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c-900
Right Here, Right Now ist eine Singleauskopplung der britischen Rock-Band Jesus Jones von ihrem zweiten Album Doubt. Das Lied, das die Umbruchstimmung wahrend der Revolutionen im Jahr 1989 einfangt, ist der bekannteste Song der Band. Hintergrund Mike Edwards, Sanger und Gitarrist der Band, wollte mit Right Here, Right Now eine optimistische Version des Prince-Klassikers Sign o’ the Times komponieren. Wahrend Prince die negativen Seiten seiner Zeit ansprach, wollte Edwards – beflugelt durch die Fernsehbilder vom Mauerfall 1989 – die positiven Aspekte ansprechen. Fur das Demotape verwendete Edwards ein Sample von Sign o’ the Times sowie Gitarrensoli von Jimi Hendrix. Der Musikproduzent Martyn Phillips, der gerade erst einen Rechtsstreit um ein unautorisiertes Sample verloren hatte, uberzeugte die Band, den Track von Grund auf neu einzuspielen. Das Lied wurde im zeitgenossischen Madchester-Stil produziert, einer Mischung aus Indie-Rock, Psychedelia und Elektronischer Tanzmusik. Ein programmierter Drumbeat und ein groovender Basslauf erzeugen einen durchgehenden tanzbaren Rhythmus, Blasersatze vom Synthesizer sorgen fur eine hymnische Atmosphare und ein selbst eingespieltes Gitarrensolo im letzten Drittel des Liedes ersetzt das ursprunglich geplante Hendrix-Sample. Nach der Fertigstellung des Songs hatten Jesus Jones im Februar 1990 ihren ersten Auftritt in Rumanien, wo kurz zuvor der Diktator Nicolae Ceausescu gesturzt worden war. Aufnahmen vom Auftritt sind im Musikvideo zu sehen. Inhalt Das Lied beginnt mit der Feststellung, dass im Radio uber die Revolution berichtet wird, wahrend sie gerade passiert. Die dritte Zeile „Bob Dylan didn’t have this to sing about“ nimmt Bezug auf Bob Dylans Folkhymne The Times They Are a-Changin’ von 1965. Im Refrain konstatiert das lyrische Ich, dass es derzeit keinen besseren Ort gibt als das Hier und Jetzt, denn die Welt erwacht aus einem historischen Zustand („Right here, right now, there is no other place I want to be / Right here, right now, watching the world wake up from history“). Der Liedtext spiegelte insgesamt ein Lebensgefuhl von 1989/90 wider: Die zweite Strophe endet mit der Zeile „Then there’s your sign of the times“ (deutsch: Dann ist da dein Zeichen der Zeit), einem Verweis auf die ursprungliche Inspirationsquelle Sign o’ the Times von Prince. Rezeption = Chartplatzierung = Right Here, Right Now erreichte zwei Wochen nach Veroffentlichung im September 1990 mit Platz 31 die hochste Platzierung in den britischen Musikcharts. In den Vereinigten Staaten kletterte Right Here, Right Now am 27. Juli 1991 auf Platz 2 der Billboard Hot 100 und landete damit vor Unbelievable der ahnlich gelagerten britischen Band EMF auf Platz 3 und hinter (Everything I Do) I Do It for You von Bryan Adams auf der Spitzenposition. Im August 1991 standen mit Right Here, Right Now, Seals Crazy und Wind of Change von den Scorpions gleich drei Songs mit Bezug zum Fall des Eisernen Vorhangs in den Top Twenty der Billboard Hot 100. Wegen des absehbaren Erfolgs in den USA wurde die Single in Großbritannien erneut aufgelegt, konnte aber am 20. Juli 1991 wieder nur auf Platz 31 der UK-Single-Charts vordringen. In der Schweizer Hitparade landete der Song am 31. Marz 1991 auf Platz 14. In Deutschland kam der Song im September 1991 nur bis auf Platz 84, wo er sich zwei Wochen lang halten konnte. = Wahlkampfsong = Im Jahr 1992 verwendete der spatere US-Prasident Bill Clinton Right Here, Right Now als Wahlkampflied seiner Kampagne. Als Hillary Clinton 2007 gegen ihren Parteikollegen Barack Obama antrat, benutzte sie ebenfalls das Lied. Der Keyboarder der Band, Iain Baker, außerte sich 2018 gegenuber der britischen Tageszeitung The Guardian: = Coverversion = Die Band The Feelers aus Neuseeland spielte 2010 eine Coverversion ein. Der Song erschien auf ihrem Album Hope Nature Forgives und als ausgekoppelte Single. Die Coverversion war Erkennungsmelodie des 2011 Rugby World Cup. Musikvideo Das zur Single produzierte Musikvideo zeigt einen Buhnenauftritt der Band, unterbrochen von Fernsehbildern vom Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks im Zeitraum 1989/1990. Zwischendrin sind die Gesichter von Michail Gorbatschow, Ronald Reagan, George Bush sen. und Egon Krenz zu sehen. Bereits im Fruhling 1990 waren im Musikvideo zu Better World des britischen Rappers Rebel MC Szenen aus Ostberlin (U-Bahn nach Pankow), vom Mauerstreifen mit Mauerspechten und mit Michael-Gorbatschow-Parodie zu sehen. Das Video beginnt mit der Ankundigung der Band durch die englische Radio-DJ Annie Nightingale auf einer Konzertbuhne im post-kommunistischen Rumanien: „They come from London. Their music you will find very different.“ Ihre Ansage wird parallel ins Rumanische ubersetzt. Das Video endet mit einer Aufnahme in Tokio. Weblinks Right Here, Right Now bei Discogs Right Here, Right Now bei Songtexte.com Jesus Jones: Right Here, Right Now (Official Music Video) auf YouTube Jesus Jones: Right Here, Right Now (Countdown, 1991) auf YouTube Jesus Jones: Right Here, Right Now (The Martyn Phillips Mix) auf YouTube Einzelnachweise
Right Here, Right Now ist eine Singleauskopplung der britischen Rock-Band Jesus Jones von ihrem zweiten Album Doubt. Das Lied, das die Umbruchstimmung wahrend der Revolutionen im Jahr 1989 einfangt, ist der bekannteste Song der Band.
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c-901
Als Weltchronik in Form eines Fliegenwedels werden kunsthandwerkliche Schaustucke bezeichnet, bei denen auf einem Holzstab bis zu 200 beschriebene Pergamentstreifen befestigt sind. Die Streifen sind beidseitig mit Versen beschrieben, die biblische oder geschichtliche Ereignisse schildern. Die Objekte wurden wahrscheinlich an der Wende zum 17. Jahrhundert geschaffen. Sie werden dem Ulmer Schreibmeister David Seltzlin zugeschrieben. Weltweit sind funf Exemplare dieser Art bekannt, wovon sich zwei im Bestand des Museums Ulm befinden. Die Objekte wurden anscheinend in erster Linie als Kuriositat in einer Kunst- und Wunderkammer ausgestellt, andere Veroffentlichungen legen einen Verwendungszweck als Bußgeißel nahe. Bekannte Exponate Die Wissenschaft nimmt an, dass der Kunstler derartige Weltchroniken in großerer Zahl anfertigte. Neben Objekten fur den freien Verkauf ist heute ein signiertes Exemplar fur einen bestimmten Auftraggeber bekannt. Das Museum Ulm hat zwei Fliegenwedel-Weltchroniken in seinem Bestand. Weltweit sind außerdem drei Exemplare bekannt: eines in der British Library in London, eines im New Yorker Morgan Library & Museum und eines im Museum Schloss Ambras Innsbruck. Uber die Herkunft des Exponats der British Library ist aus den fruhen Katalogeintragen nichts zu entnehmen. Zum Exemplar in New York ist nur ein einzeiliger Provenienzhinweis auf einen Buchhandler bekannt. Die Provenienz der beiden Fliegenwedel-Chroniken im Museum Ulm lasst sich am besten zuruckverfolgen. Einer der beiden Wedel stammt aus der Sammlung des Ulmer Kaufmanns Christoph Weickmann (* 1617; † 1681), der ab 1653 in Ulm ein Kunst- und Naturalienkabinett anlegte. Das Kabinett enthielt einst bis zu 1000 Exponate, von denen heute noch 80 erhalten sind. 1655 und 1659 inventarisierte Weickmann seine Sammlerstucke in Katalogen, die die Fliegenwedel-Chronik noch nicht enthalten. In einem weiteren Sammlungskatalog, der 1716 – also nach Weickmanns Tod – angelegt wurde, ist die Chronik dann verzeichnet. Forschende vermuten, dass Weickmann die Chroniken selbst erwarb, seine Nachfahren durften nicht an einer Sammlungserweiterung interessiert gewesen sein. Die zweite Chronik erstand der 1841 gegrundete Verein fur Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben im Jahr 1856 fur seine Sammlung. Eine Inventarliste des Vereins erwahnte im folgenden Jahr, es existierten „mehrere solcher Wedel in der Stadt.“ Beide Sammlungen gingen wenige Jahrzehnte spater im neu gegrundeten stadtischen Kunstgewerbemuseum auf, dem Vorganger des heutigen Museums Ulm. Im Museumsfuhrer von 1904 sind beide Exemplare falschlicherweise als Teile der Sammlung Weickmann verzeichnet. Heute lasst sich nicht feststellen, welche der beiden Chroniken aus welcher Sammlung stammten, weil die Beschreibungen in den Inventaren zu unspezifisch sind. Name Die Bezeichnung „Fliegenwedel-Chroniken“ geht auf Weickmann zuruck. Ein Katalog von Weickmanns Sammlung listet 1716 in der Kategorie „Fremde Kunst und curiose Sachen“ folgende Beschreibung auf: „Ein Pergamenten Fliegen Wedel / darauf viele Historien zu lesen und allerhand Farben Buchstaben.“ Auch die Chronik des Kunstvereins wurde ehedem in den Inventurlisten als „Fliegenwedel“ bezeichnet. Gestaltung Es liegen keine vollstandigen Beschreibungen aller Exponate vor. Zwei Wedel wurden genau beschrieben, die anderen drei nur fragmentarisch. Der generelle Aufbau der Stucke ist gleich, doch die verschiedenen Maße und die Anzahl der Pergamentstreifen weichen voneinander ab. Auf einem Stab aus Holz sind auf der Spitze um die 165 bis maximal 200 beschriebene Pergamentstreifen befestigt. Die Form des gedrechselten Holzstabes erinnert an ein Zepter. Der Stab hat in einem Fall eine Lange von 45,8 cm, im anderen Fall von 34,5 cm. Der kurzere Stab ist zudem mit Zierwulsten und Bemalungen verziert. In den Stab wurde eine sich konisch verjungende Krone eingepasst. In diesem Verbindungsstuck sind die Pergamentstreifen eingelassen und durch einen Holzpfropf fixiert. Die Maße der Pergamentstreifen bewegen sich um die 30 cm Lange und unter 1 cm Breite. Herstellung Auf den Objekten ist kein Herstellungsdatum verzeichnet. Deshalb lasst sich die Zeit der Herstellung nur anhand der jungsten Daten der beschriebenen Ereignisse ableiten. Die Herstellung der Wedel liegt offensichtlich um die Wende zum 17. Jahrhundert. In der modernen Forschungsliteratur weichen die genannten Jahreszahlen minimal voneinander ab: 1595, 1598 und 1608. Ebenso verhalt es sich mit dem Ort der Herstellung. Auf den Objekten ist auch er nicht genannt, doch aus der Haufigkeit der genannten Regionen und Stadte sowie der Sprachform lasst sich die Gegend der Herstellung ableiten. Demzufolge stammen die Chroniken aus dem wurttembergischen und oberbayerischen Raum, speziell stehen Ulm und Augsburg im Mittelpunkt der Uberlegungen. Kunstler Von den heute noch funf erhaltenen Exemplaren ist jenes in der New York Library als einziges signiert. Auf dem chronologisch jungsten Streifen mit dem Datum 1608 findet sich diese Angabe zum Hersteller: „Verehrt und gemacht durch David Seeltzelln teutscher schul Rechen Maister Burger zu Ulm.“ Genannter David Seltzlin oder Seltzel (* 1536/1540; † 1609) war ab 1567 als Schreib- und Rechenmeister sowie als Kartograph in Ulm tatig. Im Jahr 1578 arbeitete Seltzel als Modist (Kunstschreiber) und Rechenmeister in Biberach, kehrte aber spatestens 1588 wieder nach Ulm zuruck, wo er dann als Spatwerk die Fliegenwedel-Chroniken verfasste. Uberregionale Bekanntheit erlangte David Seltzlin als Kartograph. Er unternahm das Projekt, alle Kreise des Heiligen Romischen Reiches in einem umfangreichen Kartenwerk neu aufzunehmen. Beenden konnte er davon lediglich die Karten des Schwabischen und des Frankischen Kreises, was ihm noch zu Lebzeiten Ruhm einbrachte. Auch heutzutage ist er fur seine kartographischen Arbeiten am bekanntesten. Fachleute sagen, dass alle funf bekannten Chroniken von derselben Hand geschrieben wurden. Die Texte und ihre Zusammenstellung auf den Pergamentstreifen entsprechen einander teilweise wortgenau. Daher wird angenommen, dass Seltzlin auch der Schreiber der ubrigen Objekte war. Als Autor der Verse gilt er hingegen eher nicht, wenngleich noch nicht zu ermitteln war, welche Chronik er als Vorlage verwendete. Auf dem signierten Werk ist neben dem Autor auch ein Empfanger und eventueller Auftraggeber genannt: Christoph oder Christoff Vohlen, seinerzeit Ratsherr und Verwalter des stadtischen Pflegamtes in Ulm. Beschriftung = Gestaltung = Die Pergamentstreifen der Wedel sind beidseitig beschriftet. Die Verteilung der Farben auf der Vorder- und Ruckseite des Pergaments lasst vermuten, dass die Seiten zunachst beidseitig beschrieben und anschließend in Streifen gleicher Lange zerschnitten wurden. Die Beschriftung beginnt an dem Ende des Streifens, an dem er am Handstab befestigt ist. Auf beiden Seiten der Streifen stehen jeweils dreiteilige, einheitlich gereimte Verse. Vorder- und Ruckseite wurden mit Tinten verschiedener Farben beschrieben. Ein Ulmer Exemplar weist rote und grune Tinte auf, das Exemplar der British Library variiert zusatzlich mit brauner Tinte. Auf manchen Streifen ist die Ruckseite nachtraglich wieder ausgeloscht worden. Die leicht kursive Frakturschrift ist zum großeren Teil gut lesbar. Einige Stellen sind schwierig zu entziffern und mussten eher erraten werden. Die Buchstaben e, i, r sowie u und v sind oft sehr ahnlich im Aussehen. Groß- und Kleinschreibung am Wortanfang sind haufig nicht eindeutig zu unterscheiden. Die Enden der Verse sind oft durch Schragstriche markiert. = Jahreszahlen = Vor jedem Vers steht eine Raute mit einer Jahreszahl, zu der das im Vers genannte Ereignis stattgefunden hat. Diese Jahreszahlen errechnen sich nach zwei vermeintlichen Begebenheiten: Die Erschaffung der Welt. Dieser Bezug wird als anni ab origine mundi bezeichnet und ist abgekurzt als „A. Mund“ verzeichnet. Die Geburt von Jesus Christus. Dieser Bezug wird als anni Christi gratie bezeichnet und ist abgekurzt als „A. Christ“ verzeichnet. Nach der zugrunde liegenden Zahlweise liegt die Geburt Christi im Jahr 3962 nach der Erschaffung der Welt. = Transkription = Bis zum Jahr 2021 waren die beiden Ulmer Exemplare und 57 Pergamentstreifen der Londoner Chronik transkribiert. Die letztere stimmt mit nur geringen Abweichungen mit den Ulmer Werken uberein. Die Wedel verwenden dieselbe Textvorlage, auch wenn nicht alle Verse ubereinstimmen. Bei der Begutachtung des Exemplars in der British Library war es fur die forschenden Wissenschaftler eine Herausforderung, die Texte auf den Pergamentstreifen zu dokumentieren. Zum einen sind die Texte weder nummeriert noch folgen sie einer Zahlweise. Zudem sind die dunnen Streifen beweglich, so dass die Gefahr des Verhedderns bestand. Das Markieren und Wiederfinden einzelner Teile stellte sich als technisch recht diffizil heraus. Die Wissenschaftler verwendeten Streifen aus Seidenpapier und kleine Taschentucher fur zeitweilige Markierungen. Eine weitere Schwierigkeit war festzulegen, welche Seite man als Vorder- oder als Ruckseite bezeichnet: Auffallig an den Streifen war, dass die Fleischseite der pergamentenen Tierhaut fast immer nach außen gewolbt war, die Haarseite nach innen. Zudem sind die chronologisch erste und letzte Jahreseintragung jeweils auf einer Fleischseite geschrieben. Deshalb wurde die Fleischseite als Vorderseite bezeichnet, die Haarseite als Ruckseite. = Inhalt = Jeder Vers beschreibt ein biblisches oder geschichtliches Ereignis. Die Zeitspanne erstreckt sich dabei von der geglaubten Erschaffung des ersten Menschenpaares bis zum Jahr 1595 bzw. 1598. Die Streifen sind nicht nummeriert und offenbar nach dem Zufallsprinzip eingelassen. Eine Lekture in chronologischer Reihenfolge ist demnach nicht moglich. Im Bereich der Historiographie zahlen die Werke dennoch zur Gattung der Annalen. Die biblischen Verse beziehen sich sowohl auf das Alte wie auch auf das Neue Testament. Sie berichten von Propheten, Aposteln und dem Leben Jesu. Dazu kommen kirchengeschichtliche Ereignisse aus der Bewegung der fruhen Kirche. Bedeutende Herrscher werden genannt, zum Beispiel romische Kaiser. Berichte aus der deutschen Geschichte des Mittelalters werden aufgegriffen, ebenso politische Ereignisse, Kriege und Hungersnote. Naturkatastrophen und vielfach Kometenerscheinungen mit ihren mutmaßlich unseligen Folgen werden geschildert. Man findet Mitteilungen aus der Geschichte der großen europaischen Handelsstadte, unter anderem auch uber die Pestzeit und Judenpogrome des 14. Jahrhunderts. Gern wird uber die Geschichte der deutschen freien Reichsstadte berichtet, wobei die Gegenden Ulm, Augsburg und Schwaben auffallend haufig genannt werden. = Beispiele an Versen = Beispiele von Versen in deren notierten chronologischen Reihenfolge: Vers uber den Tod Adams, dem laut Bibel ersten Menschen, datiert auf A. Mund 930: Vers uber den in der Bibel genannten babylonischen Turmbau und die sich anschließende Sprachverwirrung, datiert auf A. Mund 1768: Vers uber einen Kometen sowie die Ermordung Gaius Iulius Caesars und Marcus Tullius Ciceros, datiert auf A. Mund 3920: Vers uber die Kreuzigung von Jesus Christus, datiert auf A. Christ 34: Vers uber die Grundung des Bistums Bamberg und Uberfall der Turken auf Jerusalem, datiert auf A. Christ 1008: Vers uber die Judenpogrome in europaischen Stadten wahrend der Pestzeit des 14. Jahrhunderts, datiert auf A. Christ 1348: Vers uber die Erfindung des Buchdrucks von Johannes Gutenberg, datiert auf A. Christ 1440: Vers uber den Stadtbrand in Biberach an der Riß am 4. August 1516, datiert auf A. Christ 1516: Vers uber das Erdbeben von Neulengbach 1590 in der Nahe Wiens, datiert auf A. Christ 1590: Vers uber eine Erscheinung am Himmel uber Augsburg am 8. Marz 1590, datiert auf A. Christ 1590: Zweck Uber die Verwendung der Wedel in fruheren Zeiten ist nichts bekannt. Als Fliegenwedel im tatsachlichen Sinne waren sie nach Gelehrtenmeinung nicht vorgesehen. Als Nachschlagewerk oder Hilfsmittel der Unterweisung waren diese Gegenstande aufgrund fehlender Chronologie ebenfalls unbrauchbar. Gedacht waren sie wohl in erster Linie als Kuriositat, zum Betrachten in einer Kunst- und Wunderkammer. Heute dokumentieren die Wedel kuriose Beispiele fur das Element des Spielerischen im Zusammenhang von Schrift und Bild. Ulrich Muller und Margarete Springeth deuteten den Verwendungszweck als Bußgeißel – als Flagellum. Unter diesem Begriff wurde auch das Exemplar in der British Library im 19. Jahrhundert in den Katalog aufgenommen. Am Ende jedes Pergamentstreifens ist ein Feld mit silbrig-schwarzer Tinte ausgemalt. Die Autoren sagen, dass diese Felder Metallstucke an Lederriemen von Bußgeißeln darstellen. Die Gelehrten deuten weiter, dass daher keine „Narrengeißel“ gemeint sein konne, sondern nur eine Bußgeißel, wie sie in der christlichen Askese allgemein in Gebrauch war. Die Chroniken seien demnach ein Gegenstand, der der besitzenden oder benutzenden Person zur Bestrafung fur Sunden, eventuell sogar zur Selbstbestrafung dienen sollte. Auch wenn die Inschriften einen belehrenden Charakter aufweisen, handeln die verzeichneten Texte nicht unmittelbar von Sunden und Buße, wie es zum Beispiel geistliche Texte taten. In den Texten konnte gleichwohl die haufige Nennung von Katastrophen, Kriegen oder anderen „Menschheitsgeißeln“ die Annahme der Autoren stutzen. Schreibmeister um die Wende des 17. Jahrhunderts gestalteten ihre Werke mit vielen Ornamenten, Mikrografien und labyrinthartigen Schriftlaufen. Das bedeutete fur die Leser eine Herausforderung fur die Augen und an Geduld. Die Form dieser Fliegenwedel verkorpert diesen Aufwand gewissermaßen. Weblinks Bebilderte Informationen uber die Wedelchronik in Schloss Ambras Innsbruck Film auf SWR „David Seltzel (Seltzlin): Weltchronik in Gestalt eines Fliegenwedels“ (2019) von Daya Sieber, 2 Min. Einzelnachweise
Als Weltchronik in Form eines Fliegenwedels werden kunsthandwerkliche Schaustucke bezeichnet, bei denen auf einem Holzstab bis zu 200 beschriebene Pergamentstreifen befestigt sind. Die Streifen sind beidseitig mit Versen beschrieben, die biblische oder geschichtliche Ereignisse schildern. Die Objekte wurden wahrscheinlich an der Wende zum 17. Jahrhundert geschaffen. Sie werden dem Ulmer Schreibmeister David Seltzlin zugeschrieben. Weltweit sind funf Exemplare dieser Art bekannt, wovon sich zwei im Bestand des Museums Ulm befinden. Die Objekte wurden anscheinend in erster Linie als Kuriositat in einer Kunst- und Wunderkammer ausgestellt, andere Veroffentlichungen legen einen Verwendungszweck als Bußgeißel nahe.
{ "url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Weltchronik_in_Form_eines_Fliegenwedels" }
c-902
Der Glasgow-Effekt ist ein im Gesundheitswesen verwendeter Begriff fur Faktoren, die fur die geringere Lebenserwartung der Einwohner des schottischen Glasgow im Vergleich zum Rest des Vereinigten Konigreichs und Europas verantwortlich sind. Der Begriff ist umstritten, da er nur die Beschreibung eines Problems bietet, fur das bislang keine abschließende Erklarung gefunden wurde. Die Ubersterblichkeit in Glasgow stieg erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts an, damals vornehmlich durch koronare Herzkrankheiten, Krebs und Schlaganfalle. Der Trend verstarkte sich nochmals in den 1980er Jahren, wobei eine Zunahme der Sterblichkeitsziffern durch alkohol- und drogenbedingte Todesfalle, gewaltsame Todesfalle, Straßenverkehrsunfalle und Selbstmord zu verzeichnen waren. Obwohl ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen oft mit einer schlechteren Gesundheit und einer verkurzten Lebenserwartung in Verbindung gebracht wird, scheinen die wirtschaftlichen Bedingungen nicht per se die Ursache fur den Glasgow-Effekt zu sein. In Stadten wie Liverpool, Manchester oder Birmingham, die ein ahnliches Einkommensniveau aufweisen, ist die Lebenserwartung hoher. Zudem ist auch die Lebenserwartung der wohlhabenden Bevolkerung Glasgows ebenfalls geringer als die der gleichen Gruppe in anderen Stadten. Zur Erklarung des Glasgow-Effekts wurde eine Reihe von Hypothesen aufgestellt, darunter der Lebensstil sowie soziookonomische, kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren. Aufgrund der Komplexitat des Phanomens ist davon auszugehen, dass nicht nur ein einzelner Faktor verantwortlich ist. Auch wenn all diese Faktoren zum Glasgow-Effekt beitragen konnen, bleibt die eigentliche Ursache ungeklart. Lebenserwartung Die Lebenserwartung fur Manner lag in Glasgow im Zeitraum 2008 bis 2010 bei 71,6 Jahren im Vergleich zum Durchschnitt von 78,2 Jahren im Vereinigten Konigreich; bei Frauen lag die Lebenserwartung bei 78,0 Jahren verglichen mit einem Durchschnitt von 82,3 Jahren. Damit war die Lebenserwartung in Glasgow deutlich niedriger als in anderen europaischen Landern und im Vereinigten Konigreich. Die Ubersterblichkeit in Glasgow wurde um 1950 deutlich und scheint seit den 1970er Jahren gestiegen zu sein. Im Vergleich zu den Einwohnern von Liverpool und Manchester war das Sterberisiko fur die Einwohner Glasgows im Jahr 2014 im Schnitt um etwa 30 % hoher, selbst in den wohlhabenderen Stadtvierteln war die Sterblichkeitsrate um 15 % hoher als in ahnlichen Stadtvierteln anderer Großstadte. Die erhohte Mortalitat, vor allem seit den 1990er Jahren, lasst sich zu 60 % auf Drogen, Alkohol, Selbstmord und Gewalt zuruckfuhren. Gleichzeitig verzeichnete Glasgow zwischen 2007 und 2014 einen Ruckgang der Mordrate um nahezu 40 %. Dennoch ist die Anzahl der Morde pro Kopf der Bevolkerung in Glasgow immer noch doppelt so hoch wie in London. Hypothesen Im Jahr 2017 untersuchte das „Glasgow Centre for Population Health“ 40 Hypothesen, die den Glasgow-Effekt moglicherweise erklaren. Deren Relevanz wurde anhand der Bradford-Hill-Kriterien bewertet. Als nachteilig fur Glasgow erwies sich demnach unter anderem die verzogerte Auswirkung der historischen Uberbevolkerung, die Umsiedlung der Bevolkerung in Stadtrandgebiete sowie andere Prozesse des stadtischen Wandels, welche sich in einer Verschlechterung der Lebensbedingungen niederschlugen. = Demographische Entwicklung und Stadtplanung = Der Schriftsteller Daniel Defoe war im fruhen 18. Jahrhundert begeistert von Glasgow und nannte es „die sauberste, schonste und am besten gebaute Stadt in Großbritannien“. Die industrielle Revolution fuhrte zu einer deutlichen Zunahme der Einwohnerzahl, was fur viele Menschen eine schwierige und mit Herausforderungen verbundene Situation schuf. Mitte des 20. Jahrhunderts hatte Glasgow mehr als eine Million Einwohner, die Bevolkerungsdichte betrug 6777 Einwohner pro Quadratkilometer. Sie war damit eine der hochsten in Europa und entsprach etwa der Bevolkerungsdichte von Hongkong im Jahr 2024. Basierend auf dem sogenannten „Bruce Report“ wurde in Glasgow ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Politik der Umsiedlung eines Großteils der Stadtbevolkerung durch den massenhaften Abriss von Mietskasernen im Stadtzentrum und deren Ersatz durch Wohnungsbauprogramme am Stadtrand verfolgt. Die dort errichteten Hochhauser stellten zunachst eine Verbesserung gegenuber den Slums der Innenstadt dar, doch die Bewohner waren mit einem Mangel an Einkaufs- und Unterhaltungsmoglichkeiten sowie sozialen Einrichtungen konfrontiert. Der Zustand der Wohnanlagen wurde durch den Niedergang der traditionellen Industrien der Stadt zusatzlich verschlechtert. Dies fuhrte dazu, dass viele neu entstandene Stadtteile wie Easterhouse aufgrund ihrer Bandenkriminalitat als Orte mit einer hohen Gewaltbereitschaft galten. Die Zunahme der Arbeitslosigkeit fuhrte zu einer Verscharfung der Situation hinsichtlich der Bandenkriminalitat sowie des Alkohol- und Drogenmissbrauchs. Es entstanden neue Slums anstelle derer, die sie noch wenige Jahrzehnte zuvor ersetzen sollten. Glasgow war 2021 mit 635.130 Einwohnern und einer Bevolkerungsdichte von 3635 Einwohnern pro Quadratkilometer immer noch die bei weitem großte und am dichtesten bewohnte Stadt Schottlands. = Kindheitstraumata = Als weitere mogliche Erklarung fur den Glasgow-Effekt gelten Kindheitstraumata wie sexueller Missbrauch, Vernachlassigung, die Trennung der Eltern und weitere Belastungsfaktoren. Im Rahmen einer Studie gaben zwei Drittel der Teilnehmer an, mindestens eines der genannten Ereignisse erlebt zu haben, wahrend rund 20 % von drei oder mehr negativen Erfahrungen berichteten. Die Anzahl der verschiedenen erlebten negativen Kindheitserfahrungen wurde bewertet und in einer Kennzahl zusammengefasst. Dabei konnte ein Zusammenhang zwischen negativen Kindheitserfahrungen und negativen gesundheitlichen Folgen fur Erwachsene in einer Vielzahl von Bereichen nachgewiesen werden, unter anderem bei Depressionen, Alkohol- und Drogenmissbrauch sowie der Haufigkeit von Herz-, Leber- und Lungenkrankheiten. Im Jahr 2012 gab es in Glasgow noch 15 Bezirke, in denen die Kinderarmut mehr als 30 % betrug. = Lebensstil = Ein ungesunder Lebensstil, der sich durch eine unausgewogene zucker- und salzreiche Ernahrung auszeichnet (deren exemplarischer Vertreter der frittierte Marsriegel ist), tragt ebenfalls zum sogenannten Glasgow-Effekt bei. Die Adipositasrate ist eine der hochsten der Welt. Dazu kommen unzureichende Bewegung sowie ein erhohtes Risiko fur Nikotin-, Drogen- oder Alkoholmissbrauch. So lag die durchschnittliche jahrliche Rate der drogenbedingten Todesfalle in Glasgow im Jahr 2023 mit 44,4 pro 100.000 Einwohnern fast doppelt so hoch wie im restlichen Schottland, wo sie bei 22,9 pro 100.000 Einwohnern lag. Auch die Rate der alkoholbedingten Todesfalle bei Mannern lag in Glasgow im Jahr 2023 mit 47,8 pro 100.000 Einwohner deutlich hoher als in Schottland mit 29,4 pro 100.000 Einwohner. Insgesamt ist die alkoholbedingte Sterbeziffer fur die Gesamtbevolkerung in Glasgow mit 31,8 pro 100.000 Einwohner um mehr als 50 % hoher als im restlichen Schottland. = Stress = Eine weitere Hypothese besagt, dass das Zusammenspiel von sozialen, umweltbedingten, einstellungsbedingten und kulturellen Stressfaktoren im Alltag moglicherweise einen negativen Einfluss auf die biologische Gesundheit hat. Wenn das korpereigene Alarmsystem fast permanent aktiviert ist, kann dies zu einer korperlichen und geistigen Erschopfung der betroffenen Personen fuhren. = Epigenetische Faktoren = Eine Studie basierend auf einer relativ kleinen Stichprobe zeigte einen moglichen Zusammenhang zwischen dem epigenetischen und dem soziookonomischen Status auf. Die Analyse der DNA-Proben von Bewohnern der armeren Stadtteile ergab, dass deren DNA-Methylierungswerte niedriger waren als bei denen von Bewohnern aus wohlhabenderen Gegenden. Dies konnte eine unmittelbare Auswirkung auf die Gesundheit der Bevolkerung haben, da es eine Korrelation zwischen dem globalen DNA-Methylierungsgrad und Biomarkern fur Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes mellitus zu geben scheint. Weblinks Einzelnachweise
Der Glasgow-Effekt ist ein im Gesundheitswesen verwendeter Begriff fur Faktoren, die fur die geringere Lebenserwartung der Einwohner des schottischen Glasgow im Vergleich zum Rest des Vereinigten Konigreichs und Europas verantwortlich sind. Der Begriff ist umstritten, da er nur die Beschreibung eines Problems bietet, fur das bislang keine abschließende Erklarung gefunden wurde. Die Ubersterblichkeit in Glasgow stieg erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts an, damals vornehmlich durch koronare Herzkrankheiten, Krebs und Schlaganfalle. Der Trend verstarkte sich nochmals in den 1980er Jahren, wobei eine Zunahme der Sterblichkeitsziffern durch alkohol- und drogenbedingte Todesfalle, gewaltsame Todesfalle, Straßenverkehrsunfalle und Selbstmord zu verzeichnen waren. Obwohl ein geringeres Pro-Kopf-Einkommen oft mit einer schlechteren Gesundheit und einer verkurzten Lebenserwartung in Verbindung gebracht wird, scheinen die wirtschaftlichen Bedingungen nicht per se die Ursache fur den Glasgow-Effekt zu sein. In Stadten wie Liverpool, Manchester oder Birmingham, die ein ahnliches Einkommensniveau aufweisen, ist die Lebenserwartung hoher. Zudem ist auch die Lebenserwartung der wohlhabenden Bevolkerung Glasgows ebenfalls geringer als die der gleichen Gruppe in anderen Stadten. Zur Erklarung des Glasgow-Effekts wurde eine Reihe von Hypothesen aufgestellt, darunter der Lebensstil sowie soziookonomische, kulturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren. Aufgrund der Komplexitat des Phanomens ist davon auszugehen, dass nicht nur ein einzelner Faktor verantwortlich ist. Auch wenn all diese Faktoren zum Glasgow-Effekt beitragen konnen, bleibt die eigentliche Ursache ungeklart.
