut, die zur Familie der chinesischen Einheitswagen 25 gehoren. Die Serie umfasst Sitzwagen zweiter Klasse der Baureihe SYZ25 und Sitzwagen erster Klasse der Baureihe SRZ25. Sie werden zusammen mit den Generatorwagen KD25 eingesetzt, welcher die Versorgung der dreiphasigen Zugsammelschiene mit 380 Volt sicherstellt. Die Wagen werden in Zugen auf Strecken des dicht besiedelten Kustengebietes eingesetzt, die mit einer Hochstgeschwindigkeit von 120 km/h verkehren und meistens Distanzen von weniger als 300 Kilometern zurucklegen.
Ab 1991 erschienen verbesserte Versionen der Doppelstockwagen der Einheitswagen-Familie 25B mit glatten Seitenwanden, die fur 140 km/h ausgelegt sind. Die Serie umfasste neben den Sitzwagen zweiter Klasse SYZ25B und erster Klasse SRZ25B neu auch den Liegewagen SYW25B, den Schlafwagen SRW25B und der Speisewagen SCA25B.
Ab 1996 wurde fur die Strecke Guangzhou–Shenzhen Doppelstockwagen der Einheitswagen-Familie 25Z gebaut, die erstmals fur 160 km/h ausgelegt waren. Die Hochstgeschwindigkeit wurde aber 2008 auf 140 km/h reduziert. Die Serie umfasst Sitzwagen erster Klasse, Halbgepackwagen mit Sitzen erster Klasse, gepolsterte Zweite-Klasse-Wagen und Speisewagen.
1998 erschienen die Doppelstockwagen der 25K-Familie fur eine Hochstgeschwindigkeit von 160 km/h. Es wurden die gleichen Wagenarten wie bei der 25B-Familie gebaut, die Baureihenbezeichnungen sind in der gleichen Reihenfolge wie oben SYZ25K, SRZ25K, SYW25K, SYW25K und SCA25K. Neben CSR Puscheng baute auch die CNR Changchun Doppelstockwagen der 25K-Familie, die aber im Gegensatz zu den Wagen aus Nanjing nicht Endeinstiege haben, zwischen den Drehgestellen angeordnete Tiefeinstiege.
Weiter wurden 1998 zusammen mit Siemens in Tangshan zwei vierteilige doppelstockige Dieseltriebzuge mit Cummins-Dieselmotoren gebaut, die aber nicht erfolgreich waren. Sie wurden bereits 2006 außer Dienst gestellt und 2011 verschrottet. Ein dritter ahnlicher Zug ist als Inspektionszug immer noch im Einsatz.
Hongkong
In Hongkong verkehrt seit 1904 eine ausschließlich doppelstockige Straßenbahn. Das Straßenbahnnetz mit Kapspur (1067 Millimeter Spurweite) ist 13 Kilometer lang und teilt sich die Straßen mit anderen Verkehrsmitteln. Als Stromsystem wird 550 Volt Gleichspannung verwendet. Es besteht nur eine Strecke auf der Nordseite von Hong Kong Island.
= Indien =
Indian Railways setzt seit 2011 Doppelstockzuge mit klimatisierten Wagen ein. Die Wagen stammen aus der Rail Coach Factory Kapurthala. Der erste Zug verkehrte am 1. Oktober 2011 zwischen Howrah und Dhanbad, der zweite zwischen Bombay und Ahmedabad.
Seit dem 25. April 2013 verkehrt zwischen Chennai und Bengaluru ein Fernzug mit Doppelstockwagen, die 128 Fahrgaste fassen. Die Einstiege liegen uber den Drehgestellen. Es sind jeweils zwei Sitze auf einer Seite des Ganges und drei auf der anderen Seite angeordnet.
= Israel =
1999 bestellte Israel Railways vier Doppelstockzuggarnituren bei Bombardier Transportation in Gorlitz, die 2001 per Frachtschiff uber Rotterdam nach Israel transportiert wurden. 2010 sind 147 Doppelstockwagen im Einsatz. Im Oktober 2010 wurde ein Rahmenvertrag uber insgesamt 78 Wagen geschlossen. Im Januar 2011 erweiterte die IR diesen Liefervertrag um eine Option auf insgesamt 150 Stuck zur Lieferung bis 2012. Die ersten Fahrzeuge dieses Vertrages wurden im Oktober 2011 nach Israel verschifft.
Zudem werden Triebzuge des Typs Siemens Desiro HC eingesetzt.
= Japan =
Straßenbahnen Doppelstockwagen vom Typ 5 wurden von 1904 bis 1911 bei der Straßenbahn Osaka eingesetzt. Ein Wagen wurde 1953 rekonstruiert, indem auf einem anderen Tw ein Oberdeck aufgebaut wurde. Dieser Tw steht heute in der stadtischen Straßenbahnsammlung auf dem U-Bahn-Betriebshof Morinomiya.
Regionalverkehr In Japan werden Doppelstockzuge weniger zur Kapazitatssteigerung, sondern eher als Aussichtswagen oder Green Car (erste Klasse) verwendet. Erstmals wurden Doppelstockwagen bei der Baureihe 10000 als Vista Car der Kintetsu 1958 eingesetzt. Weitere Beispiele dafur sind die andere Baureihen von Kintetsu, JR Shikoku Baureihe 5000, Keihan Baureihe 8000, JR Central Baureihe 371 und die Odakyu Baureihe 2000 RSE.
Im Regionalverkehr rund um Tokyo fuhrte JR East 1989 mit der Baureihe 211 pro Zug zwei Doppelstockwagen ein, die als Green Car (zuschlagpflichtige Erste-Klasse-Wagen) mehr Sitzplatze als ein normaler Triebwagen anbieten. Dieses Prinzip, dass nur etwa zwei Wagen pro Zug (Lange pro Zug bis zu 15 Wagen) doppelstockig sind, wurde auch bei anderen neueren Baureihen beibehalten, so z. B. E217 (ab 1994), E231 (ab 2004), E233, E235 oder E531 (2006). Davon abgesehen gibt es nur eine einzige Baureihe, die komplett aus Doppelstocktriebwagen fur den Regionalverkehr besteht, dies ist der zehnteilige E215.
Fur den Ausflugsverkehr von Tokio entlang der Kuste nach Sudwesten wurden 1990 vier Zuge der Baureihe 251 beschafft, die drei Doppelstockwagen enthielten.
Shinkansen Im Shinkansen-Hochgeschwindigkeitsnetz wurden ab 1986 zwei Doppelstockwagen in die Shinkansen-Baureihe 100 eingefugt, um zu Spitzenstunden eine hohere Kapazitat anbieten zu konnen. Im Oberdeck eines Doppelstockwaggons war ein Restaurant eingerichtet. Bei der Shinkansen-Baureihe 200 gab es auch zwei Doppelstockwagen. Beide Baureihen sind inzwischen abgestellt. Einzelne Wagen werden in Museen erhalten.
Aufgrund der steigenden Fahrgastzahlen wurden fur JR East die vollstandig doppelstockigen Baureihen E1 und E4 entwickelt, die pro Zug bis zu 1634 Fahrgaste befordern konnen. Die zwolfteilige Baureihe E1 war von 1994 bis 2012 im Einsatz, die achtteilige Baureihe E4 war bis Herbst 2021 im Einsatz.
Mit der Einfuhrung neuer Zuge und einer Erhohung der Geschwindigkeit auf den Tohoku- und Joetsu-Shinkansen wurden alle Doppelstocktriebzuge ausgemustert.
Nachtzugverkehr Im Nachtzugverkehr setzt die JR West mit der Baureihe 285 Doppelstocktriebzuge (Baujahr 1997) auf der Route von Tokyo nach Izumo und Takamatsu (Sunrise Izumo/Sunrise Seto) ein. Die Baureihe E26 (Doppelstockwagen in lokbespannten Zugen) fuhr bis 2015, seitdem gibt es in Japan keine lokbespannten Nachtzuge (Blue Train) mehr.
= Kanada =
In Kanada setzt GO Transit im Pendelverkehr von und nach Toronto seine charakteristischen BiLevel-Doppelstockzuge (grun-weißes Design mit abgesenkten Einstiegen) mit bis zu 12 Wagen in Dieseltraktion ein. Auch im Vorortverkehr von Montreal (trains de banlieue der Agence metropoliaine de transport) werden zum Teil BiLevel Wagen eingesetzt, aber auch MultiLevel-Wagen. Daruber hinaus verkehrt mit dem West Coast Express ein Pendlerzug mit Doppelstockwagen an der kanadischen Pazifikkuste von Vancouver nach Mission.
= USA =
In Los Angeles (Metrolink), Miami, Seattle und zahlreichen weiteren Stadten mit Vorortverkehr auf Schienen werden die BiLevel-Doppelstockwagen von Bombardier eingesetzt. Diese Wagen konnen mit tiefliegendem Einstieg auf der unteren Ebene die niedrigen Bahnsteige bedienen.
In Chicago und San Francisco (Caltrain) fahren Gallery-Wagen, deren Oberstock als Galerie ausgebildet ist. Dies ermoglicht dem Zugpersonal die Fahrkartenkontrolle in einem Durchgang vom unteren Stock aus. In Chicago verkehren auf der Chicago South Shore and South Bend Railroad Doppelstock-Interurban-Zuge (Highliner).
Die Amtrak setzt in ihren Superliner-Luxuszugen ebenfalls Doppelstockwagen ein. Bei diesen Fahrzeugen befindet sich der großte Teil der Sitze im oberen Stock, im unteren Stock sind ein Abteil, das mit Rollstuhlen zuganglich ist, Toiletten und Gepackablagen untergebracht. Diese Wagen konnten bis in die 1980er Jahre nur westlich von Chicago eingesetzt werden, weil das Lichtraumprofil ostlich von Chicago noch nicht ausreichend war. Fur den Regionalverkehr in Kalifornien wurden mit den California Car und Surfliner angepasste Superliner mit zwei Turen pro Seite gebaut.
Die Colorado Railcar Manufacturing baute von 1988 bis 2008 doppelstockige Triebwagen und Triebzuge.
Im Vorortsverkehr von New York setzt New Jersey Transit Bombardier-MultiLevel-Doppelstockwagen ein. Diese Wagen konnen sowohl Tiefbahnsteige wie auch Hochbahnsteige bedienen.
Siehe auch Doppelstock-Containertragwagen
Liste der Doppelstocktriebwagen
Literatur Wolfgang Theurich: Doppelstockfahrzeuge aus Gorlitz – Doppelt hoch, doppelt gut. EK-Verlag, Freiburg 2004, ISBN 3-88255-347-2.
Pragmatische Notlosung. Der Dosto-IC kommt. In: eisenbahn magazin. Nr. 3/2011. Alba Publikation, Marz 2011, ISSN 0342-1902, S. 28–29.
Weblinks Geschichte der Gorlitzer Doppelstockwagen
Einzelnachweise
|
Ein Doppelstockwagen, veraltet Doppeldeckwagen oder Etage(n)wagen, umgangssprachlich auch Doppeldecker, Doppelstocker oder kurz Dosto genannt, ist ein Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen beziehungsweise -triebwagen mit Sitzplatzen in zwei ubereinanderliegenden Ebenen. Gegenuber einstockigen Personenwagen konnen Doppelstockwagen bei gleicher Lange mehr Reisende aufnehmen, was insbesondere auf kurzen Bahnsteigen die Kapazitat erhoht. Die baulichen Grenzen sind durch die Fahrzeugbegrenzungslinie vorgegeben.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Doppelstockwagen"
}
|
c-13992
|
Ein Wendezug, in der Schweiz Pendelzug, aus der englischen Sprache ubernommen auch Push-Pull-Zug, ist ein Zug, bestehend aus einem oder mehreren Triebfahrzeugen und Wagen, der an beiden Enden einen Fuhrerstand besitzt und je nach Fahrtrichtung vom einen oder anderen Fuhrerstand aus gefuhrt werden kann. Statt eines Triebfahrzeugs konnen sich an einem oder beiden Enden antriebslose Steuerwagen befinden. Der Vorteil eines Wendezuges besteht darin, dass bei einem Fahrtrichtungswechsel das Triebfahrzeug, das heißt die Lokomotive oder der Triebwagen, nicht umgesetzt werden muss.
Konzepte Bei Wendezugen konnen die Triebfahrzeuge unterschiedlich eingereiht werden:
Fur die Fernsteuerung mit einem Steuerwagen mussen Triebfahrzeug und Steuerwagen mit demselben System der Wendezugsteuerung beziehungsweise Vielfachsteuerung (Schweiz) ausgerustet sein.
Vorteile Wendezuge ermoglichen an Kopf- oder Wendebahnhofen eine schnellere Anderung der Fahrtrichtung, da die Lokomotive am jeweiligen Ende des Zuges verbleiben kann und somit keine Rangierfahrten erforderlich sind.
Wendezuge konnen im Vergleich zu Triebzugen einfacher an den Bedarf angepasst werden. Triebzuge sind mit eigenem Antrieb versehene, betrieblich nicht trennbare Einheiten aus mehreren Fahrzeugen, wahrend Wendezuge betrieblich in ihre einzelnen Fahrzeuge aufgelost werden konnen. Sie benutzen standardisierte Reisezugwagen, wie sie auch in regularen lokbespannten Zugen zum Einsatz kommen. Wendezuge konnen somit einfacher an Veranderungen der Nachfrage angepasst werden. Dies verschafft den Betreibern strategische Vorteile, da langerfristig nicht mehr benotigte Lokomotiven und Zwischenwagen auf dem Markt fur Gebrauchtfahrzeuge angeboten werden konnen. Uberzahlige Triebzuge hingegen sind schwerer zu vermitteln, da sie haufig speziell auf ihr ursprungliches Einsatzgebiet ausgelegt sind.
Doppelstockige Wendezuge bieten ab etwa 200 Sitzplatzen Vorteile gegenuber doppelstockigen Triebzugen. Dies liegt daran, dass bei der ublichen Fahrzeugbegrenzungslinie G1 der Einbau der Antriebsaggregate in Doppelstocktriebzugen zu Lasten von Sitzplatzen geht. Bei einem einstockigen Wendezug sind ab etwa 400 Sitzplatzen sowohl die Masse pro Sitzplatz als auch die Lebenszykluskosten im Vergleich zu einem Triebzug gunstiger. Dies ist darauf zuruckzufuhren, dass die Kosten der Lokomotive auf eine großere Anzahl von Wagen umgelegt werden konnen.
Wahrend fruher vorwiegend Nahverkehrszuge als Wendezuge betrieben wurden, sind seit der Jahrtausendwende in Deutschland, der Schweiz und weiteren Landern auch im Fernverkehr Wendezuge im Einsatz. Dies ermoglicht, mit weniger Zugen eine hohere Anzahl an Fahrten zu realisieren. Zudem entfallt die Notwendigkeit, Rangiergleise und Rangierer vorzuhalten.
Lokomotivbespannte Wendezuge eignen sich gut fur den klassischen Regional- und Fernverkehr, wahrend Triebzuge vorteilhaft sind, wenn hohe Beschleunigungen gefordert werden oder hohe Geschwindigkeiten erreicht werden mussen. Die Triebzuge erreichen hohere Beschleunigung im Vergleich zu Wendezugen, da sie in der Regel uber mehr angetriebene Achsen als ein Wendezug verfugen, sodass großere Zugkrafte auf die Schienen ubertragen werden konnen. Im Hochgeschwindigkeitsverkehr bieten Triebzuge ebenfalls Vorteile, da die schwere Traktionsausrustung auf mehrere Fahrzeuge verteilt ist. Dies fuhrt zu geringeren Achslasten im Vergleich zu einer einzigen Lokomotive, was hohere Geschwindigkeiten in Kurven ermoglicht.
Wartungstechnisch bieten Wendezuge den Vorteil, dass nicht der gesamte Zug gleichzeitig zur Wartung geschickt werden muss. Zudem konnen die Wartungsintervalle individuell an die jeweiligen Fahrzeuge angepasst werden. Lokomotiven und Steuerwagen erfordern haufigere Wartungsarbeiten als Zwischenwagen, was eine flexible und effiziente Instandhaltung ermoglicht. Im Vergleich zu Triebzugen sind Lokomotiven einfacher zu warten, da sich die Traktionsausrustung gut zuganglich in einem Maschinenraum befindet. Bei Triebzugen hingegen ist die Ausrustung meist unterflur oder auf dem Dach angeordnet, was die Wartung erschwert. Wendezuge konnen auch in kurzeren Wartungshallen gewartet werden, da sie in einzelne Fahrzeuge zerlegt werden konnen. Im Gegensatz dazu benotigen Triebwagen stets Wartungsgleise, die so lang sind wie der gesamte Triebzug, es sei denn, man mochte auf die betrieblich nicht vorgesehenen und komplizierten Trennungen der Fahrzeuge zuruckgreifen.
Geschichte = Wendezuge mit Dampflokomotiven =
In England setzte die London and South Western Railway (LSWR) bereits um 1905 dampflokbespannte Wendezuge ein, wobei der Regler der Lokomotive uber mechanische Einrichtung vom Steuerwagen aus bedient wurde. Der Lokfuhrer auf dem Steuerwagen konnte zudem uber ein Klingelsystem mit dem auf der Lok verbliebenen Heizer kommunizieren, der sowohl das Feuer unterhielt als auch die Steuerung und die Sandstreuenrichtung bediente. Die mechanische Reglersteuerung erlaubte nur zwei Autocoach genannten Steuerwagen pro Lokomotivseite; die Steuerwagen konnten auch als Zwischenwagen eingesetzt werden. Dadurch war es moglich, Wendezuge mit Steuerwagen an beiden Zugenden zu bilden, sodass sich die Lokomotive in der Mitte des Zuges befand.
Die von der London, Brighton and South Coast Railway (LB&SCR) entwickelte Wendezugsteuerung, die mit Druckluft arbeitete, ermoglichte den Einsatz von zwei Zwischenwagen zwischen der Lokomotive und den Steuerwagen, sodass sich die Lokomotive in der Mitte des Zuges befand. Noch in den 1950er Jahren verkehrten Zuge mit sechs Wagen und einer Tenderlokomotive der LSWR-Klasse M7 in der Mitte des Zuges. Die als Autotrains bezeichneten Wendezuge, wurden von mehreren Bahnen im Vorortsverkehr von London und auf Nebenstrecken eingesetzt.
Britische Bahnen, die die Saugluftbremse einsetzten, wie zum Beispiel die Midland Railway (MR), die London, Midland and Scottish Railway (LMS) und die London and North Eastern Railway (LNER) setzten Steuerungen ein, die mit Vakuum arbeiteten.
In Frankreich verkehrten ab 1933 in Vorortsverkehr von Paris Zuge der Chemins de fer de l’Etat (ETAT), die aus Doppelstockwagen und Tenderlokomotiven der Baureihe Etat 42 001–42 020, ab 1938 SNCF 141 TC, gebildet wurden.
Die ersten Wendezuge in Deutschland waren die ab Mai 1936 von der Lubeck-Buchener Eisenbahn eingesetzten Doppelstock-Stromlinienzuge. Die speziell fur diesen Einsatz gebauten Tenderlokomotiven der spateren Baureihe 60 waren mit einer Stromlinienverkleidung versehen und konnten vom Lokfuhrer am anderen Zugende ferngesteuert werden.
In den 1950er Jahren rustete die Deutsche Bundesbahn mehrere Dampflokomotiven der Baureihen 38 und 78 mit einer indirekten Wendezugsteuerung aus, um sie beispielsweise im Wendezugbetrieb zwischen Frankfurt und Wiesbaden einzusetzen. Der Lokomotivfuhrer im Steuerwagen konnte hierbei nur die Zugbremse direkt bedienen. Die Befehle zum Beschleunigen oder Beibehalten der Geschwindigkeit gab er uber eine Klingelleitung oder Gegensprechanlage an einen besonders geschulten Heizer weiter, der den Regler und die Steuerung bediente. Das System ist mit einem Maschinentelegrafen auf einem Dampfschiff vergleichbar.
= Elektrische Wendezuge =
Wendezuge und die dafur erforderliche Vielfachsteuerung haben insbesondere in der Schweiz eine lange Tradition. Dies liegt daran, dass die Steuerung von Wendezugen mit elektrischer Signalubertragung einfacher umzusetzen ist, weshalb sie bereits fruh und mit geringem Mehraufwand eingebaut werden konnte. Die ersten Steuerwagen fur Pendelzuge wurden 1906 von der Martigny–Chatelard-Bahn (MC) beschafft. 1921 bestellten die SBB die ersten Triebwagen Ce 4/6 mit der Absicht, diese im Sandwichbetrieb oder mit Steuerwagen in Pendelzugen einzusetzen. Nach erfolgreichen Versuchen nach der Ablieferung 1923 wurden ab 1927 zusatzlich Gepacktriebwagen Fe 4/4 mit derselben Vielfachsteuerung in Betrieb genommen. Heute werden in der Schweiz fast alle Reisezuge von Pendelzuge oder Triebzuge gebildet.
In Deutschland wurden 1939 die Elektrolokomotive E 04 23 fur den Wendezugbetrieb ausgerustet und bis 1945 auf den Munchener Vorortbahnen erprobt.
Das Aufkommen der leistungsabhangigen und damit indirekten Fahrstufenansteuerung elektrischer Triebfahrzeuge in den 1950er Jahren fuhrte eine neue Generation von Fernsteuerungen ein. Die Fernsteuerung wurde vereinfacht, da nun ausschließlich ubergeordnete Steuerbefehle an das Triebfahrzeug gesendet werden mussten. Diese Form der Fernsteuerung muss nicht mehr auf alle fahrzeugspezifische Besonderheiten eingehen, da der Aufschaltvorgang des Triebfahrzeugs nicht mehr direkt von den Befehlen der Fernsteuerung eingeleitet wurde. Anstatt die genaue Stellung des Stufenschalters vorzugeben, genugte es, vorzugeben, ob Stufen auf- oder abgeschaltet werden sollten. Diese Befehle wurden von der Steuerung des Triebfahrzeugs umgesetzt, sobald die Bedingungen dafur dies zuließen. Die Ansteuerung verschiedener Fahrzeugtypen von den Steuerwagen aus wurde erleichtert, da Steuerung nicht mehr an die Anzahl der Fahrstufen des zu steuernden Triebfahrzeugs gebunden ist, sondern ausschließlich an die Art der Ansteuerung. Obwohl die Signalubertragung weiterhin analog blieb, waren im Fernsteuerkabel weniger Adern fur die Traktionssteuerung notwendig, wodurch Adern fur zusatzliche Funktionen frei wurden.
Die Einfuhrung von Mikroprozessorsteuerungen in den Triebfahrzeugen fuhrte zur nachsten Generation von Fernsteuerungen. Die Software konnte leicht erweitert werden, sodass die Steuerbefehle des Fernsteuerkabels vom Triebfahrzeug umgesetzt werden konnten. Heute ausgelieferte Triebfahrzeuge sind meist fernsteuerbar oder zumindest dafur vorbereitet. Altere Systeme verwenden eine elektrische Datenubertragung im Multiplexverfahren. Neuere Systeme verwenden den Wire Train Bus (WTB), der mit der Ubertragung von Telegrammen arbeitet.
Wendezuge mit zwei Steuerwagen Wendezuge mit dem Triebfahrzeug innerhalb des Zuges und Steuerwagen an beiden Enden sind eher selten, wurden jedoch im Vorortsverkehr von London bereits mit Dampflokomotiven eingesetzt. Ein Beispiel fur eine Anwendung in Deutschland sind die Zuge der S-Bahn Munchen, die wahrend der Olympischen Sommerspiele 1972 auf der Sonderlinie S25 zwischen dem Bahnhof Munchen Ost und dem Bahnhof Munchen Olympiastadion verkehrten. Die vier eingesetzten Zuge bestanden aus jeweils zwolf bis vierzehn n-Wagen. Da im Wendezugbetrieb maximal zehn Wagen vor der Lokomotive gesteuert werden konnten, waren diese Zuge an beiden Enden mit je einem Steuerwagen versehen, wahrend die Lokomotive der Baureihe 140 mittig eingereiht war.
In der Schweiz verstarken die SBB ihre doppelstockigen InterCity-Pendelzuge bei hohem Fahrgastaufkommen mit Modulen, die aus Einheitswagen IV, einem Steuerwagen und manchmal einer zusatzlichen Lokomotive bestehen. Bei der Montreux-Berner Oberland-Bahn (MOB) verkehren Wendezuge, die mit zwei Panorama-Steuerwagen ausgestattet sind, die den Reisenden durch die große Frontscheibe einen Blick auf die ermoglichen, wahrend der Triebfahrzeugfuhrer erhoht uber den Reisenden sitzt.
In Osterreich verkehrten als Nachfolger der Wiener Stadtbahn und Vorlaufer der S-Bahn Wien im Umland der Hauptstadt fruher sogenannte Pendler, offiziell als Kurzzug bezeichnet. Bei diesen Zugen war eine kleinere Dampf-, Diesel- oder Elektrolokomotive zwischen zwei geschobenen zweiachsigen Plattformwagen an der Vorderseite und weiteren zwei gezogenen zweiachsigen Plattformwagen an der Hinterseite eingewickelt.