{ "url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Glasgow-Effekt" }
c-903
Das Macellum von Aquincum war eine antike Markthalle (lateinisch macellum) in der romischen Stadt Aquincum, dem heutigen Budapest. Sie befand sich im nordlichen der beiden Stadtkerne der antiken Doppelstadt Aquincum, der sogenannten Zivilstadt. Die konservierten Grundmauern sind Teil des archaologischen Parks beim Aquincum Museum. Es handelt sich um einen der architektonisch außergewohnlichsten Bauten des antiken Aquincum und einen Vertreter eines sehr seltenen Bautyps romischer macella. Errichtet wurde das Gebaude erst im mittleren 3. Jahrhundert, in einer recht spaten Phase der Stadtentwicklung Aquincums und wenige Jahrzehnte vor der Entsiedlung der Zivilstadt. Architektur Das Macellum von Aquincum weist eine sehr charakteristische Bauform auf: Der rechteckige Innenhof wird auf allen vier Seiten von Ladengeschaften umschlossen, die sich nach innen zum Hof hin offneten. Nach außen stellte sich das Macellum damit als geschlossener, rechteckiger Baukomplex dar. Ein Zugang war nur durch eine einzige Einfahrt moglich, die die Ladengeschafte auf der Ostseite unterbrach. Dort befand sich die nordsudliche Hauptstraße der Zivilstadt von Aquincum. Im Zentrum des Innenhofes stand ein kreisrundes Gebaude (Tholos). Die recht massive Bauweise der Außenmauern lasst vermuten, dass die vier Seitenflugel des Gebaudes ursprunglich zweistockig waren. Erhalten haben sich jedoch nur die Spuren der Ladengeschafte im Erdgeschoss. Zwischen dem Innenhof und jedem einzelnen Ladengeschaft befindet sich eine Rille im Steinboden, die anzeigt, dass alle Laden ursprunglich verschließbar waren, vermutlich mit holzernen Bretterverschlagen oder Ahnlichem. Die runde Steinstruktur im Zentrum des Hofes wurde in der fruheren Forschung teilweise als Wasserbecken zum Waschen von Fischen gedeutet. Mittlerweile hat sich jedoch die Interpretation als Tholos durchgesetzt, also als nach oben hin abgeschlossenes Gebaude. In diesem Rundbau konnte sich beispielsweise das Buro fur die Standardmaße und -gewichte (ponderarium) befunden haben. Geschichte Vor Errichtung des Macellums diente das Areal handwerklichen Einrichtungen und/oder Handelsniederlassungen. Aus dieser Phase stammen vor allem die Reste eines Keramikgeschaftes, in dem moglicherweise auch Keramikgefaße produziert wurden – die entsprechenden Befunde und Funde sind jedoch nicht aussagekraftig genug fur eine sichere Rekonstruktion dieses Ladens und seiner Aktivitaten. Zu dem vor Ort aufgefundenen Sortiment, das eventuell in dem Geschaft verkauft wurde, gehoren tonerne Ollampen, Figuren aus Terrakotta, Imitationen der beruhmten romischen Feinkeramik (Terra Sigillata), aber auch einfache Gebrauchskeramik. Die gelegentlich vorgebrachte Behauptung, dass sich vor dem Macellum auch eine Bronzewerkstatt an dieser Stelle befunden haben soll, beruht dagegen nachweislich auf einem Missverstandnis in der Forschung. Erst im mittleren 3. Jahrhundert n. Chr. wurde diese gemischte Nutzung des Areals aufgegeben, die betreffenden Bauten brannten nieder (oder wurden niedergebrannt) und an ihrer Stelle entstand das Macellum. Den fruhestmoglichen Zeitpunkt (Terminus post quem) fur dieses Brandereignis und den Neubau liefert eine Munze des Kaisers Gordian III. (regierte 238–244), die in den Erdschichten aus der Zeit vor dem Umbau gefunden wurde. Der charakteristische Grundrisstyp ist von insgesamt 14 Marktbauten aus dem Romischen Reich bekannt, von denen 12 in Italien, Nordafrika und Kleinasien liegen. Die zwei verbleibenden sind die Macella von Carnuntum und eben Aquincum, also den Hauptstadten der beiden pannonischen Provinzen Roms. Von den 13 vergleichbaren Bauten kommt aber – unter anderem aufgrund architektonischer Details und aus chronologischen Grunden – nur eines als architektonisches Vorbild fur das Macellum von Aquincum infrage, namlich der Marktbau in der Stadt Cuicul, dem heutigen Djemila in Algerien. Auffallig daran ist, dass es im 3. Jahrhundert neben dieser baulichen Parallele auch eine personliche Verbindung zwischen Pannonien und Cuicul gab: Als Stifter des Macellums von Cuicul ist durch eine vor Ort gefundene Inschrift ein gewisser Lucius Cosinius Primus bezeugt. Ein wenige Generationen spater lebender naher Verwandter dieses Mannes, Publius Cosinius Felix, war um 250, also zur vermuteten Entstehungszeit des Macellums von Aquincum, der Statthalter der Provinz Niederpannonien und residierte als solcher im Statthalterpalast von Aquincum. Es ist also gut moglich, dass dieser niederpannonische Statthalter Mitte des 3. Jahrhunderts in seiner Residenzstadt eine Markthalle stiftete, deren bauliche Gestaltung er an das entsprechende Gebaude in seiner Heimatstadt anlehnte, das einer seiner Vorfahren finanziert hatte. Diese Theorie ist nicht zu beweisen, wurde aber die auffallige architektonische Form des Bauwerks gut erklaren. Bereits einige Jahre nach Errichtung des Macellums erfolgte ein erster Umbau der Anlage, bei dem in die Toreinfahrt auf der Ostseite ein kleines Heiligtum (sacellum) eingebaut wurde. Dort wurde bei den Ausgrabungen ein Relief der Handwerks- und Gewerbegottin Minerva entdeckt, das gut im Zusammenhang mit einem kleinen Marktheiligtum stehen konnte. Schon wenige Jahrzehnte spater machten sich die Folgen der verschlechterten militarischen und wirtschaftlichen Lage des Romischen Reiches, der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts, in Aquincum bemerkbar. Die Zivilstadt wurde im spaten 3. Jahrhundert fast vollstandig aufgegeben, sodass auch das Macellum seine bisherige Funktion verloren haben durfte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gebauden der Umgebung blieb das Bauwerk jedoch weiterhin in Benutzung, wie einige spatantike Funde beweisen. Vermutlich machten seine stabile Bauweise und seine Lage an der Nord-Sud-Hauptstraße (die Teil einer uberregional wichtigen Fernverkehrsstraße war) die Anlage zu einer gunstigen Wegstation. Erforschung Der Grunder des Aquincum Museum, Balint Kuzsinszky, grub den Bau in den Jahren 1882–1884 zu großen Teilen aus. Allerdings stieß er im Bereich westlich des Innenhofes nicht bis zu den erhaltenen Mauerresten vor, sodass die dortigen Raumlichkeiten – inklusive der Zufahrt von der Hauptstraße – in seinen Grundrissen fehlen. Dies fuhrte dazu, dass er eine falsche Rekonstruktion der Gesamtanlage annahm. Die bis heute gultige Identifikation des Baus als Markthalle (macellum) gelang ihm jedoch bereits. In der Zwischenkriegszeit untersuchte Lajos Nagy 1929 die Bebauung sudlich des Macellums und legte dabei auch dessen Sudflugel nochmals frei. Drei Jahrzehnte spater legte Melinda Kaba im Rahmen eines großangelegten Konservierungs- und Nachuntersuchungsprogramms fur die Zivilstadt von Aquincum 1960–1962 ausgewahlte kleine Mauerabschnitte der Markthalle frei. Im Jahr 1965 folgte im Rahmen des gleichen Programms die Untersuchung einiger weiterer, etwas großerer Ausschnitte des Macellums, vor allem im bisher unbekannten Westteil, durch Klara Poczy und Gyula Hajnoczi. Die Ergebnisse von Nagy, Kaba, Poczy und Hajnoczi blieben jedoch durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch unpubliziert. Erst Orsolya Lang arbeitete schließlich die Ergebnisse der bisherigen Grabungen auf, zunachst in ihrer 2001 fertiggestellten Masterarbeit, dann in zwei darauf basierenden Aufsatzen (erschienen 2003 und 2007) und schließlich gemeinsam mit Alexandra Nagy und Peter Vamos im Rahmen einer 2014 erschienenen Monografie. Weblinks Literatur Orsolya Lang: Reconsidering the Aquincum Macellum: Analogies and Origins. In: Acta archaeologica Academiae Scientiarum Hungaricae. Band 54, 2003, S. 165–204, DOI:10.1556/AArch.54.2003.1-2.5. Orsolya Lang: Did the Cosinii build macella? The possible builder of the macellum in Aquincum. In: Marc Mayer i Olive, Giulia Baratta, Alejandra Guzman Almagro (Hrsg.): Acta XII Congressus Internationalis Epigraphiae Graecae et Latinae (= Monografies de la Seccio Historico-Arqueologica. Band 10). Institut d’Estudis Catalans, Barcelona 2007, ISBN 978-84-7283-921-2, S. 817–830. Orsolya Lang: From the vicus to the house of the painter. Archaeological research in Aquincum Civil Town in the past 20 years (2000–2020). In: Hungarian Archaeology. Band 11, Nummer 2, 2022, S. 9–19, DOI:10.36338/ha.2022.2.3, hier S. 13–14. Orsolya Lang, Szilvia Biro: „Unpleasant to Live in, Yet it Makes the City Rich“. Industry and Commerce in Military and Civil Settlements Along the Pannonian Limes. In: C. Sebastian Sommer, Suzana Matesic (Hrsg.): Limes XXIII. Proceedings of the 23rd International Congress of Roman Frontier Studies Ingolstadt 2015. Nunnerich-Asmus, Mainz 2018, ISBN 978-3-96176-050-3, S. 609–619. Orsolya Lang, Alexandra Nagy, Peter Vamos: The Aquincum macellum. Researches in the area of the macellum in the Aquincum Civil Town (1889–1965). Applying new methods for old excavation materials (= Aquincum nostrum. Band 1,3). Budapest History Museum, Budapest 2014, ISBN 978-615-5341-17-5. Einzelnachweise
Das Macellum von Aquincum war eine antike Markthalle (lateinisch macellum) in der romischen Stadt Aquincum, dem heutigen Budapest. Sie befand sich im nordlichen der beiden Stadtkerne der antiken Doppelstadt Aquincum, der sogenannten Zivilstadt. Die konservierten Grundmauern sind Teil des archaologischen Parks beim Aquincum Museum. Es handelt sich um einen der architektonisch außergewohnlichsten Bauten des antiken Aquincum und einen Vertreter eines sehr seltenen Bautyps romischer macella. Errichtet wurde das Gebaude erst im mittleren 3. Jahrhundert, in einer recht spaten Phase der Stadtentwicklung Aquincums und wenige Jahrzehnte vor der Entsiedlung der Zivilstadt.
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c-904
Appius Nicomachus Dexter war ein spatantiker Senator und Beamter im Westromischen Reich. Er stammte aus einer bedeutenden stadtromischen senatorischen Familie und war Stadtprafekt Roms Anfang des 5. Jahrhunderts. Seine Existenz ist lediglich durch zwei Quellen bezeugt: eine von ihm gestiftete Ehreninschrift fur seinen Großvater Virius Nicomachus Flavianus und drei von ihm stammende Subskriptionen in einer Ausgabe des Geschichtswerks Ab urbe condita des Titus Livius, an deren Korrektur er beteiligt war. Die Ehreninschrift Die Hauptquelle fur das Leben des Nicomachus Dexter ist eine von ihm aufgestellte Ehreninschrift vom 13. September 431 auf einer auf dem Trajansforum in Rom gefundenen Statuenbasis. Darin bezeichnet er sich als vir clarissimus (wortlich „hochangesehener Mann“, Ehrentitel eines Senators), als Enkel des Virius Nicomachus Flavianus – und damit Angehoriger der einflussreichen stadtromischen Familie der Nicomachi – sowie als fruheren Praefectus urbi (Stadtprafekt) der Stadt Rom. Die Statue auf der Basis war eine seines Großvaters. Die Inschrift ehrt auch dessen Sohn Nicomachus Flavianus den Jungeren, der dreimal Stadtprafekt Roms war und 431, als die Statue aufgestellt wurde, außerdem als Pratorianerprafekt diente. Die (Wieder-)Aufstellung der Statue und die Setzung der Inschrift waren Teil eines Rehabilitationsprozesses fur das Andenken des Virius Nicomachus Flavianus, der offenbar auf dem Einsatz von Nicomachus Flavianus dem Jungeren und Appius Nicomachus Dexter beruhte. Virius Nicomachus hatte 392–394 die Usurpation des Eugenius im Westen des Reiches unterstutzt. Als der Ostkaiser Theodosius I. diesen 394 in der Schlacht am Frigidus besiegte, beging Virius Nicomachus Selbstmord und fiel zunachst der damnatio memoriae zum Opfer. Zwar wurde diese zuruckgenommen, jedoch galten die Amter des Virius unter Eugenius, darunter sein Konsulat, weiterhin als nicht existent, und seine Statue wurde nicht wiederaufgestellt. Sein Sohn Nicomachus Flavianus konnte jedoch nach einigen Jahren seine Karriere fortsetzen und wurde 399 Stadtprafekt, auch dem Enkel Appius Nicomachus Dexter wurde in einem unbekannten Jahr diese Ehre zuteil. Die Inschrift restituiert symbolisch die Ehre der Familie. Zu diesem Zweck verewigt sie ein Sendschreiben der Kaiser Theodosius II. und Valentinian III. an den romischen Senat, die darin erklaren, dass es sich bei dem Schatten auf dem Andenken des Virius Nicomachus Flavianus nur um ein auf Missgunst von Neidern basierendes Missverstandnis gehandelt habe. Die Inschrift wirft eine Reihe von Fragen zu Appius Nicomachus Dexter auf, die in der modernen althistorischen Forschung diskutiert werden, aber letztlich wegen der luckenhaften Quellenlage nur spekulativ beantwortet werden konnen. Fraglich ist erstens, wann genau er die Stadtprafektur innehatte. Diese Frage ist kaum zu beantworten, zumal die Listen der Stadtprafekten fur die ersten Jahrzehnte des 5. Jahrhunderts sehr unvollstandig sind; sicher ist nur, dass sie vor 431 fallt. Moglich ist eine Datierung auf etwa 430, also kurz vor der Aufstellung der Inschrift. Zweitens wird uber seine genaue familiare Abstammung diskutiert. Aufgrund seines Namens ist eine familiare Verbindung nicht nur zu den Nicomachi, sondern auch zu Appius Claudius Tarronius Dexter wahrscheinlich, der wie Virius Nicomachus ein „heidnischer“, d. h. den traditionellen romischen Kulten (nicht dem Christentum) anhangender Senator war. Otto Seeck vermutete, dass Appius Nicomachus Dexter der Sohn Nicomachus Flavianus des Jungeren aus dessen erster Ehe mit einer namentlich nicht bekannten Tochter des Appius Claudius Tarronius Dexter gewesen sei. Diese von Seeck postulierte erste Ehe wurde jedoch in der spateren Forschung eher als abwegig abgelehnt; sicher belegen lasst sich nur eine Ehe mit einer Tochter des Quintus Aurelius Symmachus. Auch die Annahme, Nicomachus Flavianus der Jungere sei der Vater des Appius Dexter gewesen, ist umstritten. Stattdessen wird der vermeintliche Vater haufig als Onkel gehandelt, zumal die Anzahl der Kinder des Virius Nicomachus unbekannt ist. Sein Vater wird dann als ein sonst unbekannter Clementianus identifiziert, den Nicomachus Dexter in einer Subskription zu einer Ausgabe des Geschichtswerks Ab urbe condita des Titus Livius parens meus („mein Vater, Vorfahr“ oder vielleicht „mein Lehrer“) nennt. Andre Chastagnol vermutet, dass dieser Clementianus – den er als Sohn des Virius Nicomachus Flavianus betrachtet und dessen Namen er deshalb als Nicomachus Clementianus rekonstruiert – eine Tochter des Appius Claudius Tarronius Dexter heiratete und mit ihr Appius Nicomachus Dexter zeugte. Aus dem Kontext lasst sich mit einiger Wahrscheinlichkeit erschließen, dass Appius Nicomachus Dexter nicht wie sein Großvater „Heide“ war (also noch den traditionellen romischen Kulten anhing) war, sondern mindestens nominell christlich getauft war. Die Subskriptionen Diese Subskription sowie zwei weitere im selben Zusammenhang sind die einzigen anderen Quellen fur die Existenz des Appius Nicomachus Dexter. Sie lauten vollstandig: Buch 3–4: Nicomachus Dexter v.c. [vir clarissimus] emendavi. Buch 5: Nicomachus Dexter v.c. emendavi ad exemplum parentis mei Clementiani. Die Subskriptionen stammen aus seiner Tatigkeit als Korrektor einer Kopie von Ab urbe condita, die auf einem offenbar vollstandigen Manuskript des Werkes basierte, das sich ursprunglich im Besitz des Quintus Aurelius Symmachus befand. Weitere Korrektoren waren Nicomachus Flavianus der Jungere und ein Mann namens Tascius Victorianus, beide aus dem unmittelbaren Umfeld des Symmachus („Symmachuskreis“). Appius korrigierte den Subskriptionen zufolge die Bucher 3–5. Die von den dreien korrigierten Kopien spielen eine wichtige Rolle in der Uberlieferungsgeschichte der ersten Dekade (die Bucher 1–10 zur Zeit von 753 v. Chr. bis 293 v. Chr.) des noch heute fur die romische Geschichte wichtigen Werks. Die genauen Umstande der Emendation sind schwierig zu beurteilen und weiterhin Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, die sich im Wesentlichen nur auf die Subskriptionen selbst, Vergleiche erhaltener spatantiker und mittelalterlicher Manuskripte des Livius sowie einen Brief des Symmachus an einen Freund namens Valerianus stutzen kann, fur den die Kopie bestimmt war. Unter anderem ist nicht mehr sicher zu sagen, ob Appius lediglich eine Kopie von Symmachus’ Manuskript Korrektur las oder ihm auch andere zeitgenossische Abschriften zur Verfugung standen, mit denen er die Kopie vergleichen konnte. Relativ sicher scheint dies nur fur Buch 5, in dessen Subskription Appius eine Kopie seines parens Clementianus erwahnt, die er hinzugezogen habe. Jedenfalls gilt die auf der „Nicomachischen Edition“ (so der ubliche Begriff der Editionsforschung) beruhende Textuberlieferung im Vergleich als qualitativ hochwertig. Unsicher ist auch die Datierung der verschiedenen Emendationen. Alan Cameron vermutete auf Basis seiner Rekonstruktion der verfugbaren Quellen zur Livius-Ausgabe des Symmachuskreises, dass sie nicht, wie bisher angenommen, in mehreren, zeitlich Jahre voneinander entfernten Intervallen, sondern komplett innerhalb weniger Wochen des Jahres 400 entstand. Sollte dies zutreffen, ist vorstellbar, dass Appius das Manuskript gemeinsam mit seinem Vater oder Onkel Nicomachus Flavianus in einem privaten Kontext korrigierte. Er war dann zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch ein Schuljunge im Alter von 12 oder 13 Jahren. Literatur Alan Cameron: The Last Pagans of Rome. Oxford University Press, Oxford/New York 2011, ISBN 978-0-19-974727-6, S. 197, 205, 260, 449, 498–511, 516, 520, 521–523, 629. Charles W. Hedrick, Jr.: History and Silence: Purge and Rehabilitation of Memory in Late Antiquity. University of Texas Press, Austin 2000, ISBN 0-292-73121-3. John Robert Martindale: Appius Nicomachus Dexter 3. In: The Prosopography of the Later Roman Empire (PLRE). Band 2, Cambridge University Press, Cambridge 1980, ISBN 0-521-20159-4, S. 357–358. Anmerkungen
Appius Nicomachus Dexter war ein spatantiker Senator und Beamter im Westromischen Reich. Er stammte aus einer bedeutenden stadtromischen senatorischen Familie und war Stadtprafekt Roms Anfang des 5. Jahrhunderts. Seine Existenz ist lediglich durch zwei Quellen bezeugt: eine von ihm gestiftete Ehreninschrift fur seinen Großvater Virius Nicomachus Flavianus und drei von ihm stammende Subskriptionen in einer Ausgabe des Geschichtswerks Ab urbe condita des Titus Livius, an deren Korrektur er beteiligt war.
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c-905
Welwand ist eine rohrenartige, einschussige und schallgedampfte Schusswaffe. Sie wurde wahrend des Zweiten Weltkriegs vom britischen Special Operations Executive entwickelt. Die Waffe sollte verdeckt im Armel getragen werden konnen. Mit der Welwand sollten Widerstandskampfer in besetzten Gebieten ausgestattet werden, um Attentate auf wichtige Personlichkeiten der Besatzer veruben zu konnen. Geschichte Wahrend des Zweiten Weltkriegs fuhrte das Vereinigte Konigreich mit Widerstandskampfern in besetzten Gebieten eine Kampagne gegen wichtige Personlichkeiten der Besatzer oder Kollaborateure. Diese Personen sollten durch Attentate moglichst ausgeschaltet werden. Da sie in der Regel gut geschutzt waren, musste der Attentater sehr nah herankommen. Die Schussabgabe sollte unbemerkt bleiben, um dem Attentater Zeit zu verschaffen, sich vom Tatort zu entfernen, bevor der Anschlag von den Sicherheitskraften als solcher bemerkt wurde. Die Welwand-Pistole war deshalb von Grund auf fur diesen Zweck entworfen. Sie hat besondere Konstruktionsmerkmale und erfordert eine besondere Handhabung. Die Welwand wurde von der Special Operations Executive, Abteilung Station IX, bei Welwyn entwickelt. Die schallgedampfte Repetierpistole Welrod war der Beginn der Entwicklung. Sowohl die Welwand wie auch die Welrod wurden von der Birmingham Small Arms Company hergestellt. Die Bezeichnung „Welwand“ setzt sich aus dem Prafix „Wel“ des Ortes „Welwyn“ und „wand“ (Stab), der auf das Erscheinungsbild der Waffe abzielt, zusammen. Diese Namenskonvention nutzte die Station IX auch fur andere ihrer Entwicklungen. So gab es zum Beispiel neben der Pistole Welrod auch das Ein-Mann-Unterseeboot Welman oder den kompakten Motorroller Welbike. Zunachst wurde die Mark I entwickelt; bei der Mark II war das Kaliber großer, sie war weniger klobig und verfugte auch uber eine verbesserte Sicherung. Der US-amerikanische Militarnachrichtendienst Office of Strategic Services testete die Welwand am 11. Februar 1944. Es wurden etwa 150 Welwand-Pistolen gefertigt. Es gibt keine Hinweise, dass sie jemals bestimmungsgemaß eingesetzt wurden, ganz im Gegensatz zu der deutlich bekannteren Welrod-Pistole. Es gibt nur drei bekannte erhaltene Exemplare, zwei bei den Royal Armouries in England und eine im norwegischen Festungsmuseum Bergenhus. Technik Die Welwand ist eine technisch sehr reduzierte Einzelladerpistole. Sie besteht aus einem Lauf, der in einem Schalldampfer integriert ist, und einem Verschluss. Die Lange betragt ca. 22 cm, der Durchmesser ca. 3 cm bei einem Gewicht von 737 g. Der Schalldampfer besteht aus sieben Kammern, die jeweils durch Blech und Gummischeiben getrennt sind. Der Verschluss wird mit einem Gewinde an den Lauf/Schalldampfer angeschraubt. Der knopfartige Abzug befindet sich sehr nah an der Mundung und ist mit dem Daumen zu bedienen. Es gibt keinerlei Visiereinrichtungen. Welwand MK I war fur die Patrone .22 lfB ausgelegt, Welwand MK II fur .32 ACP. Da bei Welwand MK I der Abzug leichtgangig war, konnte es leicht zu einer unbeabsichtigten Schussabgabe kommen; der Attentater war in Gefahr, sich selbst in den Fuß zu schießen. Deswegen wurde bei Welwand MK II eine Abzugssicherung eingefuhrt. Der gerandelte Abzugsknopf musste zunachst nach hinten unten gekippt werden und erst dann ließ er sich nach vorn schieben. Der neue Abzug senkte zwar das Risiko einer unbeabsichtigten Schussabgabe, erschwerte jedoch die Bedienung fur einen ohnehin unter Stress stehenden Attentater. Bei der Welwand MK I ist die Abzugsstange in einer separaten Gehauserohre am Schalldampfer untergebracht. Das machte die Waffe klobig und unhandlich. Bei der Welwand MK II lag die flache Abzugsstange frei, sodass die Waffe schlanker und handlicher war. Die Schalldampferelemente waren schon nach wenigen Schussen abgenutzt und konnten nicht leicht getauscht werden. Die Waffe war aber ohnehin nicht fur die Abgabe von vielen Schussen ausgelegt. Herstellung der Feuerbereitschaft und Schussauslosung (siehe Prinzipskizze): Der Verschluss ist aus dem Lauf/Schalldampfer herausgeschraubt. Der Spannkolben ist aus dem Verschlussblock herausgeschraubt, so dass die Schlagfeder entspannt ist. Der Schlagbolzen liegt am Haltestift an, aber belastet ihn nicht. Eine Patrone wird mit dem Patronenboden in den Verschlussblock eingelegt. Der Verschluss wird in den Lauf/Schalldampfer eingeschraubt. Das hintere Ende der Abzugsstange liegt uber dem Haltestift. Der Spannkolben wird in den Verschlussblock eingeschraubt und spannt so die Schlagfeder. Dadurch belastet der Schlagbolzen den Haltestift. Dieser wird aber von dem hinteren Ende der Abzugsstange an seinem Platz gehalten. Der Schutze betatigt den Abzug, indem er die Abzugsstange in Richtung Mundung schiebt. Somit liegt das hintere Ende der Abzugsstange nicht mehr uber dem Haltestift. Der Haltestift wird durch den unter Druck stehenden Schlagbolzen herausgedruckt. Der Schlagbolzen wird von der Schlagfeder beschleunigt, schlagt auf den Patronenboden auf und zundet die Treibladung. Die Hulse verbleibt in der Waffe. Handhabung Die Waffe musste vor dem Einsatz geladen und gespannt werden. Ein Nachladen ware umstandlich gewesen und war wahrend eines Einsatzes nicht vorgesehen. Zwar betragt die todliche Reichweite mehrere Meter, aber die Welwand ist fur den aufgesetzten Schuss entwickelt, d. h. die Mundung der Waffe hat Kontakt mit dem Korper des Opfers. An der Trageose der Welwand wurde eine Kordel befestigt. Die Kordel wurde durch den Armel unter der Achsel durchgefuhrt, bis sie an einem Knopf am Gurtel befestigt werden konnte. Dann wurde der Knopf gelost, die Waffe rutschte in die Handflache und wurde umfasst. Nach dem Schuss sollte sie unauffallig an der Kordel hochgezogen und wieder am Gurtel befestigt werden. Alternativ konnte ein Gummiband benutzt werden, dessen leeres Ende uber den Ellenbogen gebunden wurde. Nach dem Schuss sollte der Attentater die Waffe loslassen, woraufhin sie vom Gummiband in den Armel hochgezogen wurde. Es gibt zwar Berichte, dass die Waffe als Schlagstock benutzt werden konnte, aber zu diesem Zweck musste sie langer gewesen sein. Weblinks Assassination Guns: Elimination By Extreme Prejudice (The Welrod & Welwand) Weapons used in Norway used during WW2 by the Norwegian resistance "Hjemmefronten" Einzelnachweise
Welwand ist eine rohrenartige, einschussige und schallgedampfte Schusswaffe. Sie wurde wahrend des Zweiten Weltkriegs vom britischen Special Operations Executive entwickelt. Die Waffe sollte verdeckt im Armel getragen werden konnen. Mit der Welwand sollten Widerstandskampfer in besetzten Gebieten ausgestattet werden, um Attentate auf wichtige Personlichkeiten der Besatzer veruben zu konnen.
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c-906
Winston „Niney“ Holness, besser bekannt als Niney the Observer, OD (* 7. Dezember 1944 in Montego Bay als George Winston Boswell) ist ein jamaikanischer Sanger und Musikproduzent in den Bereichen Reggae, Dub und Dancehall. Niney arbeitete mit den Kunstlern Max Romeo, Dennis Brown und Dennis Alcapone sowie mit den Musikproduzenten Bunny Lee, Lee Perry, Joe Gibbs, King Tubby und Joseph Hoo Kim zusammen. Namen Winston wurde als George Winston Boswell geboren. Seine Eltern trennten sich jedoch wahrend seiner Kindheit und die Mutter heiratete erneut; fortan trug der Sohn den Familiennamen des neuen Ehemanns: Holness. Da Winston durch einen Sageunfall einen Daumen verloren hatte, verpasste ihm sein Umfeld den Spitznamen „Ninefinger“ bzw. „Niney“ (Neuner). Wahrend seiner Tatigkeit fur Joe Gibbs nannte er sich „Destroyer“. In Anlehnung an „Scratch the Upsetter“ (Lee Perry) wahlte Holness den Produzentennamen „Niney the Observer“. Werdegang Bereits wahrend seiner Schulzeit grundete Winston eine kleine Band. Nach Beendigung der Schule im Jahr 1966 zog Holness zu einer Tante nach Kingston und befreundete sich mit Derrick Morgan, der ihn mit seinem Schwager Bunny Lee bekannt machte. Durch den Kontakt zu Lee Perry und Linford Anderson alias „Andy Capp“ wurde er an die Arbeit im Tonstudio herangefuhrt. Bald machte sich Holness als Produzent selbstandig und mietete sich uber Nacht ein Tonstudio, um Instrumentaltracks zu produzieren, die er anderen Produzenten zur weiteren Verwendung anbieten konnte. Von Ende 1969 bis Anfang 1970 trat er die Nachfolge von Perry als Toningenieur bei Joe Gibbs an. Fur Gibbs produzierte er unter anderem Love of the Common People in der Version von Nicky Thomas und Money in My Pocket von Dennis Brown. Parallel arbeitete er weiter fur Bunny Lee. Nach Streitigkeiten mit Gibbs und Lee grundete er sein eigenes Label und produzierte die Single Mr. Brown / Bawling for Merci fur Dennis Alcapone. Mit dem Rhythmusgitarristen Hux Brown, dem Leadgitarristen Earl „Chinna“ Smith und Lloyd Charmers am Mikrofon entstand im Herbst 1970 die sehr erfolgreiche Single Blood and Fire, die 1971 als ‘Jamaican Song of the Year’ ausgezeichnet wurde. Das Geld zur Produktion der Single lieh ihm der Musikproduzent Clancy Eccles. PJ Harvey verwendete 2011 ein Sample daraus in ihrem Song Written on the Forehead. Bei Erscheinen der Single kam es wegen musikalischer Differenzen zu einer korperlichen Auseinandersetzung mit Bob Marley und Glen Adams, in deren Folge Niney ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Grund fur die Auseinandersetzung war die angebliche Ahnlichkeit des Songs mit Duppy Conqueror (Marley) bzw. Love Light (Adams). Um 1970 wandte sich Niney dem Rastafarianismus zu und wohnte eine Zeitlang mit Max Romeo zusammen, der ebenfalls uberzeugter Rastafari ist. Im Jahr 1972 nahmen Romeo, Holness und Perry als Maxie, Niney & Scratch den gemeinsamen Track Babylose Burning (auch: Babylon’s Burning) auf. Bekannt ist der Song vor allem fur Romeos ungewohnliche Eingangszeile: „Not even the dog that piss against the walls of Babylon shall escape Jah wrath.“ Der Satz geht auf ein Bibelzitat aus dem 1. Buch Samuel 25:22 zuruck. In den 1970er Jahren arbeitete Niney mit den Deejays I-Roy, Big Youth und Dillinger. In den fruhen 1980er Jahren produzierte er digitale Dancehall-Tracks fur das Channel One Studio der Hoo-Kim-Bruder. Nach 30 Jahren Abwesenheit mit langeren Aufenthalten in New York City und London kehrte Niney nach Jamaika zuruck und grundete sein Observer Sound Box-Aufnahmestudio. Im Jahr 2019 nahm er seine Karriere als Sanger nach einer 50-jahrigen Pause wieder auf. Disstracks Aufgrund seines Charakters und seines besonderen korperlichen Merkmals wurde Niney immer wieder zur Zielscheibe von Disstracks und Spottliedern. In Mr. Chatterbox (1970), der einzigen gemeinsamen Produktion von Bunny Lee mit Bob Marley & The Wailers, wird Niney als nichtsnutziger Schwatzer dargestellt und der Lacherlichkeit preisgegeben („Always carry news all over the place, Mr. Chatterbox, you are a big disgrace!“). Mr. Chatterbox ist eine Neuinterpretation des Ska-Songs Mr. Talkative, den die Wailers bereits 1965 fur Coxsone Dodd aufgenommen hatten. In dem Track Cow Thief Skank von 1973 machten Charlie Ace und Lee Perry ihren Freund und Kollegen als Kuhdieb lacherlich. Thematisiert wird, dass er durch den Viehdiebstahl einen Finger verliert und dass er gern Mokassins tragt. Fur die Musikgeschichte bedeutsam ist der Cow Thief Skank, weil Perry in dessen Intro erstmals ein Sample verwendete (This Old Town von den Staple Singers). In dem Song Nine Finger Jerry Lewis von 1975 machen sich Jimmy & Glen uber Niney the Observer lustig. Produktionen (Auswahl) 1970: Love of the Common People von Nicky Thomas (Trojan) 1970: Mr. Brown / Bawling for Merci von Dennis Alcapone & Lizzy (Destroyer) 1971: Blood and Fire (Observer Records) 1972: Babylose Burning von Maxie, Niney & Scratch (Upsetter Records) 1974: Cassandra von Dennis Brown (Observer) 1974: Half Way up the Stairs von Delroy Wilson (Observer/Dip/Dixieland) 1975: Dubbing with the Observer von den Observer All Stars & King Tubby (Trojan) 1976: Sledge Hammer Dub in the Street of Jamaica (Observer) 1977: Slave Master von Gregory Isaacs (The Thing/Third World) 1990: Observer Station (Heartbeat Records) 2002: At King Tubby’s – Dub Plate Specials 1973–1975 (Jamaican Recordings) 2005: Blood & Fire – Hit Sounds from the Observer Station 1970–1978 (Trojan) 2009: Roots with Quality (17 North Parade) Filmografie I Am the Gorgon: Bunny ‚Striker‘ Lee and the Roots of Reggae. Regie: Diggory Kenrick, 2013. Literatur David Katz: People Funny Boy. The Genius of Lee „Scratch“ Perry. London 2021. David Katz: Solid Foundation: An Oral History of Reggae. Hachette UK, 2024. John Masouri: Wailing Blues: The Story of Bob Marley's Wailers. Omnibus Press, 2009. David V. Moskowitz: Caribbean Popular Music: An Encyclopedia of Reggae, Mento, Ska, Rock Steady, and Dancehall. Bloomsbury Publishing USA, 2005, S. 139. Weblinks Niney the Observer bei AllMusic (englisch) Niney the Observer bei Discogs Niney the Observer bei Trojan Records Niney the Observer bei Whosampled.com David Katz: Niney the Observer’s lucky 13: The greatest tracks of an unsung reggae hero In: Factmag (englisch) Musikbeispiele Niney & The Destroyers: Niney Special auf YouTube Niney the Observer: Blood & Fire (12″ Version) auf YouTube Maxie, Niney & Scratch: Babylose Burning auf YouTube Einzelnachweise
Winston „Niney“ Holness, besser bekannt als Niney the Observer, OD (* 7. Dezember 1944 in Montego Bay als George Winston Boswell) ist ein jamaikanischer Sanger und Musikproduzent in den Bereichen Reggae, Dub und Dancehall. Niney arbeitete mit den Kunstlern Max Romeo, Dennis Brown und Dennis Alcapone sowie mit den Musikproduzenten Bunny Lee, Lee Perry, Joe Gibbs, King Tubby und Joseph Hoo Kim zusammen.
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c-907
Eine Turbopumpe ist eine durch eine Gasturbine angetriebene Stromungspumpe, die Flussigkeiten mit sehr hohem Druck und großem Volumenstrom fordert. Sie wird haufig in Flussigkeitsraketentriebwerken zur Forderung des Treibstoffs (Brennstoff und Oxidator) eingesetzt. Geschichte Konstantin Ziolkowski und Hermann Oberth schlugen Anfang des 20. Jahrhunderts unabhangig voneinander Raketen mit flussigen Treibstoffen vor; Oberth erarbeitete schließlich ab 1912 die mathematischen Grundlagen dazu. Ebenfalls unabhangig davon stellte Robert H. Goddard eigene Uberlegungen an und erhielt am 14. Juli 1914 ein Patent, das unspezifisch u. a. Raketen mit flussigen Treibstoffen beschreibt. Der Treibstoff sollte dabei durch von Benzin-Kolbenmotoren angetriebenen Pumpen gefordert werden. Seine Arbeit, die sich vorrangig mit „Sprengstoffraketen“ auf Basis von rauchschwachem Pulver beschaftigte, veroffentlichte er 1919 in „A Method of Reaching Extreme Altitudes“. In Randnotizen merkte er an, dass eine ahnliche Effizienz auch beim Einsatz von Wasserstoff und Sauerstoff moglich sei. Der Treibstoff musse jedoch, um die Masse der Treibstoffbehalter gering zu halten, in fester oder flussiger Form vorliegen. Dies ware jedoch aufgrund technischer Hurden schwierig umzusetzen. Bei seinen spateren Versuchen verwarf Goddard die Pumpenforderung und wahlte ein Verfahren zur Druckforderung. In „Die Rakete zu den Planetenraumen“ fuhrte Hermann Oberth 1923 unterschiedliche Varianten fur Raketen mit flussigen Treibstoffen an. Oberths Beschreibungen beziehen sich dabei auf die Brennstoffe Alkohol und Wasserstoff, jeweils mit Sauerstoff als Oxidator. Wie Oberth in einer spateren Auflage anmerkte, schrieb er sein Buch ohne Kenntnis der wenige Jahre zuvor erschienenen Schrift von Goddard und ging mathematisch deutlich weiter in die Tiefe. Unter anderem beschreibt dieses Werk Mechanismen zur Pumpen- und Druckforderung. Oberth erkannte, dass mit zunehmender Große einer Rakete die Druckforderung unpraktikabel wird, weil die Tanks durch hoheren Druck starker und somit massereicher dimensioniert werden mussen, was wiederum zu großeren Triebwerken und Treibstoffmengen fuhrt (vgl. Raketengrundgleichung). Fur die praktische Umsetzung wurde schließlich Mitte 1935 von Wernher von Braun ein Projekt zur Entwicklung einer neuen Treibstoffpumpe angestoßen. Hierzu wurde die Klein, Schanzlin & Becker AG (KSB) beauftragt, die bereits Erfahrung in der Herstellung von Pumpen fur den Bergbau, die Marine und die Feuerwehr hatte. Die hohen Anforderungen, insbesondere die extremen Temperaturen und der Zwang zur Leichtbauweise, stellten große Herausforderungen dar und erforderten mehrere Jahre Forschung und Entwicklung. Das Ziel, eine per Gasturbine angetriebene Kreiselpumpe zu entwickeln, stand schnell fest. Besonders dem Abzweigen der heißen Verbrennungsgase aus der Brennkammer zum Antrieb der Turbine wurde großes Augenmerk geschenkt, worauf im Fruhling 1936 mehrere Patente, jedoch ohne nennenswerten Erfolg, folgten (erst 1962 wurde diese Methode erstmals bei der NASA erfolgreich getestet). Unterdessen stieß James Hart Wyld in der American Rocket Society im Juni 1936 eine Diskussion an. Er stellte dort 18 Ansatze zur Druck- und Pumpenforderung vor, abseits einer langen Liste an Problemen gab es aber keinen koharenten Losungsvorschlag. Den Schritt zur Losung sollte letztlich ein eigenstandiger Gasgenerator bringen, der ab Marz 1936 von Hellmuth Walter entwickelt wurde (siehe Walter-Antrieb). Die Erprobung des Walter-R-1-203-Triebwerks erfolgte ab 1937 in mehreren modifizierten Heinkel He 112. Dieses Triebwerk mit regelbaren Turbopumpen kam am 20. Juni 1939 beim Erstflug der Heinkel He 176 zum Einsatz. Durch die gesammelten Erfahrungen konnten 1939 und 1940 mit Unterstutzung der Luftwaffe weitere Prototypen anhand der He 112 getestet werden. Ab Anfang 1941 standen die Grundkonfiguration fur den Gasgenerator und die spater im Aggregat 4 eingesetzte Turbopumpe fest. Der erste erfolgreiche Start einer Rakete mit Turbopumpe – der Aggregat 4 – gelang am 3. Oktober 1942. Ab 1946 erforschte die US-amerikanische Aerojet die Nutzung von flussigem Wasserstoff (LH2) als Treibstoff. Im Marz 1947 stellte das Unternehmen eine Designstudie vor. Ende 1948 war die erste Pumpe gebaut und es konnte mit dem Testen begonnen werden. Nach mehreren Anpassungen und Korrekturen wurde die erste funktionsfahige Wasserstoff-Turbopumpe mit einer Forderleistung von 0,25 kg/s im Marz 1949 fertiggestellt. Jedoch startete erst Anfang der 1960er eine Rakete mit einer LH2-Turbopumpe in einer Centaur-Oberstufe, deren Raketenmotor RL10A-1 1959 bei Pratt & Whitney erstmals getestet worden war. Die bis dahin leistungsstarkste Turbopumpe mit einer Leistung von uber 40 MW wurde ab 1967 in den Rocketdyne-F-1-Triebwerken der Saturn V im Rahmen des Apollo-Programms zur Mondlandung eingesetzt. Ubertroffen wurden diese ab 1985 in den RD-170-Triebwerken der Energija-Tragerrakete. Diese leisteten 189 MW und forderten 1792 kg Sauerstoff sowie 732 kg Kerosin pro Sekunde. Mit einem Ausgangsdruck von 60,2 MPa fur den Sauerstoff und 50,6 MPa fur Kerosin ermoglichte sie einen Brennkammerdruck von 24,5 MPa fur einen spezifischen Impuls von 3030 Ns/kg und damit einen deutlich hoheren Wirkungsgrad im Vergleich zum F-1-Triebwerk (7,0 MPa bzw. 2055 Ns/kg) und dem Aerojet Rocketdyne RS-25 Haupttriebwerk des Space Shuttle (SSME) (20,6 MPa bzw. 3660 Ns/kg) von 1980. Seit Jahrzehnten zahlen Turbopumpen neben der Druckgasforderung zu den Standardkomponenten von Flussigkeitsraketentriebwerken. Elektrische Pumpen sind allerdings unter bestimmten Voraussetzungen effizienter als Turbopumpen und konnen speziell fur die erste Stufe von Kleinsatelliten-Startsystemen von Nutzen sein. Erstmals 2018 startete eine Electron-Rakete mit Rutherford-Triebwerken, die elektrisch betriebene Pumpen nutzen. Aufbau und Funktion Die Turbopumpe eines modernen Flussigtreibstoffraketentriebwerks besteht aus mehreren Komponenten. Die wesentlichen Bestandteile sind eine oder mehrere Gasturbinen sowie eine oder mehrere Stromungspumpen. Die Methode zur Erzeugung des Heißgases als Arbeitsmedium uber einen Gasgenerator hat einen direkten Einfluss auf das Druckverhaltnis und die Durchflussrate, die der Turbine zur Verfugung steht. Daher unterscheidet sich die Konstruktion von Turbopumpen signifikant durch die Auswahl dieser Komponenten. Eine weitere große Herausforderung ist der hohe Temperaturunterschied zwischen dem Heißgas, das die Turbine antreibt und den teilweise kryogenen Flussigkeiten, die von der Pumpe gefordert werden. Um die Effizienz des Raketenantriebs zu maximieren, muss das Leergewicht der Rakete so gering wie moglich gehalten werden, sodass Turbopumpen eine der besten Leistungsdichten sich drehender Maschinen aufweisen. Die Treibstoff-Turbopumpe des Aerojet-Rocketdyne-RS-25-Triebwerks (SSME) des Space Shuttle und des SLS leistet z. B. rund 153 kW/kg, was etwa dem 30-fachen des Motors eines Formel-1-Rennwagens entspricht. = Pumpe = Turbopumpen werden haufig als einstufige Radialpumpen oder mehrstufige Axialpumpen ausgefuhrt. Ein wesentlicher Faktor fur die Konstruktion sind die physikalischen Parameter der zu fordernden Flussigkeit. Hierbei spielen insbesondere deren Dichte, Viskositat und Temperatur sowie die benotigte Forderleistung eine große Rolle. Der Pumpeneinlassdurchmesser wird in der Regel basierend auf dem verfugbaren NPSH-Wert bemessen. Aufgrund der relativ hohen Dichte von Flussigsauerstoff (LOX / LO2) kann eine LO2-Pumpe in der Regel so ausgelegt werden, dass sie den erforderlichen Druckanstieg in einer einzigen Stufe einer Radialpumpe bei optimaler Drehzahl liefert. Im Gegensatz dazu ist eine LH2-Turbopumpe aufgrund der geringen Dichte von flussigem Wasserstoff in ihrer Drehzahl begrenzt. Um die Fliehkraftbeanspruchung auf die Turbinenschaufeln zu reduzieren und die Masse geringer zu halten, kann hier auf mehrstufige Axialpumpen zuruckgegriffen werden. = Gehause & Dichtungen = An die Gehause von Turbopumpen, bei denen die Turbine mittels einer direkten Welle mit der Pumpe verbunden ist, werden besondere Anspruche an die Konstruktion gestellt. Wahrend die Pumpe teils Flussigkeiten unter kryogenen Bedingungen (i. d. R. −183 bis −253 °C) fordert, wird die Turbine durch Heißgas im Bereich von 650 bis 900 °C angetrieben. Bei Treibstoffen wie z. B. LOX-RP-1 entstehen gleich drei stark abweichende Temperaturbereiche. Um die Bereiche voneinander abzugrenzen, werden spezialisierte dynamische Dichtungen benotigt. = Turbine = Beim Antrieb der Gasturbine kann fur die Erzeugung sowie das Abfuhren des Arbeitsmediums in der Funktion zwischen Neben- und Hauptstromverfahren unterschieden werden. Je nach Antriebsart und Arbeitsmedium wird die Turbine auf unterschiedliche Art gestartet. Zu den gangigen Verfahren gehort der Start mit einer Festtreibstoff-Patrone, flussigem Treibstoff oder mittels des Drucks eines Treibstofftanks. Weniger gebrauchlich ist der Start uber einen eigenen Druckgas-Tank, wie z. B. beim Rocketdyne-J-2-Triebwerk. Nebenstromverfahren Beim Nebenstromverfahren wird das Arbeitsmedium der Turbine entweder in die Umgebung abgeleitet oder zur Kuhlung des Triebwerks verwendet. Das Arbeitsmedium wird entweder uber einen Gasgenerator und einen eigenen Treibstoff (engl. monopropellant gas generator) bzw. aus dem Raketentreibstoff (engl. bipropellant gas generator) erzeugt oder es werden Verbrennungsgase aus dem Brennraum (engl. thrust chamber tap-off) abgezweigt. Das Nebenstromverfahren kommt beispielsweise beim Vulcain-Raketentriebwerk der Ariane-Raketen zur Anwendung. Uber separate Treibstoffe (oft ein Wasserstoffperoxid-Gemisch) wurden z. B. die Turbopumpen der Aggregat 4 und die Turbopumpen des RD-107-Triebwerks angetrieben. Hauptstromverfahren Im spater entwickelten Hauptstromverfahren wird das Arbeitsmedium nach Durchlaufen der Turbine in die Brennkammer gespeist und tragt dort zum Schub bei. Das Arbeitsmedium wird hier entweder uber einen Gasgenerator aus dem Raketentreibstoffgemisch erzeugt oder aus dem Brennraum abgezweigt. Die Verbrennung erfolgt hier mehrstufig (engl. staged-combustion cycle). Zuerst wird das Treibstoffgemisch in einem Gasgenerator, hier Vorbrenner (engl. preburner) genannt, verbrannt um die Turbinen anzutreiben. Um die Temperaturen fur die Turbinenmaterialien vertraglich zu halten, wird fur die Erzeugung des Arbeitsmediums ein ungunstiges Verbrennungsluftverhaltnis verwendet. Dabei entsteht ein Heißgasstrom, der noch große Mengen an unverbranntem Brennstoff oder Oxidator enthalt und daher vergleichsweise kuhl ist. Dieser Strom treibt zunachst die Turbine der Turbopumpe an und wird anschließend direkt in die Brennkammer geleitet, um dort an der regularen Verbrennung zur Schuberzeugung teilzunehmen. Beim Expanderverfahren (engl. hot-fuel tap-off bzw. expander cycle) wird kein Gasgenerator verwendet. Hier wird eine der beiden Treibstoffkomponenten zur Kuhlung durch den Mantel des Brennraums gefuhrt und stark erhitzt. Der entstehende Heißgasstrom wird zum Antrieb der Turbine genutzt und spater wieder in den Brennraum zuruckgefuhrt. Beispiele fur das Hauptstromverfahren sind das Aerojet Rocketdyne RS-25 (Space Shuttle Main Engine) und das BE-4 sowie die russischen RD-0120- und RD-170-Triebwerke. Die Turbopumpeneinheit des RD-170 wird von einem Gemisch aus der gesamten Menge des Sauerstoffs und einem geringen Anteil Kerosin angetrieben (engl. oxydizer rich staged combustion cycle). Sie besteht aus einer einstufigen axialen Strahlturbine fur den Antrieb, einer einstufigen Kreiselpumpe fur die Forderung des Sauerstoffs und einer zweistufigen Kreiselpumpe fur das Kerosin. Siehe auch Turboexpander Staustrahltriebwerk Literatur M. L. Joe Stangeland: Turbopumps for liquid rocket engines, 1992, ISBN 1-56091-266-9 Weblinks Hans Martensson, Sonny Andersson, Stefan Trollheden, Staffan Brodin: Rocket Engines: Turbomachinery, VOLVO Aero Corporation; NATO Research and Technology Organization (RTO-EN-AVT-150-05) vom 30. Marz 2007 (pdf) Turbopump Systems for Liquid Rocket Engines, NASA SP-8107 vom August 1974 (PDF; 8 MB) Einzelnachweise
Eine Turbopumpe ist eine durch eine Gasturbine angetriebene Stromungspumpe, die Flussigkeiten mit sehr hohem Druck und großem Volumenstrom fordert. Sie wird haufig in Flussigkeitsraketentriebwerken zur Forderung des Treibstoffs (Brennstoff und Oxidator) eingesetzt.