Guterverkehr Wendezuge sind im Guterverkehr eher selten. In de Schweiz wurde jedoch ein Cargo-Pendelzug eingesetzt, der aus einer Elektrolokomotive, Containertragwagen und einem Endwagen, mit Dieselantrieb bestand, um Rangierfahrten auf nicht elektrifizierten Gleisen zu ermoglichen.
Fur den Bau der Autobahn A12 im Kanton Freiburg in der Schweiz mussten 1974 bis 1980 große Mengen Kies aus der Kiesgrube Grandvillard zum Werkplatz Vuadens transportiert werden. Dafur beschaffte die ehemalige GFM zwei Kiespendelzuge, die aus den BDe 4/4 141–142 und jeweils funf Kieswagen bestanden, wobei einer der Wagen einem Fuhrerstand ausgestattet war. Diese wurden als Fadt 751–752 und Fad 753–760 bezeichnet; der Fuhrerstand wurde 1981 ausgebaut.
Die Rhatische Bahn setzte beim Bau des Vereinatunnels einen Guterzug mit einem aus einem gedeckten Guterwagen umgebauten Befehlswagen ein, von dem aus der Zug indirekt gefuhrt wurde, sodass der Triebfahrzeugfuhrer in der Lokomotive verblieb.
Fur die Wengernalpbahn wurden einige Guterwagen mit Fuhrerstanden ausgerustet, da Guterwagen auf der Zahnstangenstrecke stets geschoben werden mussen. Die Bedienung der schiebenden Lokomotive kann jedoch auch mittels Funkfernsteuerung der He 2/2 31 und 32 von der Plattform eines Guterwagens aus erfolgen.
Sicherheit Steuerwagen sind wesentlich leichter als Triebfahrzeuge und haben deshalb kleinere Radaufstandskrafte, was sie anfalliger fur Entgleisungen macht. Eine schwere Lokomotive hat bessere Chancen, ein auf dem Gleis liegendes Hindernis wegzuschieben ohne zu entgleisen.
Im Flachland verlaufen solche Zwischenfalle meist glimpflich, da der Zug meistens an einer Boschung oder in einer Wiese zum Stehen kommt, wie Beispiele von Unfallen auf der Tosstalbahn oder der Broyelinie zeigen. Gebirgsbahnen verlaufen haufig entlang von Schluchten und steilen Abgrunden. Bei einer Entgleisung besteht somit die akute Gefahr, dass der Zug absturzt, was gravierende Folgen fur Reisenden und das Bahnpersonal sowie erheblichen Sachschaden am Rollmaterial zur Folge haben kann. Aus Sicherheitsgrunden fuhrt deshalb die Matterhorn-Gotthard-Bahn im Winter ihre Zuge uber den Oberalppass mit einer Lokomotive an der Spitze, um zu verhindern, dass die Zugspitze auf einen allfalligen Lawinenkegel aufsteigt.
Bei geschobenen Wendezugen muss die Entgleisungsicherheit der Zwischenwagen gewahrleistet sein, was durch die Beschrankung der Querbeschleunigung der Wagenkasten erfolgt. Hohe Wagenkastenquerbeschleunigungen treten besonders unter folgenden Bedingungen auf:
Bogenradius unter 200 Meter, sowohl in Weichen als auch auf Strecken. Besonders kritisch sind S-Bogen bei Spurwechsel in Kombination mit Gleisverwindungen, wie sie auftreten, wenn der Spurwechsel in einem Bogen liegt
Gleislagefehler im Bereich der Schienenstoße
Durch hohe Geschwindigkeiten hervorgerufene freie Querbeschleunigungen
Im August 2012 außerte Siemens gegenuber den Osterreichischen Bundesbahnen (OBB) Bedenken hinsichtlich der Sicherheit geschobener Railjet-Zugen auf der Semmering-Nordrampe. Siemens schloss Uberschreitungen der Wagenkastenquerbeschleunigungen nicht aus und empfahl den OBB, die Railjet-Zuge auf der Nordrampe zu ziehen, statt zu schieben. Die OBB entschied sich jedoch gegen die Umsetzung dieses Vorschlags, fuhrte jedoch auf bestimmten Abschnitten der Semmering-Nordrampe Geschwindigkeitseinschrankungen ein.
Bei geschobenen Zugen muss die Schiebekraft des Triebfahrzeugs uber die Puffer auf den Zug ubertragen werden. Voraussetzung dafur sind ausreichend dimensionierte Stoßbalken an den Wagenenden sowie gut geschmierte und geeignete Puffer mit genugend breiten Puffertellern, die auch bei der Fahrt durch enge S-Bogen nicht zu einer Uberpufferung und allenfalls zu einer Entgleisung fuhren. Lange Wagen mit einem kurzen Drehzapfenabstand haben einen großeren Plattformuberhang und dadurch großere seitliche Auslenkungen. Die Ertuchtigung solcher Wagen wie der OBB-Reihe 20-75 oder den Einheitswagen IV der SBB fur den Wendezugbetrieb erforderte einen hohen Aufwand.
Steife Mittelpufferkupplungen sind durch die Anlenkung der Kupplungsschafte naher an den Drehzapfen der Drehgestelle fur die Laufsicherheit von geschobenen Wagenzugen deutlich gunstiger, doch konnten sie sich im europaischen Raum bei Wagen fur den Wendezugdienst nicht durchsetzen. Etwas verbreiteter sind kinematisch identisch wirkende Steifkupplungen, beispielsweise bei den von Triebzugen abgeleiteten Skoda-Doppelstockwendezugen. Sie sind jedoch nur in Werkstatten trenn- und kuppelbar und damit betrieblich deutlich unflexibler.
Unfalle mit Steuerwagen an der Zugspitze Gleich zweimal waren in Frankreich die Vierstrom-TEE-Triebzuge der SBB in schwere Unfalle verwickelt. Am 5. Oktober 1962 kollidierte bei Montbard ein TEE Cisalpin mit 140 km/h mit einem auf dem Gegengleis verungluckten und ins Profil ragenden Kesselwagen, kippte um und rammte dann noch ein steinernes Warterhaus. Der Unfall forderte zehn Tote. Der beim Unfall beschadigte Steuerwagen wurde durch ein neues Fahrzeug ersetzt.
Am 26. Juni 1964 fuhr der TEE Cisalpin auf einem Bahnubergang zwischen Vaux-et-Chantegrue und Labergement-Sainte-Marie in einen Lastwagen, wobei drei Todesopfer zu beklagen waren.
In Schottland erfasste der Steuerwagen eines Schnellzugs am 30. Juli 1984 bei Polmont mit ungefahr 137 km/h eine Kuh. Der Kadaver des Tiers hob den Steuerwagen vom Gleis. Alle sechs Wagen und die schiebende Lokomotive der Class 47 entgleisten, 13 Menschen wurden getotet. Der Unfall fuhrte in Großbritannien zu einer Debatte uber die Sicherheit von Wendezugen.
In England kollidierte am 28. Februar 2001 bei Selby der Intercity 225 mit einem Land Rover Defender und einem beladenen Anhanger, die von der Autobahn M62 abkamen und auf der Bahntrasse zum Stillstand kamen. Dabei entgleiste der Steuerwagen und geriet in das Profil des Gegengleises, wo ein Kohlezug nahte. Der Guterzug zerstorte den Steuerwagen an der Zugspitze, der zum Zeitpunkt der Frontalkollision noch eine Geschwindigkeit von geschatzt 142 km/h hatte, nahezu vollstandig. Der Unfall forderte zehn Menschenleben.
Im Regionalverkehr und bei Schmalspurbahnen fordern die Unfalle wegen den geringeren Geschwindigkeiten meist weniger Opfer:
Beim Frontalzusammenstoss am 1. September 1984 im Wallis mit sechs Todesopfern war ein Steuerwagen der Chemin de fer Martigny–Orsieres beteiligt.
Alternativen = Triebzuge =
Eine Alternative zu lokomotivbespannten Wendezugen sind Triebzuge, bei denen der Antrieb auf mehrere Wagen verteilt wird. Die technische Entwicklung verringerte den Platzbedarf fur die Antriebsausrustung so stark, dass sie vollstandig ober- und unterhalb der Fahrgastraume untergebracht werden kann. Auf Lokomotiven oder Triebkopfe kann verzichtet werden, was bei gleicher Zuglange die Kapazitat erhoht.
Zudem ist das Reibungsgewicht solcher Triebzuge oft großer als bei lokbespannten Zugen, was eine großere Zugkraft und dadurch eine starke Beschleunigung ermoglicht. So sind attraktivere Fahrzeiten moglich oder es steht mehr Fahrgastwechselzeit in den Bahnhofen zur Verfugung.
Die einzelnen Bahnbetreiber wahlen unterschiedliche Fahrzeugkonzepte, um die Anforderungen eines wirtschaftlichen und kundengerechten Regional- und Fernverkehrs zu erfullen. Im Fernverkehr ohne Reservationspflicht ist eine Nachfragesteuerung nur beschrankt umsetzbar, was zu einer unterschiedlichen Auslastung der Zuge fuhrt. Um die Zuge der Nachfrage anzupassen, verkehren sie wahrend den Hauptverkehrszeiten in Mehrfachtraktion oder werden mit zusatzlichen Reisezugwagen erganzt. Der bei Triebzugen geringere Zeitbedarf fur das Kuppeln, Trennen und die Bremsprobe verringert die Dauer der Gleisbelegung und die Fahrstraßenbelegung in den Bahnhofen. Auch benotigen Triebzuge im Gegensatz zu nicht angetriebenen Wagengruppen keine Rangierlokomotiven und kein Rangierpersonal.
Bei den meisten Eisenbahnunternehmen in Europa haben sich im Nah- und Regionalverkehr Triebzuge bereits weitgehend durchgesetzt. Ab 2040 sind beispielsweise bei den Schweizerischen Bundesbahnen auch im Fernverkehr keine lokomotivbespannten Zuge mehr vorgesehen.
= Wendeschleifen und -dreiecke =
Um ein Umfahren des Triebfahrzeuges an Endbahnhofen zu umgehen, ist die Anlage einer Wendeschleife moglich. Diese wird vor allem bei Straßenbahnen angewendet, wobei oft Einrichtungsfahrzeuge verwendet werden, die nur auf einer Seite Turen haben.
Gerade in Amerika sind auch Wendedreiecke ublich, womit der gesamte Zug gedreht wird. So kann die Wagenreihenfolge ab der Spitze beibehalten werden und der letzte Wagen bleibt am Schluss des Zuges.
Siehe auch Zweirichtungsfahrzeug
Literatur Lexikon der Eisenbahn. 5. Auflage. Transpress VEB Verlag, Berlin 1978, S. 828 (Stichwort Wendezug)
Einzelnachweise Anmerkungen
|
Ein Wendezug, in der Schweiz Pendelzug, aus der englischen Sprache ubernommen auch Push-Pull-Zug, ist ein Zug, bestehend aus einem oder mehreren Triebfahrzeugen und Wagen, der an beiden Enden einen Fuhrerstand besitzt und je nach Fahrtrichtung vom einen oder anderen Fuhrerstand aus gefuhrt werden kann. Statt eines Triebfahrzeugs konnen sich an einem oder beiden Enden antriebslose Steuerwagen befinden. Der Vorteil eines Wendezuges besteht darin, dass bei einem Fahrtrichtungswechsel das Triebfahrzeug, das heißt die Lokomotive oder der Triebwagen, nicht umgesetzt werden muss.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Wendezug"
}
|
c-13993
|
Ein Steuerwagen ist ein antriebsloser Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen mit einem Fuhrerstand, von dem das nicht an der Zugspitze befindliche Triebfahrzeug uber eine direkte Wendezugsteuerung gesteuert werden kann. Die Fahrzeugeinrichtungen von Steuerwagen ahneln denen von Triebfahrzeugen, der Frontbereich eines Steuerwagens wird als Steuerkopf bezeichnet. Steuerwagen finden bei Wendezugen Verwendung, damit die Lokomotive an End- oder Kopfbahnhofen nicht umgesetzt werden muss. Der Einsatz von Steuerwagen sorgt fur eine Rationalisierung des Eisenbahnbetriebs, da der Fahrtrichtungswechsel schneller abgewickelt wird, keine Infrastruktur fur das Umsetzen notwendig ist und zusatzliches Personal in Form eines Rangierers eingespart wird: Nur der Lokomotivfuhrer wechselt den Fuhrerstand, wobei ein Fußmarsch entlang des Zuges notwendig ist, sofern nicht der Richtungswechsel mit einem Personalwechsel zusammenfallt.
Bei Anwendung einer indirekten Wendezugsteuerung handelt es sich nicht um einen Steuerwagen, sondern um einen Befehlswagen. Ist der steuernde Wagen selbst ein Triebfahrzeug, spricht man von einer Mehrfachtraktion.
Steuerwagen werden nach dem Bauart-Bezeichnungssystem fur Reisezugwagen in Deutschland und Osterreich mit dem Gattungsbuchstaben „f“ (Fuhrerstand) bezeichnet. In der Schweiz ist der Buchstabe „t“ als Kennzeichen gebrauchlich, in Italien „p“ (pilota). In einigen Landern gibt es keine spezifische Kennzeichnung fur Steuerwagen, das bei franzosischen Steuerwagen zu findende „x“ kann auch fur andere „spezielle Ausrustungen“ stehen.
Entwicklung Neben den klassischen Personenzugen, bei denen fur Richtungsanderungen Lokomotivwechsel durchgefuhrt oder die Lokomotive umgesetzt werden mussten, gab es bereits Personenzuge ohne Lokomotiven, die Triebzuge. Der Antrieb und die Fuhrerstande konnten in die Wagen verlegt werden, wodurch Platzbedarf und Gewicht verringert wurden. Zum Teil wurden dabei bereits Wendezuge gebildet, indem Triebwagen, Steuerwagen und Personenwagen aus dem normalen Wagenpark, die mit Steuer- und Hauptluftbehalterleitung ausgerustet wurden, zu Kompositionen variabler Lange zusammengestellt werden konnten. Insbesondere beim Kurzstreckendienst boten Triebwagen gegenuber lokbespannten Zugen deutliche Vorteile, weil die Wendezeiten geringer waren und kein zusatzliches Umsetzgleis notwendig ist.
Eine fruhe Form der Vielfachsteuerung durch von mechanischen Gelenkwellen angesteuerte Fahrschalter wurde bereits 1883 bei der Lokalbahn Modling–Hinterbruhl umgesetzt, zugleich erfand der Elektropionier Werner von Siemens hierbei die Moglichkeit des Steuerwagens. Aufgrund der Verbreitung der elektrischen Traktion und indirekten Steuerungen wie der Schutzensteuerung wurden Steuerwagen ab den 1900er Jahren elektrotechnisch umsetzbar. Vorerst blieb der Einsatz von Steuerwagen jedoch auf elektrische Triebwagen bzw. Triebzuge beschrankt.
Der Pionier bei lokbespannten Wendezugen war 1933 die franzosische Gesellschaft Chemins de fer de l’Etat mit ihren Doppelstock-Vorortszugen. 1936 folgte der Doppelstock-Stromlinien-Wendezug der Lubeck-Buchener Eisenbahn, bei dem am Zugende der letzte Doppelstockwagen mit einem Fuhrerstand ausgerustet wurde. Die zweiteiligen Doppelstockzuge wurden mit einer direkten Wendezugsteuerung ausgerustet, der Dampfregler der Lok wurde dabei durch einen Elektromotor bewegt. Versuche mit Steuerwagen und fur den Wendezugbetrieb umgerusteten Dampflokomotiven wurden auch von der damaligen Deutschen Reichsbahn (DR) durchgefuhrt, nachdem man ebenfalls 1936 nachgewiesen hatte, dass sich das Fahrverhalten eines geschobenen Zuges von dem eines gezogenen praktisch nicht unterscheidet.
Mit dem Wechsel von Dampftraktion zu elektrischer Traktion und auch Dieseltraktion begann die allgemeine Verbreitung von Steuerwagen, da die Fernsteuerung elektrischer Lokomotiven und von Diesellokomotiven praktischer und unkomplizierter vonstattengehen konnte als von Dampflokomotiven. Zunachst nur im Nahverkehr eingesetzt, ermoglichten moderne Steuerungssysteme und Verbesserungen der Laufeigenschaften ab den 1940er Jahren auch einen Einsatz im Fernverkehr. 1948 setzten die Schweizerischen Bundesbahnen erstmals einen Steuerwagen mit einer Lokomotive Re 4/4 in Schnellzugen Zurich–Luzern ein.
Ausrustung Als fuhrendes Fahrzeug mussen Steuerwagen wie Triebfahrzeuge mit einigen Ausrustungsgegenstanden ausgestattet sein, die sie von herkommlichen Wagen unterscheiden. Im Gegensatz zu den meisten Triebfahrzeugen sind die Ausrustungsgegenstande meist nur einseitig in Fahrtrichtung des Fuhrerstandes ausgerichtet. Ein Steuerwagen muss akustische Warnsignale von sich geben konnen, mit Signallichtern, einem Bahnraumer, einer Zugbeeinflussung und einer Sicherheitsfahrschaltung (SIFA) ausgestattet sein.
Teilweise sind Steuerwagen auch mit einer Sandstreu- und einer Spurkranzschmiereinrichtung sowie einer direktwirkenden Zusatzbremse ausgestattet.
Einsatz = Deutschland (nach 1950) =
Nahverkehr Bei der Deutschen Bundesbahn kamen Steuerwagen zunachst nur in Triebzugen vor, diese waren im Aussehen den entsprechenden Triebwagen angenahert, verfugten an einer Seite uber einen Fuhrerstand, jedoch uber keinen Antrieb. Das gab es bei den Vorkriegsentwicklungen, als auch bei den selbst entwickelten Triebzugen wie VT 08, VT 12, VT 98 und ETA 150. Die Triebwagen-Steuerwagen trugen und tragen eigene Baureihenbezeichnungen: VS 08, VS 12, VS 98 und ESA 150. Diese Steuerwagen waren nur mit dem entsprechenden Triebwagen einsetzbar und bis auf die VS 98 und ESA 150 fest mit den Triebzugen gekuppelt. Auch die zweiteiligen Dieseltriebzuge der Baureihe 628 verfugen lediglich uber ein angetriebenes Drehgestell; eine Halfte des Triebzuges ist als Steuerwagen ausgefuhrt und wird abweichend mit 928 bezeichnet.
Die Deutsche Bundesbahn beschaffte ab 1951 bei mit den Eilzugwagen auch Wagen mit Steuerabteil und Wendezugeinrichtung. Bei der Bestellung der n-Wagen orderte die DB auch im großeren Rahmen Steuerwagen bei verschiedenen Herstellern. Diese ersten Steuerwagen des Typs BDnf738 unterschieden sich von den Wagen ohne Steuerabteil lediglich durch den Einbau zweier Fenster, eines Gepackabteils und eines Behelfsfuhrerstands an einer Stirnseite des Wagens. Diese Wagen konnten wie ubliche Wagen auch zwischen zwei anderen Personenwagen eingereiht werden und besaßen Ubergange fur Fahrgaste. 1966 waren 350 Wagen dieser Bauart im Einsatz. Da der Fuhrerstand wenig Platz und Komfort bereitstellte, waren diese Steuerwagen fur einen konsequenten Einsatz vor Wendezugen nur bedingt geeignet; vom Lokomotivpersonal erhielten sie den Beinamen Hasenkasten. Bei Neubeschaffungen wurden ab 1971 reine Steuerwagen ohne Ubergangsmoglichkeit gewahlt, die mit einem regularen Fuhrerstand ausgestattet waren; die alten Steuerwagen wurden entweder umgebaut oder ausgemustert. Nach dem im AW Karlsruhe hergestellten Prototyp hießen diese Karlsruher Kopf. Bis 1977 wurden insgesamt 309 Wagen hergestellt. Auch altere Steuerwagen erhielten teilweise das neue Steuerabteil. Diese Steuerwagen konnten allerdings nur fur Diesel- oder fur Elektrotraktion verwendet werden. Sie wurden von unterschiedlichen Herstellern umgebaut, so dass es eine Vielzahl von Unterbauarten gibt.
Der in den 1970er Jahren von der Bundesbahn eingefuhrte S-Bahn-Betrieb eroffnete neue Einsatzmoglichkeiten fur Wendezuge. Bei der S-Bahn Rhein-Ruhr wurden zunachst testweise Triebwagen der Baureihe 420 eingesetzt. Fur eine Serienbestellung entschied man sich jedoch fur die Verwendung von lokbespannten Zugen, die in Verbindung mit Steuerwagen als feste Einheit im Wendezugbetrieb verkehren sollten. Ergebnis waren die x-Wagen, die zunachst in Verbindung mit Lokomotiven der Baureihe 111, nach der Wende mit Lokomotiven der Baureihe 143 eingesetzt wurden. Der dazugehorige Steuerwagen tragt die Bezeichnung Bxf796. Die ersten drei Prototypen dieses Steuerwagens wurden 1978 und 1979 fertiggestellt, von 1981 bis 1990 folgten 102 Steuerwagen fur die S-Bahn Rhein-Ruhr und die S-Bahn Nurnberg. Der Steuerwagen der x-Wagen war der erste mit zeitmultiplexer Wendezugsteuerung ausgerustete Typ. Dabei werden die Signale zur Steuerung der Lokomotive anders als bei fruheren Steuerwagen digital statt analog ubertragen. Daruber hinaus wurde erstmals der DB-Einheitsfuhrerstand verwendet.
Die Deutsche Reichsbahn verwendete im regularen Betrieb ebenfalls zunachst nur Steuerwagen bei Triebwageneinheiten. Die ersten Seriensteuerwagen fur lokomotivbespannte Zuge waren nach langeren Versuchen und dem Betrieb mit Einzelstucken die Umbauten aus E5-Mitteleinstiegssteuerwagen fur die S-Bahn Leipzig. Es folgen die funfteiligen Doppelstockgliederzuge DGBgqe der Bauart 1970, die vierteiligen Doppelstockeinheiten DBvqe der Bauart 1971 und schließlich ab 1974 die Doppelstockeinzelwagen DBmqe. Diese wurden bis 1990 geliefert und dabei mehrmals in Details verandert. In der Folge wurden auch vorhandene vierteilige Doppelstockeinheiten der Bauarten 1952 und 1961 mit Fuhrerstanden ausgerustet. Verwendet wurde eine 34-polige Wendezugsteuerung mit unterschiedlichen Fahrschaltertischen fur Diesel- und Elektrolokomotiven. Serienmaßig mit Wendezugsteuerung wurden die Baureihen 211, 242, 243, 110 und 118 sowie Umbauten aus diesen ausgerustet. Bis 1990 mussten allerdings die Strecken einzeln fur den Wendezugbetrieb zugelassen werden. Die Folge war eine vergleichsweise geringe Verbreitung. Insbesondere auf Nebenbahnen verkehrten Wendezuge nur in wenigen Fallen.
Nach der Wiedervereinigung wurden auf Basis der Gorlitzer Doppelstocksteuerwagen drei weitere Generationen entwickelt, deren Steuerwagen sich voneinander vor allem in der Kopfform unterscheiden.
Die Deutsche Bahn wollte einen variabel einsetzbaren Steuerwagen, fur Diesel- und Elektrotraktion, darum wurde im AW Wittenberge ein neuer Steuerwagentyp fur n-Wagen entwickelt, der fur beide Traktionsarten geeignet war und sich in der kantigen Kopfform vom Karlsruher Typ unterschied. Die Frontpartie wurde aus glasfaserverstarktem Kunststoff hergestellt. Zunachst wurden reine Sitzwagen umgebaut, spater auch Steuerwagen der ersten Bauarten. Teilweise erhielten diese Steuerwagen auch Fernscheinwerfer.
Ab 1994 entstanden bei den laufenden Modernisierungen von Halberstadter Mitteleinstiegswagen, auch Steuerwagen mit Wittenberger Kopf. Bis 1997 fanden 197 Umbauten in Bybdzf482statt.
Aus weitergehenden Umbauten gingen die Modus-Wagen hervor. Auf Bodenrahmen und Drehgestelle der Bmh-Wagen wurden neue Wagenkasten in Aluminiumbauweise gesetzt, wobei auch 45 fur 140 km/h zugelassene Steuerwagen entstanden. Diese erhielten eine neue, dynamische Kopfform, ein durchgehendes Fensterband und moderne Toiletten. Die Ausmusterung dieser Wagen war zum Fahrplanwechsel 2017 beendet.
Doppelstocksteuerwagen sind vor allem in Ballungsraumen anzutreffen; darunter ausschließlich solche mit Niederflureinstiegen. Die Wagen der Lieferung 1992 (DABgbuzf 760) wurden mit konventioneller 34-poliger und zusatzlich zeitmultiplexer Wendezugsteuerung geliefert, alle folgenden nur noch mit zeitmultiplexer.