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c-908
Das Kloster St. Agnes ad Olivas („Conventus FF. Minorum Regul[aris] Observantiae ad Olivas“ ‚Konvent der Minderbruder von der Regel-Observanz‘) war ein Konvent der Franziskaner-Rekollekten in Koln. Er bestand von 1589 bis zur Aufhebung infolge der Sakularisation 1802 und lag im Bereich der heutigen Einkaufspassage Olivandenhof unweit des Neumarkts. Die Gebaude von Kirche und Kloster sind nicht erhalten. Vorher hatte sich an der Stelle eine Niederlassung zunachst von Begarden, dann von Franziskaner-Tertiaren befunden. Seit 1914 war das fruhere Klosterareal mit einem Kaufhaus bebaut, heute ist dort ein Einkaufszentrum. Geschichte = 13.–16. Jahrhundert: Begarden, Franziskaner-Tertiaren und Minoriten = Gegen Ende des 13. Jahrhunderts ließen sich in der Gegend zwischen Neumarkt und Breite Straße („Ad Olivas“, heute: Am alten Posthof/Zeppelinstraße/Richmodstraße) zwei Begarden nieder. Ihr Konvent wurde „Haus zur Olvunde“ (zume Oluunde, zum Elefanten) genannt. 1309 unterhielt die von ihnen gegrundete Margaretenbruderschaft einen eigenen Priester, 1310 wurde eine Privatkapelle (Oratorium) zu Ehren des Heiligen Kreuzes und der heiligen Agnes benediziert. Um 1328/29 ubergab die Bruderschaft diese Kapelle und ihre Wohngebaude an Bruder des franziskanischen Dritten Ordens (Tertiaren), die vor allem von den Ertragen ihrer Hausweberei lebten. Bereits die Begarden hatten einige Webstuhle fur ihren Lebensunterhalt. Die Tertiaren betrieben 32 Webstuhle, die von zwei Brudern und sieben bezahlten Webern bedient wurden. Dieser Tertiarenkonvent war 1570 nahezu ausgestorben und wurde aufgehoben, nachdem der Versuch gescheitert war, ihn mit Brudern aus dem Tertiarenkloster St. Nikolaus in Juchen bei Neuß zu beleben oder ihn an die Benediktinerabtei Deutz zu ubertragen. Seit den 1220er-Jahren bestand in Koln ein Franziskanerkloster an der Minoritenkirche. Bei der Teilung des Franziskanerordens in die Franziskaner-Observanten und die Minoriten (Konventualen) durch Papst Leo X. im Jahr 1517 schlossen sich die meisten Ordensmanner dieses Kolner Klosters den Minoriten an, die eine weniger strenge Auslegung der Ordensgelubde verfolgten, besonders in der Frage des Armutsideals. Die wenigen Bruder, die der Observanz mit einer strengeren Auslegung der Ordensgelubde und dem Verzicht auf eigenen Besitz nahestanden, verließen Koln. Innerhalb der observanten Bewegung gehorten sie zu dem Reformzweig der Franziskaner-Rekollekten. = Franziskaner-Observanten ab dem 16. Jahrhundert = Infolge der Reformation waren in den 1570er-Jahren die Franziskaner aus den Niederlanden vertrieben worden. Der Kommissar des Generalministers der Franziskaner fur die Deutsch-belgische Nation des Ordens, Johannes Hayo, bemuhte sich im Auftrag von Papst Gregor XIII., in Deutschland Obervantenkloster zu grunden, um den Fluchtlingen ein Leben nach der Ordensregel zu ermoglichen. Nach den Vorstellungen des Papstes sollte ein solcher Konvent auch in Koln entstehen, da bereits zahlreiche niederlandische Observanten in die Stadt gekommen waren. Den Observanten gelang es zunachst nicht, in Koln wieder Fuß zu fassen. Erst gegen Ende des Jahres 1581 bezogen sie ein kleines Haus „am alten Graben“ in der Nahe der St.-Ursula-Kirche. Am 28. Juni 1589 ubernahmen sie das aufgehobene Tertiarenkloster und begrundeten den „Conventus ad olivas“. Allerdings unternahmen die Observanten auch Versuche, das Minoritenkloster wieder fur sich zu gewinnen. So fand 1609 ein Provinzkapitel der Kolnischen Franziskanerprovinz in Koln statt, und dabei war eine feierliche Prozession zur Minoritenkirche geplant, bei der man sich des Minoriten-Konvents bemachtigen wollte. Der Erzbischof und die Mehrheit des Stadtrates waren bereits fur dieses Vorhaben gewonnen worden, jedoch wurde der Plan den Minoriten verraten, und diese konnten ihn vereiteln. 1598 begannen die Bruder, beim Konvent Ad Olivas die baufallig gewordene Kapelle zu einer Kirche auszubauen; sie erhielt das Patrozinium der heiligen Agnes. Die Klostergebaude mussten mehrfach erweitert werden, da sich die Zahl der Bruder bestandig vergroßerte. 1589 hatte der Konvent sieben Mitglieder, 1664 62. 1610 hatte die Kolnische Provinz ihr Ordensstudium der Philosophie und Theologie von Bruhl nach Koln verlegt. 1631 bezog man angrenzende Hauser in die Klausur mit ein. 1672 bestand der Konvent aus 26 Patres, 24 Kleriker-Studenten, 16 Laienbrudern und einem Novizen; bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lag die Zahl bei 40 bis 60 Konventsmitgliedern, bei der Klosteraufhebung 1802 waren es noch 21 Patres und sechs Bruder. Ab 1659 bauten die Bruder ein Hospital am Kloster, wozu der Kolner Stadtrat bereits 1618 die Erlaubnis erteilt hatte. 1680 begann der Neubau weiterer Teile des Klosters; der letzte Flugel wurde 1689 fertiggestellt. Grundriss und Aussehen von Kloster und Kirche sind wegen der schlechten Quellen- und Forschungslage nicht bekannt. Im 17. Jahrhundert nahmen an Sonntagen etwa 500 Personen an den Gottesdiensten in der Klosterkirche teil, im Jahr waren es rund 38.000. Beim Kloster bestanden eine Franziskusbruderschaft, eine Bruderschaft zur unbefleckten Empfangnis Mariens mit bis zu 2.300 Mitgliedern, eine Sakramentsbruderschaft mit 700 Mitgliedern und ab 1634 eine St.-Anna-Bruderschaft mit 500 Mitgliedern. Ein Schwerpunkt war die Beichtseelsorge. Die Franziskaner besaßen vergleichsweise wenig Eigentum, hauptsachlich einige Hauser in Koln, und finanzierten sich durch Spenden und Stiftungen. In Koln betrieben sie auch einen Weinberg, der zwei bis drei Fuder Wein im Jahr erbrachte, die verkauft wurden. Auch Bier wurde gebraut, das zum Teil dem Bedarf des Klosters diente; Christian Hillen veranschlagt dafur etwa 2 bis 2,5 Liter pro Tag und Kopf. Ab 1798, wahrend der franzosischen Besetzung, waren Truppen im Kloster einquartiert und nutzten Hospital und Sakramentskapelle als Lazarett. Die franzosische Besatzungsregierung loste 1802 die linksrheinischen Kloster der Kolnischen Franziskanerprovinz und somit auch das Kolner Kloster auf. Die Bruder mussten das Kloster verlassen und kamen in einem Zentral-oder Aussterbekloster unter, wurden Diozesanpriester oder kehrten zu ihren Familien zuruck. Im Kloster wohnten zunachst franzosische Veteranen und ihre Familien, in der Kirche befand sich ein Tabaklager. Die Kapellen wurden 1807 und 1815 abgebrochen, die Kirche fur militarische Zwecke umgebaut. Als Koln 1815 preußisch wurde, richtete der preußische Fiskus im Kloster ein Fruchtmagazin ein, 1818 wurde es zur Kaserne umgenutzt. 1876 wurden die westlichen Teile des Klosters abgebrochen, 1910 die Kirche und die restlichen Konventsgebaude. Auf dem Grundstuck entstand ab 1913 ein Kaufhaus, das nach Kriegszerstorung zunachst wieder aufgebaut und in den 1980er-Jahren zur Einkaufspassage Olivandenhof umgebaut wurde. Kirche und Kloster = Klosterkirche und Kapellen = Der Grundstein fur die Kirche wurde 1598 gelegt, die Kirchweihe war 1607. Der Chor wurde auf den Grundmauern der alten Kapelle errichtet, westlich schloss sich das Langhaus an, ein dreischiffiger Bau von 34 Metern Lange, etwa 15 Metern Breite und einer Hohe von 17,3 Metern. Jeweils vier Saulen trennten die Seitenschiffe vom Hauptschiff. Der Chor mit Sakristei war 10 Meter lang, etwa 7,5 Meter breit und mit 18,9 Metern hoher als das Langhaus. Die Sudwand des Langhauses folgte der Streitzeuggasse (heute: Am alten Posthof), kurz vor dem Chor knickte sie nach Suden ein. 1679 wurde der Chor erneuert und 1682 geweiht; er erhielt zwei Seitenchore und hatte eine Lange von 14 Metern. Zwei Kapellen auf dem Klostergelande wurden mehrfach um- oder neugebaut. Die 1309 erbaute Heilig-Kreuz- und Agneskapelle in der sudwestlichen Ecke der Klosteranlage wurde im Zuge des Kirchbaus 1625 durch den Neubau einer Sakramentskapelle ersetzt, die eine Große von 6 mal 18 Metern hatte. Bereits 1661 wurde sie wieder abgerissen und machte einem Neubau zu Ehren des heiligen Franziskaners Antonius von Padua Platz, 1730 wurde sie durch eine neue Sakramentskapelle ersetzt und nach Aufhebung des Klosters 1815 niedergelegt. Hinter dem Hochaltar der Kirche war eine Portiunkulakapelle gebaut und 1638 benediziert worden; sie war Maria gewidmet, wurde 1679 neu gebaut und 1807 abgerissen. Das Patrozinium und die bildliche Ausstattung des Hochaltars der Klosterkirche wechselten mehrfach: 1607 war er den heiligen Petrus und Paulus gewidmet (ab 1612 als barocker Marmoraltar), 1682 der Heiligen Dreifaltigkeit und der heiligen Agnes, 1760 der Trinitat und einigen franziskanischen Heiligen. Hinzu kamen jeweils mehrere Nebenaltare mit wechselnder Widmung. Die holzerne Kanzel im Barockstil wurde 1619 von Johann Adolf Wolff Metternich zur Gracht gestiftet und befindet sich seit 1802 in der St.-Pankratius-Kirche in Bergheim-Paffendorf. Die Kirche hatte eine reiche Ausstattung mit Skulpturen von Heiligen und liturgischem Gerat; sie besaß zu Anfang des 17. Jahrhunderts sechs Beichtstuhle, von denen zwei oder drei außerhalb des Gebaudes standen. 1768 werden 12 Beichtstuhle genannt. Der Kolner Orgelbauer Ludwig Konig installierte 1753–1755 im Auftrag der „Franciscaneren Recollecten ad Olivas binnen Collen“ eine Orgel. In und an der Kirche befanden sich zahlreiche nicht erhaltene Grabdenkmaler und Grabplatten, vor dem Hauptaltar das Grabmal von Erzbischof Sasbold Vosmer, Apostolischer Vikar der niederlandischen Mission, der wegen der fur Katholiken schwierigen Lage sein Amt von Koln aus ausubte und dort 1614 starb. Weitere Denkmale markierten die Graber von Adligen, Offizieren und fuhrenden Kirchenmannern. = Konventsgebaude = Der Klosterbau wurde ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts zu einer quadratischen Anlage mit Innenhof erweitert, wahrscheinlich mit Kreuzgang. Das bisherige Konventsgebaude wurde deren Sudflugel und enthielt 60 Bruderzellen, 8 oder 9 Gaststuben, das Winterrefektorium mit Kuche, den Waschraum, ein Hospital und ein Gasthaus. Der Ostflugel mit dem Sommerrefektorium und 100 Bruderzellen wurde 1615 gebaut. 1625/26 folgte der Westflugel mit Bibliothek, Veranstaltungssaal und Wohnraumen fur Gaste, 1682 schließlich der Nordflugel. Im selben Jahr wurden auch das Sommerrefektorium und ein Brauhaus ausgebaut, welches 1730 durch einen Neubau ersetzt wurde. 1659 hatte das Hospital einen Neubau erhalten. 1731 folgte ein Anbau im Westen mit Versammlungsraumen, vorgelagert war ein Kuchengarten. Innerhalb des Quadrums befand sich ein Blumengarten. Literatur Christian Hillen: Koln – St. Agnes ad Olivas. In: Manfred Groten, Georg Molich, Gisela Muschiol, Joachim Oepen (Hrsg.): Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Kloster bis 1815. Teil 3: Koln. (= Studien zur Kolner Kirchengeschichte 37. Band, 3. Teil) Verlag Franz Schmitt, Siegburg 2022, ISBN 978-3-87710-462-0, S. 34–42. Patricius Schlager: Zur Geschichte der Franziskanerobservanten und des Klosters „ad olivas“ in Koln. In: AHVN 82 (1907), S. 51–91. Einzelnachweise
Das Kloster St. Agnes ad Olivas („Conventus FF. Minorum Regul[aris] Observantiae ad Olivas“ ‚Konvent der Minderbruder von der Regel-Observanz‘) war ein Konvent der Franziskaner-Rekollekten in Koln. Er bestand von 1589 bis zur Aufhebung infolge der Sakularisation 1802 und lag im Bereich der heutigen Einkaufspassage Olivandenhof unweit des Neumarkts. Die Gebaude von Kirche und Kloster sind nicht erhalten. Vorher hatte sich an der Stelle eine Niederlassung zunachst von Begarden, dann von Franziskaner-Tertiaren befunden. Seit 1914 war das fruhere Klosterareal mit einem Kaufhaus bebaut, heute ist dort ein Einkaufszentrum.
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c-909
In den Bergwerken Bormettes, Verger und Rieille bei La Londe-les-Maures (Frankreich) wurden von 1885 bis 1928 Zink-, Blei- und Silber-Erze abgebaut. Geschichte In der Gegend von La Londe-les-Maures sind Zink- und Bleierz-fuhrende Adern in die Quarzite und die Phylladen (feingeschieferte Gesteine mit weitgehender Spaltbarkeit) des Massif des Maures eingebettet. Die Ader Les Bormettes verlauft im Wesentlichen in Ost-West-Richtung und ist um 80° nach Norden geneigt. Die Ader von Le Verger verlauft ebenfalls in Ost-West-Richtung und ist um 70° nach Suden geneigt. Der Abbau von Blei in diesen Adern geht auf die gallo-romische Zeit zuruck und wurde im Mittelalter episodisch fortgesetzt. Die Conzession fur La Rieille wurde per Dekret vom 10. Januar 1860 fur Blei und verwandte Metalle erteilt. Die Konzession von Les Bormettes fur Blei, Silber und verwandte Metalle wurde am 11. Februar 1885 an Jean Andre Victor Roux (1819–1893) vergeben. Daraufhin wurde die Societe des Mines des Bormettes gegrundet. Neben der Konzession von Les Bormettes erhielt sie 1891 auch die Konzession von La Londe. Die Gleise der Feldbahn wurden ab 1890 verlegt. Zu dieser Zeit war Argentiere ein Hafen, von dem aus das Erz auf dem Seeweg nach Swansea, Hamburg, Antwerpen, Dunkirchen und Holland verschifft wurde. Die Bergwerke waren Ende des 19. Jahrhunderts der fuhrende europaische Zinkproduzent. Bei Les Bormettes wurden zwischen 1885 und 1907 etwa 825.000 t Erz abgebaut, die etwa 161.500 t Zink und 11.250 t Blei ergaben, wobei die jahrliche Produktion zwischen 30.000 t und 60.000 t Erz schwankte. Die Lagerstatte La Bormettes blieb mit einer Gesamtproduktion von rund 900.000 t aller Mineralien mit Gehalten von 18 % Zn, 2 % Pb und 100 bis 200 g/t Ag, bis in die 1930er Jahre die großte Zinkerzlagerstatte Frankreichs. In Le Verger war die jahrliche Fordermenge von etwa 16.000 t Erz mit 10 % Zn und 2 % Pb zwischen 1900 und 1928 weitaus geringer. Fur den Abbau wurde das Floz in Etagen mit einer Hohe von 20 bis 30 m unterteilt. Der Abbau erfolgte in ansteigenden Abschnitten mit vollstandiger Verfullung durch die Tailings der Erzwasche. Die Stollen hatten einen geringen Durchmesser (um die 2 Meter). Der Bergbaubetrieb Les Bormettes wurde 1908, La Rielle 1922 und Le Verger 1928 eingestellt. Die Feldbahn wurde 1929 endgultig stillgelegt. Die Societe des Mines des Bormettes wurde 1933 liquidiert. Die Gleise wurden daraufhin 1935 abgebaut. Die Sociedad Minera y Metalurgica de Penarroya ubernahm die beiden Konzessionen Bormettes und La Londe 1961, aber die begonnene Prospektion blieb ohne Folgen. Das Unternehmen Recylex wurde spater Konzessionsinhaber der beiden Schurfrechte, hat aber 2006 einen Verzichtsantrag gestellt, der daraufhin im Rahmen eines Verzichtsverfahrens untersucht wurde. Per Erlass des Staatsministers im Ministerium fur Okologie, nachhaltige Entwicklung und Raumplanung, vom 22. Oktober 2007 wurde der Verzicht des Unternehmens Recylex SA auf die Konzession fur die Blei-, Silber- und verwandte Metallminen in Les Bormettes angenommen. Folglich wurde diese Konzession beendet und die entsprechende Lagerstatte wieder in den Status einer zur Erkundung offenen Lagerstatte versetzt. Feldbahn Die Feldbahn von Bormettes, Verger und Rieille (franz. Reseaux des mines des Bormettes, du Verger et de La Rieille) war eine 15 Kilometer lange Schmalspurbahn bei La Londe-les-Maures, die abschnittsweise von 1890 bis 1929 betrieben wurde. Sie hatte eine Spurweite von 600 mm. = Lokomotiven = Auf der 15 km langen Feld­bahn wurden vier Decau­ville-Lokomotiven eingesetzt: Die großte sah ahnlich wie Weidknecht-Lokomotiven aus, unterschied sich aber von diesen, weil Decauville oben eckige Wasserkasten verwendete, wahrend Weidknecht oben abgerundete Wasserkasten bevorzugte. Die Loks hatten folgende Werksnummern: Nr. 26 (Mascotte), B n2t, 5t, gebaut von Couillet, ausgeliefert am 25. November 1889, erst als Fedora auf der Decauville-Bahn Tien-Tsin – Tshing-Yang vorgefuhrt, dann in Les Bormettes eingesetzt Nr. 219 (Magali), B’1, 7,5t, ausgeliefert am 29. Dezember 1897 Nr. 234 (Fernande, № 10), C’1, n2t, 10t, ausgeliefert am 4. Februar 1897, neu an Tramways de Royan, spater in les Bormettes eingesetzt Nr. 292 (Mireille), B’1, 7,5t, ausgeliefert am 16. Juli 1900 = Wagen = Der Feld­bahn-Betrei­ber erwarb meh­re­re seit­lich offe­ne De­cauville-Ausflugs­wagen (Baladeuse Typ KE), die auf der Decauville-Bahn der Pariser Weltausstellung von 1889 einem großen Publikum vorgefuhrt worden waren. Diese Drehgestellwagen hatten eine Lange von 9,30 m bei einer Breite von 2,10 m und einem Gewicht von 3,2 Tonnen. Sie boten Sitzplatze fur 56 Fahrgaste. Dem Direktor der Bergwerke stand fur seine Inspektionsfahrten ein luxuroserer Salonwagen zur Verfugung. Das Erz wurde in Kastenkippwagen des Typs girafe mit einer holzernen Ladeflache transportiert. In den Bergwerken wurden Hunte mit einer Nutzlast von 800 kg fur das Erz eingesetzt, die berlines genannt wurden. Gefahrenanalysen = Les Boremettes = Das Gelande uber Les Boremettes ist mit einem Wohngebiet fur Erst- und Zweitwohnsitze mit Garten und Schwimmbadern in hugeligen Kiefernwald uberbaut. Die im Rahmen einer Studie durchgefuhrten Untersuchungen zeigten unter anderem folgende durch den ehemaligen Bergbau verursachte Gefahren auf: Eine hohe lokale Einsturzgefahr besteht direkt an den beiden Forderschachten des Bergwerks La Bormettes (Puits Saint-Victor und Puits Sainte-Madeleine), die verfullt und besonders tief sind (> 560 m), eine mittelhohe Gefahr eines lokalen Einsturzes (Sinkloch-Bildung) uber alten unterirdischen Anlagen des Bergwerks La Bormettes, zwischen dem Aufschluss und 30 m Tiefe sowie bei der Galerie de la Mer, eine mittelhohe Erdrutsch-Gefahr der Gerollhalden mit Gefahrdung von zwei Wohnhausern, eine Verschmutzung der Boden durch Blei, Zink, Antimon und Quecksilber und andere Bergbauprodukte, die in den Garten der Hausern am unteren Teil des Hugels besonders stark zum Ausdruck kommt, bei denen fruhere Wiederbegrunungsversuche gescheitert sind, eine erhohte Gefahrdung durch Radon. Das großte aktuelle Risiko am Standort Les Bormettes und Argentiere besteht in einem auf Luftbildern markiertem Gebiet mit mittlerer bis starker lokaler Einsturzgefahr, von der mehrere Villen in der Wohnsiedlung betroffen sind. = Le Verger = Der Standort Le Verger liegt in einer wilden und schlecht zuganglichen Gegend. Es gibt nur eine ganzjahrig bewohnte Wohnung am Rand des Standorts. Die in einer Studie durchgefuhrten Arbeiten zeigten unter anderem folgende Gefahren auf: eine mittelhohe lokale Einsturzgefahr uber alten unterirdischen Anlagen des Bergwerks Le Verger, zwischen dem Aufschluss und 30 m Tiefe, eine mittelschwere Erdrutschgefahr auf den Abraumhalden, in Abhangigkeit der Dicke der gelagerten Materialien, eine Verschmutzung von Oberflachengewassern durch Zink, Cadmium, Arsen und deren Sulfate (SO4), die die Grenzwerte der Trinkbarkeit uberschreitet. Ob das Gelande weiterhin fur die Wasserforderung und Erholung nutzbar ist, muss noch genauer untersucht werden. Weblinks Einzelnachweise
In den Bergwerken Bormettes, Verger und Rieille bei La Londe-les-Maures (Frankreich) wurden von 1885 bis 1928 Zink-, Blei- und Silber-Erze abgebaut.
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c-910
Maurizio Zanella (* 1957 in Bozen) ist ein italienischer Weinpionier. Er begrundete das Weingut Ca’ del Bosco, das wichtigste Weingut in der Region Franciacorta. Von 2009 bis 2015 war er Prasident des Winzerkonsortiums Franciacorta. Familie und Arbeit Eigenen Erzahlungen nach wurde der widerspenstige Sohn von Annamaria Clementi († 2014) und dem Spediteur Albano Zanella mit 14 Jahren von seinen Eltern „an das Ende der Welt verbannt“, so beschreibt Zanella heute in Interviews diesen Teil seiner Kindheit. Das von Kastanienbaumen umgebene, 1962 von der Familie gekaufte Haus Ca’ del Bosco (Haus im Wald) mit zwei Hektar Grundstuck, zur Gemeinde Erbusco gehorend, sollte helfen, ihn „von Schulproblemen und weiteren Eskapaden“ weg zu bringen. Dieser Teil der Lombardei sudlich des Iseosees war damals international und auch bei italienischen Weinexperten weitgehend unbekannt. Maurizio lernte diese Gegend mit ihren Waldern und kleinen Weinbergen lieben. Bereits als Teenager hatte er seine Entscheidung, Wein produzieren zu wollen, getroffen. Anfang der 1970er Jahre ging er einige Zeit jeweils ins Burgund, nach Bordeaux und in die Champagne, um dort Onologie zu studieren, und kam mit der festen Vorstellung zuruck, auch in der Franciacorta „solche Weine zu produzieren“. Vor allem seine Mutter unterstutzte ihn in diesem Vorhaben. Als erster Chefonologe diente Andre Dubois († 1990), den er wahrend seiner Ausbildung kennengelernt hatte. Sein erster Jahrgang war 1976, der zwei Jahre spater auf den Markt kam, damals noch mit der Bezeichnung Spumanti. 1979 kreierte er den ersten Jahrgangsschaumwein. Maurizio revolutionierte das Weingut: Der Weinkeller lag fortan elf Meter tief unter der Erde, die Stockdichte erhohte er auf bis zu 10.000; er war ein strenger Verfechter der Reduktion, also des konsequenten Ruckschnitts. Mit seinen Weinen war er recht schnell erfolgreich, jedoch fehlte ihm die Historie oder die Reputation, die ihm und seinen Winzerkollegen die Arbeit erleichtert hatte. Die hier produzierten Weine sind bereits seit 1967 mit eigenem DOC-Status zu versehen, 1995 kam die hohere DOCG-Auszeichnung hinzu, weil Franciacorta die erste italienische Weinregion ist, in der Schaumweine mit der Flaschengarung hergestellt werden. Heute gehoren zum Weingut Ca’ del Bosco in Erbusco 160 ha Rebland, von denen 10 Prozent in seiner Gemeinde liegen, in der er auch wohnt. Der Kern seines Kellereigebaudes ist eine 17 Meter hohe, unterirdische Kuppelhalle, von der sternformig die Gange in die Lagerhallen abzweigen. Die Weinherstellung wird von zeitgenossischer Bildhauerei inspiriert: Am Eingangstor des Gelandes sieht man eine aufgehende Sonne (von Arnaldo Pomodoro), in der Vinifikationshalle hangt das Nashorn Peso del TempoSospeso von Stefano Bombardieri (* 1986). Zanella hat zwei Kinder. In seiner Freizeit fahrt er Motocross und Ski. Einzelnachweise
Maurizio Zanella (* 1957 in Bozen) ist ein italienischer Weinpionier. Er begrundete das Weingut Ca’ del Bosco, das wichtigste Weingut in der Region Franciacorta. Von 2009 bis 2015 war er Prasident des Winzerkonsortiums Franciacorta.
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c-911
Der ehemalige Alte Israelitische Friedhof in Ulm ist Teil einer Parkanlage zwischen Stadtmitte und Oststadt. Die Anlage erstreckt sich von der Georgs- bis zur Pauluskirche. Geschichte Im Jahr 1852 erwarben die Ulmer Juden im nordwestlichen Bereich des christlichen, stadtischen alten Friedhofs eine eigene Abteilung auf der Parzelle 841/2 und 841/3 vor dem Frauentor, fur die der bestehende christliche Friedhof geringfugig erweitert wurde. Bis 1853 mussten die Toten auf den Friedhofen der benachbarten judischen Gemeinden Laupheim oder Buchau beerdigt werden. Die Anlage des Friedhofes wurde moglich, nachdem sich im Laufe des 19. Jahrhunderts Juden wieder im ganzen Land niederlassen konnten und die neuen Friedhofe „als ein Zeichen des nun zumeist recht guten Zusammenlebens in die allgemeinen Friedhofe der Gemeinde – wenn auch abgesondert – integriert“ wurden. Die Judische Gemeinde Ulm schuf einen ummauerten Friedhof mit eigenen Vorschriften und einem Zugang von der Frauenstraße. Er wurde 1853 durch Rabbiner Walder aus Laupheim eingeweiht, verbunden mit der ersten Beisetzung. In einer Nische der innerseitigen Mauer wurde ein mittelalterlicher Grabstein aus dem Ulmer Munster angebracht. Er gehorte zu den vielen der judischen Grabsteine in Ulm, die mit der Vertreibung der Juden aus der Stadt im 14. und 15. Jahrhundert von mittelalterlichen judischen Friedhofen der Reichsstadt Ulm entfernt worden waren, um als Steine fur den Bau des Ulmer Munsters sowie beim Brucken- und Wohnungsbau verwendet zu werden. Manche Grabsteine wurden sowohl mit hebraischen als auch deutschen Inschriften gefertigt, typisch fur die sogenannten Reformgemeinden des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Im Oktober 1872 wurde auf dem Friedhof das neue judische Leichenhaus eroffnet. Dazu mietete die israelitische Gemeinde ein bestehendes Gebaude. Das Graberfeld wurde 1876 erweitert. Mit der Schließung des gesamten Alten Friedhofes zum 1. Januar 1899 wurde er zur offentlichen Grunanlage umgewidmet. Es fanden keine Begrabnisse mehr statt, da die Bestattungen nach der Anlage des Neuen Friedhofs mit einem israelitischen Bereich an der Stuttgarter Straße erfolgten. In den Jahren 1908 bis 1910 wurde direkt neben dem judischen Abteil des Friedhofs die als Garnisonkirche angelegte evangelische Pauluskirche mit zwei uber 50 Meter hohen Turmen gebaut. 1934 wurde ein mittelalterlicher judischer Grabstein aus Ulm, der Jahrzehnte zuvor in Langenau wiedergefunden worden war, in die Friedhofsmauer des judischen Friedhofs eingesetzt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden im April 1936 auf dem alten judischen Friedhof etwa 15 Grabsteine stark beschadigt. Spater wurden die Grabsteine des israelitischen Friedhofs abgeraumt, ebenso die mittelalterlichen Grabsteine an der Friedhofsmauer, und 1943 erfolgte die „Ubernahme“ des Grundstucks in den Besitz der Stadt. 1945 war der Friedhof vollig zerstort. 1950 wurde die von der Ulmer judischen Gemeinde geschaffene Anlage Eigentum der Israelitischen Religionsgemeinschaft Wurttemberg. 1987 wurde ein Gedenkstein als Hinweis auf den judischen Friedhof aufgestellt, der in die Grabfeldmauer langs des Gehweges eingefugt ist. 1990 wurden acht Grabsteine und drei Grabplatten des Friedhofes in einem Brauereikeller in Munderkingen entdeckt und wieder im Friedhof Frauenstraße aufgestellt. Parkanlage Das Gelande des Friedhofs ist heute Teil der Parkanlage Frauenstraße. Im Jahr 2011 begann die Stadt Ulm mit der umfassenden Sanierung des Alten Friedhofs und seiner Umgestaltung. Die Arbeiten wurden 2015 abgeschlossen. Auf dem Gelande stehen zahlreiche Grabmale namhafter Ulmer. Auf dem entsprechenden Parkteil bei der Pauluskirche, durch eine Mauer von der Kirche und durch einen Fahrrad- und Fußweg vom christlichen Teil des Friedhofs getrennt, sind insgesamt 14 judische Grabsteine wieder aufgestellt. Der Park ist in seiner Sachgesamtheit als Kulturdenkmal eingetragen. Uber das Gelande fuhrt ein Geschichtspfad. Die 40 Tafeln an den erhaltenen Grabmalern erinnern mit einem Kurzportrait an die dort begrabenen Personlichkeiten. Zwei Info-Tafeln informieren uber die wechselhafte Geschichte des Israelitischen Friedhofs. Graber Auf dem Friedhof beigesetzte Personen und/oder erhaltene Grabsteine (Auswahl): Linna Schwarz Bach (1848–1895), Parzelle 2 Albert Dreyfus (1878–1893), Parzelle 5 Kosmann Erlanger (1824–1896), Parzelle 14 Emanuel Erlanger (1821–1886), Parzelle 3 Wilhelmine „Mina“ Erlanger Dreifuss (1831–1874), Parzelle 1 Sophie Schwab Hilb (1850–1885), Parzelle 10 Moritz Hirsch (1841–1897), Parzelle 7 Anna Moos Hirsch (1854–1924), Parzelle 7 Johanna Ullmann Kohn (1861–1897), Parzelle 11 Eva Freund Levi (1831–1890), Parzelle 6 Gabriel Lebrecht (1802–1861) Benjamin „Benny“ Mann (1845–1886), Parzelle 9 Heinrich Abraham Moos (1834–1891), Parzelle 8 Helene Moos Einstein (1814–1887) Abraham Ruppert Einstein (1808–1868) Arnold Nathan (1859–1894), Parzelle 13 Karoline Steiner Nathan (1820–1895), Parzelle 12 Moritz Uhlfelder (beigesetzt 31. Marz 1854) Literatur Hansmartin Ungericht: Der Alte Friedhof in Ulm: Bestattungsriten, Planungen und Grabmale. Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm – Dokumentation, Band 3, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1982, ISBN 978-3- 1700-5911-5. Barbara Treu: Dem Herzen ewig nah: Die Geschichte des Ulmer Alten Friedhofs. Suddeutsche Verlagsgesellschaft, Ulm 2014, ISBN 978-3-88294-463-1. Weblinks Website des Friedhofs Einzelnachweise
Der ehemalige Alte Israelitische Friedhof in Ulm ist Teil einer Parkanlage zwischen Stadtmitte und Oststadt. Die Anlage erstreckt sich von der Georgs- bis zur Pauluskirche.
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c-912
Schnatterinchen (eigentlich Gerat 2028, spater Gerat 32028, auch genannt Niederfrequenz-Umsetzer, kurz NFU) war der Deckname eines analogen Sprachgenerators, der um 1964 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) entwickelt worden war. Das Gerat diente dem Ministerium fur Staatssicherheit (Stasi) zur Ubermittlung von geheimen Sprachnachrichten uber Kurzwellen. Hintergrund In den 1960er-Jahren und danach gab es weltweit Zahlensender, die seltsame Horfunksendungen im Kurzwellenrundfunk ausstrahlten. Hier wurden ratselhafte Zahlenkolonnen genannt, die haufig in Funfergruppen angeordnet waren. Sie wurden fast immer von einer weiblichen Stimme monoton vorgelesen. Die Sprecherin, die die Worter sprach, erhielt von westlichen Geheimdiensten den Spitznamen „Magdeburg Annie“. Falschlicherweise nahm man an, der Sender Radio Magdeburg ware die Quelle. Tatsachlich war es die ehemalige Sendestelle Zeesen bei Konigs Wusterhausen, genannt „Funkobjekt Kesselberg“ (Lage). Bei den Sendungen handelte es sich um verschlusselte Nachrichten, die fur Agenten oder Spione im Ausland bestimmt waren. Diese konnten sich an einem beliebigen Ort aufhalten und die Sendungen mit einem handelsublichen gewohnlichen Radio empfangen. Die Informationen wurden zumeist mithilfe des kryptographisch sicheren One-Time-Pad-Verfahrens (OTP) verschlusselt. Bei der Hauptverwaltung Aufklarung (HV A) der DDR wurden diese Zahlen bis in die Mitte der 1960er-Jahre von Sprecherinnen in einem Studio auf Tonband aufgezeichnet und zur vereinbarten Sendezeit abgespielt. Diese Methode war arbeits- und personalintensiv sowie fehleranfallig. Daher suchte man nach Moglichkeiten, dies zu automatisieren. Ergebnis war im Jahr 1965 das Schnatterinchen. Aufbau Das Gerat bestand aus einer rotierenden Trommel mit 13 Scheiben, von denen jede an ihrem Umfang ein Stuck Magnettonband enthielt (siehe auch: Foto unter Weblinks). Darauf war ein gesprochenes Wort fur eine der Ziffern (0–9) oder ein anderes Zeichen gespeichert, wie „Achtung“, „Trennung“ oder „Ende“. Gesteuert wurde die Anordnung durch einen Lochstreifenleser, der die Zahlenkolonnen im Baudot-Code erhielt. Der Lochstreifen war mithilfe eines handelsublichen Fernschreibers erzeugt worden. Auf diese Weise konnten Lese- oder Sprechfehler zuverlassig vermieden werden. Nachfolgemodell Um 1984 wurde Schnatterinchen durch das digitale Gerat 32620 abgelost, Deckname „Eiserne Frau“ oder schlicht „Stimme“. Hierbei war dieselbe weibliche Stimme, die zuvor auf den kurzen Magnetstreifen gespeichert war, in einem EPROM abgelegt worden (siehe auch: Portratfoto und hore auch: Sprachaufnahme unter Weblinks). Selbst im 21. Jahrhundert kann man genau diese Stimme noch immer horen: Zahlensendungen wurden am 24. April 2014 um 19:30 UTC und am 14. November 2019 um 18:30 UTC aufgezeichnet. Beispielsendung Die hier als Beispiel verfugbare Audiodatei einer mit Schnatterinchen gesendeten Nachricht besteht in den ersten vier Minuten nur aus der vielfachen Wiederholung der Senderkennung „947“. Dies gibt dem Agenten Zeit, sein Radio auf diesen Sender einzustellen und sich zu vergewissern, dass er die richtige Station hort. Danach wiederholt Schnatterinchen jede Zahlengruppe – egal ob zwei-, drei- oder funfstellig – stets ein Mal. Es beginnt mit dem Sendungskopf und der Zahl „273“. Diese Zahl sollte dem Agenten bekannt sein, denn es ist seine eigene Agentennummer, die sich aus Sicherheitsgrunden haufig anderte. So erkennt er, dass die Nachricht fur ihn bestimmt ist. Nun folgt eine hier zweistellige Zahl „62“. Diese gibt unverschlusselt an, wie viele Funfergruppen im Folgenden zu erwarten sind. Nun folgen tatsachlich 62 Funfergruppen, als erste „64537“ und als letzte „76491“. Diese insgesamt 62 · 5 = 310 Ziffern stellen den eigentlichen Geheimtext dar. Abschließend wird noch einmal die Agentennummer „273“ gesendet sowie die Gruppenanzahl „62“ wiederholt. Abgeschlossen wird alles durch die Gruppe „00000“, woran der Agent das korrekte Ende der Sendung erkennt. Codebeispiel Bereits wahrend der 1920er-Jahre verwendete der diplomatische Dienst des Auswartigen Amts (AA) das sogenannte Blockverfahren, eine kryptographisch sichere Methode, die auf dem OTP basierte. Auch die HVA entschied sich fur diese Methode. Hierzu gab es einen „Zahlenwurm“ (Bild) und den „Blockschlusselumsetzer“, eine Tabelle (unten), mit der die Buchstaben oder andere Zeichen des Klartextes in ein- oder zweistellige Zahlen umgewandelt werden konnten. Die Details der Tabelle sind unwichtig und sie muss auch nicht zwingend geheim gehalten werden. Zumeist verwendete man fur haufige Buchstaben, wie E, N, I oder R, einstellige Zahlen und fur seltene Buchstaben zweistellige. In etwa konnte sie wie folgt aussehen: Mithilfe dieser Tabelle wurde in der Zentrale der zu ubermittelnde Text in eine Ziffernfolge umgewandelt. Jeder einzelnen Ziffer wurde anschließend eine Zufallszahl (0–9) ohne Ubertrag hinzuaddiert. Diese zufalligen Additive („Zahlenwurm“) stellten den kryptologischen Schlussel dar und sicherten die Unbrechbarkeit des Verfahrens, vorausgesetzt, sie blieben geheim. Der Zahlenwurm, beispielsweise „88120 80984 47909 21756 53527 47483“, war vorab mithilfe eines Zufallszahlengenerators (siehe auch: Key generator) erzeugt worden und existierte nur zwei Mal – zum einen auf einer Karteikarte in der Agentenzentrale und zum anderen auf einem winzigen Zettel, den der Agent sicher versteckt verwahrte. Nach Empfang der Nachricht, beispielsweise „64537 27364 28374 34736 39291 27384“, verwendete dieser seinen Zettel, um als Erstes das Additiv ziffernweise (ohne Ubertrag) abzuziehen, im Beispiel also: 64537 27364 28374 34736 39291 27384 − 88120 80984 47909 21756 53527 47483 = 86417 47480 81475 13080 86774 80901 Nach diesem ersten und wichtigen Entschlusselungsschritt verwendete er die obige Tabelle, um die nun erhaltene Zahlenkolonne in den Klartext umzuwandeln (86 → T, 4 → R, 1 → E und so weiter). Das Ergebnis ist hier: TREFFMORGENAMTURM.E Namensursprung Der Deckname fur das Gerat stammt von einer Puppenfigur ab, der Ente „Schnatterinchen“. Diese trat ab 1959 mehrere Jahrzehnte lang im Deutschen Fernsehfunk (DFF), dem staatlichen DDR-Fernsehen, auf, spater dort auch in den Kurzfilmen Pittiplatsch und Schnatterinchen im Abendgruß. Der amtliche Name des Geratemodells aus dem Jahr 1976 war nach Stasi-Unterlagen: „Telegrafie-NF-Analogumsetzer 2028‑3“, abgekurzt auch: „NFU“. Literatur Louis Meulstee, Rudolf Staritz: Wireless for the Warrior. Hrsg.: Radio Bygones. Band 4, 1995, ISBN 0-9520633-6-0 (deslegte.com). Detlev Vreisleben: So kommunizierten die Auslandsspione der MfS-HVA. In: Gesellschaft der Freunde der Geschichte des Funkwesens (Hrsg.): Funkgeschichte. Band 34, Nr. 198, August 2011, ISSN 0178-7349, S. 104–109 (radiomuseum.org [PDF; 3,9 MB]). Detlev Vreisleben: Agentenfunk und die verwendeten Verschlusselungsverfahren. In: ADDX e.V. (Hrsg.): Radio-Kurier – weltweit horen. Nr. 12, Dezember 2011, ISSN 1866-8992, S. 26–31 (cryptomuseum.com [PDF; 1,1 MB]). Weblinks Foto der 13 Trommeln von Schnatterinchen. Portratfoto der Sprecherin. Handschriftlicher Brief der fruheren Sprecherin. (PDF; 514 kB) Crypto Museum, 30. Januar 2010; abgerufen am 17. August 2024. MfS Abt. 26: FS-NF-Umsetzer 2028.4. In: Bundesbeauftragter fur die Stasi-Unterlagen. Nr. 2011, 1975, S. 1–40 (cryptomuseum.com [PDF; 10,9 MB]). MfS-OTS: Sprach-Morse-Generator. In: Bundesbeauftragter fur die Stasi-Unterlagen. Nr. 4061, 1985, S. 1–90 (cryptomuseum.com [PDF; 19,5 MB]). Schnatterinchen. Crypto Museum, 26. Oktober 2023; abgerufen am 17. August 2024 (englisch). Magdeburg Annie im UTDX-Wiki. Sprachaufnahme aller dreizehn Worter (WAV-Datei, 48 kB). Einzelnachweise
Schnatterinchen (eigentlich Gerat 2028, spater Gerat 32028, auch genannt Niederfrequenz-Umsetzer, kurz NFU) war der Deckname eines analogen Sprachgenerators, der um 1964 in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) entwickelt worden war. Das Gerat diente dem Ministerium fur Staatssicherheit (Stasi) zur Ubermittlung von geheimen Sprachnachrichten uber Kurzwellen.
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c-913
Das Trinkhall Museum (ehemals MADmusee: „Musee d’art differencie“) ist ein 1998 gegrundetes Museum fur zeitgenossische Kunst im Parc d’Avroy im Zentrum von Luttich in der Wallonischen Region. Das Museum sammelt und zeigt Werke von Kunstlern mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, die sich der Art brut zurechnen lassen. Der Name des Museums geht auf das Cafe Trinkhall zuruck, das von 1880 bis 1961 am selben Ort stand. Museum Den Grundstein der Sammlung legte der Kunstler Luc Boulange 1979 mit der Grundung der gemeinnutzigen Organisation Creahm („Creativite et handicap mental“) in Luttich, die zum Ziel hatte, Kunstformen von Menschen mit geistiger Behinderung in nicht therapeutisch oder beschaftigungstechnisch ausgerichteten Workshops zu fordern, die von bildenden und darstellenden Kunstlern geleitet werden. Der Verein veranstaltete ab 1980 Wechsel- und Wanderausstellungen. Daraus entstand 1994 das Centre de jour Creahm Liege, ein Tageszentrum mit kunstlerischen Angeboten in fast allen Bereichen der bildenden Kunst sowie das Centre d’Art Differencie, aus dem 1998 das MADmusee mit angeschlossenem Forschungszentrum wurde und das 2020 als Trinkhall Museum neu eroffnete. Das Konzept der Einordnung als „Art situe“ soll die Sammlung von den gangigen Begriffen „Outsider Art“ und „Art brut“ abgrenzen und unterstreichen, dass die kunstlerischen Arbeiten in Ateliers geschaffen und nicht im Rahmen von Psycho- oder Beschaftigungstherapien erstellt werden. Das Museum versteht sich als Ausstellungsort zeitgenossischer Kunst, die nicht auf den Kontext von „Behinderung“ eingegrenzt ist. Die Werke stammen von belgischen und internationalen Kunstschaffenden. Die Sammlung umfasst Gemalde und Zeichnungen, Skulpturen und Gravuren, Fotografie sowie textile Kreationen. Das Museum zeigt auf mehr als 400 Quadratmetern Kunstwerke aus der jahrzehntelangen Sammlungstatigkeit des Vereins Creahm und Wechselausstellungen auf 200 Quadratmetern Sonderflache. Die Ausstellungen mit verschiedenen Schwerpunkten zeigen jeweils eine Auswahl der rund 3500 Exponate der Sammlung. Daneben wurden durch den 2020 abgeschlossenen Umbau ein Buchhandlungsbereich, die Bibliothek, ein Dokumentationszentrum, ein Tagungs- und Bildungsbereich, Kunstlerateliers sowie Raumlichkeiten fur die konservatorische Aufbewahrung von Werken geschaffen bzw. vergroßert. Im Erdgeschoss befindet sich ein Cafe-Restaurant mit zum Park offener Terrasse. Die ehemalige Dachterrasse dient als Ausstellungsflache. Ausstellungen (Auswahl): Gebaude Der Name des Museums geht auf das Cafe Trinkhall im maurischen Stil mit zwei Kuppeln aus Kupfer zuruck, das von 1880 bis 1961 am selben Ort stand. Das vom Architekten A. Renier entworfene Gebaude hatte einen Tanzsaal, acht Billardtische, eine Terrasse und ab 1885 wurden in einem weiteren Saal die ersten Kinematographievorfuhrungen in Luttich dargeboten. Es wurde 1908 durch einen Brand im Kinosaal weitgehend beschadigt, 1910 restauriert und stand anschließend dem Fremdenverkehrsamt von Luttich, der Societe des Amis du Vieux-Liege und Pfadfindergruppen zur Verfugung. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 befanden sich dort Buros der Versorgungsamter. 1918 demontierten deutsche Soldaten alle Metallelemente von den Kuppeln und dem Dach. Nach dem Krieg wurde das Dach 1921 repariert, doch die Uberschwemmungen durch das Maas-Hochwasser im Winter 1925/1926 zerstorten das Gebaude erneut. Der fortschreitenden Verfall des Gebaudes fuhrte 1961 zum Beschluss der Stadtverwaltung, es abzureißen. Im Jahr 1963 wurde dort ein durch den Architekten Maurice Chalant geplantes Gebaude, ein Luxusrestaurant mit Tanzsaal und großer Panorama-Dachterrasse, errichtet, das die Stadt 1982 wegen Renovierungsbedurftigkeit schloss. In das verlassene Haus zog trotz der Androhung der Raumung Boulange mit seinem Verein Creahm ein, der provisorische Ausstellungsraume und Workshops fur Kunstler mit geistigen Behinderungen einrichtete. Aus dem Vereinssitz und dem gleichzeitigen Ausstellungsraum des Creahm wurde das vom Verein gegrundete MADmusee und MADcafe. = Umbau = 2008 rief die Stadt Luttich als Eigentumerin einen Architekturwettbewerb aus, der als Anforderung die Verdoppelung der Grundflache auf 1800 Quadratmeter und eine umfassende energetische Sanierung vorgab. Ab 2017 wurde das Haus unter Tragerschaft der Stadt Luttich und des Vereins Creahm mit einem Budget von 2.500.000 Euro renoviert, umgestaltet und erweitert. Angenommen wurde der Entwurf des Architekturburos Beguin-Massart, das den bestehenden Pavillon in einer leicht vergroßerten, durchscheinenden Hulle aus mehrschichtigen Platten aus Polycarbonat umschließt. Sie besteht aus einer einundzwanzig Meter langen Stahlgitterkonstruktion, die an den Randern von Saulen getragen wird. Aufgrund der Lichtdurchlassigkeit der Außenhulle leuchtet der Museumsbau im Dunkeln. Im Erdgeschoss bildet das neue Gebaude einen umlaufenden Bereich um den alten Pavillon und verbindet in den neu geschaffenen Randraumen den Eingang, die Buchhandlung, die temporare Ausstellungsgalerie, die Bibliothek, das Cafe, die Sanitaranlagen und die Treppenaufgange. Im ersten Stock befinden sich im ursprunglichen Pavillon die Buros und die Ateliers. Die alte, nun vom Neubau uberdachte und eingeschlossene Dachterrasse bildet die neue Ausstellungsflache. Eine neu gebaute pilzformige Betonsaule enthalt einen zusatzlichen runden Ausstellungsraum. Im Keller befinden sich Lager- und Wirtschaftsraume des Museums. Große Fenster ermoglichen den Blick auf den Park und Einblicke in das Innere des Museums mit dem Pavillon aus den 1960er Jahren, dessen originale Backsteinmauerwande weiterhin sichtbar sind. Im Juni 2020 wurde der neue Museumsbau unter dem Namen Trinkhall Museum mit dem angeschlossenen Trinkhall Cafe by MADcafe eroffnet. Das Projekt war fur den Preis der Europaischen Union fur zeitgenossische Architektur 2022 nominiert, ebenso fur den Simon Architecture Prize in der Kategorie „Living places“ und 2021 fur den Grand Prix d’Architecture de Wallonie in der Kategorie „Batiments non residentiels“. Weblinks trinkhall.museum Einzelnachweise
Das Trinkhall Museum (ehemals MADmusee: „Musee d’art differencie“) ist ein 1998 gegrundetes Museum fur zeitgenossische Kunst im Parc d’Avroy im Zentrum von Luttich in der Wallonischen Region. Das Museum sammelt und zeigt Werke von Kunstlern mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Erkrankung, die sich der Art brut zurechnen lassen. Der Name des Museums geht auf das Cafe Trinkhall zuruck, das von 1880 bis 1961 am selben Ort stand.
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c-914
Ralph Boris Messac (* 8. September 1924 in Versailles; † 18. April 1999 in Paris) war ein franzosischer Journalist, Schriftsteller und Rechtsanwalt. Er war Vorsitzender des Syndicat national des journalistes (SNJ) und der Union nationale des syndicats de journalistes (UNSJ; Nationaler Verband der Journalistengewerkschaften). Familie und Beruf Ralph Messac war nach Serge (* 1921) der zweite Sohn von Regis Messac, Professor an der Universitat Montreal, und dessen Frau Germaine Desvachez (1902–1989). 1945 verlor er seinen Vater, der als Mitglied der Resistance in einem deutschen Konzentrationslager ermordet wurde. Ralph beteiligte sich ebenfalls an den Aktivitaten der Resistance und besuchte zeitgleich die Gymnasien zunachst von Montpellier, dann in Coutances, bevor er an die Pariser Rechtsfakultat wechselte und dort seinen Abschluss in Jura machte. An den Colleges Chaptal und Jean-Baptiste-Say in Paris war er Aufsichtslehrer und begann unter dem Pseudonym «L’Ecornifleur» als politischer Journalist und literarischer Essayist fur Le Populaire (1944–1951), Franc-Tireur (1952–1954) und schließlich fur L’Information (1955–1956) zu arbeiten. 1957 wechselte er von den Printmedien zum Radio und blieb zwanzig Jahre lang in Paris bei Europe 1, einem Sender, der außerst beliebt war und zu dieser Zeit die großte Reichweite seiner Existenz hatte. Es wurde vom Saarland aus gesendet und er galt in Frankreich als Piratensender. Ralph Messac war um den Status der freien Journalisten besorgt, die zu dieser Zeit keine Presseausweise bekommen konnten und sozial nicht abgesichert waren. Um sich fur diese Personengruppe besser einsetzen zu konnen, war er seit 1953 gewerkschaftlich aktiv. Erst 30 Jahre spater sollte der Schutz der Journalisten vom Verwaltungsgericht in Gesetzesform endgultig verabschiedet werden. Als Mitglied des Syndicat national des journalistes (SNJ) wurde er 1963 zum Generalsekretar und 1968 zum Prasidenten der SNJ gewahlt, ein Amt, das er vier Jahre lang ausubte. 1970 wurde er Prasident der Union nationale des syndicats de journalistes (UNSJ), eine Position, die er nur ein Jahr lang innehatte. 1975 wurde er SNJ-Delegierter fur internationale Angelegenheiten, der direkt dem Vorstand der SJU unterstand, und gleichzeitig Vizeprasident der Kommission fur Presseausweise fur Berufsjournalisten, Verwalter des Centre de formation des journalistes (CFJ, Ausbildungszentrums fur Journalisten) in Paris sowie Arbeitsrichter (1969–1976). Schriftstellerei und Privates Wie sein Vater – der mit Le «Detective Novel» et l'influence de la pensee scientifique zu diesem Thema seine Dissertation verfasste und bei Editions Honore Champion verlegte – hatte Ralph Messac ein Faible fur Kriminal- und Spionageliteratur. Hohes Ansehen hatten fur ihn vor allem Alphonse Allais, dem er mehrere Bande widmete, und Georges Simenon, aber auch Maupassant, Barbey d’Aurevilly und andere, fur die er in verschiedenen Jurys fur Literaturpreise saß, insbesondere fur Science-Fiction. In seinen spaten Berufsjahren 1977 bis 1992 war er Anwalt fur Sozialrecht und fur Presseangelegenheiten. Zusammen mit seiner Frau Marie-Odette Poullain (1922–2017) – die sich in den 1970er Jahren scheiden ließ – hatte er einen Sohn und eine Tochter. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Coutances. Bibliothek Messac besaß eine umfangreiche Privatbibliothek kriminalliterarischer Fachliteratur, darunter die 1929 eingereichte Dissertation seines Vaters Regis, die er mit handschriftlichen Anmerkungen versehen hatte. Diese Arbeit gilt als die erste wissenschaftliche Studie in diesem Fachbereich. Kern dieser Buchsammlung ist seine Arbeitsbibliothek, die Originalausgaben von angelsachsischen Romanen enthalt, die meist nicht in franzosischer Ubersetzung vorlagen oder immer noch nicht vorliegen, sowie viele Ausgaben von Pulp-Magazinen. Namentlich gehoren vollstandig Detective Weekly und Flynn’s Weekly sowie 144 Hefte von Sexton Blake dazu. Insgesamt handelt es sich um uber 8000 Einheiten, die er 1984 der Bilipo, eine staatliche, auf Kriminalliteratur spezialisierte Pariser Einrichtung, vermachte. In den folgenden 10 Jahren leistete er weiterhin unregelmaßig weitere Buchspenden zu diesem Konvolut. Werke Autour du chat noir, Anthologie uber Alphonse Allais; in Zusammenarbeit mit Anatole Jakovsky, Les 4 jeudis, 1955. Loufoc House, Les Editions francaises, 1957. Georges Simenon « romancier-nez », uber Georges Simenon unter Leitung von Francis Lacassin, Plon, 1973. Calembour, Editions du Fourneau, 1982. Contredanse pour meme chanteur, in Zusammenarbeit mit Leo Malet, Bouquins Laffont, 1985. Le gang des voleurs de joujoux, in: Contes noirs de fin de siecle, Fleuve noir, 1999. Correspondance, 1920–1940, kommentierte Ausgabe zum Schriftverkehr zwischen Max Jacob und Edmond-Marie Poullain, herausgg. von Olivier Messac, Ex Nihilo, 2015 Einzelnachweise
Ralph Boris Messac (* 8. September 1924 in Versailles; † 18. April 1999 in Paris) war ein franzosischer Journalist, Schriftsteller und Rechtsanwalt. Er war Vorsitzender des Syndicat national des journalistes (SNJ) und der Union nationale des syndicats de journalistes (UNSJ; Nationaler Verband der Journalistengewerkschaften).