Bombardier-Doppelstocksteuerwagen
Fernverkehr Erst seit 1995 gibt es in Deutschland auch Fernverkehrszuge mit Steuerwagen, die bis zu 14 Wagen lang sein konnen und 200 km/h erreichen. Da bisher nur Erfahrungen im Bereich bis 140 km/h vorlagen, wurden 1991 auf der Schnellfahrstrecke Mannheim–Stuttgart Versuchsfahrten mit fur 200 km/h geeigneten Steuerwagen der schwedischen Staatsbahn gemacht. Aufgrund der Ergebnisse entschied sich die DB, Steuerwagen fur den Fernverkehr in Auftrag zu geben. Die IC/IR-Steuerwagen entstanden durch Umbauten aus zum Umbauzeitpunkt erst wenige Jahre alten und praktisch neuwertigen Halberstadter Z-Wagen, indem diese mit einem Fuhrerstand und den notwendigen Steuerungseinrichtungen ausgestattet wurden. Auch ein Ballastgewicht zur Erhohung des Eigengewichtes wurde eingefugt. Es wurden zunachst 20 Wagen fur den IR-Verkehr und ab 1996 12 Wagen fur den IC-Verkehr gebaut. Ab 1997 wurden weitere Wagen zu Steuerwagen umgebaut, deren Basis Bom-Wagen der ehemaligen DR waren. 63 Wagen wurden ohne Druckertuchtigung gebaut, 12 Wagen mit Druckertuchtigung. 1999 wurden die beiden Steuerwagen des Metropolitan als Neubauten fertiggestellt. Diese siebenteiligen Hochgeschwindigkeitswagenzuggarnituren wurden fur 220 km/h zugelassen.
Auch einige Intercity-Express besitzen Steuerwagen: Da die erste Generation der ICE im Betrieb nicht teilbar sind und in Schwachlastzeiten daher nicht effizient genug genutzt werden konnten, wurde die Zuglange der Nachfolgebauart ICE 2 verringert und ein Triebkopf durch einen Steuerwagen ersetzt.
Die Deutsche Bahn setzt seit dem 13. Dezember 2015 unter der Markenbezeichnung Intercity 2 Wendezuge aus Doppelstockwagen des Typs Bombardier Twindexx Vario gemeinsam mit Lokomotiven der Baureihen 146.5 und 147.5 auf verschiedenen Intercity-Linien ein. Die zugehorigen Steuerwagen besitzen ein neues Design; ein erster Wagen wurde auf der Innotrans 2014 vorgestellt.
= Frankreich =
Abgesehen von den elektrischen Triebzugen der Metro und Vorortsbahnen kamen in Frankreich 1933 erstmals Wendezuge zum Einsatz, dies mit Doppelstockwagen und Dampflokomotiven. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mit Stahlwagen der Baujahre ab 1930 Wendezuge hergerichtet. Ab 1961 kamen die typischen Inox-Wageneinheiten RIB (Banlieue = Vorortsverkehr) und RIO (Omnibus = Regionalverkehr) in Betrieb, die aus drei bis vier fest gekuppelten Wagen bestanden, wobei der letzte Wagen immer als Steuerwagen ausgefuhrt war. Ab 1974 wurden diese Einheiten durch Doppelstockwagen erganzt und teilweise ersetzt. Auch diese Fahrzeuge waren von Beginn an fur den Wendezugbetrieb eingerichtet. Bereits 1978 kamen die ersten Corail-Steuerwagen in Betrieb, womit auch im Mittelstrecken- und Fernverkehr Wendezuge Einzug hielten.
= Osterreich =
In Osterreich waren Steuerwagen bis in die fruhen 1990er Jahre nur als Bestandteile von mehrteiligen Triebzugen ublich. Mit der Umstellung stark ausgelasteter Regionalverbindungen auf Wendezuge entstanden auch die erforderlichen Steuerwagen: erst fur die „City Shuttle“-Doppelstockwagen, danach auch solche, die zu den weit verbreiteten (eingeschossigen) Bmpz-Wagen passten. Außer den neu gebauten Elektrolokomotiven der Baureihen 1014, 1016/1116/1216 und 2016, die bereits im Auslieferungszustand wendezugfahig waren, wurden die Reihen 1042 und 1044 nachtraglich fur den Wendezugbetrieb adaptiert und in 1142 beziehungsweise 1144 umgezeichnet.
Im Fernverkehr kommen in wenigen Zugen deutsche IC/IR-Steuerwagen zum Einsatz, die erst 2007 eine Zulassung zum selbstandigen Steuern fur das Streckennetz der OBB erhalten haben. Hierbei handelt es sich jedoch um Garnituren der DB, die zwischen deutschen und osterreichischen Stadten unterwegs sind. Fernverkehrssteuerwagen der OBB kamen erstmals ab Dezember 2008 in Form der Railjet–Zuge fahrplanmaßig in Osterreich zum Einsatz. In manchen Fernzugen, wie den Intercitys von Graz Richtung Nordwesten, laufen auch planmaßig Steuerwagen der Gattung Bmpz-s 80-73 (CityShuttle Steuerwagen), um auch in Zugen, die aus Eurofima- und Modularwagen bestehen, einen Wendezugbetrieb gewahrleisten zu konnen.
Bei den Wiener U-Bahn-Zugen der Reihen V und X sind die Endwagen antriebslos und damit praktisch Steuerwagen mit eigenen Typenbezeichnungen v und x, doch sind die Einheiten fest gekuppelt und nur in der Werkstatt trennbar.
= Schweiz =
Klassisches Land der Steuerwagen ist die Schweiz. Im Zusammenhang mit der fruhen Elektrifizierung kam sehr bald der Gedanke auf, Zuge von einem zuerst als Zugfuhrungswagen bezeichneten Eisenbahnwagen aus zu steuern, um an den Endbahnhofen die zeitaufwandigen Wendemanover wie das Umstellen der Lokomotive ans andere Zugende zu eliminieren. Anders als im restlichen deutschen Sprachraum werden in der Schweiz solche Garnituren als Pendelzuge bezeichnet. Die Steuerung wird dabei als Vielfachsteuerung bezeichnet.
Die ersten Steuerwagen kamen 1906 auf der Martigny-Chatelard-Bahn zum Einsatz. Die SBB machten 1923 einen ersten Versuch mit einem behelfsmaßig umgebauten zweiachsigen Gepackwagen. Ab 1926 kamen 10 vierachsige Steuerwagen mit Holzkasten in Betrieb. In den Bauformen Leichtstahlwagen und Einheitswagen I, II und III wurden Steuerwagen in verschiedenen Ausfuhrungen (1./2. Klasse, 2. Klasse, 2. Klasse mit Gepackraum, Gepackwagen teilweise mit Postabteil) beschafft oder aus Umbau gewonnen. Zu den RBDe 4/4 (NPZ) entstanden Steuerwagen in gleicher Anzahl. Fur die S-Bahn Zurich wurden 115 Doppelstock-Pendelzuge (DPZ) mit Re 450 und Steuerwagen beschafft. Fur Pendelzuge mit den Re 460 wurden einstockige Steuerwagen des Typs Bt IC (aus der Baureihe der EuroCity-Wagen) und doppelstockige Bt IC2000 beschafft. Bei den normalspurigen Privatbahnen kamen ahnliche Bauarten wie bei der SBB in Betrieb, daneben gab es vielfaltige Umbauten aus den verschiedensten Wagentypen und einige Steuerwagen, die wagenbaulich auf den jeweiligen Triebwagen basierten. Mindestens so groß ist die Vielfalt auf Schmalspur. Neben schmalspurigen Einheitswagen und Niederflurwagen wurden zahlreiche Steuerwagen in ahnlicher Kastenform wie die zugehorigen Triebwagen gebaut.
= Ungarn =
Steuerwagen waren ab Mitte der 1960er Jahre im Vorortverkehr der ungarischen Hauptstadt Budapest so weit verbreitet, dass ein nahezu reiner Wendezugbetrieb moglich war. Bei Dampflokomotiven (vorwiegend der Reihe 424) wurde eine indirekte Steuerung angewendet, hier waren die Lokomotiven auch im Schiebedienst mit Personal besetzt, das vom Befehlswagen aus mit Meldelampen und Warnglocken zum Anfahren aufgefordert wurde. Der außerlich sichtbare Unterschied dieser Befehlswagen zu den ublichen im elektrischen Wendezugbetrieb verwendeten Wagen war der umlaufende rote Streifen unter den Fenstern. Mit der Einstellung des Dampfbetriebs wurden die Befehlswagen ebenfalls mit einer direkten Wendezugsteuerung ausgerustet. Der Einsatz erfolgte in der Regel mit Lokomotiven der Baureihe M41 (mit Steuerwagen BDt 100) und V43 (BDt 300), gelegentlich auch mit der Baureihe M40 (BDt 000) und V42 (Ward-Leonard, mit Steuerwagen BDt 200).
Hergestellt waren die Wagen passend zur Bhv-Serie mit zwei quadratischen Frontscheiben auf der senkrechten Stirnwand und zusatzlich angesetzter Dreilicht-Spitzenbeleuchtung. Hinter dem Fuhrerraum befinden sich ein Schwerlastabteil und ein kleines Sitzabteil. Ab dem mittleren Einstiegsraum entsprechen sie den ubrigen Bhv-Wagen. Ab Ende der 1990er Jahre wurden die Wagen schrittweise modernisiert und umgebaut, sodass heute kaum noch Steuerwagen im Originalzustand existieren. Die umgebauten Wagen haben ihre Grundaufteilung erhalten, jedoch wurden sie mit neuer Inneneinrichtung, Schwenkschiebeturen, isolierten Fenstern und modifizierter Stirnwand ausgestattet.
Daruber hinaus verwendete auch die Linie M1 der Metro Budapest von 1960 bis 1973 zweiachsige Steuerwagen zusammen mit vierachsigen Triebwagen.
Einschrankungen Die Lange von geschobenen Zugen war bei der Deutschen Bundesbahn ursprunglich aus Grunden der Seitenfuhrungsdynamik auf zehn Wagen beschrankt, wobei die maximale Hochstgeschwindigkeit 120 km/h, nach 1980 140 km/h, nicht uberschritten werden durfte. Zunachst stellte diese Tatsache kaum eine Einschrankung dar, da Steuerwagen hauptsachlich vor Nahverkehrszugen verwendet wurden, die geringe Geschwindigkeiten erreichten und selten aus mehr als sechs Wagen bestanden. Die Deutsche Reichsbahn handhabte den Wendezugbetrieb deutlich restriktiver, anfangs waren nur 28 Achsen vor der Lokomotive und geschoben eine Geschwindigkeit von 90 km/h zulassig, zusatzlich mussten die Strecken einzeln fur den Wendezugbetrieb zugelassen werden. Die zugelassenen Strecken waren in den SbV jeder Rbd einzeln aufgefuhrt. Musste mit einer Wendezugeinheit eine nicht zugelassene Strecke befahren werden, so war das Triebfahrzeug umzusetzen. Mit zunehmender Erfahrung wurden die Restriktionen in den 1970er Jahren gelockert. Mittlerweile sind Geschwindigkeiten von 160 km/h auch fur in Doppelstockbauweise ausgefuhrte und somit windempfindlichere Steuerwagen unbedenklich. 1995 ließ die Deutsche Bahn die ersten Steuerwagen fur den Fernverkehr mit 200 km/h umbauen. Sie entstanden aus Halberstadter Z2-Wagen, in einer ersten Lieferung im Interregioanstrich und wenig spater in einer nur wenig veranderten Bauart auch fur Intercityzuge. 2013 bestellte die Deutsche Bahn Doppelstockwagen mit Steuerwagen fur 190 km/h bei Skoda Transportation, die fur 200 km/h zugelassenen Steuerwagen des IC2000 werden in der Schweiz seit 1997 eingesetzt.
Eine Sonderstellung nehmen die ICE 2 ein, die dank einer Sondergenehmigung des Eisenbahn-Bundesamtes auf den Neubaustrecken mit Steuerwagen voraus bis zu 250 km/h fahren durfen. Hier hatte man anfangs große Probleme mit Seitenwind, der bei langsameren Wendezugen normalerweise keine Schwierigkeiten bereitet oder zumindest durch Erhohung der Achslast beherrschbar ist, bei hohen Geschwindigkeiten jedoch zu gefahrlichen Schwingungen des Wagenkastens fuhren kann. Aus diesem Grund musste die Strecke Hannover–Berlin beispielsweise mit Windwarnanlagen, die fur die ICE 2 mit an der Spitze laufendem Steuerwagen bei boig auftretendem Seitenwind die zulassige Geschwindigkeit selbsttatig auf 200 km/h reduzieren, Windschutzwanden und Windschutzwallen ausgerustet werden.
Nur wenn der Wagenzug uber einen Wire Train Bus verfugt, ist vom Steuerwagen aus ein Zugriff auf die Diagnosefunktionen moderner Lokomotiven moglich. Dies erleichtert die Bedienung der Lokomotiven vor allem im Storungsfall.
Steuerwagen im Guterverkehr Im Schienenguterverkehr sind nur in Einzelfallen Steuerwagen im Einsatz. Aufgrund der notwendigen durchgehenden Steuerleitung sind dies stets Spezialanwendungen. So wurde etwa der CargoSprinter fur den Bau der Zurcher Durchmesserlinie in einen Steuerwagen fur den Cargo-Pendelzug umgebaut. Dieser Steuerwagen verfugt uber einen Dieselmotor, welcher lediglich im Baustellenbereich benutzt wird und so auch ohne Oberleitung die Fortbewegung gewahrleistet. Wahrend des Baus der Autobahn im Freiburgerland (Schweiz) wurden die Baustellen ab dem Kieswerk Grandvillard mit Kies-Pendelzugen auf dem Meterspurnetz beliefert. Ein Wagen mit leerer Fuhrerkabine und Dreilicht-Spitzensignal ist heute noch vorhanden.
Steuerwagen bei der Straßenbahn Vergleichsweise selten sind Steuerwagen bei Straßenbahnen. In Deutschland setzte die Straßenbahn Idar-Oberstein von 1928 bis zu ihrer Stilllegung 1956 Wendezuge ein, bis 1976 waren solche bei der ehemaligen Straßenbahn Bonn–Godesberg–Mehlem im Einsatz. Auf den 1937 eingestellten Pariser Linien 123 und 124 der STCRP verkehrten ebenfalls Zuge aus Trieb- und Steuerwagen.
Im Jahr 2015 waren Steuerwagen beispielsweise noch bei der Straßenbahn Jewpatorija in der Ukraine, der Straßenbahn Alexandria in Agypten und der Uberlandlinie 179 der Straßenbahn Mailand anzutreffen.
Daruber hinaus besitzen manche Einrichtungs-Beiwagen am Heck einen Hilfsfuhrerstand, von dem aus im Falle einer Ruckwartsfahrt ebenfalls der Triebwagen ferngesteuert werden kann. Diese Funktion wird jedoch meist nur fur Rangierfahrten oder bei Betriebsstorungen benutzt, wobei in der Regel keine Fahrgaste im Wagen anwesend sind.
Literatur Erich Preuß: Wendezuge. Transpress Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-613-71165-6.
Weblinks Belegung eines 36-poligen Wendezugsteuerkabels (Seite 33) (PDF-Datei; 2,99 MB)
Einzelnachweise
|
Ein Steuerwagen ist ein antriebsloser Eisenbahn- oder Straßenbahnwagen mit einem Fuhrerstand, von dem das nicht an der Zugspitze befindliche Triebfahrzeug uber eine direkte Wendezugsteuerung gesteuert werden kann. Die Fahrzeugeinrichtungen von Steuerwagen ahneln denen von Triebfahrzeugen, der Frontbereich eines Steuerwagens wird als Steuerkopf bezeichnet. Steuerwagen finden bei Wendezugen Verwendung, damit die Lokomotive an End- oder Kopfbahnhofen nicht umgesetzt werden muss. Der Einsatz von Steuerwagen sorgt fur eine Rationalisierung des Eisenbahnbetriebs, da der Fahrtrichtungswechsel schneller abgewickelt wird, keine Infrastruktur fur das Umsetzen notwendig ist und zusatzliches Personal in Form eines Rangierers eingespart wird: Nur der Lokomotivfuhrer wechselt den Fuhrerstand, wobei ein Fußmarsch entlang des Zuges notwendig ist, sofern nicht der Richtungswechsel mit einem Personalwechsel zusammenfallt.
Bei Anwendung einer indirekten Wendezugsteuerung handelt es sich nicht um einen Steuerwagen, sondern um einen Befehlswagen. Ist der steuernde Wagen selbst ein Triebfahrzeug, spricht man von einer Mehrfachtraktion.
Steuerwagen werden nach dem Bauart-Bezeichnungssystem fur Reisezugwagen in Deutschland und Osterreich mit dem Gattungsbuchstaben „f“ (Fuhrerstand) bezeichnet. In der Schweiz ist der Buchstabe „t“ als Kennzeichen gebrauchlich, in Italien „p“ (pilota). In einigen Landern gibt es keine spezifische Kennzeichnung fur Steuerwagen, das bei franzosischen Steuerwagen zu findende „x“ kann auch fur andere „spezielle Ausrustungen“ stehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Steuerwagen"
}
|
c-13994
|
Die Stromlinie ist ein Begriff aus der Stromungslehre. Stromlinien sind geometrische Hilfsmittel zur anschaulichen Beschreibung einer Stromung (einer gerichteten Bewegung von Teilchen oder sich kontinuierlich bewegender Fluide). In stationarer Stromung ist eine Stromlinie auch der Weg, den ein Fluidelement oder ein kleines im Fluid schwebendes Teilchen nimmt.
Stromlinien sind die Kurven im Geschwindigkeitsfeld einer Stromung, deren Tangentenrichtung mit den Richtungen der Geschwindigkeitsvektoren ubereinstimmen, das heißt, sie verlaufen in jedem Punkt tangential an das Geschwindigkeitsfeld. Sie vermitteln einen anschaulichen Eindruck des momentanen Stromungsfeldes und weisen auf problematische Stromungsgebiete (z. B. Stromungsablosungen) hin.
Alle Stromlinien eines Stroms bilden zusammen die Stromrohre.
Die Stromlinien sind zusammen mit Bahnlinien, Streichlinien und Zeitlinien Bestandteile des Visualisierungskonzeptes „Charakteristische Linien“.
Bei einer stationaren Stromung stimmen die Stromlinien mit den Teilchenbahnen uberein. Bei der instationaren Stromung dagegen nicht, da die Stromlinien ein Bild der momentan vorhandenen Geschwindigkeitsrichtungen zeigen, die Teilchenbahnen hingegen die im Laufe der Zeit von einem Teilchen eingenommenen Geschwindigkeitsrichtungen darstellen.
Stromlinien lassen sich bei stationaren Stromungen experimentell im Windkanal, z. B. bei einer Autoumstromung, sichtbar machen. Meist sieht man im Windkanal allerdings Bahnlinien oder Streichlinien.
Eigenschaften Stromlinien konnen keinen Knick haben und sich auch nicht schneiden, da in einem Punkt nicht zugleich zwei verschiedene Stromungsgeschwindigkeiten herrschen konnen.
Eine Kontraktion (Zusammenrucken) der Stromlinien bedeutet im Unterschall eine Beschleunigung der Stromung, im Uberschall jedoch eine Verzogerung.
Divergierende Stromlinien zeigen im Unterschall eine Verzogerung der Stromung, im Uberschall jedoch eine Beschleunigung.
Bei gekrummten Stromlinien nimmt der Druck in zentrifugaler Richtung zu.
Bei geradlinigen, parallelen Stromlinien gibt es keine Druckanderung quer zur Stromlinie.
Orthogonal zu Stromlinien verlaufen die Linien konstanten Potentials.
Berechnung Sei
u
_
(
x
_
,
t
)
=
(
u
v
w
)
{\displaystyle {\underline {u}}({\underline {x}},t)={\begin{pmatrix}u\\v\\w\end{pmatrix}}}
mit
x
_
=
(
x
y
z
)
{\displaystyle {\underline {x}}={\begin{pmatrix}x\\y\\z\end{pmatrix}}}
ein dreidimensionales Stromungsfeld.
Die Stromlinien sind Kurven, die in jedem Punkt tangential zum momentanen Geschwindigkeitsfeld verlaufen. Es gilt also
d
x
_
×
u
_
≡
0
{\displaystyle \mathrm {d} {\underline {x}}\times {\underline {u}}\equiv 0}
bzw.
in parameterfreier Darstellung
d
x
u
=
d
y
v
=
d
z
w
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x}{u}}={\frac {\mathrm {d} y}{v}}={\frac {\mathrm {d} z}{w}}}
Mathematische Herleitung der Stromlinien-Differentialgleichung Die allgemeine parametrisierte Darstellung einer Stromlinie als Kurve entspricht
x
_
(
x
0
_
,
s
,
t
)
{\displaystyle {\underline {x}}({\underline {x_{0}}},s,t)}
, hierbei
ist
x
0
_
{\displaystyle {\underline {x_{0}}}}
ein beliebiger Startpunkt auf der Stromlinie,
s
{\displaystyle s}
der Kurven- und
t
{\displaystyle t}
der Schar-Parameter. Wird eine explizite Stromlinie zu einem bestimmten Zeitpunkt
T
{\displaystyle T}
betrachtet, wird dieser eingesetzt und somit ist die Kurve vollstandig durch den Parameter
s
{\displaystyle s}
beschrieben.
Der Tangenten-Einheitsvektor
τ
_
{\displaystyle {\underline {\tau }}}
der Kurve entspricht gerade:
τ
_
=
d
x
_
|
d
x
_
|
=
d
x
_
d
s
{\displaystyle {\underline {\tau }}={\frac {\mathrm {d} {\underline {x}}}{|\mathrm {d} {\underline {x}}|}}={\frac {\mathrm {d} {\underline {x}}}{\mathrm {d} s}}}
.
Betrachtet man zudem die Geschwindigkeit
u
_
(
x
_
,
t
)
{\displaystyle {\underline {u}}({\underline {x}},t)}
auf allen Punkten der Stromlinie zu dem gewahlten Zeitpunkt
T
{\displaystyle {T}}
, so erkennt man, dass der normierte Vektor der Geschwindigkeit
u
_
|
u
_
|
=
τ
_
{\displaystyle {\frac {\mathrm {\underline {u}} }{|{\underline {u}}|}}={\underline {\tau }}}
ist.
Setzt man nun diese beiden Ausdrucke fur den Tangenten-Einheitsvektor gleich, folgt:
τ
_
=
u
_
|
u
_
|
=
d
x
_
|
d
x
_
|
=
d
x
_
d
s
{\displaystyle {\underline {\tau }}={\frac {\underline {u}}{|{\underline {u}}|}}={\frac {\mathrm {d} {\underline {x}}}{|\mathrm {d} {\underline {x}}|}}={\frac {\mathrm {d} {\underline {x}}}{\mathrm {d} s}}}
und somit:
u
_
|
u
_
|
=
d
x
_
d
s
{\displaystyle {\frac {\underline {u}}{|{\underline {u}}|}}={\frac {\mathrm {d} {\underline {x}}}{\mathrm {d} s}}}
oder auch in Tensornotation:
d
x
i
d
s
=
u
i
|
u
k
u
k
|
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} {x_{i}}}{\mathrm {d} s}}={\frac {u_{i}}{|{\sqrt {u_{k}u_{k}}}|}}}
.
Diese vektorielle Gleichung fuhrt auf drei skalare Gleichungen:
d
x
1
d
s
=
u
1
u
1
2
+
u
2
2
+
u
3
2
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{1}}{\mathrm {d} s}}={\frac {u_{1}}{\sqrt {u_{1}^{2}+u_{2}^{2}+u_{3}^{2}}}}}
d
x
2
d
s
=
u
2
u
1
2
+
u
2
2
+
u
3
2
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{2}}{\mathrm {d} s}}={\frac {u_{2}}{\sqrt {u_{1}^{2}+u_{2}^{2}+u_{3}^{2}}}}}
d
x
3
d
s
=
u
3
u
1
2
+
u
2
2
+
u
3
2
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{3}}{\mathrm {d} s}}={\frac {u_{3}}{\sqrt {u_{1}^{2}+u_{2}^{2}+u_{3}^{2}}}}}
Dividiert man nun die Gleichungen durch einander, so ergibt sich die Form:
(1)/(2):
d
x
1
d
x
2
=
u
1
u
2
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{1}}{\mathrm {d} x_{2}}}={\frac {u_{1}}{u_{2}}}}
(2)/(3):
d
x
2
d
x
3
=
u
2
u
3
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{2}}{\mathrm {d} x_{3}}}={\frac {u_{2}}{u_{3}}}}
(3)/(1):
d
x
3
d
x
1
=
u
3
u
1
{\displaystyle {\frac {\mathrm {d} x_{3}}{\mathrm {d} x_{1}}}={\frac {u_{3}}{u_{1}}}}
Durch einfaches Umformen findet man somit die im Abschnitt Berechnung angegebene Form.
Bewegungsgleichung senkrecht zur Stromlinie Zur Erzeugung einer gekrummten Stromlinie in einer stationaren Stromung, muss eine entsprechende Zentripetalkraft vorhanden sein. Diese kommt durch einen Druckgradienten senkrecht zur Stromlinie (d. h. in radialer Richtung) zustande. Der Betrag dieses radialen Druckgradienten ist von der Stromungsgeschwindigkeit
c
{\displaystyle c}
, der Dichte
ρ
{\displaystyle \rho }
des Fluids und dem Krummungsradius
r
K
{\displaystyle r_{K}}
der Stromlinie abhangig:
∂
p
∂
r
=
ρ
⋅
c
2
r
K
{\displaystyle {\frac {\partial p}{\partial r}}={\frac {\rho \cdot c^{2}}{r_{K}}}}
Der Druck senkrecht zu einer gekrummten Stromlinie nimmt in radialer Richtung folglich zu.
Siehe auch Stromlinienform
Stromfaden
Stromlinienfahrzeug
Weblinks Einzelnachweise
|
Die Stromlinie ist ein Begriff aus der Stromungslehre. Stromlinien sind geometrische Hilfsmittel zur anschaulichen Beschreibung einer Stromung (einer gerichteten Bewegung von Teilchen oder sich kontinuierlich bewegender Fluide). In stationarer Stromung ist eine Stromlinie auch der Weg, den ein Fluidelement oder ein kleines im Fluid schwebendes Teilchen nimmt.
Stromlinien sind die Kurven im Geschwindigkeitsfeld einer Stromung, deren Tangentenrichtung mit den Richtungen der Geschwindigkeitsvektoren ubereinstimmen, das heißt, sie verlaufen in jedem Punkt tangential an das Geschwindigkeitsfeld. Sie vermitteln einen anschaulichen Eindruck des momentanen Stromungsfeldes und weisen auf problematische Stromungsgebiete (z. B. Stromungsablosungen) hin.
Alle Stromlinien eines Stroms bilden zusammen die Stromrohre.
Die Stromlinien sind zusammen mit Bahnlinien, Streichlinien und Zeitlinien Bestandteile des Visualisierungskonzeptes „Charakteristische Linien“.
Bei einer stationaren Stromung stimmen die Stromlinien mit den Teilchenbahnen uberein. Bei der instationaren Stromung dagegen nicht, da die Stromlinien ein Bild der momentan vorhandenen Geschwindigkeitsrichtungen zeigen, die Teilchenbahnen hingegen die im Laufe der Zeit von einem Teilchen eingenommenen Geschwindigkeitsrichtungen darstellen.
Stromlinien lassen sich bei stationaren Stromungen experimentell im Windkanal, z. B. bei einer Autoumstromung, sichtbar machen. Meist sieht man im Windkanal allerdings Bahnlinien oder Streichlinien.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Stromlinie"
}
|
c-13995
|
Die Leute von Santaroga (englischer Originaltitel The Santaroga Barrier) ist ein Roman von Frank Herbert. Der Roman wird gewohnlich dem Genre Science-Fiction zugeordnet. Allerdings finden sich fast keine typischen SF-Motive im Roman. Die bewusstseinsverandernde Droge „Jaspers“ ist das einzige SF-Element. Abgesehen davon stellt der Roman, je nach Lesart, eine Utopie oder Dystopie dar.
Handlung Die Hauptperson Gilbert Dasein ist ein Psychologe, der von einer Supermarktkette beauftragt wird, in der amerikanischen Kleinstadt Santaroga eine Marktanalyse durchzufuhren. Bislang mussten dort alle Niederlassungen außenstehender Konzerne mangels Umsatz wieder schließen. Daseins zwei Vorganger waren bei ihren Nachforschungen durch ganz normale Unfalle ums Leben gekommen. Dasein hat außerdem ein privates Interesse, Santaroga kennenzulernen: Seine Geliebte Jenny Sorge, die er noch aus seinem Studium kennt, ist aus Santaroga, und Gilbert hofft, die Beziehung wieder aufnehmen zu konnen.
Gilbert Dasein betritt Santaroga skeptisch und vorsichtig. Er bemerkt schnell, dass die Leute von Santaroga ein ausgesprochenes Zusammengehorigkeitsgefuhl sowie eine beispielhafte Aufrichtigkeit und Klarsichtigkeit besitzen. Laster wie Rauchen und passive Berieselung durch Werbung oder das Fernsehen sind unbekannt. Im Verlauf seiner Anwesenheit in Santaroga findet er sich immer starker von diesen Vorzugen seiner Einwohner angezogen.
Gleichzeitig bemerkt Gilbert Dasein, dass die Stadt einige Geheimnisse hat: „Jaspers“, ein Zusatz zu vielen Nahrungsmitteln, steht nur Einheimischen zu; es wird in der gut bewachten Kase-Kooperative hergestellt. Als Freund Jenny Sorges darf er allerdings auch „Jaspers“ zu sich nehmen und erlebt im Verlauf nur weniger Tage dessen bewusstseinsverandernde Eigenschaften. Infolge seiner Wandlung wird Dasein Teil der Leute von Santaroga und kann sie somit verstehen wie es kein Außenstehender konnte.
Neben der Aufklarung des Geheimnisses von Santaroga entwickelt sich der Roman an Gilbert Daseins Hin- und Hergerissensein zwischen Santaroga und der Welt draußen. Da Dasein wahrend weiter Teile des Romans mit je einem Fuß in den entsprechenden Gesellschaftssystemen steht, ist er besonders geeignet, Vor- und Nachteile zu erkennen.
Hintergrunde = Drogenkultur =
Der Roman entstand in der Zeit, als die bewusstseinsverandernden Eigenschaften von LSD erstmals systematisch untersucht wurden.
= Psychologie =
Die Namen der Hauptpersonen, Gilbert Dasein, Jenny Sorge und Dr. Piaget, sowie der Name der Droge, „Jaspers“, zeigen vom Autor beabsichtigte Bezuge.
„Jaspers“ weist auf den Psychiater und Philosophen Karl Jaspers hin. Der Begriff „Dasein“ bezeichnet bei Jaspers und Martin Heidegger den „ganzen transcendenten Menschen“, wahrend Heidegger „Sorge“ als das bezeichnet, um was „Dasein“ sich kummert. Den existenzphilosophischen Konflikt zwischen der Sorge im Dasein verarbeitet Frank Herbert literarisch in der Liebesgeschichte zwischen Jenny Sorge und Gilbert Dasein.
Die Kinder in Santaroga werden von Dr. Piaget, eine Anspielung auf den Entwicklungspsychologen Jean Piaget, erzogen, oder nach anderer Sicht, konditioniert.
Frank Herbert hatte die Ideen Karl Jaspers und Martin Heideggers bei seinem Studium in Santa Rose kennengelernt.
= Subjektivitat und Objektivitat =
Der Roman hinterfragt die allgemein angenommene Objektivitat der menschlichen Wahrnehmung. Erst nachdem Dasein der Droge „Jaspers“ ausgesetzt ist, kann er seine eigene Subjektivitat sehen. Hier finden sich Anklange an Karl Jaspers Vorstellung, dass wissenschaftliche Objektivitat ihre Grenzen hat.
= Entscheidungsfindung =
Gilbert Dasein findet sich in der Situation, eine Lebensentscheidung treffen zu mussen, ohne auf objektive oder rationale Argumente zuruckgreifen zu konnen. Seine intuitive Entscheidungsfindung reflektiert Karl Jaspers Ansicht, dass der Mensch in einer irrationalen Welt mit einer Vielzahl zufallig erscheinender Ereignisse gar nicht anders kann, als intuitiv zu entscheiden.
= Ideale des alten China =
Die Leute von Santaroga leben nach einigen der klassischen chinesischen Ideale wie einer Wertschatzung der Welt und ihres Lebens darin. Die Fremdheit dieser Welt kommt an mehreren Stellen des Romans zu Ausdruck, wenn etwa Dasein in den lachelnden aber unverstandenen und geheimnisvollen Santaroganern dem westlichen Klischee des Chinesen begegnet.
= Freiheit des Einzelnen =
Ein Aspekt des Romans ist die individuelle Freiheit Gilbert Daseins. Auf seiner Reise findet er sich zur Wahl zwischen zwei Gesellschaftssystemen gezwungen: Der Welt draußen, dem Amerika des Kommerz, und der Welt drinnen, der sich abschließenden Gesellschaft der Leute von Santaroga. Seine Verzweiflung erwachst aus der empfundenen Notwendigkeit, zwischen genau diesen beiden Alternativen zu wahlen. Er ubersieht allerdings, dass es auch andere Lebensweisen geben konnte.
= Bekehrung =
Der Weg Gilbert Daseins in die Welt der Leute von Santaroga hat Elemente einer Bekehrung in eine geschlossene religiose Gemeinschaft. Kennzeichen sind eine Unterteilung der Welt in „Wir“ und „Sie“, ohne einen Mittelweg zu erlauben. Jenny Sorge, die Geliebte Gilbert Daseins, besteht auf einem gemeinsamen Leben in Santaroga; eine Alternative ist ausgeschlossen.
Diese Gruppenzugehorigkeit wird in einigen Szenen auch von Außenstehenden erkannt, die die Leute von Santaroga aufgrund ihrer Andersartigkeit ausgrenzen.
Bezug zum ubrigen Werk Frank Herberts = Bewusstseinsveranderung =
Die Hauptperson Gilbert Dasein zeigt Parallelen zu Figuren anderer Romane Frank Herberts. Beispielsweise findet sich eine drogeninduzierte Bewusstseinserweiterung, wie sie Dasein erlebt, auch bei Paul Atreides im Wustenplaneten.
= Utopie oder Dystopie =
Frank Herbert sagt uber seine Darstellung Santarogas, dass „die Halfte seiner Leser Santaroga als Utopie, die andere Halfte es als Dystopie ansehen wurden“. Der Aufrichtigkeit, dem Zusammenhalt und dem Gemeinschaftssinn der Leute von Santaroga steht das Aufgeben der Individualitat gegenuber. Eine ahnliche Ambivalenz findet sich auch in der Welt des Wustenplaneten. Die am Ende des dritten Bandes errichtete Zukunftsvision einer perfekt regierten Gesellschaft hat neben ihrem Mangel an Wahlfreiheit ebenfalls attraktive Elemente wie Existenzsicherheit und Frieden.
Literatur uber „Die Leute von Santaroga“ Timothy O’Reilly, Frank Herbert, 1981, Frederick Ungar Publishing (Kap. 6), vergriffen jedoch online bei O’reilly
Ausgaben und Ubersetzungen Erstveroffentlichung Oktober 1967 bis Februar 1968 als Fortsetzungsroman bei Amazing Stories
Erste Buchausgabe 1968 bei Berkley Publishing Group, ISBN 0-425-07468-4
Ubersetzung ins Deutsche von Birgit Reß-Bohusch; 1. Auflage erschienen 1969 im Heyne Verlag ISBN 3-453-30591-4, ISBN 3-453-31313-5
|
Die Leute von Santaroga (englischer Originaltitel The Santaroga Barrier) ist ein Roman von Frank Herbert. Der Roman wird gewohnlich dem Genre Science-Fiction zugeordnet. Allerdings finden sich fast keine typischen SF-Motive im Roman. Die bewusstseinsverandernde Droge „Jaspers“ ist das einzige SF-Element. Abgesehen davon stellt der Roman, je nach Lesart, eine Utopie oder Dystopie dar.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Leute_von_Santaroga"
}
|
c-13996
|
Frank Patrick Herbert (* 8. Oktober 1920 in Tacoma, Washington; † 11. Februar 1986 in Madison, Wisconsin) war ein US-amerikanischer Fantasy- und Science-Fiction-Autor. Als sein wichtigstes Werk gilt der Romanzyklus Dune, der sich uber zwolf Millionen Mal verkaufte und bereits mehrfach verfilmt wurde.
Leben Nach eigener Aussage hegte Herbert bereits zu seinem achten Geburtstag den Wunsch, Schriftsteller zu werden. Da seine Familie jedoch in Armut lebte, boten sich ihm kaum Perspektiven, diesen Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Im Alter von 18 Jahren zog er schließlich zu Verwandten nach Salem im US-Bundesstaat Oregon, wo er die Schule beendete und als freier Journalist zu arbeiten begann. Um an Auftrage zu gelangen, falschte er unter anderem seine Dokumente, um alter zu erscheinen.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde Herbert in die Marine eingezogen, fur die er als Fotograf zum Einsatz kam. 1940 heiratete er seine erste Frau Flora Parkinson. Die Ehe hielt lediglich funf Jahre.
1946 lernte Herbert wahrend des Studiums an der Universitat von Washington in einem Seminar fur kreatives Schreiben seine zweite Frau, Beverly Ann Stuart, kennen, mit welcher er zwei Sohne hatte. Brian, der 1947 geboren wurde, ist ebenfalls schriftstellerisch tatig. Bruce, der 1951 zur Welt kam und 1993 an HIV starb, war Aktivist im Kampf fur die Rechte von Schwulen und Lesben.
Sein Studium brach Herbert bald wieder ab und begann in Seattle erneut, fur unterschiedliche Tageszeitungen als Journalist zu arbeiten. Nebenbei schrieb er erste Kurzgeschichten, die unter anderem im Esquire sowie unterschiedlichen Pulpmagazinen veroffentlicht wurden.
Nach sechs Jahren der Recherche und des Schreibens versuchte Herbert zuerst erfolglos, einen Verleger fur das erste Buch seines Romanzyklus Dune zu finden. Zwanzig Absagen spater erschien es endlich 1965, im hauptsachlich auf Ratgeberpublikationen spezialisierten Verlagshaus Chilton, und leitete den Beginn seiner literarischen Karriere ein. Unter anderem erhielt das Werk 1966 sowohl den erstmals vergebenen Nebula Award wie auch den renommierten Hugo Award. In dem Science-Fiction-Roman verknupft Herbert Probleme der Okologie mit philosophischen, politischen und sozialen Fragestellungen. Die spezifische Erzahltechnik, aus der Perspektive verschiedener Handlungstrager die Erzahlung zu verknupfen, nutzte er auch in seinen spateren Veroffentlichungen.
Ab 1970 unterrichtete Herbert selbst als Dozent an der Universitat von Washington. 1972 wurde er schließlich Vollzeitschriftsteller und hatte seit etwa 1980 neben seinem Wohnsitz im Bundesstaat Washington auch ein Haus auf Hawaii. Bis in die 1980er Jahre hinein war Herbert hochst produktiv. Es entstanden viele seiner bekanntesten Werke, darunter auch einige in Zusammenarbeit mit Bill Ransom. Nachdem seine Frau im Februar 1984 gestorben war, heiratete er Ende 1985 seine dritte Frau, Theresa Shackleford. Nur wenige Monate spater starb Herbert im Alter von 65 Jahren an den Folgen von Bauchspeicheldrusenkrebs in Madison. 2006 wurde er postum in die Science Fiction Hall of Fame aufgenommen.
Werke = Dune-Zyklus =
Herberts bekanntestes Werk ist der in viele Sprachen ubersetzte und aus sechs Buchern bestehende Romanzyklus Dune (dt. Der Wustenplanet). Der erste Band wurde mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet und erstmals 1984 von David Lynch fur die Kinoleinwand verfilmt, 2000 folgte ein Remake von John Harrison fur das Fernsehen und zuletzt eine zweiteilige Kinoverfilmung von Denis Villeneuve 2021 und 2024. Die Teile des Romanzyklus sind:
Dune (1963–1964 und 1965 als Fortsetzungsromane; umgearbeitete Fassung 1966 als Buch; Ubersetzung des Buches 1967, dt. Der Wustenplanet)
Dune Messiah (Juli bis Nov. 1969 als Fortsetzungsroman; 1969, dt. Der Herr des Wustenplaneten)
Children of Dune (Jan. bis April 1976 als Fortsetzungsroman; 1976, dt. Die Kinder des Wustenplaneten)
God Emperor of Dune (1981, dt. Der Gottkaiser des Wustenplaneten)
Heretics of Dune (1984, dt. Die Ketzer des Wustenplaneten)
Chapterhouse Dune (1985, dt. Die Ordensburg des Wustenplaneten)
Herbert arbeitete am siebten und letzten Band des Romanzyklus, als er verstarb. Aufzeichnungen zu diesem Roman und weitere Fragmente haben bereits als Vorlagen fur eine Reihe von in der Vorgeschichte angesiedelten Romanen gedient, die von Herberts Sohn Brian Herbert in Zusammenarbeit mit Kevin J. Anderson geschrieben wurden. Die Vollendung des Romanzyklus schlossen die beiden 2007 ab. Der siebte Band wurde zweigeteilt publiziert:
Hunters of Dune (2007, dt. Die Jager des Wustenplaneten)
Sandworms of Dune (2008, dt. Die Erloser des Wustenplaneten)
Diese Romane stellen nach Ansicht vieler Fans eine Abkehr von Herberts eigener Darstellung komplexer Ideen und der Auseinandersetzung mit dem menschlichen Leben dar. Auch der Stil der neuen Bucher ist weniger dicht und intensiv; es finden sich vermehrt reine Abenteuerelemente. Unabhangig davon erschien 1985 von Herbert die Kurzgeschichte The Road to Dune (1985, dt. Auf dem Wustenplaneten), ein Auszug aus dem fiktiven „Imperiumsfuhrer“, einer Art Touristenfuhrer. Der siebzehnseitige Text erschien 1990 exklusiv im Sammelband Auge mit Illustrationen von Jim Burns.
= Caleban-Zyklus =
Der Caleban-Zyklus Herberts wird in zwei Kurzgeschichten und zwei Romanen behandelt.
A Matter of Traces (dt. Aufs Geschirr kommt es an, Kurzgeschichte in Auge, 1958)
The Tactful Saboteur (dt. Der taktvolle Saboteur, Kurzgeschichte in Auge, 1964)
Whipping Star (dt. Der letzte Caleban, 1970)
The Dosadi Experiment (Mai bis Aug. 1977 als Fortsetzungsroman, 1977 dt. Das Dosadi-Experiment)
= Schiff-Zyklus (mit Bill Ransom) =
Do I Sleep or Wake (altern. Version von Destination Void, 1965)
Destination: Void (1966, dt. Ein Cyborg fallt aus, 1971 u. Neuaufl. 1987)
Destination: Void – Revised Edition (1978)
The Jesus Incident (1979, dt. Der Jesus-Zwischenfall 1981)
The Lazarus Effect (1983, dt. Der Lazarus-Effekt 1986)
The Ascension Factor (1988, dt. Der Himmelfahrtsfaktor 1989)
= Weitere Romane =
The Dragon in the Sea (Nov. 1955 bis Jan. 1956 als Fortsetzungsroman Under Pressure, erste Buchausg. 1956; dt. Atom-U-Boot S 1881; auch in Der Tod einer Stadt unter dem Titel Der Drache in der See)
The Green Brain (1965 als Fortsetzungsroman unter dem Titel Greenslaves, 1966 als Buch; dt. Das grune Herz; auch in Der Tod einer Stadt als Der Insektenkrieg)
Destination: Void (1965 als Fortsetzungsroman unter dem Titel Do I Wake or Dream?, sowie als Buch unter dem Titel Do I Sleep or Wake; 1966 in veranderter Fassung als Buch; dt. Ein Cyborg fallt aus); erster Band des Schiff-Zyklus; 1978 als Revised Edition (umfangreiche Neubearbeitung)
The Eyes of Heisenberg (Juni bis Aug. 1966 als Fortsetzungsroman unter dem Titel Heisenberg’s Eyes.; 1966 Buchausgabe; 1968 dt. Revolte gegen die Unsterblichen und 1983 dt. Die Augen Heisenbergs)
The Heaven Makers (April bis Juni 1967 als Fortsetzungsroman; 1968 als Buch; dt. Gefangen in der Ewigkeit oder Die Unsterblichen)
The Santaroga Barrier (Okt. 1967 bis Feb. 1968 als Fortsetzungsroman; 1968 Buchausgabe; dt. Die Leute von Santaroga)
Whipping Star (Jan. bis April 1970 als Fortsetzungsroman; 1970 Buchausgabe, dt. Der letzte Caleban)
Soul Catcher (1972)
The Godmakers (Mai 1958 als Fortsetzungsroman unter dem Titel You Take the High Road, Mai 1958 als Fortsetzungsroman unter dem Titel Operation Haystack, Febr. 1960 als Fortsetzungsroman unter dem Titel The Priests of Psi; 1972 Buchausgabe; dt. Die Riten der Gotter)
Hellstrom’s Hive (Nov. 1972 bis Marz 1973 als Fortsetzungsroman unter dem Titel Project 40; 1973 Buchausgabe; dt. Hellstrøms Brut).
Direct Descent (1954 als Fortsetzungsroman, 1980 Buchausgabe)
The White Plague (1982, dt. Die weiße Pest)
Man of Two Worlds (1986, mit Brian Herbert, dt. Mann zweier Welten)
High-Opp (posthum), WordFire Press 2012 ISBN 978-1-61475-038-3.
= Kurzgeschichten =
Survival of the Cunning, in „Esquire“, Marz 1945.
Yellow Fire, in „Alaska Life“ („Alaska Territorial Magazine“), Juni 1947.
Looking for Something? Startling Stories, April 1952.
Operation Syndrome, in Astounding, Juni 1954. ebenfalls in T.E. Diktys Best Science Fiction Stories and Novels, 1955.
The Gone Dogs, in „Amazing“, November 1954.
Packrat Planet, in „Astounding“, Dezember 1954.
Rat Race, in „Astounding“, Juli 1955.
Occupation Force, in „Fantastic“, August 1955.
Under Pressure (dreiteilig), in Astounding, November 1955 – Januar 1956.
The Nothing, in „Fantastic Universe“, Januar 1956.
Cease Fire in „Astounding“, Januar 1956.
Old Rambling House, in Galaxy, April 1958.
A Matter of Traces, in „Fantastic Universe“, November 1958.
Missing Link, in „Astounding“, Februar 1959. ebenfalls in „Author’s Choice“ Ed. Harry Harrison, New York: Berkley, 1968.
Egg and Ashes, in „Worlds of If“, November 1960.
Operation Haystack, in „Astounding“, Mai 1959.
The Priests of Psi, in „Fantastic“, Februar 1960.
A-W-F Unlimited, in „Galaxy“, Juni 1961.
Try to Remember, in „Amazing“, Oktober 1961.
Mating Call, in „Galaxy“, Oktober 1961.
Mindfield, in „Amazing“, Marz 1962.
Dune World, (dreiteilig) in „Analog“ Dezember 1963 – Februar 1964.
The Mary Celeste Move, in „Analog“, Oktober 1964.
Tactful Saboteur, in „Galaxy“, Oktober 1964.
The Prophet of Dune (funfteilig) in „Analog“, Januar – Mai 1965.
Greenslaves, in „Amazing“, Marz 1965.
Committee of the Whole, in „Galaxy“, April 1965.
The GM Effect, in „Analog“, Juni 1965.
Do I Wake or Dream?, in „Galaxy“, August 1965.
The Primitives, in „Galaxy“, April 1966.
Escape Felicity, in „Analog“, Juni 1966.
Heisenberg’s Eyes, (zweiteilig) in „Galaxy“, Juni – August 1966.
By the Book, in „Analog“, August 1966.
The Featherbedders, in „Analog“, August 1967.
The Heaven Makers, (zweiteilig) in „Amazing“, April – Juni 1967.
The Santaroga Barrier, (dreiteilig) in „Amazing“, Oktober 1967 – Februar 1968.
Dune Messiah, (funfteilig) in „Galaxy“, Juli – November 1969.
The Mind Bomb, in „Worlds of If“, Oktober 1969.
Seed Stock, in „Analog“, April 1970.
Whipping Star, (dreiteilig) in „Worlds of If“, Januar – April 1970.
Murder Will In, in „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“, Mai 1970.
Project 40 (dreiteilig) in „Galaxy“, November 1972 – Marz 1973. ebenfalls in „Five Fates“ by Keith Laumer, Poul Anderson, Frank Herbert, Gordon Dickson and Harlan Ellson. New York: Doubleday, 1970.
Encounter in a Lonely Place in „The Book of Frank Herbert“, 1973.
Gambling Device, in „The Book of Frank Herbert“, 1973.
Passage for Piano, in „The Book of Frank Herbert“, 1973.
The Death of a City, in „Future City“, 1973.
Children of Dune (vierteilig) in „Analog“, Januar – April 1976.
The Dosadi Experiment (vierteilig) in „Galaxy“, Mai – August 1977.
Come to the Party, in „Analog“, Dezember 1978.
Songs of a Sentient Flute, in „Analog“, Februar 1979.
Frogs and Scientists, Eye, 1985.
Kurzgeschichtensammlungen in deutscher Sprache
The Book of Frank Herbert (dt. Herrscher der Erde TERRA-Taschenbuch Nr. 249, 1974): Der Mann ohne Talente (auch „Der Nichts“); Herrscher der Erde (auch „Suchen Sie Was?“); Hundepest (auch „Die verschwundenen Hunde“); Platz fur Piano (auch „Transit fur einen Flugel“); ESP (auch „Begegnung an einem einsamen Ort“); Epidemie des Wahnsinns (auch „Das Zerhackersyndrom“); Die Invasoren (auch „Besatzungsmacht“)
Eye (dt. Auge, illustriert von Jim Burns, 1985): Rattenrennen; Der Drache in der See; Feuer einstellen!; Aufs Geschirr kommt es an; Erinnert Euch!; Der taktvolle Saboteur; Auf dem Wustenplaneten; Streng nach Vorschrift; Saatgut; Komm zu mir, mein Morder!; Transit fur einen Flugel; Der Tod einer Stadt, Frosche und Forscher
Der Tod einer Stadt (Heyne, 1994; alle Kurzgeschichten außer „Auf dem Wustenplaneten“): Suchen Sie Was?; Zerhackersyndrom; Die verschwundenen Hunde; Rattenrennen; Besatzungsmacht; Der Drache in der See; Der Nichts; Feuer einstellen!; Das wandernde Haus; Aufs Geschirr kommt es an; Werben mit beschrankter Haftung; Paarungsruf; Erinnert Euch!; Gedankenfeld; Unter Einschluss der Offentlichkeit; Die Mary-Celest-Umzuge; Der taktvolle Saboteur; Der Insektenkrieg; Der GG-Effekt; Jenseits der Dunkelwolke; Streng nach Vorschrift; Jeder Floh hat seine Flohe; Die Denkbombe; Saatgut; Komm zu mir, mein Morder!; Transit fur einen Flugel; Der Spielautomat; Begegnung an einem einsamen Ort; Der Tod einer Stadt, Frosche und Forscher
Literatur Monographien
Brian Herbert: Dreamer of Dune. The Biography of Frank Herbert. Tor, New York 2003, ISBN 0-7653-0646-8.