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c-915
Der Djebel Dyr (auch Jebel Dyr) ist ein bis zu 1468 m hoher Gebirgszug im Nord-Osten von Algerien. Geomorphologie Der Berg liegt 20 km nordlich von Tebessa. Seine stark erodierten Nebengipfel heißen Boulhaf (1276 m) und Tala (1258). Die Taler heißen Oued El-Mehri, Oued Erkel, Oued Gastel und Oued Bousmane. Aus geomorphologischer Sicht hat der Djebel Dyr die Form eines auf einer Hochebene gelegenen Talkessels, der sich von Sud-Westen nach Nord-Osten erstreckt. Er ist 11,25 km lang und 3,5 km breit. Die Hohenlage schwankt zwischen 900 und 1468 m, wobei das Gefalle zum Zentrum des Beckens hin abnimmt und den Abfluss des Oberflachenwassers in die Senken begunstigt. Er zeichnet sich durch seine asymmetrische Form aus, mit einem langen Nord-Ost-Hang und einem kurzen Sud-West-Hang. Die außere Form des Djebel Dyr, ein Erbe der maghrebinischen Orogenese, zeigt eine Landschaft in Form eines steilen Dachs, das sich 472 m uber eine weite, schwach gewellte Ebene erhebt. Strukturell bildet diese Landschaft den Rest der wichtigsten tektonischen Strukturen der Region, in der ein Wechsel von Kalksteinen und Mergeln von betrachtlicher Machtigkeit die Freisetzung struktureller Formen durch Erosion begunstigt. Geologie Der Gebirgszug gehort zum Atlasgebiet mit gefalteter Struktur, dessen Falten in Sudwest-Nordost-Richtung verlaufen. Diese Kalksteinlandschaft setzt sich aus Sedimentreihen zusammen, die aus der Unterkreide (Barremium) und dem Miozan stammen und in bestimmten Gebieten von quartaren Ablagerungen bedeckt sind. Die seit der Zeit von 1893 bis 1908 industriell ausgebeutete, etwa 10 cm bis 50 cm machtige Phosphatschicht liegt in einer oden und unkultivierten Gebirgsregion, in der außer dem Phosphatlager auch Eisen-, Blei- und Zinkerzlagerstatten vorkommen. Das Phosphatlager wurde anfangs in den Bergwerken von Crookston ausgebeutet, das gut eingerichtet war und außerordentliche Schwierigkeiten zu bewaltigen hatte. Die Phosphate wurden um 1905 von der aus der Compagnie Crookston hervorgegangenen Compagnie des Phosphates du Dyr abgebaut. Die Phosphate des Djebel Dyr stammen nicht von Landtieren oder Vogeln, denn sie entstanden weder aus Knochen, noch aus phosphorhaltigem Guano. Es sind mineralische, aus phosphorsaurem Kalk bestehende, mehr oder weniger reine Phosphate. Eine 2018 veroffentlichte petro-mineralogische Analyse von am Djebel Dyr entnommenen Proben zeigte, dass die Sedimentphosphate marinen Ursprungs sind. Die Sortierung und morphoskopische Beobachtung vergleichbarer Proben aus den nahegelegenen Phosphatminen von Tebessa fuhrte zur Isolierung von Koprolithen, fossilen Fischzahnen und Lithoklasten, vor allem aber von eiformigen phosphatischen Pellets. Die Fischfauna des Djebel Dyr bewohnte bevorzugt die neritischen Zonen, was hochgradig opportunistischen Raubfischen die Moglichkeit gab, verschiedene Tiergruppen wie Muscheln, Schnecken und Kopffußer, Krebstiere, Stachelhauter, Ringelwurmer, Spritzwurmer und Fische zu erbeuten. Der Reichtum der Biota auf dem Kontinentalschelf und am oberen Hang steht in starkem Kontrast zu den pelagischen oder bathyalen Zonen, wo die potenzielle Nahrung weniger reichlich vorhanden, weiter verstreut und weniger vielfaltig ist. Die phosphatische Serie von Djebel Dyr lieferte eine Fulle von Fischresten mit vielen Raubtieren, vertreten durch 28 Arten von Knorpelfischen (Plattenkiemer, Euselachii und Rochen). Die in den Phosphatschichten nachgewiesenen fossilen Formen der Plattenkiemer (d. h. Hai- und Rochenartige) bestatigen die Entstehungszeit dieser Formation von Djebel Dyr im Thanetium. Die Gebissarten charakterisieren hauptsachlich benthische und nektische Formen des neritischen Litorals. Die Fischfauna deutet auf ein marines, kustennahes Flachwassermilieu mit sowohl felsigem als auch sandigem Boden und temperierten bis subtropischen Klimabedingungen hin. Die entsprechenden palaobiogeographischen Angaben sind fast identisch mit den zeitgenossischen Fischen des Mittelmeeres. Offensichtlich bewohnte die Fischgruppe von Djebel Dyr wahrend des Thanetiums einen relativ engen Golf, der vom offenen Meer getrennt war. Palaontologie = Dyrosaurus = Der wie ein Krokodil aussehende Dyrosaurus wurde vom franzosischen Palaontologen Auguste Pomel im Jahr 1894 nach dem Djebel Dyr benannt, auf dem seine versteinerten Wirbel in einer Phosphatmine gefunden wurden. Archaologie = Mittelsteinzeitliche Fundstatte Oued Bousmane = Der im Hochland des Djebel Dyr gelegene Felsenunterstand von Oued Bousmane weist eine stratigrafische Abfolge aus der Mittelsteinzeit auf. Die im Jahr 2006 entdeckte Fundstelle brachte 561 steinerne Artefakte zu Tage, die hauptsachlich aus lokalem Feuerstein bestehen. = Mittelsteinzeitliche Fundstatte El Mehri = Unterhalb des Oued Elmehri liegt eine epipalaolithische Fundstatte aus der Capsien-Zeit in der Mittelsteinzeit. Das Gelande bei einem breiten Felsunterstand ist mehr als 200 m lang und mehr als 70 m breit. In den schwarzen Sedimenten vor dem Unterstand sind große Mengen verbrannter Schnecken, geschnittener Feuersteinwerkzeuge unterschiedlicher Farbe und Aussehens sowie Keramikscherben und Knochen erhalten. = Fruhgeschichtliche Nekropole von Gastel = Aus der Zeit um 250–175 v.C. stammen 463 Vasen und andere Grabbeigaben von Gastel, die zeigen, dass die Bevolkerung von Gastel sesshaft war und dass diese Bauern, wie die heutigen Fellachen, bereits Geschirr an die Wande ihrer Hauser hangten, das den Nomaden vollig unbekannt war. Die Nekropole, die zwischen 1911 und 1938 ausgegraben wurde, liegt am nordlichen Ende des Djebel Dyr auf einem Plateau, das im Osten vom Oued Gastel (auch Oued Gastal) begrenzt wird. = Megalithen und Tumuli auf dem Oued Hamouda = Auf dem Oued-Hamouda-Plateau gibt es Dutzende gut erhaltene Megalithen und Tumuli, deren Skelette, Topferwaren und Dekorationsgegenstande zum Teil an der Oberflache sichtbar sind. Sie weisen wohl auf die Existenz einer wichtigen Grabstatte hin. = Romische Brucke bei Henchir el Goussa = Die romische Brucke von Henchir el Goussa ermoglichte es, auf der Romerstraße von Hammaedara (Haidra) nach Vasampus (Morsott) den Oued Gastal zu uberqueren. Siehe auch Phosphatminen von Tebessa Table de Jugurtha in Tunesien Einzelnachweise
Der Djebel Dyr (auch Jebel Dyr) ist ein bis zu 1468 m hoher Gebirgszug im Nord-Osten von Algerien.
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c-916
Khalida Popal (Paschtu: خالده پوپل; geboren 1988 in Kabul) ist eine afghanische Fußballspielerin. Sie war Grundungsmitglied und Kapitanin der Afghanischen Fußballnationalmannschaft der Frauen. Nach Morddrohungen musste sie 2011 aus dem Land fliehen und lebt seitdem im Exil in Danemark. Leben und Wirken Khalida Popal gehort zu dem Volk der Paschtunen. Sie wuchs in Kabul wahrend des afghanischen Burgerkriegs auf. Als die Taliban 1996 Kabul eroberten, floh die Familie nach Peschawar in Pakistan. Nach dem Sturz der Talibanregierung und der Stationierung von NATO-Truppen in Afghanistan kehrte die Familie im November 2001 nach Kabul zuruck. Als Kind spielte Khalida Popal nach der Schule mit ihren Brudern und anderen Jungen Fußball auf der Straße. Ihre Mutter war Sportlehrerin und unterstutzte ihr sportliches Interesse. Als sie alter wurde, wuchs der Druck auf ihre Familie, sie nicht mehr Fußball spielen zu lassen. In ihrer Autobiografie berichtete sie, dass sie in ihrer Schulzeit heimlich mit anderen Madchen im Innenhof einer von hohen Mauern umgebenen Madchenschule Fußball gespielt habe. Als das Spiel von Mannern gestort und die Gruppe bedroht worden sei, habe sich die Anzahl der teilnehmenden Madchen verringert. Popal beschrieb ihre fruhe Uberzeugung fur den Fußball: „Der einzige Ort, an dem man Freiheit spurte, war das Spielfeld.“ Khalida Popals Mutter unterstutzte die Rekrutierung von Spielerinnen von Beginn an und musste sich dabei haufig mit Eltern auseinandersetzen, die sie als Prostituierte beschimpften und ihr vorwarfen, die Kultur zu zerstoren. Lehrer schlugen Khalida ins Gesicht und versuchten, sie wegen ihres Engagements von der Schule zu verweisen. Trotz dieser Widerstande gelang es Mutter und Tochter, Highschool-Teams ins Leben zu rufen. = Afghanische Frauennationalmannschaft = Khalida Popal ist Mitbegrunderin und erste Kapitanin der 2007 entstandenen afghanischen Frauenfußballnationalmannschaft. Das Fußballtraining in der Offentlichkeit war mit erheblichen Gefahren verbunden; religiose Konservative vertraten die Ansicht, die Sportbekleidung zeige die Formen weiblicher Korper und widerspreche damit dem Islam. Daher trainierte das Team ab 2004 in einem NATO-Stutzpunkt, der ein aktiver Hubschrauberlandeplatz war, und nutzte abgelegte Ausrustung der Mannerteams des Verbands. Die offiziellen Spiele fanden hauptsachlich im Ausland statt. Im Jahr 2010 kam es zu einem landesweiten Eklat, als die Frauenmannschaft in Kabul gegen NATO-Soldaten spielte. In anschließenden Interviews mit Journalisten kritisierte Khalida Popal die Taliban, was unmittelbare Konsequenzen hatte. Einige Spielerinnen mussten aufhoren, da ihre Familien nichts von ihrem Spiel wussten. Popal erinnert sich an Morddrohungen, darunter ein Anruf, bei dem ihr gesagt wurde, sie wurde in Stucke geschnitten werden. Bei rund 20 Landerspielen stand sie als Kapitanin auf dem Spielfeld. Im Jahr 2011 wurde sie als Finanzdirektorin die erste Frau, die der afghanische Fußballverband anstellte. Als sie anfing, uber Machtmissbrauch und Korruption offentlich zu sprechen, erhielt sie Morddrohungen. Auf dem Weg zur Arbeit sei ein Lastwagen in ihr Auto gerast. Uniformierte schossen durch die Fenster, aber sie wurde korperlich nicht verletzt. Als das Hauptquartier des afghanischen Olympischen Komitees verwustet wurde, wurde Popal verdachtigt. Obwohl sie jede Beteiligung an dem Vorfall abstritt, erließ die Polizei einen Haftbefehl gegen sie. Sie habe keine andere Wahl mehr gehabt, als das Land zu verlassen. = Emigration = Ihre zunehmende Bekanntheit und ihre Rolle als Finanzchefin des afghanischen Fußballverbands machten sie zur Zielscheibe von Morddrohungen und Attentatsversuchen. Popal berichtete dem Guardian: „Ich wurde standig verfolgt und bedroht. Einmal sah ich einen Schutzen auf mein Auto zukommen, deshalb bin ich dankbar fur den Verkehr in Kabul. Normalerweise argerte mich der Verkehr, aber dieses Mal rettete er mir das Leben.“ Popal beschrieb die wachsende Gefahr fur sich und ihre Familie, da sie beschuldigt wurde, „gegen den Islam zu sein“ und Frauen durch Fußball zu „provozieren“. Die Situation spitzte sich so sehr zu, dass selbst die Polizei sie verhaften wollte. Popal gelangte 2011 nach Danemark, nachdem ihr der Sportartikelhersteller Hummel, Sponsor des afghanischen Teams, bei der Beantragung von Asyl geholfen hatte. Ein Jahr lang musste sie in einem Fluchtlingslager leben. Im Exil arbeitete Popal als freiwillige Programmdirektorin der afghanischen Nationalmannschaft. Sie organisierte Turnierauftritte, stellte Trainer ein und koordinierte heimliche Ausreisen in sichere Lander fur homosexuelle Spielerinnen, die Verfolgung und Zwangsheirat ausgesetzt waren. Sie studierte an der Copenhagen Business Academy und arbeitet beim FC Nordsjælland als Koordinatorin fur Frauenfußball. 2014 grundete Khalida Popal den Verein Girl Power, der vor allem gefluchteten Frauen und Madchen uber Sportangebote zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen will. = Missbrauchsskandal = Popal machte 2018 in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Guardian den sexuellen Missbrauch von Spielerinnen der Afghanischen Fußballnationalmannschaft der Frauen offentlich. Verbandsfunktionare sollen mehrere minderjahrige Spielerinnen in einem Trainingslager in Jordanien vergewaltigt haben. Als Popal den Vorfall dem Verband meldete, seien die Manner befordert und mehrere Nationalspielerinnen entlassen worden. Es stellte sich heraus, dass der Prasident der afghanischen Fußballfoderation (AFF), Keramuddin Karim, selbst mehrere Spielerinnen missbraucht hatte. Immer mehr Falle wurden bekannt, die bis 2014 zuruckreichten. Daraufhin meldete Popal die Vorfalle bei der FIFA. Karim sowie funf weitere mannliche Mitglieder der AFF wurden von ihren Aufgaben entbunden und vorlaufig entlassen. Die FIFA sperrte ihn auf Lebenszeit. Er darf in Zukunft weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene im Fußball tatig sein. Die rechtsprechende Kammer der FIFA-Ethikkommission kam zu dem Schluss, Karim habe seine Position als Verbandschef ausgenutzt, um mehrere Nationalspielerinnen sexuell zu missbrauchen. = Machtergreifung der Taliban 2021 = Mit der Machtergreifung der Taliban im August 2021 organisierte Khalida Popal die Evakuierung des afghanischen Frauenfußballnationalteams und weiteren Menschen nach Australien. Gemeinsam mit der pakistanischen Friedensnobelpreistragerin Malala Yousafzai forderte sie zu Beginn des Jahres 2023 die FIFA auf, das in Melbourne ansassige Exil-Team offiziell als Nationalmannschaft Afghanistans anzuerkennen. Sie riet den afghanischen Fußballspielerinnen, ihre Trikots zu verbrennen und alle Hinweise auf ihren Sport in den sozialen Netzwerken zu loschen. Mit der FIFPro und anderen Aktiven organisierte sie von Danemark aus die Ausreise afghanischer Fußballspielerinnen. 35 Spielerinnen sowie 40 Verwandte und Funktionare wurden nach Australien ausgeflogen. Seit der Ruckkehr der Taliban hat Khalida Popal mit ihrem Netzwerk die Evakuierung von uber 500 Fußballerinnen und ihren Familien aus Afghanistan organisiert. Dazu gehorte auch die Rettung des Juniorinnen-Teams, das uber Pakistan nach Großbritannien fluchtete. Khalida Popal unterstutzt weiterhin viele junge afghanische Fußballerinnen und kritisiert die FIFA scharf fur ihre Weigerung, diesen Frauen Anerkennung oder Unterstutzung zu gewahren: „Ich appelliere immer wieder an die FIFA, aber sie ignoriert uns. Sie bringt uns auf so viele Arten zum Schweigen. Die FIFA konnte am besten dieses Team in der Diaspora anerkennen. Aber sie spielt den Ball in Richtung des afghanischen Fußballverbands, eines von den Taliban kontrollierten Verbands, der es Frauen nicht erlaubt, zur Schule zu gehen oder das Haus ohne Begleitung eines mannlichen Familienmitglieds zu verlassen. Wo ist diese Hoffnung der FIFA, dass die Taliban einer [Frauen-]Mannschaft erlauben, Afghanistan zu vertreten?“. Popal arbeitet mit der iranischen Sportfotografin und Menschenrechtsaktivistin Maryam Majd zusammen. Beide sehen den Sport als Hebel, „um die Kultur zu verandern“. = Anerkennung der afghanischen Frauen-Nationalmannschaft = Mit der Austragung der Fußball-Weltmeisterschaft der Frauen 2023, bei der das afghanische Frauenfußball-Team nicht zugelassen wurde, versuchte Khalida Popal, die FIFA zu uberzeugen, die Spielerinnen wieder fur Afghanistan antreten zu lassen. Seit den Verboten der Taliban, die den Sport fur Madchen und Frauen untersagten, leben die gefluchteten Spielerinnen in Australien, wo die WM stattfand. Obwohl sie fur den Verein Melbourne Victory spielten, erkennt die FIFA das Team nicht als eigene Nationalmannschaft an, da der afghanische Fußballverband behauptet, es existiere nicht mehr. Popal organisierte eine Petition, die von mehr als 175.000 Menschen unterzeichnet wurde, und erhielt Unterstutzung von uber 100 Politikern sowie von Julie Elliott und Malala Yousafzai, die gemeinsam mit ihr einen Brief an die FIFA richteten. Buch Meine wundervollen Schwestern Ihr 2024 erschienenes autobiografisches Buch Meine wundervollen Schwestern: Eine Geschichte uber Mut, Hoffnung und das afghanische Frauen-Fußballteam (auf Englisch: My Beautiful Sisters. A Story of Courage, Hope and the Afghan Women’s Football Team) erzahlt den Beginn ihrer Leidenschaft zu Fußball, die aufgrund ihres Geschlechts zur lebensbedrohlichen Gefahr wurde. Das Aufdecken des systematischen sexuellen Missbrauchs gegen Mitglieder der afghanischen Frauenfußballnationalmannschaft ist ein Thema. Neben ihrer Rolle als Enthullerin dieser Missstande hat Popal maßgeblich dazu beigetragen, mehr als 500 Menschen vor den Taliban zu retten und ihnen in anderen Landern Zuflucht zu ermoglichen. Auch heute unterstutzt sie zahlreiche junge afghanische Fußballerinnen, wahrend sie gleichzeitig die FIFA fur ihre Weigerung kritisiert, diesen Frauen Anerkennung oder Unterstutzung zukommen zu lassen. Auszeichnungen 2021: Hero Award der Fußball-Spielergewerkschaft FIFPro. 2022: Lantos-Menschenrechtspreis fur ihren Einsatz fur Menschenrechte und Frauenrechte in Afghanistan. Veroffentlichungen Meine wundervollen Schwestern: Eine Geschichte uber Mut, Hoffnung und das afghanische Frauen-Fußballteam. Edel, Marz 2025, ISBN 978-3-9858-8123-9 Weblinks Naga Munchetty: Khalida Popal: ‘Football was freedom for us’. (Streaming-Video; 1:42 Minuten) In: BBC Radio 5 Live „In Short“. 20. Juni 2024; abgerufen am 7. September 2024 (englisch). Girl Power Org (englisch) Einzelnachweise
Khalida Popal (Paschtu: خالده پوپل; geboren 1988 in Kabul) ist eine afghanische Fußballspielerin. Sie war Grundungsmitglied und Kapitanin der Afghanischen Fußballnationalmannschaft der Frauen. Nach Morddrohungen musste sie 2011 aus dem Land fliehen und lebt seitdem im Exil in Danemark.
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Die Eghaevbo N’Ore waren die stadtischen Titeltrager des Konigreichs Benin. Ihre Titel wurden von den Obas (Konigen) von Benin nach und nach zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert geschaffen, um die Macht der Uzama, der Territorialfursten und Konigsmacher des Konigreichs, auszubalancieren. Die Eghaevbo N’Ore waren Teil des Staatsrats und galten als Reprasentanten des Volkes. Sie ubten weltliche und zeremonielle Aufgaben aus. Ihre Titel wurden auf Lebenszeit vergeben, waren aber nicht erblich. Die Titel werden bis heute im ehemaligen Konigreich Benin vom amtierenden Oba verliehen. Die ranghochsten Eghaevbo N’Ore sind Iyase, Esogban, Eson und Osuma, die zusammen als die vier Saulen des Konigreichs (Ikadele n’Ene) gelten. Geschichte = Das Konigreich Benin = Um 1200 etablierte sich im Konigreich Benin unter Mithilfe der Territorialfursten mit Eweka I. eine neue Dynastie, die nun den Konigstitel Oba fuhrte. Die Territorialfursten, Uzama genannt, galten nun als die Konigsmacher. In den folgenden Jahrzehnten rangen die Nachfolger des Oba Eweka I. mit den Territorialfursten fortlaufend um die Macht. Um die Autoritat der Uzama im Konigreich Benin einzuschranken, schuf Oba Ewedo im 13. Jahrhundert das Amt des Iyase. Er belohnte damit einen Gefolgsmann, durch dessen Beratung es dem Oba gelungen war, seine Vormachtstellung gegenuber den Uzama zu behaupten. Der Titel Iyase steht fur „I ye ona see uwa“, was bedeutet „geschaffen, um hoher zu stehen als alle vom Rang der Uzama“. Als weiteres Amt schuf Ewedo den Titel Esogban und verlieh ihm einem alten Mann, der ihm wiederholt gute Anregungen gegeben und in gefahrlichen Situationen ermutigt hatte. Der Titel Esogban steht fur „esogbane“, was „Bald ist es vorbei“ bedeutet. Im 15. Jahrhundert fuhrte Oba Ewuare I. die zusatzlichen Titel Eson und Osuma ein. Zudem etablierte er die stadtischen Titeltrager als Gruppe (Eghaevbo N’Ore) und machte den Iyase zu deren Anfuhrer, um die politische Macht der Uzama, der Territorialfursten, auszubalancieren. Die Eghaevbo N’Ore standen den verschiedenen Stadtteilen vor und reprasentierten das Volk. Neben den Uzama und den hofischen Titeltragern, den Eghaevbo N’Ogbe, waren die Eghaevbo N’Ore Teil des Staatsrats. Die Vertreter der drei Gruppen hatten unterschiedliche Zugange zur Macht. Wahrend die Titel der Uzama erblich waren, bekamen die meisten Eghaevbo N’Ore ihren Titel jeweils vom Oba verliehen. Das galt auch fur die hofischen Titeltragern, die Eghaevbo N’Ogbe, aber wahrend deren Reichtum und Einfluss an ihre Tatigkeit im Palast gebunden war, waren die Eghaevbo N’Ore eine Gruppe von Mannern, die Reichtum und Einfluss unabhangig vom Palast erreichten. Ihre Interessen lagen bei der allgemeinen Bevolkerung. So opponierten die Eghaevbo N’Ore unter Fuhrung des Iyase im Staatsrat jeweils gegen unpopulare Maßnahmen und Bestimmungen, die diese betrafen. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte schufen die Obas weitere Eghaevbo-N’Ore-Titel. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es 13 derartige Titel, von denen acht von den Obas des 18. und 19. Jahrhunderts geschaffen worden waren. Die Eghaevbo N’Ore waren streng hierarchisch organisiert. Die Trager der Titel Iyase, Esogban, Eson und Osuma waren die ranghochsten stadtischen Titeltrager und stellten die sogenannten Eghaevbo N’Ene (die vier Eghaevbo) oder Ikadele n’Ene (vier Saulen) des Konigreichs dar. Im Namen und in Anwesenheit der Oba bestatigten sie neue Titel. Davon ausgenommen waren nur die Titel des Oba und des Oliha, des obersten Uzama. Der Hohepunkt der Zeremonie zur Bestatigung eines stadtischen Titeltragers war das Ritual Egie Ekete. Auf ritueller Ebene waren die Eghaevbo N’Ore Teil der mystischen Einheit zwischen Volk und Oba. Bei wichtigen Zeremonien kleideten sich die stadtischen Titeltrager in ihrem vollen Ornat und tanzten mit dem Eben, dem Zeremonialschwert, vor dem Monarchen. = Interregnum 1897–1914 = Das Ende des Konigreichs Benin kam am 17. Februar 1897 mit der sogenannten britischen Strafexpedition von 1897. Nachdem Oba Ovonramwen im Anschluss ab September 1897 aus dem Land verbannt worden war, integrierten die Briten Benin in ihr Kolonialreich. Es gehorte nun zum Protektorat Sudliches Nigeria. Die Briten versuchten die alte politische Ordnung als Basis ihrer Herrschaft zu etablieren. Der Gouverneur des Protektorats fuhrte die Regierung an bzw. sein Vertreter vor Ort, der „Resident“. Die Regierung war der sogenannte „Native Council“, der aus Chiefs bestand, die vom Resident ernannt wurden. Dabei waren viele Chiefs Angehorige der bisherigen Uzama, Eghaevbo N’Ogbe und Eghaevbo N’Ore, ohne dass die Briten ein Verstandnis fur die Bedeutung der Titel und die Funktionsweise des bisherigen politischen Systems, die damit verbunden war, hatten. Der Resident verließ sich in vieler Hinsicht auf Agho, den Obaseki Ovanramwens, der durch seine Kompetenz immer großere Macht erlangte und schließlich den Native Council anfuhrte. = Nach 1914 = 1914 wurde das Protektorat mit der Kolonie Lagos und dem Protektorat Nordliches Nigeria zu „The Colony and Protectorate of Nigeria“ zusammengefasst. Im Januar 1914 starb Oba Ovanramwen noch im Exil. Dies ermoglichte den Briten in Benin die Monarchie wiederherzustellen, ohne die Macht abzugeben. Oba Eweka II., ein Sohn Ovanramwens, bestieg den Thron. Eweka vergab nach und nach die Titel, die seit 1897 wegen der Todesfalle der vorherigen Titeltrager vakant gewesen waren, an neue Manner, wobei die Briten von ihm verlangten, die nun faktisch machtigen Manner zu berucksichtigen. Agho wurde zum Iyase ernannt. In der folgenden Zeit, in der die britische Seite die Regierung und Verwaltung umstrukturierte, kam es zu einem Machtkampf zwischen Iyase Agho und Oba Eweka, den Agho zuerst fur sich entschied. Aufgrund der damit verbundenen Machtfulle kam es aber zu einer Gegenreaktion. Die anderen Chiefs des Native Council legten beim Resident Beschwerde ein, was im September 1920 zu Aghos Absetzung fuhrte. Er starb kurz darauf. Eweka verlieh daraufhin Okoro-Otun (?–1943) den Titel des Iyase. Nach Ewekas Tod 1933 bestieg sein Sohn unter dem Namen Akuenza II. den Thron. Schon nach zwei Jahren hatte sich ein Konflikt zwischen ihm und den Iyase Okoro-Otun entwickelt, der sich auch wahrend der Kampfe uber die neue Struktur der Regierung und Verwaltung außerte. 1940 wurde ein neues Organisationsmodell prasentiert. Dazu gehorte ein Benin City Council, der aus 48 Mitgliedern bestand, die auch sechs Eghaevbo N’Ore umfasste. Nach dem Tod Okoro-Otuns weigerte sich Akuenza II. einen neuen Iyase zu ernennen, was 1947 zu Massenprotesten fuhrte. 1948 gab Akuenza nach und ernannte den von der modernistischen Partei (Taxpayer’s Association) nominierten Kandidaten Gaius Obaseki, einen Sohn Aghos, zum Iyase. Obaseki baute seine Macht im Council schnell aus. Eweka hatte nach seiner Thronbesteigung die Rituale des Konigreichs in verkurzter Form wiederaufgenommen. Die von ihm etablierten Ablaufe werden bis heute befolgt. Die Eghaevbo N’Ore sind dabei wie fruher beteiligt, sowohl an den Kronungszeremonien wie auch an den Ritualen im Rahmen des jahrlichen Igue-Festes. Mitglieder der Eghaevbo N’Ore Iyase: Der Titel Iyase ist der ranghochste der Eghaevbo N’Ore und wurde als Gegengewicht zu den Uzama geschaffen. Der erste Iyase war Iyase Odigie, der aus dem Ebuya-Viertel, einem der Emehe-Dorfer im alten Benin, stammte. Ursprunglich war der Iyase der militarische Befehlshaber der Truppen des Konigreichs, bevor im 18. Jahrhundert diese Aufgabe auf den Ezomo, einen der Uzama, uberging. Der Iyase vertrat die Interessen der Bevolkerung gegenuber der Macht des Palastes und war damit ab dem 16. Jahrhundert faktisch jeweils der wichtigste Gegenspieler des Oba. Das außerte sich auch darin, dass bei einer Sitzung des vollstandigen Staatsrats der Iyase als Einziger das Recht hatte, dem Oba zu widersprechen oder ihn zu kritisieren. Esogban: Der Esogban steht unter den Eghaevbo N’Ore an zweiter Stelle und ist der Stellvertreter des Iyase. Wahrend Feldzugen blieb der Esogban, anders als der Iyase und andere stadtische Titeltrager, in Benin, um sich um die Angelegenheiten der Stadt zu kummern. Als Garant des Friedens und der Harmonie im Konigreich ist der Esogban der Huter des Edion Edo (kollektiver Ahnenschrein des Benin-Volkes) und agiert als Schiedsrichter in spirituellen und weltlichen Angelegenheiten. Er galt als Odionwere (Altester) aller Edos im Konigreich Benin. In seinem Palast, der gegenuber dem Eingang zum Palast des Oba lag, verwahrte er auf dem Edion Edo den Rasselstab, der die Ahnen des ganzen Volkes symbolisierte (Ukhurhe-Edo). Eson: Der Eson steht unter den Eghaevbo N’Ore an dritter Stelle. Er beaufsichtigt die Angelegenheiten des Iguisi-Gebiets der Stadt. Er beaufsichtigt auch die Waldgebiete des Konigreichs. Osuma: Der Osuma steht unter den Eghaevbo N’Ore an vierter Stelle. Laut mundlicher Uberlieferung liegt der Einfuhrung des Titels im 15. Jahrhundert die folgende Geschichte zugrunde: Oba Ewuare I. hatte wahrend seines Krieges im Osten des Reichs seinen Talisman in einem der von ihm geplunderten Dorfer vergessen. Wenn ihn seine Feinde gefunden hatten, waren ihnen automatisch der Sieg zugefallen. Ein treuer Diener namens Avan meldete sich freiwillig, den Talisman zu holen. Das gelang ihm, doch wurde er gefangen genommen. Den Talisman hatte er unter seiner Kleidung versteckt, so dass er nicht entdeckt wurde. Nach einigen Jahren wurde Avan als Sklave verkauft. Schließlich landete er im Haushalt eines Chiefs, der ihn auf einer Reise nach Benin City mitbrachte. Der Chief, der ihn als aggressiv und gefahrlich einschatzte, wahlte ihn aus fur die Opferung eines Sklaven, die bei einem Palastbesuch ublich war. Wahrend der betreffenden Zeremonie versuchte Avan mehrmals zu sprechen, was ihm wegen eines Knebels im Mund nicht gelang, doch der Oba wurde auf ihn aufmerksam. Der Oba befahl, ihm den Knebel abzunehmen, um zu horen, was er sagen wollte. Avan erinnerte den Oba an das Ereignis von vor vielen Jahren. Der erfreute Oba ordnete sofort seine Freilassung an und verlieh ihm den Titel „Ne a ya s’uma“ („mein Vertrauter“). Wahrend des Rituals Ugie Ewere fuhrt der Osuma eine Zeremonie durch, die die Ubergabe des Talismans des treuen Dieners Avan an Oba Ewuare symbolisiert. Iy’Oba: Die Iy’Oba (Koniginmutter) steht unter den Eghaevbo N’Ore an funfter Stelle. Der Titel der Iy'Oba wurde von Oba Esigie als Zeichen der Ehre fur seine Mutter (Idia) geschaffen. Nach der Inthronisierung ihres Sohnes zog die jeweilige Iy’Oba nach Uselu, das sie beaufsichtigte. Sie ist der einzige weibliche Chief. Die Iy'Oba ist mit den Eghaevbo N’Ore gleichgesetzt und in deren Rangfolge eingebunden, doch wird sie im Allgemeinen nicht als Eghaevbo N’Ore bezeichnet. Esama: Der Esama steht unter den Eghaevbo N’Ore an sechster Stelle. Dieser Titel wurde im 16. Jahrhundert von Oba Ehengbuda geschaffen und einem herausragenden Krieger namens Amadin verliehen. Ologbose: Der Ologbose steht unter den Eghaevbo N’Ore an siebter Stelle. Dieser Titel wurde 1713 von Oba Akenzua geschaffen, um Iyase Ode als Heerfuhrer abzulosen. Doch konnte Ode dank seiner Popularitat im Volk den Titel Iyase bis zu seinem Tod weiterfuhren, wahrend der Ologbose tatsachlich die Funktion des Heerfuhrers ausubte. Der Titel des Ologbose ist erblich. Er ist der militarische Befehlshaber neben dem zu den Uzama gehorenden Ezomo. Es war der Ologbose von Oba Ovanramwen, der entgegen der Wunsche des Oba am 4. Januar 1897 den britischen Vizekonsul mit seiner Gruppe aus dem Hinterhalt uberfiel und totete, womit die Briten ihre Strafexpedition einen Monat spater rechtfertigten. Osula: Der Osula steht unter den Eghaevbo N’Ore an achter Stelle. Ima: Der Ima steht unter den Eghaevbo N’Ore an neunter Stelle. Obarisaigbon: Der Obarisaigbon steht unter den Eghaevbo N’Ore an neunter Stelle. Obasuyi: Der Obasuyi steht unter den Eghaevbo N’Ore an zehnter Stelle. Obaraye: Der Obaraye steht unter den Eghaevbo N’Ore an elfter Stelle. Obayagbona: Der Obayagbona steht unter den Eghaevbo N’Ore an zwolfter Stelle. Dieser Titel wurde von Oba Ovanramwen geschaffen. Aiwerioghene: Der Ima steht unter den Eghaevbo N’Ore an dreizehnter Stelle. Dieser Titel wurde von Oba Ovanramwen geschaffen. Ikadele n’Ene Vier der Eghaevbo N’Ore galten als Ikadele n’Ene (vier Saulen des Konigreichs) bzw. Eghaevbo N’Ene (die vier Saulen der Stadt): Iyase, Esogban, Eson und Osuma. Sie verkorperten die vier Himmelsrichtungen: der Iyase den Osten, der Esogban den Westen, der Eson den Norden und der Osuma den Suden. Den Ikadele n’Ene oblag es, jeden Tag in ihrem Zuhause das als Zematon bezeichnete Ritual durchzufuhren, das als Akt der Reinigung und der Erneuerung sowie der Freisetzung der mystischen Krafte des Oba galt. Mit der Zeremonie war die Erneuerung des Treuegelobnis gegenuber dem Oba und dessen Ahnen verbunden. Der Oba fuhrte es in seinem Palast ebenfalls jeden Tag durch. Jeder der vier Titeltrager beging das Ritual an dem ihm zugeordneten Wochentag der Edo. Die Woche der Edo bestand aus vier Tagen: Eken (Iyase), Orie (Esogban), Ehor (Eson) und Okwor (Osuma). Daneben spielten die Ikadele n’Ene bei der Inthronisierung des Oba neben den Uzama und Eghaevbo N’Ogbe eine große Rolle. Literatur R. E. Bradbury: Continuities and Discontinuities in Benin Politics. In: Benin studies. Oxford University Press, London 1973, S. 76–128 (Erstausgabe: 1968). R. E. Bradbury: The Kingdom of Benin. In: Benin studies. Oxford University Press, London 1973, S. 44–75 (Erstausgabe: 1967). R. E. Bradbury: Patrimonalism and Gerontocracy in Benin Political Culture. In: Benin studies. Oxford University Press, London 1973, S. 129–146 (Erstausgabe: 1969). Victor Oraro Edo: Hierarchie und Organisation des Konigtums und des Palastes von Benin. In: Barbara Plankensteiner (Hrsg.): Benin. Konige und Rituale. Hofische Kunst aus Nigeria. Snoeck Publishers, Gent 2007, ISBN 978-3-85497-113-9, S. 91–101. Jacob Uwadiae Egharevba: Bini titles. Kopin-Dogba Press, Lagos 1956. Leonhard Harding: Das Konigreich Benin. Geschichte – Kultur – Wirtschaft. Oldenbourg, Munchen 2010, ISBN 978-3-486-85298-1, S. 121–122, doi:10.1524/9783486852981. Weblinks Itan Edo (Geschichte des Konigreichs Benin) auf Homepage von Digital Benin Einzelnachweise
Die Eghaevbo N’Ore waren die stadtischen Titeltrager des Konigreichs Benin. Ihre Titel wurden von den Obas (Konigen) von Benin nach und nach zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert geschaffen, um die Macht der Uzama, der Territorialfursten und Konigsmacher des Konigreichs, auszubalancieren. Die Eghaevbo N’Ore waren Teil des Staatsrats und galten als Reprasentanten des Volkes. Sie ubten weltliche und zeremonielle Aufgaben aus. Ihre Titel wurden auf Lebenszeit vergeben, waren aber nicht erblich. Die Titel werden bis heute im ehemaligen Konigreich Benin vom amtierenden Oba verliehen. Die ranghochsten Eghaevbo N’Ore sind Iyase, Esogban, Eson und Osuma, die zusammen als die vier Saulen des Konigreichs (Ikadele n’Ene) gelten.