Tim O’Reilly: Frank Herbert. Frederick Ungar Publishing, New York, 1981, ISBN 978-0-8044-6617-2, S. 216 (englisch, oreilly.com).
William F. Touponce: Frank Herbert. Twayne, Boston 1988, ISBN 0-8057-7514-5.
Lexika
Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn: Reclams Science-fiction-Fuhrer. Reclam, Stuttgart 1982, ISBN 3-15-010312-6, S. 201–204.
Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn, Wolfgang Jeschke: Lexikon der Science Fiction Literatur. Heyne, Munchen 1991, ISBN 3-453-02453-2, S. 539–541.
Don D’Ammassa: Encyclopedia of Science Fiction. Facts On File, New York 2005, ISBN 0-8160-5924-1, S. 184 f.
Malcolm Edwards, John Clute: Herbert, Frank. In: John Clute, Peter Nicholls: The Encyclopedia of Science Fiction. 3. Auflage (Online-Ausgabe), Version vom 5. Januar 2018.
Gina Macdonald: Herbert, Frank (Patrick). In: Noelle Watson, Paul E. Schellinger: Twentieth-Century Science-Fiction Writers. St. James Press, Chicago 1991, ISBN 1-55862-111-3, S. 370–373.
George Mann: The Mammoth Encyclopedia of Science Fiction. Robinson, London 2001, ISBN 1-84119-177-9, S. 173–176.
Robert Reginald: Science Fiction and Fantasy Literature. A Checklist, 1700–1974 with Contemporary Science Fiction Authors II. Gale, Detroit 1979, ISBN 0-8103-1051-1, S. 935.
Robert Reginald: Contemporary Science Fiction Authors. Arno Press, New York 1974, ISBN 0-405-06332-6, S. 130.
Donald H. Tuck: The Encyclopedia of Science Fiction and Fantasy through 1968. Advent, Chicago 1974, ISBN 0-911682-20-1, S. 217 f.
Artikel
Linus Hauser: Wurmgott Heilbringer. Der techno-theologische Messiasgedanke in Frank Herberts Wustenplanet-Romanen. In: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science-Fiction-Magazin #12. Munchen 1985, ISBN 3-453-31125-6, S. 133–169.
Dietrich Wachler: Das Experiment mit dem Menschen. Frank Herberts maßvolle Beschreibung einer maßlosen Versuchung. In: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science-Fiction-Magazin #12. Munchen 1985, ISBN 3-453-31125-6, S. 105–132.
Weblinks Literatur von und uber Frank Herbert im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Frank Herbert in der Internet Speculative Fiction Database (englisch)
Frank Herbert in der Science Fiction Awards+ Database
Werke von Herbert, Frank im Project Gutenberg
Frank Herbert bei IMDb
Werke von Frank Herbert bei Open Library
Frank Herbert in Fantastic Fiction (englisch)
Frank Herbert in der Fancyclopedia 3 (englisch)
Einzelnachweise
|
Frank Patrick Herbert (* 8. Oktober 1920 in Tacoma, Washington; † 11. Februar 1986 in Madison, Wisconsin) war ein US-amerikanischer Fantasy- und Science-Fiction-Autor. Als sein wichtigstes Werk gilt der Romanzyklus Dune, der sich uber zwolf Millionen Mal verkaufte und bereits mehrfach verfilmt wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Frank_Herbert"
}
|
c-13997
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Drogen"
}
|
||
c-13998
|
Die Psychologie (von altgriechisch ψυχη psyche fur „Seele, Gemut“, und λογιος logios fur „Kunde, Wissenschaft“), deutsch historisch auch Seelenkunde genannt, ist eine empirische Wissenschaft, deren Ziel es ist, menschliches Erleben und Verhalten, deren Entwicklung im Laufe des Lebens sowie alle dafur maßgeblichen inneren und außeren Faktoren und Bedingungen sowie Verfahren zu ihrer Veranderung zu erforschen, zu beschreiben und zu erklaren. Personen, deren Berufsbild durch die Anwendung psychologischen Wissens charakterisiert ist und deren Bezeichnung in Deutschland ein Hochschulstudium im Hauptfach Psychologie voraussetzt, sind Psychologen.
Einordnung Die Psychologie lasst sich in ihrer gesamten Breite weder nur den Naturwissenschaften noch den Sozialwissenschaften oder Geisteswissenschaften zuordnen. Eine ubliche, aus dem angelsachsischen Raum stammende Einteilung untergliedert Psychologie im Sinne der Behavioural sciences in Verhaltenswissenschaft, Kognitionswissenschaft und Neurowissenschaft. Da mittels rein naturwissenschaftlich-empirischer Forschung nicht alle psychologischen Phanomene erfasst werden konnen, ist auch auf die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Anteile in der Psychologie zu verweisen. Mit der Experimentalpsychologie hat sich ein Zweig der psychologischen Forschung etabliert, der sich bereichsubergreifend des Experiments als wissenschaftlicher Methode bedient.
In der modernen Psychologie bilden eine allgemeine Anthropologie und Statistik die gemeinsame Grundlage. Viele psychologische Forschungsgebiete folgen aber z. T. auch in der Methode bestimmten Anwendungen, z. B. in Medizin, Psychotherapie und Psychiatrie, Padagogik, Marketing und Human Resources, zu denen sie eine gemeinsame fundierte Grundlage liefern sollen. So kommen z. B. auch Methoden der Neurologie, bildgebende Verfahren, Textanalyse, ethnografische Beobachtungen oder spieltheoretische Modellierungen als psychologische Methoden in Frage.
Die sogenannte Alltagspsychologie hingegen ist selbst vereinzelt Gegenstand der akademischen Disziplin. Diese beruft sich gerne auf den sogenannten „gesunden Menschenverstand“ oder anekdotische Erfahrungen. Ihre Erkenntnisse genugen wissenschaftlichen Anspruchen, etwa hinsichtlich ihrer Objektivitat, Reliabilitat und Validitat jedoch nicht, selbst wo sie sich bestatigen lassen, ist ihre Generalisierbarkeit fraglich. Das Vorverstandnis der Alltagspsychologie ist jedoch nach wie vor eine wichtige Quelle fur wissenschaftliche Hypothesen.
Wortherkunft Der Ausdruck Psychologie ist eine Wortbildung aus altgriechisch ψυχη psyche‚ deutsch Seele, Geist, Herz, Gemut, Mut, Uberzeugung, Denkvermogen sowie Hauch, Atem, Leben, Lebenskraft, Seele, Geist, Gemut und λογιος logios, lateinisch doctus, deutsch gelehrt, bewandert. Der Begriff Psychologie findet sich erstmals 1517 im Buch Psichiologia de ratione animae humanae des kroatischen Humanisten Marko Marulic und gehort seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts sowohl der Fach- als auch Gemeinsprache an. Im Deutschen erscheint das Wort „Psychologie“ erstmals in den Schriften des Philosophen und Universalgelehrten Christian Wolff (1679–1754).
Ursprung und Geschichte Die Auffassung uber Psychologie als Wissenschaftsdisziplin unterliegt einem historischen Wandlungsprozess, immer im Spannungsfeld zwischen Geistes- und Naturwissenschaften liegend. Psychologie wurde als eigenstandige akademische Disziplin Ende des 19. Jahrhunderts in damaligen wissenschaftlichen Zentren Deutschlands wie Leipzig und Konigsberg begrundet.
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war die Psychologie ein Teil der Philosophie. Sie wurde als „spekulative“ oder „rationale“, also nicht-empirische, Psychologie meist der Metaphysik zugeordnet. Der deutsche Aufklarungsphilosoph Christian Wolff setzte dieser „rationalen“ Psychologie bereits eine „empirische“ entgegen, meinte damit aber eine introspektive, also nach heutigem Sprachgebrauch gerade nicht empirische Psychologie.
Wiewohl anfangs die Introspektion anerkannte Methode in den fruhen psychologischen Experimenten war und erst spater wegen erkannter methodischer Probleme und besserer indirekter Beobachtungsmethoden – besonders durch die Gestaltpsychologie der Wurzburger Schule – aus dem Repertoire der Psychologie weitgehend verschwand. Im Unterschied zu den Begriffen Seele oder Geist als Synonyme fur Psyche sind sie im metaphysischen beziehungsweise theologischen Sinn nicht Gegenstand der heutigen Psychologie. Bei ihrer Begrundung im 19. Jahrhundert wurden metaphysische Elemente explizit ausgeklammert, jedoch deren Gegenstande – naturlich mit Beschrankung auf im gewahlten methodischen Zugang auch untersuchbare Bereiche – in Kombination damals neuer Methoden der Biologie und Physik, spater auch der modernen Inferenzstatistik, erforscht.
Die Ausgestaltung der Psychologie als eine eigene akademische Disziplin geht einher mit der durchaus kompromisshaften Losung methodologischer Probleme. Moglich wurde dies durch neue Erkenntnisse der Experimentalphysik und Neuerungen insbesondere der Biologie, genauer: der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts (Psychophysik).
In Leipzig grundete Wilhelm Wundt gemeinsam mit Gustav Theodor Fechner 1879 (zunachst als Privatinstitut) das Institut fur experimentelle Psychologie. Um diese beiden sammelte sich binnen kurzer Zeit ein Kreis engagierter junger Forscher, zu denen unter anderem Emil Kraepelin, Hugo Munsterberg und James McKeen Cattell gehorten. 1883 wurde das Institut offizielles Universitatsinstitut. Wundts Erkenntnistheorie und Methodologie waren fundamental von Gottfried Wilhelm Leibniz und dessen Erkenntnis- und Prinzipienlehre beeinflusst, außerdem von Immanuel Kant, und durch Kritik an Herbarts spekulativer Lehre – im Unterschied zu Gustav Theodor Fechners Psychophysik.
Insbesondere Johann Friedrich Herbart, ab 1809 Nachfolger Immanuel Kants auf dessen Konigsberger Lehrstuhl, bemuhte sich mit zahlreichen Veroffentlichungen um eine eigene Lehre der Psychologie. Dies ist deshalb nicht so gelaufig, da Herbart vornehmlich als Begrunder der wissenschaftlichen Padagogik gilt. Dennoch ist die Bedeutung Herbarts fur beide Disziplinen nicht zu unterschatzen.
Neben Herbart gehort Friedrich Beneke zu denen, die den Weg zur experimentellen Psychologie ebneten. Beneke war einer der ersten deutschen Philosophen, die von einer empirischen Herangehensweise an die Psychologie uberzeugt waren.
1896 verwendete Sigmund Freud erstmals den Begriff Psychoanalyse. Die Psychoanalyse stutze sich damals vornehmlich auf Praxisbeobachtungen, aus denen sie ihr wirkmachtiges Modell der Mechanismen des Erlebens und Verhaltens entwickelte. Im wissenschaftlichen Betrieb dominieren jedoch – nicht zuletzt wegen ihrer hoheren methodischen Strenge – spatestens im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts behavioristische Paradigmen, die sich auf reliabel beobachtbare Faktoren stutzten. Die Psychoanalyse ist heute ein psychotherapeutisches Verfahren zur Behandlung psychischer Erkrankungen.
Die Tierpsychologie (heute: Verhaltensforschung) sonderte sich im fruhen 20. Jahrhundert unter Konrad Lorenz als eigenstandiges Fach von der Psychologie ab. Sie ging ebenfalls maßgeblich vom ehemaligen Lehrstuhl Kants aus.
Standortbestimmung Entgegen ihrem Bild und dem Verstandnis in der Offentlichkeit ist die in den akademischen Institutionen betriebene und gelehrte Psychologie eine streng empirische Wissenschaft. Als empirischer Wissenschaft vom Erleben und Verhalten obliegt es der Psychologie, Theorien und daraus abgeleitete Modelle, Hypothesen, Annahmen fur die Beantwortung einer konkreten Fragestellung usw. mit geeigneten wissenschaftlichen Methoden empirisch zu prufen. Die Methodik ist uberwiegend naturwissenschaftlich, mithin quantitativ, in Verbindung mit experimentellem oder quasi-experimentellem Vorgehen, ausgelegt. Daher stellen die Mathematik, insbesondere die Deskriptive Statistik, die Stochastik – hier besonders die Induktive Statistik und die statistischen Testverfahren – sowie zunehmend Ansatze der Systemtheorie – insbesondere die mathematische Systemanalyse – wichtige Werkzeuge der Psychologen dar.
Als empirische Humanwissenschaft unterscheidet sich Psychologie von verwandten Forschungsgebieten anderer Facher, die zum Teil eigene „Psychologien“ inkorporieren, wie beispielsweise Philosophie, Soziologie, Padagogik, Anthropologie, Ethnologie, Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Allgemeine Linguistik, Medizin und Zahnmedizin oder Biologie, durch naturwissenschaftlich-experimentelle Ausrichtung: Mentale Prozesse, konkrete Verhaltensmechanismen sowie Interaktionen von mentalen Prozessen und dem Verhalten von Menschen werden beschrieben und erklart, wobei Uberschneidungen bis hin zur Interdisziplinaritat moglich sind. Diese Abgrenzung kann als eine erweiterte Definition der Psychologie gelesen werden.
Methodisch finden sich heute neben den naturwissenschaftlichen Ansatzen auch solche der empirischen Sozialwissenschaften. Eine Schwerpunktsetzung schwankt je nach Ausrichtung eines psychologischen Fachbereiches. Vorherrschend sind hier quantitative Methoden, wiewohl auch qualitative Methoden zum Repertoire gehoren, zum Beispiel Grounded Theory oder Inhaltsanalyse. Die Trennung zwischen qualitativer und quantitativer Sozialforschung ist nicht immer eindeutig: Die Psychologie unterscheidet eher zwischen primar naturwissenschaftlichen und primar sozialwissenschaftlichen methodischen Ansatzen, die sehr oft neben den quantitativen in einer gewissen Art und Weise auch qualitative Aspekte beinhalten. Eine Trennung zwischen natur- und sozialwissenschaftlichen Ansatzen ist nicht immer eindeutig moglich.
Insbesondere bei mathematischen und statistischen Modellierungen ist, wie sonst in der quantitativ gepragten psychologischen Arbeitsweise, das Vorgehen nicht zwingend deduktiv.
In der Psychologie wie in anderen Naturwissenschaften und der Medizin werden auch Tierversuche durchgefuhrt, sowohl im Rahmen der psychologischen Grundlagenforschung, vornehmlich der Allgemeinen und der Biopsychologie, als auch zum Beispiel in der Klinischen Psychologie. Schon in den 1920er Jahren, vor allem im Rahmen der Lernforschung durchgefuhrt, wurden sie grundlegender Bestandteil der Aggressions-, Stress- und Angstforschung, spater auch der Depressionsforschung und der Wahrnehmungsforschung. Insbesondere bei neuropsychologischen Fragestellungen wurden sie nochmals, besonders in Form von Lasionsexperimenten, verstarkt eingesetzt. Heute werden sie vornehmlich in Forschungen zur Psychoneuroendokrinologie und -immunologie, zur Ernahrungspsychologie und zum Beispiel auch in der Erforschung selbstverletzenden Verhaltens, vor allem aber in der Suchtforschung eingesetzt.
Eine rein „geisteswissenschaftlich“ verstandene Psychologie lasst sich aus der Philosophie als „verstehende Psychologie“ (Wilhelm Dilthey) ableiten. Die Psychologie ist nach moderner Auffassung nur insoweit eine „Geisteswissenschaft“, zumindest bezogen auf die englische Bedeutung der Humanities, als sie sich mit dem Menschen, genauer gesagt mit den ausgewahlten Aspekten des Menschseins, eben dem zu beobachtenden Erleben und Verhalten, befasst. Im akademischen Betrieb spielen diese Ansatze daher nur eine geringe Rolle.
Mit der Entwicklung Psychologie als Wissenschaft und der generellen Metaphysikkritik ist der Philosophie der Bereich der Philosophie des Geistes verblieben.
= Abgrenzung =
Manchmal wird die Psychologie mit Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychoanalyse verwechselt oder falschlicherweise gleichgesetzt.
Psychotherapie
Die Psychotherapie ist die professionelle Behandlung von psychischen Storungen mit psychologischen Mitteln.
Psychiatrie
Die Psychiatrie ist eine medizinische Fachdisziplin, die sich mit psychischen Erkrankungen beschaftigt.
Psychosomatik
Die Psychosomatik befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen psychischen und somatischen (korperliche) Vorgangen.
Psychoanalyse
Die Psychoanalyse ist Teil der Tiefenpsychologie, wurde durch Sigmund Freud begrundet und ist auf die Erforschung des Unbewussten ausgerichtet. Mit dem Verhaltnis von Psychoanalyse und Psychologie befasste sich Jurgen Korner im Jahr 1991 unter dem nachdrucklichen Titel Fur eine Ruckkehr der Psychoanalyse in die Psychologie! – allerdings in einer Zeit, als noch einige Lehrstuhle an den Universitaten in Deutschland mit Psychoanalytikern besetzt waren.
= Wissenschaftliche Paradigmen =
Innerhalb der Psychologie existieren viele grundlegend verschiedene Denkansatze (Paradigmen) und Behandlungsmethoden, die darauf basieren. Die wichtigsten sind das
behavioristische Paradigma,
das Informationsverarbeitungsparadigma
das psychoanalytisch-psychodynamische Paradigma
das phanomenologisch-humanistische Paradigma,
das Eigenschaftsparadigma,
das dynamisch-interaktionistische Paradigma und
das soziobiologische Paradigma sowie
das evolutionare Paradigma.
Diese Paradigmen sind keine Teildisziplinen der Psychologie (wie etwa die Allgemeine Psychologie), sondern jedes ist ein theoretisches Konzept fur die verschiedenen Teildisziplinen und Forschungsprogramme der Psychologie. Diese Ansatze, die sich in Grundannahmen und in der Methodik unterscheiden, werden in der Regel nicht explizit erwahnt, bilden aber eine sehr wichtige Grundlage fur das (korrekte) Verstandnis der Psychologie, ihrer Theorien und v. a. der psychologischen Forschungsergebnisse. Heute sind innerhalb eines psychologischen Faches (einer Disziplin) in der Regel verschiedene Paradigmen gleichberechtigt (so z. B. in der aktuellen personlichkeitspsychologischen Forschung das Informationsverarbeitende Paradigma, das Eigenschaftsparadigma und das dynamisch-interaktionistische Paradigma). Diese Komplexitat der Psychologie sollte man vor allem auch in Bezug auf die einzelnen Disziplinen berucksichtigen.
= Zuordnung zu den unterschiedlichen Fakultaten =
Die Anbindung eines psychologischen Fachbereichs an eine Fakultat (in der Regel naturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche oder philosophische) sagt nicht immer etwas uber dessen Ausrichtung aus (eher naturwissenschaftlich oder eher sozialwissenschaftlich). Diese Anbindungen sind in der Regel historisch oder verwaltungstechnisch begrundet. Insofern kann man z. B. auch keine analogen Ruckschlusse uber den Doktorgrad eines promovierten Psychologen ziehen.
Disziplinen Vielfach wird innerhalb der Psychologie zwischen Grundlagen-, Anwendungs- und Methodenfachern unterschieden. Außerdem kann der empirischen Forschung sowie der Praxis der Angewandten Psychologie eine Theoretische Psychologie (Metatheorie) gegenubergestellt werden.
= Grundlagenfacher =
Innerhalb dieser Disziplinen kann man noch zwischen solchen unterscheiden, die auch Bestandteil anderer Grundlagenfacher sind, und solchen, die grundlegende Erkenntnisse in spezifischen Kontexten liefern. Zu den ersteren gehoren die Psychologische Methodenlehre, sowie die Allgemeine Psychologie und die Biopsychologie (die wiederum untereinander stark vernetzt sind), zu den letztgenannten die Sozialpsychologie, die Entwicklungspsychologie sowie die Personlichkeits- und Differenzielle Psychologie. Die neuere Einteilung (z. B. fur die Bachelor-of-Science-Studiengange) fasst die Allgemeine und die Biologische Psychologie unter „Kognitive und biologische Grundlagen des Verhaltens und Erlebens“ zusammen, die Personlichkeits-, Differenzielle, Sozial- und Entwicklungspsychologie unter „Grundlagen intra- und interpersoneller Prozesse“.
Die Allgemeine Psychologie erforscht allgemeingultige Gesetzmaßigkeiten in grundlegenden psychischen Funktionsbereichen, wie Kognition, Wahrnehmung, Lernen, Gedachtnis, Denken, Problemlosen, Wissen, Aufmerksamkeit, Bewusstsein, Volition, Emotion, Motivation und Sprache, sowie Psychomotorik.
Die Biologische Psychologie (auch Biopsychologie), mit verschiedenen Unterdisziplinen wie z. B. Physiologische Psychologie, Psychophysiologie, Psychobiologie, Neuropsychologie oder interdisziplinaren Teilgebieten wie Psychoneuroimmunologie oder Psychoneuroendokrinologie, widmet sich hingegen den physischen Funktionsbereichen, die sich auf Verhalten und Erleben auswirken (z. B. Genetik, neuronale Prozesse, v. a. Anatomie und Physiologie des Gehirns, Sinnesphysiologie, Endokrinologie). Sie beschaftigt sich zusammen mit der Methodenlehre auch mit der Messung physiologischer Verhaltenskorrelate (z. B. Gehirnaktivitat (z. B. Ereigniskorrelierte Potentiale), Herzfrequenz, Blutdruck, Elektrodermale Aktivitat, Durchblutungsstatus (z. B. Gesicht), Muskelaktivitat usw.) durch unterschiedliche Verfahren (z. B. Elektroenzephalogramm, Bildgebende Verfahren, Analyse von Laborparametern). Zusammen mit der Allgemeinen Psychologie und der Methodenlehre gewinnt auch das Formulieren und Testen von mathematischen Modellen biopsychologischer/neuropsychologischer Theorien und die Prufung von Hypothesen uber neuronale Mechanismen durch Simulation von Neuronenmodellen (Kunstliches neuronales Netz) erheblich an Bedeutung.
Die Differentielle bzw. Personlichkeitspsychologie beschaftigt sich im Gegensatz dazu mit den individuellen Unterschieden in den o. g. Bereichen. Solche Unterschiede werden in Konzepten wie Personlichkeitsmodellen, der Intelligenz unter anderem erarbeitet. Diese Differenzen konnen interindividuell (Unterschiede zwischen Menschen) oder intraindividuell (Unterschiede, die bei einem Individuum uber die Zeit auftreten) sein. Die Operationalisierung und Messung solcher Unterschiede wird der Differentiellen Psychologie zugerechnet. Damit ist sie wichtige Grundlage fur die Psychologische Diagnostik.
Die Entwicklungspsychologie untersucht die psychische Wandlung des Menschen von der Empfangnis bis zum Tod (intraindividuelle Veranderungen, Ontogenese). Gegenstandsbereiche sind z. B. Faktoren der Entwicklung (Anlage, Umwelt), Entwicklungsstufen, Entwicklung der Wahrnehmung, der Psychomotorik, der kognitiven Kompetenzen, des Gedachtnisses, der Sprache, der Personlichkeit usw.; eine weitergehende moderne Variante ist die Herausbildung der Entwicklungswissenschaft/(en) als integrierter Ansatz, mit Soziologie, Medizin, Psychologie und Padagogik (Vertreter: Petermann).
Die Sozialpsychologie erforscht im weitesten Sinne die Auswirkungen sozialer Interaktionen auf Gedanken, Gefuhle und Verhalten des Individuums („an attempt to understand and explain how the thought, feeling and behavior of individuals are influenced by the actual, imagined, or implied presence of others“, Allport 1968). Gegenstandsbereiche sind z. B. soziale Aspekte der Wahrnehmung (wie die Wahrnehmung von Personen und Situationen, Vorurteile, Stereotype, Annahmen und Schlussfolgerungen uber das Verhalten von Menschen u. a.), soziale Aspekte der Emotion (z. B. Aggression), interpersonale Attraktion, pro-soziales Verhalten, Einstellungen, Kommunikation oder auch Gruppenprozesse (Minoritateneinfluss, Entscheidungsprozesse in Gruppen, Gruppendenken, Gehorsam (vgl. dazu z. B. das Milgram-Experiment oder das Stanford Prison Experiment), Gruppenleistung, Intergruppenbeziehungen).
= Anwendungsfacher =
Klinische Psychologie
Organisationspsychologie
Wirtschaftspsychologie
Padagogische Psychologie
Weitere Anwendungsbereiche der Psychologie bilden u. a. die Ingenieurpsychologie und Angewandte Kognitionsforschung, Verkehrs-, Personal-, Medien-, Rechts-, Polizei-, Kulturvergleichende-, Geronto-, Sport-, Umwelt-, politische Psychologie, Fuhrungspsychologie, Gesundheitspsychologie, Psychoonkologie, Notfall- und Palliativpsychologie, Behavioral Finance, Werbepsychologie, Suchtpravention usw.
= Methodenfacher =
Die Psychologische Methodenlehre befasst sich mit der gesamten Bandbreite des Instrumentariums psychologischen Erkenntnisgewinns. Sie stellt den existierenden Verfahrensfundus fur andere Disziplinen der Psychologie bereit und ist gleichermaßen ein eigenstandiges Forschungsgebiet mit dem Ziel, den Methodenbestand zu verbessern und zu erganzen, etwa durch Eigenentwicklungen (wie z. B. der Metaanalyse) oder auch durch Adaption von Verfahren aus den Katalogen anderer Wissenschaften. Dabei reicht ihr inhaltliches Spektrum von Wissenschaftstheorie und Ethik uber Experimentalmethodik, Evaluationsforschung bis hin zu Hilfswissenschaften mit hohem Stellenwert, v. a. Mathematik (hauptsachlich Statistik) sowie Informatik oder Spezialfallen der Psychologischen Methodenlehre wie der Mathematischen Psychologie.
Ein weiteres Methodenfach ist die Psychologische Diagnostik (diagnostische Entscheidungsfindung) mit Verbindungen zur Methodik (z. B. Testtheorie, -konstruktion und -analyse). Die Diagnostik ist die Grundlage jeglicher Intervention und somit fur alle Bereiche der Psychologie relevant.
Auch sind andere Klassifikationen psychologischer Teildisziplinen moglich, z. B. solche, die einen Forschungsgegenstand benennen und als Untergebiet oder Arbeitsschwerpunkt ausweisen oder diesen uber alle ihn betreffende Disziplinen hinweg und zusammenfassend beschreiben (z. B. Wahrnehmungspsychologie, Emotionspsychologie u. a.), oder auch solche, die zugrunde liegende Ansatze oder besondere Aspekte von Paradigmen betonen (z. B. Evolutionare Psychologie u. a.). Diese eher bereichsspezifischen Bezeichnungen (mit entsprechender thematischer Bundelung von verschiedenen Inhalten) finden sich auch haufig dann, wenn es um eine umfassende Vermittlung von spezifischen Inhalten und weniger um Forschung und methodische Zusammenhange geht, also insbesondere wenn psychologisches Wissen im Rahmen von Neben- oder Hilfsfachern (z. B. an nicht-psychologischen Fachbereichen, in Fachhochschulstudiengangen usw.) vermittelt wird. Hier werden auch zum Teil Bezeichnungen o. g. Grundlagendisziplinen anders inhaltlich ausgefullt, wie z. B. Allgemeine Psychologie als eine den allgemeinen Uberblick gebende Einfuhrung in die Psychologie (wie in den sprichwortlichen 101-Kursen in den USA) oder Padagogische Psychologie als Psychologie fur Padagogen.
Analyseebenen der Psychologie Jedes Individuum ist ein komplexes System aus mehreren kleinen Systemen, das wiederum Teil eines großen sozialen Systems ist. Es wird also auf unterschiedlichen Analyseebenen gearbeitet, die einander erganzen. Die differierenden Analyseebenen bilden zusammen einen sogenannten biopsychosozialen Ansatz: Darin werden die Einflusse biologischer, psychologischer und soziokulturellen Faktoren gleichermaßen beachtet und berucksichtigt. Diese drei zentralen unterschiedlichen Analyseebenen beeinflussen und steuern das Verhalten und die mentalen Prozesse eines Individuums.
= Biologische Einflusse =
Zu den biologischen Einflussen zahlt die Selektion adaptiver Merkmale, also Merkmale, die fur das Uberleben und den Fortpflanzungserfolg eines Individuums vorteilhaft sind. (Siehe Evolutionare Anpassung). Auch die genetischen Pradispositionen, also die erblich bedingte Empfanglichkeit fur bestimmte Erkrankungen in der entsprechenden Umgebung, spielen eine große Rolle beim menschlichen Verhalten. Zudem wirken sich Gehirnmechanismen und die hormonellen Einflusse unterschiedlich auf das Verhalten und Prozesse des Denkens, der Vorstellung, der Sprache und des Urteils aus.
= Psychologische Einflusse =
Zu den psychologischen Einflussen, die sich auf unser Verhalten auswirken, zahlen erlernte Angste, Unsicherheiten und andere erlernte Erwartungen. Auch emotionale Reaktionen, kognitive Verarbeitungen und Wahrnehmungsinterpretationen werden unter die psychologischen Einflusse gefasst.
= Soziokulturelle Einflusse =
Einfluss auf das menschliche Verhalten und die mentalen Prozesse haben die soziokulturellen Faktoren. Das soziale Umfeld in dem sich ein Individuum bewegt und die Anwesenheit Anderer hat Einfluss auf individuelle Verhaltensweisen. Auch die Erwartungen, die Kultur, Gesellschaft und Familie an den Einzelnen stellen, zahlen zu den soziokulturellen Einflussen. Wichtig sind zudem Einflusse seitens der Gleichaltrigen und von anderen Gruppen.
Siehe auch Schule (Psychologie)
Philosophie der Psychologie
Literatur = Philosophische Grundlagen =
Jochen Fahrenberg: Zur Kategorienlehre der Psychologie. Komplementaritatsprinzip. Perspektiven und Perspektiven-Wechsel. Lengerich: Pabst Science Publishers, 2013. ISBN 978-3-89967-891-8, doi:10.23668/psycharchives.10405.
Jochen Fahrenberg: Theoretische Psychologie – Eine Systematik der Kontroversen. Lengerich: Pabst Science Publishers, 2015 und Jochen Fahrenberg. ISBN 978-3-95853-077-5, doi:10.23668/psycharchives.10364.
Dirk Hartmann: Philosophische Grundlagen der Psychologie. (Memento vom 24. Oktober 2012 im Internet Archive) (PDF; 17,1 MB) WBG, Darmstadt 1998, ISBN 3-534-13887-2.
Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. 2. Auflage. Campus, Frankfurt am Main 2003.
= Allgemeine Einfuhrungen und Lehrbucher (Auswahl) =
Gillian Butler, Freda McManus: Psychologie. Eine Einfuhrung. 3. Auflage. Reclam, 2019, ISBN 978-3-15-018913-9.
Norbert Bischof: Psychologie. Ein Grundkurs fur Anspruchsvolle. 3. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014.
David G. Myers: Psychologie. 3. Auflage. Springer, Heidelberg/Berlin 2014, ISBN 978-3-642-40781-9.
Lyle E. Bourne, Bruce R. Ekstrand: Einfuhrung in die Psychologie. 4. Auflage (Nachdruck). Verlag Dietmar Klotz, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-88074-500-5.
Stefan Lautenbacher, Astrid Schutz, Herbert Selg (Hrsg.): Psychologie – Eine Einfuhrung in ihre Grundlagen und Anwendungsfelder. 3. Auflage. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Koln 2005, ISBN 978-3-17-018373-5.
Hilgards Einfuhrung in die Psychologie, Frontcover, Rita L. Atkinson, Richard C. Atkinson, Edward E. Smith, Joachim Grabowski, Susan Nolen-Hoeksema, Daryl J. Bem, Akademie Verlag, 2001.
Norbert Groeben (Hrsg.): Zur Programmatik einer sozialwissenschaftlichen Psychologie. Aschendorff, Munster 1997 und1999.
Joachim Grabowski, Elke van der Meer (Hrsg.): Hilgards Einfuhrung in die Psychologie. Von Rita L. Atkinson, Richard C. Atkinson, Edward E. Smith u. a. Spektrum Lehrbuch, 2001, ISBN 3-8274-0489-4.
Richard J. Gerrig, Philip Zimbardo: Psychologie. 18. Auflage. Pearson Studium, Munchen 2008, ISBN 3-8273-7275-5.
Wolfgang Metzger: Psychologie – Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit Einfuhrung des Experiments. 1941; 6. Auflage. Krammer, Wien 2001.
Jochen Musseler (Hrsg.): Allgemeine Psychologie. 2. Auflage. Spektrum, Heidelberg 2008, ISBN 3-8274-1780-5.
Kurt Pawlik (Hrsg.): Handbuch Psychologie. Wissenschaft – Anwendung – Berufsfelder. Springer, Heidelberg 2006, ISBN 3-540-22178-6.
Hans Spada, Andrea Kiesel (Hrsg.): Lehrbuch Allgemeine Psychologie. Huber, Bern 1990; Neuauflage 2018, ISBN 3-456-85606-7.
Harald Walach: Psychologie – Wissenschaftstheorie, philosophische Grundlagen und Geschichte. Ein Lehrbuch. W. Kohlhammer, Stuttgart 2005; 2., aktualisierte Auflage ebenda 2009; Neuausgabe 2013.
= Lehrbucher zu Teilbereichen der Psychologie =
M. Amelang, D. Bartussek: Differentielle Psychologie und Personlichkeitsforschung. Kohlhammer, 2001, ISBN 3-17-016641-7.
J. R. Anderson: Kognitive Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-86025-354-9.
E. Aronson et al.: Sozialpsychologie. Pearson Studium, 2003, ISBN 3-8273-7084-1.
Bernad Batinic, Markus Appel (Hrsg.): Medienpsychologie. 2008, Heidelberg: Springer. ISBN 978-3-540-46894-3.
Niels Birbaumer, R. F. Schmidt: Biologische Psychologie. Springer, Berlin 2005, ISBN 3-540-25460-9.
Jurgen Bortz, Christof Schuster: Statistik fur Human- und Sozialwissenschaftler. 7. Aufl. Springer, 2010, ISBN 978-3-642-12769-4.
Jurgen Bortz, Nicola Doring: Forschungsmethoden und Evaluation. 4. Auflage. Springer, 2006, ISBN 978-3-540-33305-0.
G. C. Davison, J. M. Neale: Klinische Psychologie. PVU, Weinheim 2002, ISBN 3-621-27458-8.
Walter Hussy, Margrit Schreier, Gerald Echterhoff: Forschungsmethoden in Psychologie und Sozialwissenschaften – fur Bachelor. Springer, 2009, ISBN 978-3-540-95935-9.
Baden Eunson: Betriebspsychologie. McGraw-Hill, Hamburg 1990, ISBN 3-89028-227-X (englisch 1987: Behaving – Managing Yourself and Others).
G. Felser: Werbe- und Konsumentenpsychologie. 2. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2001, ISBN 3-7910-1944-9.
C. Fichter (Hrsg.): Wirtschaftspsychologie fur Bachelor. Springer, Berlin 2018, ISBN 978-3-662-54944-5.
K. D. Kubinger: Psychologische Diagnostik – Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens. Hogrefe, Gottingen 2006, ISBN 3-8017-1693-7.
G. Lienert, U. Raatz: Testaufbau und Testanalyse. PVU, Weinheim 1998, ISBN 3-621-27424-3.
R. Oerter, L. Montada: Entwicklungspsychologie. PVU, Weinheim 2002, ISBN 3-621-27479-0.
Lawrence A. Pervin, Daniel Cervone, Oliver P. John: Personlichkeitstheorien. Mit 33 Tabellen (Originaltitel: Personality, ubersetzt von Elfriede Peschel). 5., vollstandig uberarbeitete und erweitert Auflage, UTB 8035 / Reinhardt, Munchen / Basel 2005, ISBN 978-3-497-01792-8 (E. Reinhardt) / ISBN 3-8252-8035-7 (UTB).
Hans-Otto Schenk: Psychologie im Handel. Entscheidungsgrundlagen fur das Handelsmarketing. 2., vollstandig uberarbeitete Auflage. Oldenbourg, Munchen / Wien 2007, ISBN 978-3-486-58379-3 (1. Auflage 1995 unter dem Titel: Handelspsychologie).
Heinz Schuler, Hermann Brandstatter (Hrsg.): Lehrbuch Organisationspsychologie. 4., aktualisierte Auflage, Huber, Bern 2003, ISBN 978-3-456-84458-9.
= Nachschlagewerke =
G. Clauß u. a.: Worterbuch der Psychologie. Bibliographisches Institut, 1981.
Fischer Lexikon Psychologie (= Fischer-Lexikon. Band 6). S. Fischer, Frankfurt am Main.
Lexikon Psychologie – Hundert Grundbegriffe Reclam Universal-Bibliothek Band 18773
Dorsch – Lexikon der Psychologie (auch online); Hogrefe Verlag Gottingen
Handbuch der Psychologie in mehreren Banden Hogrefe Verlag Gottingen; 1958 erstmals realisiert, 1985 neu konzipiert
Enzyklopadie der Psychologie Hogrefe Verlag Gottingen
= Fachzeitschriften =
Psychologische Fachzeitschriften in der Elektronischen Zeitschriftenbibliothek
PSYNDEX: Psychologie-Datenbank des ZPID
Weblinks Literatur von und uber Psychologie im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Fachgruppen der Deutschen Gesellschaft fur Psychologie
Berufsverband deutscher Psychologinnen und Psychologen (bdp)
Psychologie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (PDF-Datei; 207 kB)
Wolfgang Prinz, Amelie Mummendey, Rainer Mausfeld u. a.: Standortbestimmung „Psychologie im 21. Jahrhundert“, Gehirn & Geist 7/8 2005.
Nikolas R. Dorr: Zeitgeschichte, Psychologie und Psychoanalyse, Docupedia-Zeitgeschichte, 7. April 2020.
Zentrum fur Psychologische Information und Dokumentation (ZPID)
Psychologie-Aktuell.com – online Informationsplattform rund um die Psychologie
Einzelnachweise
|
Die Psychologie (von altgriechisch ψυχη psyche fur „Seele, Gemut“, und λογιος logios fur „Kunde, Wissenschaft“), deutsch historisch auch Seelenkunde genannt, ist eine empirische Wissenschaft, deren Ziel es ist, menschliches Erleben und Verhalten, deren Entwicklung im Laufe des Lebens sowie alle dafur maßgeblichen inneren und außeren Faktoren und Bedingungen sowie Verfahren zu ihrer Veranderung zu erforschen, zu beschreiben und zu erklaren. Personen, deren Berufsbild durch die Anwendung psychologischen Wissens charakterisiert ist und deren Bezeichnung in Deutschland ein Hochschulstudium im Hauptfach Psychologie voraussetzt, sind Psychologen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Psychologie"
}
|
c-13999
|
Eine Utopie ist der Entwurf einer moglichen, zukunftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenossische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist.
Das Wort geht zuruck auf altgriechisch ου ou „nicht“ und τοπος topos „Ort, Stelle“, gemeinsam „Nicht-Ort“, beziehungsweise den Titel Utopia eines lateinischen Romans des Thomas Morus aus dem Jahr 1516. Die in Utopien beschriebenen fiktiven Gesellschaftsordnungen resultieren haufig aus einer Kritik der jeweils zeitgenossischen Gesellschaftsordnung und konnen dann als positive Gegenentwurfe gelesen werden.
Christine de Pizan stellt in ihrem 1405 fertiggestellten Roman „Le Livre de la Cite des Dames“ erstmals das Bild einer utopischen Gesellschaftsform dar.
Bei Morus, der das Thema etwa hundert Jahre spater (1516) ebenfalls aufgriff, handelt es sich bei dem Begriff um ein Sprachspiel zwischen Utopie und Eutopie aus ευ (eu) „gut“ und τοπος. Dagegen bezeichnet die Dystopie die pessimistische Beschreibung einer unethisch negativen Gesellschaftsordnung.
Im alltaglichen Sprachgebrauch wird Utopie (insb. als Adjektiv utopisch) haufig als Synonym fur schone, aber als unausfuhrbar betrachtete Zukunftsvisionen benutzt. Utopien wie sie in Science-Fiction-Filmen haufig sind, schildern positive (Zukunfts-)Welten, in denen Friede und Eintracht herrschen (etwa in In den Fesseln von Shangri-La).
Hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit wird zwischen deskriptiven (scheinbare Zukunftstrends beschreibenden), evasiven (mit der Tendenz zur Weltflucht verbundenen) und konstruktiven (aktiv zu realisierenden) Utopien unterschieden. Diese konnen sich auf Staats- und Wirtschaftsformen, die Zukunft von Kultur, Kunst oder Religion, verschiedene Arten des Zusammenlebens, Innovationen des Bildungswesens oder der Geschlechterkonstellationen u. a. beziehen.
Wortherkunft und Inhalt des Begriffes Das Wort Utopie ist aus franzosisch utopie entlehnt, dieses aus neuenglisch utopia, und geht auf eine Wortneubildung im Titel De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (Vom besten Zustand des Staates oder von der neuen Insel Utopia) des 1516 erschienenen Romans des englischen Staatsmanns Thomas Morus zuruck, der darin eine ideale Gesellschaft beschreibt und auf diese Weise seinen Zeitgenossen einen kritischen Spiegel vorhalt.
Im Deutschen bezeichnet Utopia nur den Romantitel beziehungsweise die fiktive Insel, auf der die Mitglieder der idealen Gesellschaft leben. Thomas Morus’ Utopia liegt nicht in der Zukunft, sondern in einer fernen Weltgegend; realisiert wird das ideale Gemeinwesen auch nicht im Rahmen der christlichen Heilsordnung, sondern innerweltlich. Erst im 18. Jahrhundert lasst sich eine Verzeitlichung der Utopie (Reinhart Koselleck) feststellen. Im heutigen Sprachgebrauch wird eine Utopie fast immer in der Zukunft verortet und selten in der Vergangenheit oder in raumlicher Ferne.
Charakteristisch ist in allen Fallen utopischer Entwurfe, dass in der Gegenwart bereits vorhandene Ansatze weitergedacht oder Zustande hinterfragt werden. So kritisierte Thomas Morus im ersten Teil seines Werks die sozialen Zustande im England seiner Zeit. Somit haben Utopien meist einen gesellschaftskritischen Charakter,
entweder, indem sie behaupten, eine bessere Gesellschaft sei moglich (siehe Thomas Morus Utopia, Heinrich von Kleist Das Erdbeben in Chili („Das Tal der Gerechten“), Burrhus Frederic Skinner Walden Two)
oder umgekehrt, indem sie bestehende Tendenzen gedanklich weiterbilden, in Dystopien, also pessimistische Negativutopien, verkehren und somit scharf kritisieren, so in klassischen Romanen und Satiren wie Schone neue Welt (Aldous Huxley) und 1984 (George Orwell), in Visionen des Cyberpunk-Genres und Filmen wie …Jahr 2022… die uberleben wollen (Soylent Green).
Der Hauptinhalt einer Utopie ist haufig eine Gesellschaftsvision, in der Menschen ein alternatives Gesellschaftssystem praktisch leben (Beispiel: New Harmony). Die Utopie wird oft in literarischer Form (Utopischer Roman), durch filmische Werke oder auch in Kunstwerken prasentiert.
Obgleich man den Begriff Utopie herkommlich als Synonym fur optimistisch-fantastische Ideale benutzt, kann eine Utopie in ihrem gesellschaftskritischen Aspekt durchaus gegenwartsbezogen-praktisch ausgelegt werden: Befurworter sehen neue Moglichkeiten am Horizont heraufziehen. Kritiker verneinen deren Realisierungsmoglichkeit und warnen vor unerwunschten oder unbedachten moglichen Folgen.
Realisierbarkeit Eine Utopie zeichnet sich dadurch aus, dass sie zur Zeit ihrer Entstehung als nicht sofort realisierbar gilt. Diese Unmoglichkeit der schnellen Realisierung hat stets einen (oder mehrere) der folgenden Grunde:
Die Utopie ist technisch nicht ausfuhrbar, d. h., es wird erkannt, dass die technischen Moglichkeiten noch lange nicht so weit sind, bzw. es wird behauptet, diese wurden auch in ferner Zukunft niemals ausreichend fortgeschritten sein, als dass sie den in der Utopie dargestellten Umstanden gerecht werden konnten (siehe George Orwell, 1984 und auch Werner von Siemens, Uber das naturwissenschaftliche Zeitalter).
Die Verwirklichung ist von einer Mehrheit oder Machtelite nicht gewollt oder wird als nicht wunschenswert abgelehnt.
Bei einem (uberzeichneten) Gegenbild zur gesellschaftlichen Realitat der Gegenwart muss auch erwogen werden, dass eine Realisierung der Utopie vom Autor gar nicht gewollt ist. Der Versuch einer Realisierung ware dann eine tragische Fehlinterpretation seiner – moglicherweise ironischen – Absicht (siehe z. B. Morus’ Utopia).
= Tragik der Unrealisierbarkeit =
Die Tragik der langen Arbeit, die bevorsteht, um in weiter Ferne utopische Vorstellungen Wirklichkeit werden zu lassen, ist ein elementarer Aspekt der Utopie. Tragisch ist dabei, dass sich – sowohl auf der Ebene des Fiktionalen als auch bei Versuchen der politischen Umsetzung einer Utopie – die Absicht der gesellschaftlichen Verbesserung leicht in ihr Gegenteil verwandeln kann.
Versuche, utopische Entwurfe mit Gewalt umzusetzen, fuhren fast zwangslaufig zu einer Verschlechterung der gesellschaftlichen Situation (Unfreiheit, Krieg, Hass). Da viele utopische Entwurfe aber ihrem Wesen nach auf einer totalitaren Regierungsform basieren, konnen diese kaum Abweichungen dulden und neigen deshalb zur Gewalt. Auf der gegebenen Moglichkeit einer Realisierung baut dagegen die Konkrete Utopie auf.
Weil die Utopien jedoch nur aus ihrem jeweiligen historischen Kontext als unrealistisch zu verstehen sind, gleichen schon manche Aspekte des Alltagslebens am Beginn des 21. Jahrhunderts technischen und sozialen Utopien aus den 1950er Jahren (Internet, Raumfahrt) oder ubertreffen diese noch (Gentechnik). Auch Elemente von Dystopien (Big Brother) finden sich (Uberwachung).
= Antrieb zur Realisierung =
Robert Jungk verstand Utopien als Antrieb fur soziale Erfindungen in einer wunschenswerten Zukunft. Er setzte sich fur eine Demokratisierung des utopischen Denkens durch Forderung der Phantasie ein und begriff dies als politisches Mittel, um angesichts gesellschaftlicher Krisen nicht in Passivitat und Resignation zu versinken. Das von ihm entwickelte Zukunftswerkstatt-Konzept beinhaltet eine Utopie-Phase.
Verschiedene Arten von Utopien Utopien konnen medienubergreifend auftauchen. Zwar werden sie haufig mit dem Medium der Literatur in Verbindung gebracht (vgl. Utopische Literatur), doch konnen utopische Intentionen durchaus auch in der Kunst (z. B. Wenzel Habliks Große bunte utopische Bauten), in der Architektur (z. B. Filaretes Plan vom Idealstaat Sforzinda; vgl. auch Utopische Revolutionsarchitektur), im Film (z. B. Fritz Langs Metropolis) oder auch in Videospielen (z. B. Bethesda Softworks’ Fallout 3, oder die Bioshock-Serie) auftauchen. Ernst Bloch (Konkrete Utopie) und Theodor W. Adorno gehen sogar davon aus, dass die utopische Intention eine zutiefst menschliche Eigenschaft ist, die egal in welcher Lebenslage, einfach zum Menschen dazugehort. Daher konnen Utopien in jeder kulturellen Ausdrucksform wiedergefunden werden.
Thematisch existieren utopische Vorstellungen daher auf jedem Gebiet, u. a. also im technischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiosen Gebiet. In der Praxis stellen sie aber auch Mischformen dar (z. B. Technokratie). So bilden in Dystopien etwa haufig Endzeitszenarien den Erzahlraum fur die eigentlichen (haufig anarchischen oder totalitaren) gesellschaftlichen Entwurfe.
= Politische Utopien =
Politische Utopien, wie sie erstmals in Platons Politeia in Form der Idee eines standisch-hierarchisch geordneten Idealstaats entworfen wurden, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die in ihrer Zeit bestehenden sozio-okonomischen Verhaltnisse und Institutionen umfassend kritisieren und aus ihrer Kritik heraus eine fiktive, in sich nachvollziehbare Alternative entwerfen. Damit werden Utopien gegen Chiliasmen und Mythen abgegrenzt.
In der Geschichte der politischen Utopien lassen sich nach Richard Saage zwei grundlegend gesellschaftlich-staatliche Ausrichtungen feststellen: Sie bewegen sich zwischen den Idealtypen staatszentrierter Entwurfe auf der einen Seite und anarchistischer Konstruktionsprinzipien auf der anderen Seite. Ein Beispiel fur eine etatistische Utopie ist Tommaso Campanellas La citta del Sole (Der Sonnenstaat), der nach dem Vorbild der spanischen Monarchie technokratisch gesteuert wird.