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c-918
Sieg. Eine Inselgeschichte. (im Original englisch Victory. An Island Tale) ist ein Roman des polnisch-britischen Schriftstellers Joseph Conrad. Er erschien erstmals 1915 und handelt von einem stoischen Einzelganger, der sich auf eine tropische Insel zuruckgezogen hat und, nachdem er eine Freundin gefunden hat, von zwei Verbrechern bedroht wird, die glauben, er sei reich. Handlung Der Protagonist des Romans ist der schwedisch-britische Baron Axel Heyst, der von seinem Vater im Sinne der stoischen Philosophie gelehrt wurde, sich zwecks Leidensvermeidung moglichst wenig auf seine Mitmenschen einzulassen. Er lebt allein mit seinem chinesischen Diener Wang an der Diamantenbucht auf der fiktiven Molukkeninsel Samburan. Dort war er Leiter eines Kohlebergwerks, das vor Einsetzen der Romanhandlung bankrottging. In einem Hotel in Surabaya lernt er die junge Britin Alma kennen, die im Hotel des Deutschen Wilhelm Schomberg in einem Damenorchester auftritt. Vor dessen sexuellen Nachstellungen bittet sie Heyst um Hilfe, der sie mit Unterstutzung von Frau Schomberg nach Samburan mitnimmt und seitdem Lena nennt. Zwei Verbrecher – der eine lasst sich „einfach Mr. Jones“ nennen und wird wie Heyst als dessen Antagonist wiederholt als Gentleman bezeichnet, und sein Gehilfe Martin Ricardo, der immer wieder mit einer Katze verglichen wird – nisten sich in Schombergs Hotel ein, um dort ein illegales Spielcasino zu etablieren. Schomberg, der sie loswerden und sich gleichzeitig an Heyst rachen will, uberredet sie, nach Samburan zu fahren: Er behauptet, „dieser Schwede“ sei seinerseits ein Verbrecher und verstecke auf der Insel großen Reichtum. Begleitet von ihrem Diener Pedro erreichen Jones und Ricardo halbverdurstet die Insel – jemand hatte ihren Trinkwasservorrat teilweise durch Salzwasser ersetzt. Heyst gibt ihnen zu trinken und uberlasst ihnen einen leerstehenden Bungalow der Bergwerkssiedlung. Die beiden nehmen daraufhin eine zunehmend bedrohliche Haltung ein. Lena halt sich vor ihnen verborgen, wird aber von Ricardo, der in Heysts Bungalow eindringt, sexuell attackiert. Sie wehrt den Angriff ab, hilft ihm aber zu entkommen und verheimlicht den Zwischenfall vor Heyst. Wang stiehlt Heysts Revolver und zieht sich mit seiner indigenen Frau in deren Dorf auf der anderen Seite der Insel zuruck. Dadurch stehen Heyst und Lena den beiden Verbrechern schutzlos gegenuber. Ricardo will nun Jones verlassen, weil er sich Hoffnungen macht, Lena sei in ihn verliebt. Diese lasst ihn in diesem Glauben, um sich fur Heyst zu opfern. In einem Showdown wahrend eines schweren Gewitters gelingt es ihr, an Ricardos Messer zu kommen. Gleichzeitig erfahrt der misogyne, anscheinend homosexuelle Jones von Heyst von Lenas Anwesenheit auf der Insel. Voller Eifersucht dringt er in Heysts Bungalow ein, um Ricardo zu erschießen, trifft aber versehentlich Lena, die selig in dem Glauben stirbt, dadurch Heyst gerettet zu haben (dies der titelgebende „Sieg“ des Romans). Da betritt Heysts Freund Kapitan Davidson die Szene, der von Frau Schomberg uber das Vorhaben der beiden Verbrecher informiert wurde. Jones erschießt schließlich Ricardo, kann aber die Insel nicht mehr verlassen – Wang war zuruckgekommen, hatte Pedro erschossen und das Boot ins offene Meer treiben lassen. Davidson findet spater Jones’ Leichnam im Wasser. Heyst zundet alle Gebaude der Bergwerkssiedlung an und begeht Suizid. Der Roman endet mit Davidsons Bericht vor einer niederlandischen Kolonialbehorde. Aufbau und Erzahltechnik Die vier Teile des Roman enthalten sieben bis dreizehn Kapitel. Diese Einteilung geht auf die Herausgeber von Munsey’s Magazine zuruck, wo Sieg 1915 in Fortsetzungen erschien. Auffallend ist der Wechsel der Erzahlperspektive: Den ersten Teil erzahlt homodiegetisch ein namenloser Erzahler, der sich lediglich als einer der europaischstammigen Handler ausgibt, die „da draußen“, also im Malaiischen Archipel, ihren Geschaften nachgehen. Er kennt Heyst nicht personlich, sondern rekonstruiert seine Erzahlung aus Berichten und Geruchten uber ihn, namentlich aus Davidsons Erzahlungen, der Heysts Ruckzug nach Samburan recherchiert hat. Von Teil zwei an wird dann aus der Perspektive von Heyst erzahlt: So erfahrt der Leser von dessen innerem Konflikt zwischen stoischer Lebenshaltung und seiner Neigung zu Mitleid und Hilfsbereitschaft, mit der er etwa einem Kapitan Morrison das notige Geld leiht, mit dem dieser sein Schiff auf Osttimor beim portugiesischen Zoll auslosen kann, oder Alma/Lena vor Schombergs Nachstellungen rettet. Spater wechselt die Perspektive auch auf Lena, auf Schomberg und auf Ricardo. Diese multiperspektivische Erzahltechnik bietet dem Leser jeweils unterschiedliche Interpretationsweisen der Handlung. Entstehung Die Idee zu Sieg hatte Conrad bereits Ende 1911. Ursprunglich war es als Novelle konzipiert, die den Arbeitstitel Dollars haben sollte. Unter dem Eindruck des kommerziellen Erfolges der beiden Vorgangerbucher – eines Sammelbands, der die Erzahlung Der geheime Teilhaber enthalt, und des Romans Spiel des Zufalls – weitete Conrad den Stoff zu einem Roman aus. Die Niederschrift erfolgte zwischen Oktober 1912 und Juli 1914, also bis unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Den Titel legte Conrad erst einige Tage nach Abschluss des Manuskripts fest. Der Roman erschien 1915 zunachst als Fortsetzungsroman in Munsey’s Magazine, im gleichen Jahr kamen gebundene Erstausgaben bei Doubleday, Page & Co. in New York City und im Londoner Verlag Methuen & Co. heraus. Rassismus Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe nannte Conrad mit Bezug auf seinen beruhmtesten Roman Herz der Finsternis einen „verdammten Rassisten“. Fur diese Ansicht bietet auch Sieg mehrere Indizien: Die Trager der Handlung sind allesamt Weiße. Die Malaien dagegen, die Kapitan Davidsons Schiffsbesatzung bilden, werden nur einmal en passant erwahnt; die Alfuren, die auf der anderen Seite von Samburan leben und den Kontakt mit der Moderne verweigern, erscheinen als unheimlich und bedrohlich. Jones bekennt sich unwidersprochen zu seinem Glauben an „rassische Uberlegenheit“. Besonders krass ist die Darstellung des Pedro, den Ricardo und er an der Kuste Nicaraguas aufgelesen haben und wie ihren Sklaven behandeln. Conrad erwahnt regelmaßig seine ubermaßig starke Behaarung, die ihn wie einen Pavian oder einen Baren erscheinen lasst. Einzige Ausnahme in der stereotypen Beschreibung Nichtweißer ist der Chinese Wang, dessen Hautfarbe zwar wiederholt mit „gelb“ angegeben wird und der in eurozentrischer Weise zunachst als geheimnisvoll und undurchschaubar beschrieben wird. Doch plotzlich tritt er mit einem Bewusstsein auf, das klar als außereuropaisch geschildert wird. Der Literaturwissenschaftler Terry Collits sieht in dieser Gestalt einen Ansatz fur eine postkoloniale Lesart der Texte Conrads, der sich der Grenzen einer jeden Kultur bewusst gewesen sei und danach gestrebt habe, sie zu uberwinden. Rezeption Bei seinem Erscheinen wurde der Roman zumeist positiv aufgenommen. Laut dem amerikanischen Anglisten Peter Lancelot Mallios befestigte er Conrads neu gefundene Zentralitat in der Literaturszene. Er verkaufte sich so gut, dass der Autor seine hohen Schulden tilgen konnte. Bis zu seinem Tod 1924 erlebte er achtzehn bzw. sechzehn Auflagen in Großbritannien und den USA. Doch gab es auch negative Kritiken. So vermutete der Literaturkritiker William Lyon Phelps 1916, Conrad habe mit Sieg versucht, ein populares Buch zu schreiben: „Trotz vieler schoner Passagen in der Beschreibung handelt es sich um armseliges Zeug, und sein Autor sollte sich fur Mr. Jones schamen, der zum billigen Melodram gehort“. Ahnlich wertete US-Literaturwissenschaftler Thomas C. Moser 1957 das Werk als Zeichen fur Conrads „Niedergang“ und fragte, ob ein Autor plotzlich aufhoren konne, „ernsthafte Bucher zu schreiben und anfangen, Werke zu produzieren, die nicht mehr von popularem Schrott zu unterscheiden sind“. Vladimir Nabokov lehnte Conrads Prosa wegen ihres „Souvenirladen-Stils, Buddelschiffen und Muschelketten von romantischen Klischees“ ab. Nach Ansicht des polnischen Literaturwissenschaftlers Adam Gillon ließ er sich dennoch von dem Buch zu seinem Bestseller Lolita inspirieren. Peter Lancelot Mallios erklart die uberaus widerspruchlichen Bewertungen des Buches damit, dass sich Conrad um eine „demokratische Poetik“ bemuht habe: So habe er seine literarische Finesse in Sieg nicht zu einer Barriere fur Leser ohne hohere Bildung werden lassen; auch die wiederkehrende Thematisierung von Bildung und Padagogik sowie die große Bedeutung von Aufrichtigkeit (im Gegensatz zur „Diplomatie“ etwa von Mr. Jones) wurden in diese Richtung weisen. Im besetzten Polen verboten die Nationalsozialisten 1942 die polnische Ausgabe. Wahrscheinlich hatte der Zensor das Buch nicht gelesen, sondern handelte allein aufgrund des Titels Zwyciestwo. 1976 veroffentlichte Bob Dylan auf dem Album Desire das Lied Black Diamond Bay, das von Conrads Buch inspiriert ist. In der Collage auf der Ruckseite des Albumcovers ist auch ein Portrat Conrads zu erkennen. Die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion sagte 2006 in einem Interview, Sieg sei „vielleicht ihr liebstes Buch in der Welt“. Niemals beginne sie einen neuen Roman, ohne es erneut zu lesen. Ausgaben (Auswahl) Victory. An Island Tale. Methuen & Co, London 1915. Victory. An Island Tale. Doubleday, Page & Company, New York City 1915. Victory. An Island Tale. With an introduction by John Gray and notes and appendix by Robert Hampton. Penguin Classics, London 2015, ISBN 978-0-241-18965-8. Sieg. Eine Inselgeschichte. Deutsch von Walter Schuremberg (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 1). S. Fischer, Frankfurt am Main 1962. Sieg. Die Geschichte einer Insel. Mit einer Nachbemerkung von Gunter Walch. Edition Maritim, Hamburg 2008, ISBN 978-3-89225-600-7 Literatur Robert Secor: The Rhetoric of Shifting Perspectives: Conrad’s 'Victory' . Pennsylvania State University, State College 1971. Peter Lancelot Mallios: Declaring „Victory“: Towards Conrad’s Poetics of Democracy. In: Conradiana 35 (2003), S. 145–183. Adaptionen = Theater = 1919 wurde Sieg in einer Theaterfassung des britischen Autors Macdonald Hastings am Londoner Globe Theatre aufgefuhrt. = Film = 1919: Victory. Amerikanischer Stummfilm von Maurice Tourneur mit Jack Holt und Seena Owen 1930: Dangerous Paradise. Amerikanischer Film von William A. Wellman. 1931 produzierte Paramount Pictures von diesem fruhen Tonfilm mehrere fremdsprachige Versionen in Paris, darunter die franzosische Version Dans une ile perdue von Alberto Cavalcanti und die deutsche Version Tropennachte von Leo Mittler 1940: Victory. Amerikanischer Film von John Cromwell mit Fredric March, Cedric Hardwicke und Betty Field. 1986: Des Teufels Paradies. Deutscher Film von Vadim Glowna mit Jurgen Prochnow. 1996: Victory. Franzosisch-deutsch-britische Koproduktion von Mark Peploe mit Willem Dafoe, Sam Neill, Irene Jacob und Jean Yanne. = Horspiel = 1986: Das Geheimnis von Samburan – Regie: Gunther Sauer (WDR/BR) Weblinks Einzelnachweise
Sieg. Eine Inselgeschichte. (im Original englisch Victory. An Island Tale) ist ein Roman des polnisch-britischen Schriftstellers Joseph Conrad. Er erschien erstmals 1915 und handelt von einem stoischen Einzelganger, der sich auf eine tropische Insel zuruckgezogen hat und, nachdem er eine Freundin gefunden hat, von zwei Verbrechern bedroht wird, die glauben, er sei reich.
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c-919
Das Kloster Veßra ist ein um 1131 gegrundetes Pramonstratenserkloster und ehemaliges Hauskloster der Grafen von Henneberg in der gleichnamigen Gemeinde Kloster Veßra im Landkreis Hildburghausen im sudlichen Thuringen. Der romanische und teils fruhgotische Baukomplex ist heute nur noch in Teilen erhalten. Besonders die fruhen Phasen des Baus sind ein bedeutendes Beispiel reformmonastischer Architektur des 12. Jahrhunderts und Zeugnis des Herrschaftsausbaus der Henneberger. Nach der Reformation wurde das Kloster aufgelost und in eine Domane umgewandelt, die klosterlichen Bauten verfielen zunehmend. Heute gehort die Anlage zum Bestand der Stiftung Thuringer Schlosser und Garten und beherbergt das Hennebergische Museum Kloster Veßra. Geschichte = Das Kloster (bis 1573) = Graf Godebold II. von Henneberg grundete das Kloster 1131 als Pramonstratenserstift, nachdem er wahrscheinlich ein Jahr zuvor beim Reichstag Norbert von Xanten, den Grunder der Pramonstratenser, personlich kennengelernt hatte. Das Kloster war ursprunglich als Doppelanlage fur Stiftsherren und -damen angelegt, doch nach 1175 zogen die Damen nach Trostadt. Auf finanzielle Unterstutzung angewiesen, ubertrug Godebold das Kloster 1135 an Bischof Otto von Bamberg, die ersten Bauten des Klosters konnten schon 1138 geweiht werden. Die Bischofe von Bamberg fungierten als weltliche Lehnsherren, die Wurzburger als geistliche. Die Henneberger Grafen hatten somit das Vogteirecht inne und konnten das Kloster weiterhin als Hauskloster verwenden. Bis zum 14. Jahrhundert sammelte das Kloster durch Schenkung und Ankaufe viel Grundbesitz zwischen Werra und Main an. Dieser wurde von Bauern und Laienbrudern bewirtschaftet. So war das Kloster zu Hochzeiten fur die Pfarrseelsorge in Orten im Umkreis von 50 Kilometern zustandig. Im 15. Jahrhundert kam es jedoch zunehmend zur Stagnation und allmahlich zum Verfall. Im Bauernkrieg wurde das Kloster zweimal besetzt, aber nicht zerstort. Infolge der Reformation wurde das Kloster ab 1544 sakularisiert und schrittweise in eine Domane umgewandelt. Der letzte Abt starb 1573, damit war das Kloster vollstandig sakularisiert. Nur die Hennebergische Grabkapelle wurde weiterhin als kleine Pfarrkirche genutzt. = Nach der Reformation bis zum Brand 1939 = Mit dem Aussterben der gefursteten Grafen von Henneberg 1583 fiel die Domane mit der gesamten Grafschaft an die Wettiner. Ab 1660 gehorte Schleusingen mit Veßra zu deren Linie Sachsen-Zeitz, nach deren Aussterben 1718 zu Kursachsen. Wahrend der Bauernkrieg ohne Zerstorungen am Kloster vorbeiging, kam es im Dreißigjahrigen Krieg zu vielen Plunderungen. Danach etablierte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem ehemaligen Klostergelande ein bedeutendes Gestut. Die Klosterkirche wurde Anfang des 18. Jahrhunderts zur Scheune umgebaut. Ebenfalls im 18. Jahrhundert setzte die wissenschaftliche Beschaftigung mit dem Kloster ein. So reichte G.K.W. Muller von Raueneck 1855 eine Petition fur den Erhalt des Klosters an den preußischen Konig Friedrich Wilhelm IV. ein, in der er behauptete, dass schon Schinkel als Oberbaudirektor zur Restaurierung von Kloster Veßra aufgerufen habe. 1893 wurde an der Stelle der ehemaligen Klostermuhle eine Porzellanfabrik errichtet, die im Zweiten Weltkrieg zu einer Waffenfabrik umfunktioniert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Kloster Veßra zum Staatsgut. In der Nacht vom 2. Marz 1939 brannte nach Drescharbeiten die weiter als Scheune genutzte Klosterkirche bis auf die Umfassungsmauern nieder. = Nutzung und Denkmalpflege = Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Areal zunachst weiter landwirtschaftlich genutzt. Zugleich begannen erste Sicherungen an den Klostergebauden, darunter die Wiederherstellung des historischen Bodenniveaus der Kirche. Nach dem Ubergang an die Stiftung Thuringer Schlosser und Garten 1994 wurden u. a. die Hennebergische Grabkapelle restauriert, die Mauern der Klosterruine saniert, die Domanenscheune instand gesetzt sowie Grabungen und Bauforschungen an Klausur und Kreuzgang vorgenommen. 1975 wurde im Klosterareal das Agrarhistorische Museum des Bezirkes Suhl gegrundet, nach 1990 als Hennebergisches Museum Kloster Veßra in der Tragerschaft des Hennebergisch-Frankischen Geschichtsvereins. Zum Museum gehoren mehrere aus verschiedenen Orten des Henneberger Landes translozierte Fachwerkgebaude, die im westlichen Bereich des Klosterareals stehen. Architektur = Klosterkirche St. Marien = Die Klosterkirche St. Marien ist eine kreuzformige Pfeilerbasilika mit Staffelchor, deren Grundform auf dem Vierungsquadrat basiert. So bilden viereinhalb Quadrate das Mittelschiff und deren halbe Breite die Seitenschiffe, das Querhaus ergibt sich aus zwei Quadraten an beiden Seiten. Der kreuzformige Grundriss ist entwicklungsgeschichtlich zwischen der alteren frankischen Basilika und dem Hirsauer Typus einzuordnen. Besonders in den Zeugnissen des Grundungsbaus lasst sich jedoch auch der Zusammenhang mit den ersten Pramonstratenser-Chorherren aus Niedersachsen und dem Magdeburger Liebfrauenkloster erkennen. Im nordlichen Seitenschiff sind noch die Uberreste der gotischen Fenster erhalten, der gesamte Bereich der Obergaden ist jedoch verloren. Im Querschiff deuten sich die Scheidbogen zwischen der Vierung und den Querhausarmen an. Nach Ernst Badstubner zeugen sie von einem anfanglich niedersachsisch beeinflussten Bauprogramm, in dem ein ausgeschiedenes Querhaus geplant war. Ein Impuls fur die Aufgabe dieses Plans kann die Verbindung des Klosters mit den frankischen Bistumern Wurzburg und Bamberg gewesen sein, aber auch zu Klosterkirchen wie Herrenbreitungen. Der Staffelchor ist nur noch in Grundmauern zu erkennen, der Chorbogen ist zugemauert. Im Westen der Klosterkirche erheben sich die Turme einer Doppelturmfassade. Die unteren beiden Geschosse, die nach 1201 gebaut wurden, sind oberrheinisch-schwabisch beeinflusst. Die oberen Stockwerke sind mit ihren fruhgotischen Formen nach 1240 zu datierten. Die querrechteckige Vorhalle wird uber ein Eingangsportal mit Rundbogen betreten. Im Inneren folgt darauf ein zweites, doppelt abgetrepptes Gewandeportal. = Kapellen = Nordlich am Querhaus schließt die 1182 geweihte Grabkapelle der Henneberger an. Sie geht im Osten in einen schmalen tonnengewolbten Chorraum mit eingezogener halbkreisformiger Apsis uber. In Wandmalereien zum Jungsten Gericht kront Christus in einer Mandorla die Apsis und das davorliegende Tonnengewolbe. Im sudlichen Querhaus offnet sich der Durchgang zu einer weiteren Kapelle mit Kreuzgratgewolbe. Ostlich der beiden Joche schließt eine etwas niedrigere und schmalere halbrunde Apsis an, in der drei kleine Rundbogenfenster eingelassen sind. Eine Besonderheit sind zwei runde Lichtoffnungen neben der Apsis, durch die genau zu den Feiertagen von Maria Verkundigung und Maria Heimsuchung Licht fallt. = Klausur = Die Klausur mit Kreuzgang ist zwischen Mitte des 12. und Ende des 15. Jahrhunderts errichtet worden. Vom Kreuzgang sind jedoch nur noch Arkadenreihen des ostlichen Flugels erhalten. Von der romanischen Klausur zeugt heute am meisten der Sudflugel. Ursprunglich fuhrte ein heute zugesetztes Rundbogenportal mit Gewande in die Raume im Erdgeschoss. Der dort erhaltene große Raum diente wahrscheinlich als Refektorium. Im Westen schließt die Klosterkuche an, die spater mit Feuerstelle und Rauchhut ausgestattet wurde. Im Refektorium wurde im Spatmittelalter eine Trennwand mit einem zweitverwendeten romanischen Portal eingebaut. Das damit neu entstandene kleinere Refektorium erhielt Wandmalereien. Eine achteckige Holzstutze in der Mitte des Raumes tragt eine ebenfalls bemalte Holzbalkendecke. Vom Westflugel sind keine romanischen Reste erhalten, doch er hatte ungefahr die Ausmaße des heute dort vorhandenen Gebaudes. Der ursprungliche Ostflugel ist nur noch in archaologischen Uberresten nachvollziehbar. = Mauer und Wirtschaftsgebaude = Noch heute ist der etwa sechs Hektar große Hof von einer 800 Meter langen Mauer umschlossen. Das Klostertor mit Torhaus liegt an der Nordseite. Dort befindet sich auch die Torkapelle, die romanischen Ursprungs ist. Spater wurde sie mit gotischen Lanzettfenstern und einem Kreuzrippengewolbe ausgestattet. In den Mauern des Klosterareals sind außerdem der Stall im Kreuzgang, das Kornhaus, die Klostermuhle, Klosterteiche, Domanenscheune und -stall, sowie Pferdestalle erhalten. Hennebergisches Museum Kloster Veßra Auf dem Klostergelande befindet sich das Hennebergische Museum Kloster Veßra. Es stellt landwirtschaftliche Gerate, Sachzeugen von Hauswirtschaft, Industrie und Handwerk, Textilien, Mobel, Exponate der Volkskunst und der Klosterkultur aus. Im Freilichtmuseum werden translozierte landliche Wohn-, Wirtschafts- und Kommunalgebaude prasentiert. Zum Rundgang auf dem ehemaligen Klostergelande gehoren im ostlichen Bereich der Schafstall und eine neu errichtete Maschinenhalle mit Ausstellungen zur Landtechnik, der Neue Pferdestall mit Ausstellung zur Henneberger Landesgeschichte und das Wanderarbeiterhaus mit Cafe. Dort vermittelt ein neu angelegter Krautergarten Grundlagen der klosterlichen Gartenkultur. Eine Ausstellung zur Klostergeschichte befindet sich im Bereich des ehemaligen Kreuzgangs. Literatur (chronologisch geordnet) Heinrich Bergner: Beschreibende Darstellung der alteren Bau- und Kunstdenkmaler der Kreise Ziegenruck und Schleusingen. In: Beschreibende Darstellung der alteren Bau- und Kunstdenkmaler der Provinz Sachsen. Heft 2., Halle 1901, S. 224–239. Ernst Badstubner: Die Pramonstratenser-Klosterkirche zu Veßra in Thuringen. Berlin 1961. Udo Sareik: Die Lichtoffnungen in der Sudkapelle In: Agrarhistorisches Museum des Bezirkes Suhl: Beitrage zu Kloster Veßra und zu seinem Agrarhistorischen Museum. Kloster Veßra 1976, S. 43–45. Rudolf Zießler: Kloster Veßra – zur Baugeschichte und Denkmalpflege In: Agrarhistorisches Museum des Bezirkes Suhl: Beitrage zu Kloster Veßra und zu seinem Agrarhistorischen Museum. Kloster Veßra 1976, S. 28–42. Gunther Wolfing: Die Sakularisation des Klosters Veßra. In: Jahrbuch fur Regionalgeschichte. Band 10. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1983, ISSN 1860-8248, S. 115–135. Siegmar Banz, Gunther Wolfing: Museumsfuhrer / Hennebergisches Museum, Kloster Veßra. Museum fur regionale Geschichte und Volkskunde. 2., verbesserte Auflage. Hennebergisches Museum Kloster Veßra, Kloster Veßra 1993, DNB 957773315. Gunther Wolfing: Henneberg – durch Land und Zeit (= Veroffentlichungen des Hennebergischen Museums Kloster Veßra. Band 4). Hildburghausen 1994, DNB 1205162925. Siegmar Banz: 1975/1995: 20 Jahre Museumsarbeit in Kloster Veßra. In: Jahrbuch des Hennebergisch-Frankischen Geschichtsvereins. Band 10. Kloster Veßra, Meiningen / Munnerstadt 1995, ISSN 0940-8940 S. 235–248. Gunter Garenfeld: Die Klosterkirche zu Veßra. Entwurf fur eine Uberdachung. Verlag Ausbildung und Wissen, Bad Homburg / Leipzig 1996, DNB 954687159. Doris Hackel: Der Klostergarten in Veßra. Eine Rekonstruktion nach Quellen der mittelalterlichen Gartenkultur. (= Sonderveroffentlichung des Hennebergisch-Frankischen Geschichtsvereins. Nr. 10). Hennebergisches Museum Kloster Veßra, Kloster Veßra 1997, DNB 957773927. Helmut-Eberhard Paulus: Kloster Veßra. Ein bedeutendes Denkmal der Landes-, Kultur- und Kunstgeschichte im Bestand der Stiftung Thuringer Schlosser und Garten. In: Frankenbund (Hrsg.): Frankenland – Zeitschrift fur frankische Landeskunde und Kulturpflege. Jahrgang 2000. Frankenbund, Wurzburg 2000, S. 194–199 (PDF). Gunther Wolfing: 25 Jahre Hennebergisches Museum Kloster Veßra 1975–2000 – Festschrift. (= Veroffentlichungen des Hennebergischen Museums Kloster Veßra. Band 12). Kloster Veßra 2000. Gunther Wolfing, Ernst Badstubner (Hrsg.): Amtlicher Fuhrer Kloster Veßra. Deutscher Kunstverlag, Munchen/Berlin 2003, ISBN 3-422-03094-8. Gunther Wolfing: Das ehemalige Pramonstratenserkloster Kloster Veßra (= Kleine Kunstfuhrer. Band 2586). Schnell und Steiner, Regensburg 2005, ISBN 978-3-7954-6537-7. Thomas Grasselt, Thomas Nitz, Thomas Witter: Das Kloster Veßra In: Heimat Thuringen. Bandd. 15, Heft 1–2. 2008, S. 46–51. Hennebergisches Museum Kloster Veßra (Hrsg.): Tagungsband / Kolloquium zu den neuesten Forschungsergebnissen im Kloster Veßra auf den Gebieten der Archaologie, Bauforschung und Denkmalpflege – Klausur und Kreuzgang. Hennebergisches Museum Kloster Veßra, Kloster Veßra 2012, DNB 1030393354. Claudia Krahnert, Carola Niklas: Das Refektorium in Kloster Veßra – Klostergeschichte(n) neu prasentiert In: Stiftung Thuringer Schlosser und Garten (Hrsg.): Baulust und Baulast – Erhalt und Vermittlung des Thuringer Kulturerbes. (= Jahrbuch der Stiftung Thuringer Schlosser und Garten. Band 24). Rudolstadt 2021, S. 253–262. Irmgard Winkel: Wie kommt ein welfisches Wappen nach Kloster Veßra? Das Verhaltnis zwischen der Grafschaft Henneberg-Schleusingen und Kloster Veßra im ausgehenden 15. Jahrhundert. In: Stiftung Thuringer Schlosser und Garten (Hrsg.): Die Klosterlandschaft Thuringen. Zwischen europaischen Ordensnetzwerken und regionaler Wirkungssphare. (= Jahrbuch der Stiftung Thuringer Schlosser und Garten. Band 26). Rudolstadt 2023, S. 69–84. Weblinks Kloster Veßra. In: ThueringerSchloesser.de Hennebergisches Museum Kloster Veßra. In: Thueringen.info Literatur zum Hennebergischen Museum Kloster Veßra im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Einzelnachweise
Das Kloster Veßra ist ein um 1131 gegrundetes Pramonstratenserkloster und ehemaliges Hauskloster der Grafen von Henneberg in der gleichnamigen Gemeinde Kloster Veßra im Landkreis Hildburghausen im sudlichen Thuringen. Der romanische und teils fruhgotische Baukomplex ist heute nur noch in Teilen erhalten. Besonders die fruhen Phasen des Baus sind ein bedeutendes Beispiel reformmonastischer Architektur des 12. Jahrhunderts und Zeugnis des Herrschaftsausbaus der Henneberger. Nach der Reformation wurde das Kloster aufgelost und in eine Domane umgewandelt, die klosterlichen Bauten verfielen zunehmend. Heute gehort die Anlage zum Bestand der Stiftung Thuringer Schlosser und Garten und beherbergt das Hennebergische Museum Kloster Veßra.