Gemeinsam ist den politischen Utopien von der fruhen Neuzeit bis in das spate 20. Jahrhundert, dass sie Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Unterdruckung kritisieren. Welche Institutionen vorgeschlagen werden, um eine bessere und gerechtere Gesellschaft zu gewahrleisten, wandelt sich in der Geschichte der politischen Utopien. Das widerspruchliche Verhaltnis von Gleichheit und Freiheit bildet oft die Grundlage politischer Utopien, wird aber in autoritar-staatszentrierten und anarchistischen Utopien konzeptionell in gegensatzlicher Weise entwickelt. Richard Saage geht davon aus, dass nach 1989 autoritar-etatistische Linie des utopischen Denkens an ihr Ende gekommen sei. Man brauche aber weiterhin Utopien, um die Probleme des 21. Jahrhunderts zu losen.
Mit der Ideologie des Islamischen Staats (IS) trat in jungster Zeit eine neue Form totalitarer, aber nicht-etatistischer politisch-religioser Utopien in Erscheinung.
= Gesellschaftliche Utopien =
Thomas Morus hatte dem Traum von der Ruckkehr ins Paradies den Namen Utopia gegeben und damit den Glauben des Fortschritts in eine bessere Zukunft beflugelt. Er hielt das fruheste uberlieferte Pladoyer fur die parlamentarische Redefreiheit und die freie Gewissensentscheidung. Solcher Fortschrittsglaube speiste auch die aufklarerischen Gesellschaftsutopien des 18., die wissenschaftsgetriebenen Utopien des 19. und die technischgetriebenen futuristischen Utopien des 20. Jahrhunderts.
Sozialistische und kommunistische Utopien behandeln bevorzugt das Ende der Ausbeutung und die Umverteilung von Gutern zugunsten der wirtschaftlich Schwacheren („von oben nach unten“), oft bei gleichzeitiger Abschaffung des Geldes („jedem nach seinen Bedurfnissen“). Teils entwickeln sie Vorstellungen, die okonomisch bestimmte Lohnarbeit abzuschaffen (siehe Paul Lafargue, „Das Recht auf Faulheit“). Die Burger gehen nur noch solchen Arbeiten nach, die ihrer Selbstverwirklichung entsprechen. Es bleibt ihnen viel Zeit, die Kunste und Wissenschaften zu pflegen (s. auch utopischer Sozialismus).
Die Humanistische Psychologie entwickelte utopische Ideale ausgehend von menschlichen Bedurfnissen. Angeborene Grundbedurfnisse seien an sich gut. Ihr Ausdruck konne jedoch durch Angst blockiert sein, gute Impulse von der Kultur verzerrt werden. So entstehe Boses aus etwas Gutem. Indem ein gesellschaftliches Umfeld geschaffen werde, das dies verhindere, werde eine gute Gesellschaft moglich, eine Gemeinschaft psychologisch gesunder Menschen, der Abraham Maslow den Namen Eupsychia gab.
Nach Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt verbreiteten sich neoliberale Ideologien, die bereits vor der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre von Friedrich Hayek und Ludwig Mises vorgedacht worden waren. In diesen Ideologien wird das Konzept einer Gesellschaft so weit aufgegeben, dass keine eigenstandige, von der Wirtschaft getrennte Sphare einer Gesellschaft mehr erkennbar ist. Die Gesellschaft wird gleichsam vom Markt aufgesogen. Der Kern des Marktes wird im Mechanismus der Preise gesehen, auch wenn unklar ist, ob dieser Mechanismus in der Realitat tatsachlich funktioniert oder ob er prinzipielle Mangel aufweist. Werde der Markt nicht behindert, sei die neoliberale Utopie vollkommen realisiert; dann herrsche nicht mehr die Politik, die dem Markt nunmehr gehorchen musse; die Konsumenten seien der eigentliche Souveran. „Markt“ und „Sozialismus“ werden stereotyp einander gegenubergestellt. Ausgangspunkt der neuen Ordnung sind nach Hayek die Individuen mit ihren subjektiven Planen. Ihr subjektives Wissen muss von keiner Person koordiniert werden, erst recht nicht von Politikern oder einer Planungsbehorde. Nur der Markt stellt einen effizienten Mechanismus zur Nutzung dieser verstreuten Informationen bereit. Dem Markt schreibt Hayek eine „Ubervernunft“ zu: Der Markt herrscht wie Gott uber jeden einzelnen. Seine Signale (die Preise) sind Befehlsgeber, die die Handlungen der Menschen steuern, und diese mussen sich an etwas Hoheres anzupassen, das sie nicht verstehen. „Das Narrativ von ‚dem Markt‘ als Quasi-Gott impliziert ein (escha-tologisches) ‚Ende der Geschichte‘“. Neben dem gottgleichen Markt darf es keinen anderen gesellschaftsrelevanten Gott und keine anderen Utopien zur Gestaltung der Gesellschaft geben. Jede Idee wie „soziale Gerechtigkeit“ ist fur Hayek eine Illusion: Der Mensch konne nicht bewusst wahlen, welche Richtung er einschlagen wolle. An diese Utopie schließt auch das von Francis Fukuyama behauptete Ende der Geschichte an.
So wie die Weltwirtschaftskrise und die nachfolgenden autoritaren und faschistischen Regime Hayeks Utopie von einer marktgesteuerten Welt ohne Gesellschaft und Politik zerstorten, wurden die neoliberalen Utopien der 1980er und 1990er Jahre durch die Folgen der Globalisierung erheblich gestort. Zunehmende Finanz- und Schuldenkrisen, Arbeitslosigkeit und Verarmung der Mittelschichten in den entwickelten Landern, verbreitete Unsicherheit und unfreiwillige Migrationswellen ließen Zweifel an einer marktgesteuerten Welt ohne politische Eingriffe aufkommen. Die Freiheitsgewinne erwiesen sich als teuer bezahlt. Nachdem sich innerhalb von etwa 20 Jahren das Scheitern sowohl der sozialistischen als auch der neoliberalen Utopien erwiesen hatte, mehren sich Dystopien wie bspw. die Szenarien einer Klimakatastrophe.
Zygmunt Bauman spricht in seinem letzten, posthum erschienenen Werk Retrotopia von der Verbreitung von gesellschaftlichen Retrotopien, die ihren Fluchtpunkt nicht mehr in einer idyllischen Zukunft, sondern in der idealisierten Vergangenheit besitzen. Charakteristisch fur sie seien die Verklarung der Vergangenheit und die Sehnsucht nach Kontinuitat in einer durch den Neoliberalismus fragmentierten Welt, in der Entsolidarisierung, Freisetzung und Bindungslosigkeit des Individuums fortschreiten. Die Retrotopien speisen sich aus der Sehnsucht nach der verlorenen, geraubten, „untoten“ Vergangenheit. Bauman unterstreicht als Hauptursache die starke Zunahme von Gewalt in der hyperglobalisierten Welt, welche an die des Thomas Hobbes erinnert. Die Menschen seien nicht mehr bereit, durch Sicherheitsverluste fur Freiheitsgewinne zu zahlen, wie dies die liberalen Eliten fordern. Sie grenzen sich zunehmend ab und besinnen sich am „Stammesfeuer“ auf ihre nationalen, ethnischen, religiosen usw. Identitaten. Die Folge seien zunehmende Aggressivitat gegen Andere, Fremde und Schutzsuchende.
Das Streben nach einer in der Zukunft verorteten, besseren Form gesellschaftlichen Zusammenlebens wurde trotz jener Herausforderungen nie aufgegeben. Allerdings gilt es als schwierig, in pluralistischen Gesellschaften einen Konsens daruber zu erzielen, was erstrebenswert ist. Kommunitaristen sind der Meinung, die Formulierung dessen, was gut ist, sollte nicht (wie der Liberalismus dies fordere) dem Einzelnen uberlassen bleiben, sondern sei eine gemeinschaftliche Aufgabe; wichtig sei dabei allerdings, die jeweiligen Ideale zur Diskussion zu stellen. Erstrebenswerte, gesellschaftliche Ideale konnen unterschiedlich anspruchsvoll sein: Die „anstandige Gesellschaft“ etwa garantiere lediglich die fundamentale Selbstachtung von Individuen; in der „gerechten Gesellschaft“ seien Verteilungsfragen gerecht gelost; die „gute Gesellschaft“ schließlich ermogliche ein umfassend gutes Leben – alle Bedurfnisse (nicht nur materielle) werden befriedigt und es wird Rucksicht auf die Interessen von Mitmenschen und nichtmenschlichen Lebewesen genommen. Die Gute Gesellschaft sei das ehrgeizigste, letztendliche Ideal. Da ihre Realisierbarkeit jedoch sehr beschrankt sei, musse man sich in praktischer Hinsicht mit weniger anspruchsvollen Konzepte behelfen. Die Gute Gesellschaft konne zu erkennen helfen, in welcher Richtung die bessere zu suchen sei. Sie sei ein Leitbild, das Orientierung fur die Politikgestaltung biete und aus der sich konkrete Handlungsempfehlungen fur die unmittelbare Zukunft ableiten ließen.
= Religiose Utopien =
Die meisten christlichen Vorstellungen vom Paradies bzw. Garten Eden auf der Erde, dem durchgesetzten Reich Gottes also, sind nicht als Utopie zu bezeichnen. Zwar bezeichnen sie eine ideale Wunschvorstellung fur die Zukunft, jedoch werden sie durch Gottes Gnade (und, je nach theologischer oder konfessioneller Ausrichtung, durch die Mitwirkung des Menschen) erreicht. Vor allem aber ist die theologische Aussage, dass mit der Deszendenz Jesu Christi, der Menschwerdung Jesu also, das Reich Gottes schon begonnen habe, eine explizit nicht-utopische.
Die christliche Zukunftsvorstellung ist also keine rein zukunftsbezogene, sondern bezeichnet ein gleichzeitiges „schon“ und „noch nicht“: Das Reich Gottes habe mit Jesus Christus schon begonnen, werde in der Kirche fortgesetzt und sei im Himmel bereits durchgesetzt. In der gesamten Welt sei jedoch diese Vorstellung noch nicht akzeptiert und warte somit noch auf Vollendung. Dementsprechend wird keine neue Welt gepredigt, sondern die Erneuerung der alten Welt. Diese Vorstellung bezeichnet man in deutlicher Abgrenzung zu der Utopie als Eschatologie.
Utopische Stromungen sind jedoch im Christentum durchaus vorhanden, etwa in Form des Millenarismus oder der Gottesstaats-Idee der Dominionisten. Zu allen Zeiten der Kirchengeschichte gab es Gruppen in und außerhalb der Kirche, die utopische Ziele verfolgten, etwa die Taboriten oder die Taufer in Munster. Vor allem im Islam gibt es vergleichbare Stromungen, die einen realen Gottesstaat (Theokratie) errichten wollen, der stark utopische Zuge tragt (siehe auch: Iran, Islamische Revolution).
= Wissenschaftlich-technische Utopien =
In wissenschaftlich-technischen Utopien werden dank technischen Fortschritts nicht nur die menschlichen Lebensbedingungen, sondern auch die Menschen selbst manipulierbar. So sollen Krankheit, Hunger und Tod durch technische Mittel besiegt und das Wesen des Menschen gezielt verandert werden (s. Transhumanismus).
In der wissenschaftlichen Welt erhofft man sich aus den Utopien oft auch eine „Theorie fur Alles“ sowie die Moglichkeit, metaphysische Entitaten wie Leben oder Bewusstsein zu verstehen, zu beschreiben und nachzubilden (vgl. kunstliche Intelligenz).
Hilmar Schmundt gibt in seinem Buch „Hightechmarchen“ unter anderem folgende Beispiele fur wissenschaftlich-technische Utopien:
die Utopie von der bemannten Raumfahrt und der Besiedelung des Weltalls,
die Utopie einer weltweiten Gemeinschaft durch das Internet,
die Utopie der Erlosung der Menschheit von Krankheit, Hunger und Tod durch die Gentechnik
Philosophischer Utopie-Begriff Utopie ist „Denken nach Vorn“ (Ernst Bloch) als „die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll“ (Max Horkheimer). Inwieweit Utopie jedoch als „Konkrete Utopie“ (Ernst Bloch) ausgestaltet werden kann, ist bereits seit dem „Bilderverbot“ von Georg Lukacs 1916 strittig. „Jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstorend“.
Quasi als Antithese zu dieser Aussage zeigt Bloch im Prinzip Hoffnung das „Fragmentarische“, den „Utopischen Bildrest in der Verwirklichung“ quer durch die Philosophie-, Literatur- und Kunstgeschichte auf und wendet sich gegen die „abgerundete Befriedigung“ und „Immanenz ohne sprengenden Sprung“ des scheinbar Vollendeten, verweist bestandig auf das „Noch Nicht“, das im „Nicht“ enthalten ist. Bereits in der „Grundlegung“ seines Hauptwerks setzt er als konstituierendes Moment des Utopischen den Tagtraum als „bewußt gestaltende, umgestaltende Phantasie“ dem „unterbewußte(n) Chaos“ des Nachttraums entgegen und das Utopische in den Gegensatz zum Mythischen, in dem er gleichwohl stets wieder das Unerledigte aufzeigt, das es noch zu verwirklichen gilt, mit dem dialektischen Ziel der „Naturalisierung des Menschen, Humanisierung der Natur“.
Die Utopie wurzelt im Mythos. Anders als dieser ist sie jedoch nicht vorbewusste kollektive Erzahlung, sondern bewusste individuelle Schopfung. Dies zeigt schon ihre Etymologie. Der 1516 erstmals offentlich gewordene Begriff des Renaissance-Humanisten und spateren Schatzkanzlers Heinrich VIII. Thomas Morus ist ein gelehrtes Wortspiel: außer „ou-topos“, dem „Nirgendort“, bezieht sich der Namensgeber auch auf „eu-topos“, den „schonen Ort“, und beides ist als „Utopia“ in der englischen Aussprache phonetisch nicht unterscheidbar. Utopie verweist so bereits seit und mit ihrer Namensgebung auf das Mogliche und die Alternative zum Bestehenden, auch und gerade als gesellschaftliche Alternative. „Mit der Utopie Mores beginnt der moderne Sozialismus“ (Karl Kautsky).
Trotz ihrer literarischen Tradition ist die Utopie keine literarische Gattung, „eine linguistische Textsortenbestimmung […]ist nicht moglich“. Utopie ist vielmehr auch als literarische untrennbar mit der utopischen Denkform verbunden, sie entwirft „Gegenbilder zur jeweils bestehenden Realitat“.
Ernst Bloch hat mit seinem „Prinzip Hoffnung“ eine Art „Geschichte der Utopie“ geschrieben, philosophiegeschichtlich ausgehend vom „dynamei on“, dem „der Moglichkeit nach Seienden“ des Aristoteles mit Utopie als „Vor-Schein“, der schon bei Immanuel Kant als „asthetischer Schein“ abgegrenzt ist vom „transzendentalen Schein“ des subjektiven Trugschlusses. Blochs Utopiebegriff des „Noch Nicht“ fußt wesentlich auch auf der Aussage von Marx, dass in der Welt schon langst der Traum einer Sache gegenwartig ist, die sie sich nur noch ins Bewusstsein rufen musse, um sie wirklich zu besitzen. Die Abgrenzung der Utopie vom nur Utopistischen bedingt somit ein Verstandnis der Welt als einer im Werden begriffenen, als offene, noch nicht zu Ende gebrachte und gedachte, mit Tendenz der Geschichte und Latenz des Horizonts („Der Mensch ist immer ein Lernender, die Welt ist ein Versuch, und der Mensch hat ihr zu leuchten“).
Historischer Abriss des utopischen Denkens = Antike =
Ein konkreter Anstoß zur Entwicklung von Utopien war die Griechische Kolonisation, die zur Grundung zahlreicher neuer Stadte fuhrte. Dadurch wurde das Denken daruber, wie eine ideale Stadt aussehen sollte, angeregt. Es entstanden ideale Stadtplane (vgl. Hippodamos von Milet, 5. Jhdt.) und Vorschlage, wie man die Kolonisten einer neuen Stadt nach ihrer sozialen Herkunft am besten "mischen" sollte.
Der Entwurf einer besseren Welt („Wohlan, sprach ich, lasst uns also in Gedanken eine Stadt von Anfang an grunden“) in der „Politeia“ (2. Buch, XI) und die detaillierte Schilderung des sagenhaften Atlantis mit dem zentralen Tempel des Poseidon, der Burg mit silbernen Mauern und goldenen Zinnen und den die Stadt konzentrisch durchziehenden Kanalen im „Kritias“ (113b-121a) durch Platon sind, als zwei Idealbilder der „polis“, die wohl wichtigsten Wurzeln der Utopie.
Platons Staat, der weder Gelderwerb sucht noch Handel treibt und dessen Oberschicht maximal das vierfache der „Unterschicht“ besitzt, steht zwar kontrar zur bestehenden Gesellschaft der Zeit, ist aber durch seine strenge Hierarchie mit exakt 5040 Gemeinwesen aus Herrschern, Wachtern und Arbeitern, einem Reiseverbot fur unter 40-Jahrige und der Begrenzung der Kunst auf das Lob des bestehenden Staates nicht auf das subjektive Wohlbefinden seiner Einwohner, sondern unbedingt auf das Funktionieren des Gemeinwesens als bestem Staat ausgerichtet.
Seine Polygamie dient allein der Eugenik, die Sklavenhaltung ist nicht abgeschafft. Atlantis wiederum wird lediglich architektonisch geschildert, wobei allerdings „mit der idealen Stadtarchitektur […] auch eine ideale Gemeinschaft“ intendiert sein durfte, so auch in der „Politika“ des Aristoteles mit der Uberlieferung der architektonischen Ordnung des Hippodamus, die weiterwirkte bis zu den Planen der italienischen Architekten der Renaissance.
Kontrar zum platonischen Staat steht die Sonneninsel des Jambulos im 3. Jahrhundert v. Chr. als „anarchistisch-egalitares Schlaraffenland“, das „die Institution der Sklaverei nicht kennt“ auf den sich – vermittelt durch die Diodor-Uberlieferung – noch Lukian mit den Wahren Geschichten und der Reise zum Mond im 2. nachchristlichen Jahrhundert ausdrucklich bezieht. Bezeichnenderweise sind es in Zeiten der romischen Weltherrschaft die Hellenen aus den Kolonien, die ihre fiktiven Reisen in eine bessere Welt als Satire des Bestehenden schildern, wahrend die Romer selbst eher das „beatus ille“ des Horaz und die bukolische Idylle als Wunschbild bevorzugen.
= Mittelalter und Renaissance =
Aus dem christlichen Mittelalter sind eine Reihe auch architektonischer Schilderungen des Himmlischen Jerusalems vom 9. bis 12. Jahrhundert erhalten, mit zentralem Tempel und Gold- und Silbermauern analog zu Atlantis, aber auch die ideale Monchsrepublik des Tausendjahrigen Reichs des Joachim di Fiore, deren Chiliasmus weiterwirkt uber die Taufer der Lutherzeit bis hin zu dem Sonnenstaat von Tommaso Campanella. Heimkehrende Kreuzritter mischten schließlich in ihren Erzahlungen das heilige Jerusalem mit den Marchenstadten des Morgenlandes wie in der Chronik des Herzog Ernst aus dem 13. Jahrhundert, die uber das ferne Grippia berichtet, mit einer Stadtmauer aus Marmor und goldgedeckten Palasten – ahnlich der Messingstadt aus tausendundeiner Nacht.
Die italienische Renaissance mit ihren griechischen Quellen bereitet dann den Boden fur die erste Utopie, die diesen Namen tragt, und es sind ihre Architekten, allen voran Leon Battista Alberti (De re sedificatoria, 1451) und Antonio di Pietro Averlino (Averulino oder Filarete) mit dem Plan fur die nach Francesco I. Sforza benannte Idealstadt Sforzinda (1464), das sich stark an Atlantis orientiert. Beide wollten mit der idealen Stadt auch die ideale Gesellschaft schaffen.
= Fruhe Neuzeit =
Zu Beginn der Neuzeit bekommt die Utopie dann Namen und Programm. 1516, ein Jahr bevor Luther seine Thesen an die Kirchentur zu Wittenberg schlagt und Magellan zur ersten Weltumseglung aufbricht, erscheint die Utopia des Thomas Morus als fiktiver Reisebericht uber eine Insel, deren Hauptstadt Amaurotum (Nebelstadt) ersichtlich auf London weist. So ist Utopia einerseits „Phantasieland, zugleich aber verschlusste(s) Reformprogramm“. Die Errungenschaften der Utopier, Abschaffung des Privateigentums, sechs Stunden tagliche Arbeit, Zusammenschluss von jeweils 30 Familien zu einem Familienverband, Wahl der Beamten auf ein Jahr, Toleranz in Glaubensfragen, werden hier der Realitat der englischen Gesellschaft gegenubergestellt. Ausdrucklichen Bezug auf Utopia nimmt der franzosische Renaissance-Humanist Rabelais 1534 in seinem Gargantua mit der Schilderung der Abtei Theleme, wo ohne die ublichen Gelubde junge Manner und Frauen nach dem Motto „Fais ce que vouldras“ (Macht, was ihr wollt) zusammenleben. Diese „anarchistische Luxuskommune“ erhebt jedoch keinerlei Anspruch, als allgemeines Vorbild zu dienen.
Die Reihe der dann im 19. Jahrhundert als solche etikettierten „Staatsromane“ der Renaissance (etwa bei Robert von Mohl 1855) setzt der kalabresische Monch und Humanist Campanella 1602 in neapolitanischer Festungshaft fort, nachdem er der Verschworung gegen die spanische Herrschaft in Suditalien angeklagt war. Campanellas La Citta del Sole, identifizierbar auf Tapobrane, also Sri Lanka gelegen, wird regiert durch den Metaphysikus Sol und determiniert durch den Lauf der Gestirne, von der Gattenwahl bis zur Einnahme der Mahlzeiten. Die Siebenzahl der Planeten bestimmt auch den architektonischen Aufbau der Sonnenstadt, die Platons Staat weit naher steht als Morus’ Utopia, wenn Campanella sich auch des Ofteren auf Morus bezieht. Die dritte der „klassischen“ Utopien, das „Nova Atlantis“ des Francis Bacon erscheint 1627, an der Schwelle zum Barock. Auch Francis Bacon, Lordkanzler unter Jakob I. und bis heute bekannt durch sein Diktum „Wissen ist Macht“ sieht sich in der Nachfolge von Morus und beabsichtigt, ein Buch „uber die beste Staatsverfassung“ zu schreiben. Geschildert wird die Insel Bensalem im Indischen Ozean, und Zentrum der Gemeinschaft ist das Haus Salomon. Es ist die Wissenschaft, die hier herrscht, aber wiederum durch eine kleine Elite dem Volk nahergebracht wird.
Ausdrucklich auf Morus bezieht sich auch Johann Valentin Andreaes Christianopolis von 1619 nach den Idealen der Rosenkreuzer mit einer Stadt ohne Hunger, Armut und Krankheit mit Allgemeinbesitz und materieller Gleichheit. jedoch ist dem schwabischen Pfarrer Andreae das Leben vor allem Gottesdienst.
1611 wurde der Begriff der Utopie erstmals in einem Lexikon notiert; dort bezog er sich explizit nicht mehr nur auf Thomas Morus’ Idealstaat, sondern auf alle ahnlichen Entwurfe wie den Campanellas La citta del sole (1602). Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff der Utopie zu einem literarischen Gattungsbegriff, doch schon seit dem 16. Jahrhundert meldete sich Kritik an den wirklichkeitsfremden Entwurfen.
So herrschte nach dem Humanismus der Renaissance in und nach den Wirren des Dreißigjahrigen Krieges und des folgenden Englischen Burgerkriegs im Barock generell eine Durrezeit fur das utopische Denken, und wenn es in Erscheinung tritt, ist es in der Regel gottgefallig. Gerade in England warfen sich Konig und Opposition, Oliver Cromwell und die Republikaner gegenseitig immer wieder die Verfolgung utopischer Ziele vor. 1648 erscheint Samuel Gotts Nova Solyma (mit dem bezeichnenden Untertitel „Jerusalem regained“), das haufig auch John Milton zugeschrieben wird, mit der Schilderung eines in Israel errichteten „Gottesstaats“. Ein erstes Glimmen der Fruhaufklarung zeigt sich 1656 durch James Harringtons Oceana. In der direkten Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes’ absolutischem Souveranitatskonzept im Leviathan (1651) wird hier ein ausgearbeiteter Vertragsentwurf mit Reprasentation, Amterrotation und Zweikammersystem erstellt, der spater uber John Adams in wesentlichen Teilen Aufnahme in die Verfassung der Vereinigten Staaten fand. Aber erst auf der Basis der Philosophie John Lockes und nach der Glorious Revolution von 1688 fasst das Utopische in der Aufklarung des 18. Jahrhunderts wieder Fuß, wobei es meist ins Satirische spielt wie bei den Yahoos in Jonathan Swifts Gullivers Reisen von 1726 oder im El Dorado in Voltaires Candide 1759, wo die Kinder mit Edelsteinen spielen, das Essen kostenlos ist und Theologen unbekannt sind. Wie stark das Utopische aber auch hier an seine Zeit gebunden bleibt, zeigt noch 1770 Merciers „L’an 2440“ in dem Gewaltenteilung und Foderalismus herrschen – allerdings unter Ludwig XXXIV.
Wahrend der deutschen Fruhaufklarung wird die Utopie aus verschiedenen Blickrichtungen eher skeptisch beurteilt. Wahrend Theologen bezweifeln, dass eine Welt ohne Sunder moglich sei, gehen Philosophen wie Christian Wolff davon aus, dass die von Gott erschaffene Welt vernunftig und die beste aller Welten sei, so dass Utopien uberflussig seien. In Frankreich hingegen, wo Schriftsteller und Philosophen die historisch gewachsene Ordnung mit politischen Konstruktionen der Vertragstheorie infrage stellen, setzen sie sich deren Kritik des Utopismus aus.
= Moderne =
Im 19. Jahrhundert werden die Utopien dann als Sozialutopie zum konkreten Projekt, und die Autoren arbeiten an der Umsetzung ihrer Plane in die Wirklichkeit. Fouriers nach den Leidenschaften ihrer Bewohner geordnete Gesellschaft, in der der Pyromane zum idealen Feuerwehrmann wird, mit ihren „Phalensteres“ (Theorie des quattre mouvements, 1808) blieb jedoch ein Traum und Fourier wartete sein Leben lang vergeblich auf einen Sponsor, durch den er seine Plane in die Realitat hatte umsetzen konnen. Auch Robert Owens New Harmony ohne Ehe, Religion und Privateigentum, zugrunde gelegt 1820 in The Social System war in der Wirklichkeit nicht uberlebensfahig, das Projekt ruinierte Owen innerhalb von drei Jahren. 1842 erscheint Etienne Cabets Reise nach Ikarien als kommunistisches Idealbild. Wie Owen wollte auch Cabet sein Projekt in Amerika realisieren, wobei er ebenfalls nach kurzer Zeit scheiterte. Karl Marx kritisiert die Theorien Owens und der franzosischen utopischen Sozialisten als „phantastische Hintratigkeit des einzelnen Pedanten“; sie seien nicht in der sozialen Praxis verankert. Fur Ernst Bloch sind die Theorien von Karl Marx gerade wegen ihrer Wissenschaftlichkeit „Blei in den Flugelschuhen“ der Utopie. Nach Friedrich Engels „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ von 1880 ist kein utopischer Systementwurf mehr entstanden, der die Wirklichkeit zu transzendieren suchte, zumal nun auch die letzten weißen Flecken von der Weltkarte verschwunden waren und die Utopie vom Raum in die Zeit wandert.
Gustav Landauer setzte Utopie ins Verhaltnis zu Topie. Er sah dabei Topie als „allgemeine und umfassende Gemenge des Mitlebens im Zustand relativer Stabilitat“, wahrend Utopie „ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen“ bezeichnet, die „immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren“ (in: Die Revolution, 1907).
Edward Bellamys Looking Backward 2000–1887 zeigt eine technische Zukunftsutopie „industrieller Republiken“, wahrend praktisch gleichzeitig 1890 William Morris in News from Nowhere ein London imaginiert, in dem der Protagonist nach 40-jahrigem Schlaf erlebt, dass die Industrie wieder abgeschafft wurde, die Stadtteile sind wieder zu Dorfern geworden, die Eisenbrucken durch Holzbrucken ersetzt.
Die philosophische Reflexion uber den Utopiebegriff erfolgte in Anfangen nach dem Ersten Weltkrieg erstmals durch Ernst Blochs Geist der Utopie 1918 und verstarkt ab ca. 1930 dann auch durch Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse. Zentral bleibt der philosophische Utopie-Begriff jedoch mit Bloch vor allem auf der Basis des Prinzip Hoffnung (1954–1959) verbunden.
Eine systematische Fortfuhrung der Philosophie Blochs steht bis heute aus. So wird nach Bloch die Weiterentwicklung der Begrifflichkeit des Utopischen auch theoretisch im Wesentlichen von den Literaten vorangetrieben, in vorderster Front von Lars Gustafsson („Charakteristisch fur eine Utopie ist, dass sie eine systemtranszendente Kritik impliziert“) und Italo Calvino („E sempre il luogo qui mette in crisi l'utopia“). Calvino sieht die Utopie von heute als „polverizzata“ und lasst Marco Polo in den letzten Zeilen der „Unsichtbaren Stadte“ resumieren, man musse „suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitteln der Holle nicht Holle ist und ihm Bestand und Raum geben“.
Auch die literarische Utopie im 20. Jahrhundert fuhrt jenseits des Pessimismus der Dystopie von George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Schoner neuer Welt nur noch ein Nischendasein. Robert Musils Protagonist Ulrich im Mann ohne Eigenschaften von 1930 reflektiert zwar uber das Utopische, will sein Leben jedoch als individuelle Utopie ohne notwendige Veranderung der Gemeinschaft gestalten. Utopische Aspekte erscheinen in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts am offensichtlichsten – vor allem mit den „verborgenen Stadten“ – in den bereits oben genannten „Citta invisibili“ Italo Calvinos von 1972. Als „grune“ Utopie erscheint 1975 Okotopia von Ernest Callenbach, wobei eine Reihe der dort geschilderten okologischen Aspekte in der Zwischenzeit verwirklicht wurden, soziale und politische Zustande mit Prasidentin, Ministern und Staatssekretaren sowie beibehaltener Geldwirtschaft samt (immerhin begrenzter) Verdienstunterschiede und Privatschulen (ohne offentliche Konkurrenz) jedoch im Systemimmanenten verbleiben oder gar den herrschenden US-Wirtschaftsliberalismus noch verstarken. Steuern existieren nach wie vor – allerdings lediglich als Grundstuckssteuer.
Wie zum Beleg von Calvinos These bleiben im Bereich der Philosophie das utopische Denken und die Nachwirkung Blochs im Wortsinne sporadisch. So hat Jean-Francois Lyotard in Macht der Spuren (Berlin 1977) Blochs erstmals 1930 in den „Spuren“ erlauterte Methodik zur Entdeckung utopischer Momente gewurdigt, ohne jedoch auf die Systematik des Blochschen Denkens Bezug zu nehmen. Starker zeigt sich das Erbe Blochs bei Alexander Kluge, wenn dieser auf die Frage „Was tun?“ in einem Spiegel-Interview zu seinem 80. Geburtstag antwortet: „Im Konjunktiv denken, im Licht der Geschichte und der Zukunft nach Optionen, Moglichkeiten suchen.“
= 21. Jahrhundert =
Nach dem Scheitern zahlreicher sozialistischer Projekte konnte sich die liberale Demokratie Ende des 20. Jahrhunderts als die „historisch siegreiche Alternative“ prasentieren. Die westliche Konsumkultur in Verbindung mit einem sozialstaatlich gebandigten Kapitalismus erschien manchen als Endpunkt menschlicher Entwicklung. Sich eine alternative, bessere Zukunft vorzustellen, fallt vielen Menschen zu Beginn des neuen Jahrtausends schwer. Deshalb jedoch das „Ende der Utopie“ zu verkunden, ware ubertrieben. Utopisches Denken lebt fort, wenn auch in veranderter Form:
Der digitale Utopismus setzt seine Hoffnungen auf technologische Veranderungen. Er hat seine Wurzeln in der 1993 gegrundeten Zeitschrift Wired. Die „kalifornische Ideologie“, in der der freizugige Geist der Hippies mit dem unternehmerischen Eifer der Yuppies verschmolzen ist, legitimiere die Weltgestaltung durch den digitalen Kapitalismus. Gewarnt wird allerdings auch vor moglichen Gefahren eines Einsatzes neuer Technologien, etwa dort, wo die Macht allmahlich von Menschen auf hochintelligente Algorithmen ubergeht.
Der Schwerpunkt des utopischen Denkens hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Utopie auf die Dystopie verlagert. Unterbrochen durch ein kurzes Wiederaufleben utopischer Schriften in den 1960er und 1970er Jahren hat sich dieser Trend im neuen Jahrtausend noch verstarkt. Spatmoderne Gesellschaftsverhaltnisse (Umweltzerstorung, Spatkapitalismus, schwindender Fortschrittsglaube) haben die Dystopie zur vorherrschenden Form des Utopismus gemacht.
„Utopie ohne uns“: Angesichts des Ausmaßes anthropogener Veranderungen der Erde gelangten einige Denker zu der Auffassung, dass das Verschwinden des Homo sapiens eine positive Entwicklung sei. Das Aussterben der Menschheit, das fruher als ungewolltes, dystopisches Ergebnis einer fehlgeleiteten Moderne angesehen wurde, hat inzwischen utopische Zuge angenommen. Entsprechende Szenarien versprechen der Natur das Heil durch die Abwesenheit des Menschen.
Die meisten Utopien, die am Ziel des Uberlebens der Menschheit festhalten, verzichten inzwischen auf die Narration einer alternativen Welt. Sie bieten keine „Visionen von glucklichen Welten“; die Diagnose und die Losung konkreter sozialer Probleme stehe im Vordergrund. Das alltagliche humane Leben als Absage an jeden „paradiesischen Ausnahmezustand“ erscheint als einzig realisierbare, minimale Utopie. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „kritischen“ bzw. „gezahmten“ (chastened) Utopien. Machbare Visionen formulieren realistische Ziele innerhalb eines uberschaubaren zeitlichen Horizontes. Energien seien in „konkret Erreichbares“ zu investieren, „nicht in getraumte Universen, die einen immer nur daran verzweifeln lassen, wie groß die utopische Aufgabe ist“. Zu diesen kleinen, sozial-okologischen Transformationen zahlen u. a.: ein bedingungsloses Grundeinkommen, ein Ausbau der Care-Arbeit, die Gemeinwohl-Okonomie, die Postwachstumsgesellschaft, die Demokratisierung von Unternehmen, eine Reduzierung der Arbeitszeit, autofreie Stadte usw.
Der Problemdruck, der seit Morus Zeiten Utopien hervorbrachte, bestehe fort, so der Utopieforscher Richard Saage. Ob es angesichts dessen nur noch darum gehen konne, „innerhalb des ‚liberalen Projekts‘ die Verfahrensregeln des demokratischen Willensbildungsprozesses und des pluralistischen Verteilungskampfes festzuschreiben sowie die Wirksamkeit der Steuerungsinstrumentarien bei unveranderter Zielvorgabe zu erhohen“, erscheine fraglich. Vielfach wird betont, dass wir utopische Entwurfe, konsensuale Ziele bzw. Leitbilder brauchten, an denen politisches Handeln sich orientieren kann. Gegenwartig wussten wir jedoch nicht, welche Ziele wir anpeilen sollen. Der Politik fehle es Anfang des 21. Jahrhunderts an großen Visionen. Man verwalte das Land, fuhre es aber nicht mehr. Beklagt wird, dass die Autoren der Gegenwart die Ubel unserer Zeit zwar diagnostizieren konnten, ihre Fahigkeit, mogliche Formen der Heilung vorzuschlagen aber eng begrenzt sei. Das Scheitern unserer utopischen Vorstellungskraft deute darauf hin, dass wir nicht definieren konnen, was eine gute Gesellschaft tatsachlich ist. Es gibt auch im neuen Jahrtausend entsprechende Versuche, aber sie bleiben Ausnahmen. Als ein Grund fur die Unfahigkeit, sich positive soziale Szenarien vorzustellen, wird der postmoderne Relativismus genannt. Zudem fuhre die methodische Spezialisierung in den Wissenschaften und der Fokus auf einzelne Ausschnitte der Wirklichkeit dazu, dass der Blick furs Ganze schwinde. Daran etwas zu andern sei Aufgabe einer „utopischen Wissenschaft“. Sie solle sich der Frage „Was ist wunschenswert?“ stellen, „Zielwissen“ generieren und damit „eine Orientierungsfunktion fur Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ ubernehmen.
Siehe auch Automatisierung
Utopist
Heterotopie (Geisteswissenschaft)
Kurd Laßwitz (Auszeichnung, Laßwitz-Preis)
Kontrafaktische Geschichte (Uchronie)
Atopie (Philosophie)
Gute Gesellschaft
Literatur alphabetisch
Alexander Amberger, Thomas Mobius (Hrsg.): Auf Utopias Spuren. Utopie und Utopieforschung. Festschrift fur Richard Saage. Heidelberg 2017, ISBN 978-3-658-14045-8.
Ulrich Arnswald: Thomas Morus’ Utopia als Furstenspiegel. Uber ein lehrreiches und anregendes Gedankenspiel zum Entwurf neuer moglicher Staatsverfassungen. In: Mariano Delgado / Volker Leppin (Hrsg.): Die gute Regierung. Furstenspiegel in Religionen und Kulturen, („Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte“) Fribourg, Suisse: Academic Press; Freiburg, Schweiz: Paulus Verlag; Stuttgart: W. Kohlhammer 2017, 294–311.
Ulrich Arnswald, Hans-Peter Schutt (Hrsg.): Thomas Morus’ Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie. Karlsruhe 2010, ISBN 978-3-86644-403-4. (EUKLID : Europaische Kultur und Ideengeschichte. Studien Band 4).
Jorg Albertz (Hrsg.): Utopien zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bernau 2006, ISBN 3-923834-24-1. (Schriftenreihe der Freien Akademie Band 26).
Harold C. Baldry: Ancient utopias, Southampton 1956.
Marie-Louise Berneri: Reise durch Utopia. Ein Reader der Utopien. Kramer, Berlin 1982, ISBN 3-87956-104-4.
Lucio Bertelli: L’Utopia greca, in: L. Firpo (Hrsg.): Storia delle idee politiche, economiche e sociali, Vol. I: L’antichita classica, Turin 1982, S. 463–581.
Reinhold Bichler: Zur historischen Beurteilung der griechischen Staatsutopie, in: Grazer Beitrage 11, 1984, S. 179–206.
Wolfgang Biesterfeld: Die literarische Utopie. Metzler, Stuttgart 1982, ISBN 3-476-12127-5.
Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1959.
Ernst Bloch: Revolution der Utopie. Texte von und uber Ernst Bloch, Hg. Helmut Reinike. Frankfurt a. M. 1979, ISBN 3-593-32386-9.
Katharina Block: Sozialutopie – Darstellung und Analyse der Chancen zur Verwirklichung einer Utopie. wvb, Berlin 2011, ISBN 978-3-86573-602-4.
Horst Braunert: Utopia – Antworten griechischen Denkens auf die Herausforderung durch soziale Verhaltnisse, Kiel 1969.
Marvin Chlada: Der Wille zur Utopie. Aschaffenburg, Alibri-Verlag, 2003, ISBN 3-932710-73-8.
Arrigo Colombo: L’utopia – Rifondazione de un’idea e di una storia, Bari 1977.
Doyne Dawson: Cities of the Gods – Communist utopias in Greek thought, New York/Oxford 1992, ISBN 978-0-19-506983-9.
Sascha Dickel, Jan-Felix Schrape: Dezentralisierung, Demokratisierung, Emanzipation Zur Architektur des digitalen Technikutopismus. In: Leviathan. 3/2015, S. 442–463, doi:10.5771/0340-0425-2015-3-442.
Ulrich Dierse: Art. „Utopie“, in: Historisches Worterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter, K. Grunder u. G. Gabriel, Bd. 11, Darmstadt 2001, Sp. 510–526.
Thomas Eicher u. a. (Hrsg.): Das goldene Zeitalter. Utopien um 1900. In: StudienPROJEKTE-PROJEKTstudien. Bd. 2, Bochum/ Freiburg i.Br. 1997, ISBN 3-928861-93-X.
John Ferguson: Utopias of the classical world, London 1975.
Hans Freyer: Die politische Insel – Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936.
Heiner Geißler: Ou Topos – Suche nach dem Ort, den es geben mußte. Rowohlt Tb 62638, Reinbek b. Hamburg 2010, ISBN 978-3-499-62638-8.
Richard Gerber: Utopian Fantasy. A Study of English Utopian Fiction since the End of th Nineteenth Century, McGraw-Hill Paperback Edition, London: 1973 (Erstauflage 1955 bei Routledge&Kegan Paul Ltd.), 168 Seiten.
Richard Gerber: Der utopische Roman. Kunstlerische Konkretisierung, in: Anglistische Studien, hg. von Haskell Block. Geleitwort von Eberhard Lammert, New York, Washington D.C., Baltimore: Peter Lang Publishing 1999, S. 149 ff.
Hiltrud Gnug: Utopie und utopischer Roman. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-017613-1.
Steffen Greschonig: Utopie – Literarische Matrix der Luge? Eine Diskursanalyse fiktionalen und nicht-fiktionalen Moglich- und Machbarkeitsdenkens. Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2005, ISBN 3-631-53815-4.
Rigobert Gunther u. Reimar Muller: Das Goldene Zeitalter – Utopien der hellenistisch-romischen Antike, Stuttgart 1988.
Klaus J. Heinisch (Hrsg.): Der utopische Staat. Rowohlt Taschenbuch Verlag, 1960, ISBN 3-499-45068-2.
Lucian Holscher: Artikel „Utopie“, in: Geschichtliche Grundbegriffe – Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 733–790.
Hinrich Hudde. Utopie - Eine literarische Gattung, Erlangen 2024, doi: https://doi.org/10.25593/978-3-96147-775-3.
Karl R. Kegler, Karsten Ley und Anke Naujokat (Hrsg.): Utopische Orte. Utopien in Architektur- und Stadtbaugeschichte. RWTH Forum Technik u. Gesellschaft, Aachen 2004, ISBN 3-00-013158-2.
Reinhart Koselleck: Verzeitlichung der Utopie. In: Wilhelm Voßkamp (Hrsg.): Utopieforschung. Dritter Band, Suhrkamp, Frankfurt 1985, S. 1–14.
Oliver Kruger: Gaia, God, and the Internet – Revisited. The History of Evolution and the Utopia of Community in Media Society. In: Online – Heidelberg Journal for Religions on the Internet 8 (2015).
Krishan Kumar: Utopianism, Bristol 1991.
Till R. Kuhnle: Utopie, Kitsch und Katastrophe. Perspektiven einer daseinsanalytischen Literaturwissenschaft. In: Hans Vilmar Geppert, Hubert Zapf (Hrsg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven I. Francke, Tubingen 2003, S. 105–140. (behandelt die Utopie als Daseinsentwurf)
Till R. Kuhnle: Das Fortschrittstrauma. Vier Studien zur Pathogenese literarischer Diskurse. Stauffenburg, Tubingen 2005, ISBN 3-86057-162-1. (behandelt insbesondere das Verhaltnis von Utopie und Eschatologie).
Karl Mannheim: Ideologie und Utopie. Neuwied 1952.
Frank E. Manuel and Fritzie P. Manuel: Utopian thought in the Western world, Cambridge/Mass. 1979.
Rudolf Maresch, Florian Rotzer (Hrsg.): Renaissance der Utopie. Zukunftsfiguren des 21. Jahrhunderts. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-12360-2.
Alexander Neupert-Doppler: Utopie. Vom Roman zur Denkfigur. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2015, ISBN 3-89657-683-6.
Alexander Neupert-Doppler (Hrsg.): Konkrete Utopien. Unsere Alternativen zum Nationalismus. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2918, ISBN 3-89657-199-0.
Arnhelm Neususs: Utopie. Begriff und Phanomen des Utopischen. 3. Auflage. Frankfurt am Main/ New York 1986, ISBN 3-593-33592-1. (Arnhelm Neusuß (Hrsg.): Soziologische Texte. Bd. 44, Darmstadt/ Neuwied 1968; 2. Auflage. 1972).
Thomas Nipperdey: Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit. Archiv fur Kulturgeschichte (44), 1962.
Georg Pasch: Disputatio Philosophica De Fictis Rebuspublicis. Reuther, Kiel 1704. (Digitalisat)
Yann Rocher: Theatres en utopie. Actes Sud, Paris 2014.
Richard Saage: Das Ende der politische Utopie? Suhrkamp, Frankfurt/M. 1990.
Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit. WBG, Darmstadt 1991.
Richard Saage: Utopische Profile. Band 1: Renaissance und Reformation. LIT Verlag, Munster 2001, ISBN 3-8258-5428-0.
Richard Saage: Utopische Profile. Band 4: Widerspruche und Synthesen des 20. Jahrhunderts. LIT Verlag, Munster 2004, ISBN 3-8258-5431-0.
Thomas Scholderle: Geschichte der Utopie. Eine Einfuhrung. 2., uberarb. und aktual. Aufl., Bohlau (UTB), Koln/Weimar/Wien 2017, ISBN 978-3-8252-4818-5.
Thomas Scholderle: Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Nomos, Baden-Baden 2011, ISBN 978-3-8329-5840-4.
Thomas Scholderle (Hrsg.): Idealstaat oder Gedankenexperiment? Zum Staatsverstandnis in den klassischen Utopien. Nomos, Baden-Baden 2014, ISBN 978-3-8487-0312-8.
Ferdinand Seibt: „Utopica – Modelle totaler Sozialplanung“. Dusseldorf 1972.
Ferdinand Seibt: Utopica. Zukunftsvisionen aus der Vergangenheit. Orbis, Munchen 2001, ISBN 3-572-01238-4.
Peter Seyferth: Utopie, Anarchismus und Science Fiction. Ursula K. Le Guins Werke von 1962 bis 2002. Lit, Munster 2008, ISBN 978-3-8258-1217-1.
Helmut Swoboda: Utopia – Geschichte der Sehnsucht nach einer besseren Welt, Wien 1972.
Arno Waschkuhn: Politische Utopien. Ein politiktheoretischer Uberblick von der Antike bis heute. Oldenbourg Verlag, Munchen 2003, ISBN 3-486-27448-1.
Manfred Windfuhr: Zukunftsvisionen. Von christlichen, grunen und sozialistischen Paradiesen und Apokalypsen. Aisthesis, Bielefeld 2018, ISBN 978-3-8498-1133-4.
Johanna Wischner, Thomas Mobius, Florian Schmid (Hrsg.): Die Lucke der Utopie – Kritik, Ermachtigung, Trost, Themenschwerpunkt in: Berliner Debatte Initial. Heft 2/2016. ISBN 978-3-945878-09-5.
Gisela Zoebisch: Utopie und Historizismus. Zum Problem antizipativer Gesetzmaßigkeit geschichtlicher Entwurfe. Bayreuth 1993.
Film Die Utopie leben – Vivir la utopia. Der Anarchismus in Spanien. Ein Film uber gelebte Utopie wahrend des Spanischen Burgerkrieges von Juan Gamero, 1997.
Fort von allen Sonnen. Dokumentarfilm uber die gesellschaftliche Utopie der fruhen Sowjetunion anhand der Bauten des Konstruktivismus, 2013.
Weblinks Ulrich Arnswald, Hans-Peter Schutt: Thomas Morus' Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie. doi:10.5445/KSP/1000012216.
Rolf Schwendter: Utopie
Utopia and Utopianism akademische Zeitschrift, die sich auf utopische Studien spezialisiert hat
Freitag-Debatte: Utopie konkret – Was tun, wenn nichts mehr geht
Spektrum.de: Die Utopie – Geschichte eines Missverstandnisses 31. August 2019
Utopie-Netzwerk Textsammlung zu politischen Utopien
UTOPIA. Weltentwurfe und Moglichkeitsraume in der Kunst. In: Kunstforum International. Nr. 275, 2021
Einzelnachweise
|
Eine Utopie ist der Entwurf einer moglichen, zukunftigen, meist aber fiktiven Lebensform oder Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenossische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist.
Das Wort geht zuruck auf altgriechisch ου ou „nicht“ und τοπος topos „Ort, Stelle“, gemeinsam „Nicht-Ort“, beziehungsweise den Titel Utopia eines lateinischen Romans des Thomas Morus aus dem Jahr 1516. Die in Utopien beschriebenen fiktiven Gesellschaftsordnungen resultieren haufig aus einer Kritik der jeweils zeitgenossischen Gesellschaftsordnung und konnen dann als positive Gegenentwurfe gelesen werden.
Christine de Pizan stellt in ihrem 1405 fertiggestellten Roman „Le Livre de la Cite des Dames“ erstmals das Bild einer utopischen Gesellschaftsform dar.
Bei Morus, der das Thema etwa hundert Jahre spater (1516) ebenfalls aufgriff, handelt es sich bei dem Begriff um ein Sprachspiel zwischen Utopie und Eutopie aus ευ (eu) „gut“ und τοπος. Dagegen bezeichnet die Dystopie die pessimistische Beschreibung einer unethisch negativen Gesellschaftsordnung.
Im alltaglichen Sprachgebrauch wird Utopie (insb. als Adjektiv utopisch) haufig als Synonym fur schone, aber als unausfuhrbar betrachtete Zukunftsvisionen benutzt. Utopien wie sie in Science-Fiction-Filmen haufig sind, schildern positive (Zukunfts-)Welten, in denen Friede und Eintracht herrschen (etwa in In den Fesseln von Shangri-La).
Hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit wird zwischen deskriptiven (scheinbare Zukunftstrends beschreibenden), evasiven (mit der Tendenz zur Weltflucht verbundenen) und konstruktiven (aktiv zu realisierenden) Utopien unterschieden. Diese konnen sich auf Staats- und Wirtschaftsformen, die Zukunft von Kultur, Kunst oder Religion, verschiedene Arten des Zusammenlebens, Innovationen des Bildungswesens oder der Geschlechterkonstellationen u. a. beziehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Utopie"
}
|
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.