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c-920
Ira Rischowski (geboren 1899 in Breslau als Irene Rischowski; gestorben 27. Januar 1989) war eine deutsch-britische Elektroingenieurin. Sie engagierte sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Gruppe Neu Beginnen, bevor sie 1936 uber Prag nach England fluchtete. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war sie uber Jahrzehnte in England als Ingenieurin in fuhrender Stellung tatig. Außerdem engagierte sie sich fur die britische Women’s Engineering Society, in deren Vorstand sie fast dreißig Jahre war. 1919 war sie die erste Elektrotechnikstudentin der Technischen Hochschule Darmstadt und 1928 die erste Diplom-Ingenieurin in Elektrotechnik der Technischen Hochschule Breslau. Leben und Wirken = Fruhe Jahre = Rischowskis Eltern waren Ida, geborene Salomonsohn, (1867–1943) und Albert Rischowski (1848–1932). Ihr Vater war Direktor der Reederei eines der großten deutschen Kohle- und Erzhandelsunternehmen. Die Familie lebte in Breslau. Irene (Ira) Rischowski war das erste von vier Kindern, sie hatte zwei Bruder, Hans Gunther und Guido Hellmuth Rischowski sowie eine Schwester, Edith Nowak. Die Bruder wurden spater Ingenieure, die Schwester studierte Kunstgeschichte und war als Kunsthandwerkerin tatig. Trotz der judischen Herkunft der Eltern wurden die Kinder getauft. Nach dem Abitur in Breslau, im Jahr 1919, begann Ira Rischowski an der Technischen Hochschule Darmstadt Elektrotechnik zu studieren, nachdem sie ein sechsmonatiges Praktikum in der Spezialwerkstatt eines Unternehmens fur Landwirtschaftsmaschinen absolviert hatte. Sie war die erste Studentin an dieser Hochschule in einem anderen Ingenieurfach als Architektur. 1921 legte sie ihr Vordiplom ab. Im Jahr 1923, kurz vor ihrer Diplomprufung, wurde sie schwer krank, so dass sie ihr Studium nicht abschließen konnte. Sie verbrachte mehrere Monate in einem Sanatorium. Kurz vor dem Studienabbruch hatte sie ihren Studienkollegen Bruno Karthauser geheiratet, doch in der Zeit der Hyperinflation 1923 fand auch er, trotz abgeschlossenem Diplom, keine dauerhafte Stelle. So zog Rischowski zunachst zu ihren Eltern nach Breslau, zumal sie schwanger mit ihrem ersten Kind war. Ira Rischowski nahm dort das Elektrotechnikstudium an der Technischen Hochschule Breslau wieder auf und konnte 1928 als erste Frau das Diplom in diesem Fach machen. Nachdem ihr Mann in Berlin eine dauerhafte Position bei Siemens-Schuckert gefunden hatte, zog die Familie gemeinsam dorthin. 1930 bekamen sie ein zweites Kind. Ab 1932 begann sie halbtags im gleichen Unternehmen wie ihr Mann zu arbeiten. 1933 ließ sich das Paar scheiden. = Tatigkeit im Widerstand = Ab 1932 engagierten sich Rischowski und ihr Mann fur die marxistische Widerstandsgruppe Neu Beginnen. Rischowski schmuggelte Berichte, Manuskripte und Briefe fur die Gruppe. Sie arbeitete fur die Organisation als Sekretarin in der Zentrale („Kreis“ genannt) und war enge Mitarbeiterin von Walter Lowenheim. 1935 wurde sie bei einer Ubergabe von der Gestapo verhaftet, wurde jedoch wieder freigelassen. Sie emigrierte umgehend nach Prag, auch um der Judenverfolgung im NS-Staat zu entkommen. Ihre beiden Kinder blieben bei ihrer Mutter, die inzwischen in Berlin lebte. 1936 erhielt sie ein Visum fur die Arbeit als Hausangestellte in England und emigrierte dorthin. Die Women’s Employment Federation unterstutzte sie in ihren Bemuhungen, ihre Kinder nachzuholen, was ihr 1938 schließlich gelang. Ihr fruherer Ehemann emigrierte 1936 ebenfalls nach England, wo er ein Unternehmen grundete. Ihre Mutter wurde deportiert und starb 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt. = Emigration und Leben nach dem Krieg = Ab 1939, nach Erhalt der Arbeitserlaubnis, arbeitete Ira Rischowski als Ingenieurin fur das Unternehmen ihres geschiedenen Mannes. 1940 wurde sie als Deutsche als „feindliche Auslanderin“ im zivilen Frauenlager Rushen Internment Camp auf der Isle of Man interniert, wo sie eineinhalb Jahre verbrachte. Eine Zeit lang leitete sie dort die von Minna Specht aufgebaute Lagerschule. Ab Januar 1942 war sie als Konstrukteurin im Zeichenburo eines Werkzeugmaschinenherstellers tatig. Nach zwei Jahren wechselte sie zu einem Unternehmen, das automatische Kesselregelungen und Prozessregelungen entwarf und fertigte. Nach zwei Jahren wurde sie Stellvertreterin des Chefs des Konstruktionsburos, allerdings nicht seine Nachfolgerin, als er die Stelle wechselte. Daraufhin ließ sie sich in die Projektabteilung versetzen, wo die Kontrollschemen entworfen, die Kosten geschatzt und die Angebote ausgearbeitet wurden. Einige Jahre spater wurde sie die Leiterin der zwolfkopfigen Abteilung. Nach einer Unternehmensfusion verlor sie die Abteilungsleitung. Diesmal ließ sie sich in die Entwicklungsabteilung versetzen. Nach ihrer Pensionierung war sie als beratende Ingenieurin (Consultant) fur das gleiche Unternehmen tatig. Bis 1977 arbeitete sie als Assistentin der Geschaftsleitung in der Produktentwicklung des von ihrem Mann gegrundeten Unternehmens. Engagement fur Berufsverbande 1930 wurde sie Mitglied des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), doch als der VDI 1933 eine Frauengruppe grundete, beteiligte sie sich dort nicht, weil diese bereits gleichgeschaltet war. Uber die Organisation Women’s Employment Federation kam sie Anfang der 1940er Jahre in Kontakt mit der britischen Women’s Engineering Society (WES). 1948 wurde sie in deren Vorstand gewahlt. Diese Funktion ubte sie bis 1976 aus. Sie war Teil des Organisationskomitees, das 1967 die 2. International Conference of Women Engineers and Scientists (ICWES2) in Cambridge organisierte. Von 1972 bis 1976 war sie Redakteurin der Vierteljahreszeitschrift The Woman Engineer der Women’s Engineering Society. 1976 ernannte die WES sie zum Ehrenmitglied. Bis Ende ihres Lebens blieb sie fur die WES aktiv. Als sie starb, erinnerte die WES-Vorsitzende Dorothy Hatfield mit Bewunderung an Ira Rischowskis Arbeit als wichtige Organisatorin der zweiten ICWES und daran, dass sie „eine Inspiration fur uns alle“ gewesen sei. Wurdigungen Die Technische Universitat Darmstadt hat ihr Stipendienprogramm fur internationale Master-Studentinnen nach Ira Rischowski benannt. Das Programm unterstutzt Studentinnen und Wissenschaftlerinnen in der Kernphysik, nuklearen Astrophysik, Beschleunigerphysik und nuklearen Photonik. Die in Danemark lebende franzosische Designerin Clara Isaksson und Robin Isaksson entwickelten eine nach Ira Rischowski benannte Schriftart. Der die Women’s Engineering Society betreffende Nachlass sowie Publikationen Rischowskis befinden sich in der The Women’s Library im Archiv der London School of Economics and Political Science. Veroffentlichungen (Auswahl) Women Engineers Overseas. In Germany. In: The Woman Engineer. Band 5, Nr. 2, 1940, S. 28 (theiet.org). Women Engineers in Pre-War Germany. In: The Woman Engineer. Band 5, Nr. 10, 1942, S. 151–153 (theiet.org). Women Engineers in Germany. In: The Woman Engineer. Band 9, Nr. 7, 1962, S. 5–7 (theiet.org). News from Germany. In: The Woman Engineer. Band 10, Nr. 10, 1968, S. 1–6 (theiet.org). Literatur Ira Rischowski: Wie ich Ingenieur wurde. In: Gisela Dischner (Hrsg.): Eine stumme Generation berichtet. Frauen der dreißiger und vierziger Jahre. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-23727-0, S. 87–111. Stuart Parkes: „In the Exile of Internment“ or „Von Versuchen, aus einer Not eine Tugend zu machen“: German-Speaking Women Interned by the British during the Second World War. In: William Niven, James Jordan (Hrsg.): Politics and Culture in Twentieth-century Germany. Reihe: Studies in German Literature Linguistics and Culture. Boydell & Brewer, Woodbridge 2003, ISBN 978-1571132239, S. 43–62. Weblinks Ira Rischowski: refugee engineer auf Electrifying Women. Understanding the long history of women in engineering (in Englisch) Records of the Women's Engineering Society: Papers of Ira Rischowski, 1939–1988. Einzelnachweise
Ira Rischowski (geboren 1899 in Breslau als Irene Rischowski; gestorben 27. Januar 1989) war eine deutsch-britische Elektroingenieurin. Sie engagierte sich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Gruppe Neu Beginnen, bevor sie 1936 uber Prag nach England fluchtete. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war sie uber Jahrzehnte in England als Ingenieurin in fuhrender Stellung tatig. Außerdem engagierte sie sich fur die britische Women’s Engineering Society, in deren Vorstand sie fast dreißig Jahre war. 1919 war sie die erste Elektrotechnikstudentin der Technischen Hochschule Darmstadt und 1928 die erste Diplom-Ingenieurin in Elektrotechnik der Technischen Hochschule Breslau.
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c-921
Der Dreiherrenstein auf dem Heldrastein an der thuringisch-hessischen Landesgrenze ist ein Grenzstein mit historischer Bedeutung. An seinem Standort trafen Herrschaftsbereiche aufeinander, die im Laufe der Jahrhunderte vielfach Namen und Besitzer wechselten. Standort Der Dreiherrenstein befindet sich oberhalb der hessischen Dorfer Rambach und Heldra und den thuringischen Orten Schnellmannshausen und Großburschla im Stadtgebiet von Treffurt, im Nordwesten des Wartburgkreises. Er steht auf dem 488,5 m hohen westlichen Steilhangauslaufer des Heldrasteins und ist namensgebend fur diese Erhebung. Der Heldrastein ist mit einer Hohe von 503,8 m einer der hochsten Berge im Ringgau. Von seiner Oberhangkante bricht er nach Norden steil zum Werratal ab. Der Ringgau gehort zu den westlichen Auslaufern der Muschelkalkplatten, die das Thuringer Becken umranden und sich vom Nordwesten Thuringens bis nach Hessen erstrecken. Die Werra trennte einst den Ringgau von seinem ursprunglichen Gesteinsverband der Randplatten und schuf mit ihm einen Zeugenberg, der in seinem Zentrum durch einen tektonischen Grabenbruch zerschnitten wird. Die langgestreckte Netra-Ifta-Talung teilt den Ringgau in einen nordlichen, zu dem auch der Heldrastein gehort, und einen sudlichen Bereich. Nach der naturraumlichen Gliederung Deutschlands des Instituts fur Landeskunde Bad Godesberg liegt die Landschaft um den Heldrastein in einem Bereich, in dem das Treffurt-Wanfrieder Werratal (358.1) des Unteren Werraberglands (358), der Schlierbachswald (357.91) des Fulda-Werra-Berglands (357) und der Nordliche Ringgau (483.43), eine Teileinheit der Nordwestlichen Randplatten des Thuringer Beckens (483), aufeinandertreffen. Das innerthuringische, nur landesweit einteilende System der Landesanstalt fur Umwelt und Geologie (TLUG) ordnet den Heldrastein der Einheit Werrabergland-Horselberge (3.3) in der Landschaft Muschelkalk-Platten und -Berglander (3) zu. Das Bergland um den Dreiherrenstein liegt innerhalb des Naturschutzgebiets Mertelstal - Heldrastein, das als Schutzzweck die naturnahen Buchenwalder mit den markanten Muschelkalk-Felswanden als Lebensraum seltener Tiere und Pflanzen schutzen und erhalten soll. Das Naturschutzgebiet mit einer Große von 252,5 Hektar hat die thuringeninterne Nummer 028 und den WDPA-Code 14485. Im Rahmen der Umsetzung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie wurde dann das Naturschutzgebiet im September 2000 durch das Thuringer Umweltministerium mit gleichem Namen, etwa gleichen Erhaltungszielen und Grenzen der EU-Kommission fur das landerubergreifende Netz besonderer Schutzgebiete Natura 2000 gemeldet und im Juli 2008 als FFH-Gebiet ausgewiesen. Die Kanzel des Heldrasteins mit dem „Turm der Einheit“ wurde bis zur Huneburg im Osten nicht in das FFH-Gebiet einbezogen. Das FFH-Gebiet hat die landesinterne Kennung 33, die Gebietsnummer 4827-305 und den WDPA-Code 555520194. Die Flachen der Schutzgebiete liegen innerhalb des Naturparks Eichsfeld-Hainich-Werratal. Mit der Entscheidung des Thuringer Landtages vom November 2018 wurde der Grenzbereich als Nationales Naturmonument unter Schutz gestellt. Das Grune Band Thuringen soll gemeinsam mit dem Grunen Band Hessen, das der Hessische Landtag im Januar 2023 beschloss, zahlreiche seltene Lebensraume entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze miteinander verbinden und damit zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beitragen. Große und Beschriftung Der fruhere Obmann fur historische Kleindenkmaler im Werra-Meißner-Kreis, Karlfritz Saalfeld, bezeichnet in einem Beitrag fur die Festschrift zum zehnjahrigen Bestehen der Interessengemeinschaft Heldrastein den Dreiherrenstein als einen „Grenzstein von außergewohnlicher Bedeutung“. Die zahlreichen unterschiedlichen Eintragungen auf ihm beweisen, dass er auch als Dokument anzusehen ist. Seine Hohe wird mit 135 cm angegeben. Drei der Seiten sind 36 cm, 42 cm und 36 cm breit, eine vierte Schmalseite hat eine Breite von 13 cm. Auf dem Kopf des Steines sind die Richtungen der abgehenden Grenzlinien eingemeißelt. Die Seiten wurden mit den Wappen und Initialen der angrenzenden deutschen Staaten versehen: Die Nordostseite zeigt im oberen Bereich ein Rundbild mit dem auffliegenden preußischen Adler. Darunter stehen die Buchstaben KP fur Konigreich Preußen, die Saalfeld von der Schriftart her in die Jahre um 1835 einordnet. Fur diese Zeit spreche auch die letzte Nummer der Grenzlinie in dem Grenzvertrag vom 21. Mai 1836 zwischen dem Konigreich Preußen und dem Kurfurstentum Hessen. Die Steine dieser Grenzlinie, die an der Straße zwischen Wanfried und Katharinenberg beginnt, tragen die Jahreszahl 1837. Unterhalb der Nummer 469 auf dem Dreiherrenstein ist außerdem zu lesen: Reg.B.Erfurt (Regierungsbezirk Erfurt). Auf der Sudostseite ist im oberen Bereich ebenfalls ein Rundbild eingearbeitet, auf dem das quergestreifte sachsische Stammwappen zu sehen ist. Da das Wappen auch die ubrigen wettinischen Furstenhauser fuhrten, wurden in das Rundbild die Buchstaben SWE fur Sachsen-Weimar-Eisenach und darunter die Buchstaben GS fur Großherzogtum Sachsen eingefugt. Auf der Westseite ist, im Gegensatz zu den ubrigen Seiten, kein Rundbild vorhanden. Saalfeld vermutet, dass eine Vertiefung an dessen Stelle anzeigt, dass der ehemals dargestellte hessische Lowe uberflussig wurde, nachdem das Kurfurstentum Hessen im Jahr 1866 durch das Konigreich Preußen annektiert worden war. Unterhalb des ehemaligen Rundbildes wurden dann die Buchstaben KP eingearbeitet sowie die Beschriftung Reg. B. Cassel (Regierungsbezirk Cassel), um den Unterschied zur ebenfalls preußischen Nordostseite zu veranschaulichen. Anfang der 2000er Jahre wurde der Dreiherrenstein restauriert und mit drei neuen Bronzeplaketten ausgestattet. Geschichte Die Landschaft um den Dreiherrenstein war nahezu immer Grenzland. Festgefugte Herrschaftsbezirke und eindeutige Territorien gab es vor dem 12. Jahrhundert nur in Einzelfallen. Der Verlauf der heutigen Landesgrenze war in diesem Bereich noch nicht festgelegt. Thuringische Lehnsrechte vermischten sich mit hessischen Hoheitsrechten. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen, die die Festlegung der Grenzen verhinderten oder veranderten. Unter den verschiedenen angrenzenden Herrschaftsbereichen besaß die Ganerbschaft Treffurt eine gewisse Bedeutung. Sie war eines der kleinsten Territorien des Heiligen Romischen Reiches und wurde von 1333 bis 1802 als Ganerbschaft gemeinschaftlich von der Landgrafschaft Hessen, spater Landgrafschaft Hessen-Kassel und der Landgrafschaft Thuringen und in deren Rechtsnachfolge von dem Kurfurstentum Sachsen und dem Erzbistum Mainz verwaltet. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurde der kurmainzische Kirchenstaat aufgelost und die zu ihm gehorenden thuringischen Besitzungen dem Konigreich Preußen als Ersatz fur verlorengegangene linksrheinische Gebiete zugesprochen. Nach der vollstandigen Abtretung an das Konigreich Westphalen im Jahr 1807, das sich nach der Volkerschlacht bei Leipzig im Jahr 1813 aufloste, ubernahm Ende Oktober 1813 ein preußisches Militargouvernement die Verwaltung der ehemaligen preußischen Besitzungen und die gesamte Ganerbschaft Treffurt wurde 1815 Preußen ubertragen. Preußen konnte also erst danach sein Hoheitszeichen auf der Nordostseite des Dreiherrensteins anbringen. Die Rundbilder waren zunachst ohne weitere Beschriftungen die ersten Kennzeichen des Grenzsteins. Die nachsten Eintragungen folgten in den Jahren 1836 oder 1837. So wurden nach dem Grenzvertrag zwischen Preußen und Kurhessen die Beschriftungen KP und Nr. 469 auf der Nordostseite eingefugt. Daraus ergibt sich fur Saalfeld, dass der Dreiherrenstein zwischen 1815 und 1836 gesetzt wurde. Ein Gedenkstein neben dem Grenzstein erinnert an die Geschichte und auch an die ehemalige innerdeutsche Grenze. Da sich der Grenzverlauf zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik uberwiegend an historischen Grenzen orientierte, war der Dreiherrenstein wahrend der deutschen Teilung auch ein Grenzzeichen zwischen den beiden Staaten. Besucherhinweise An dem Dreiherrenstein vorbei fuhrt der 326 km lange „Barbarossaweg X8“, der den Kyffhauser mit zahlreichen Stadten, Klostern und Burgen verbindet, die Kaiser Friedrich I. Barbarossa im Laufe seiner Regentschaft im 12. Jahrhundert aufsuchte. Auf gleicher Strecke verlaufen hier auch der „Wanderweg der Deutschen Einheit“, der mit einer Lange von 1080 km von der ostlichsten deutschen Stadt Gorlitz zu der westlichsten deutschen Stadt Aachen fuhrt, sowie der 176 km lange „Hessenweg 8“ des Wanderverbandes Hessen von Korbach im Waldecker Land nach Wanfried im Werratal. Uber einen kurzen Abstecher ist der Dreiherrenstein auch von dem „Premiumwanderweg P6“ zu erreichen. Der rund 12 km lange, als anspruchsvoll eingestufte Rundweg des Geo-Naturparks Frau-Holle-Land wurde mit dem Wandersiegel des Deutschen Wanderinstituts ausgezeichnet. Der „Ars Natura“-Kunstwanderweg, der mit dem Ziel „Erholung durch Wandern und kunstlerisches Erlebnis im Galerieraum Natur“ Skulpturen an den Wegen aufstellt, verlauft auf seiner 12. Teilstrecke von Rohrda zum Dreiherren- und Heldrastein. Beim Dreiherrenstein installierte der Kunstler Sandrino Sandinista Sander sein Wiedervereinigungs-Terminal „D“ als offene Bibliothek. „Wanderer konnen hier innehalten, sich der Geschichte erinnern und in Ruhe eines der Bucher durchblattern oder sich gar in eines vertiefen.“ Literatur Erich Hildebrand (Gesamtkonzeption und Redaktion): Land an Werra und Meißner. Ein Heimatbuch. 3. Auflage. Wilhelm Bing, Korbach 1990. Ursula Saul und der Vorstand der IG Heldrastein (Schriftleitung): Auf dem Heldrastein. Festschrift 10 Jahre IG Heldrastein – 10. Jahrestag der Deutschen Einheit. Gajewski, Ringgau 2000, ISBN 3-930342-14-6, S. 48 f. Weblinks Interessengemeinschaft Heldrastein Der Heldrastein - Felskanzel uber dem Werratal (PDF-Dokument, 215 kB) auf www.bund.net, Ausschnitt einer Publikation zum Grunen Band, Abschnitt: Zum Dreiherrenstein S. 98 f. Einzelnachweise
Der Dreiherrenstein auf dem Heldrastein an der thuringisch-hessischen Landesgrenze ist ein Grenzstein mit historischer Bedeutung. An seinem Standort trafen Herrschaftsbereiche aufeinander, die im Laufe der Jahrhunderte vielfach Namen und Besitzer wechselten.
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c-922
Die Hanauer Maus ist eine Wasserfull- und -entleerarmatur fur Reifen. Sie besteht aus vernickeltem Messing. Funktion Die Hanauer Maus kann verwendet werden, um Reifen von Land- und Baumaschinen mit Wasser zu ballastieren und wieder zu entleeren. Der Vorteil einer solchen Ballastierung ist ein niedrigerer Schwerpunkt, so dass die Achsen weniger belastet werden. Nachteilig ist der relativ hohe Zeitaufwand fur die Ballastierung. Wasser wird als Ballastiermittel verwendet, weil es preiswert und nahezu uberall verfugbar ist. Allerdings besteht bei dieser Methode Frostgefahr, die durch Zugabe von Frostschutzmittel wie Magnesiumchlorid oder durch rechtzeitiges Entleeren vermieden werden kann. Auch in diesen Fallen muss das Restwasser durch Frostschutzmittel eisfrei gehalten werden. Name Der Name „Hanauer Maus“ bezieht sich auf die EHA Ventilfabrik W. Fritz KG in Muhlheim am Main, die in Hanau gegrundet wurde und diese Armatur herstellte. „Maus“ kommt vom dunnen Entluftungsschlauch, der Ahnlichkeit mit einem Mauseschwanz hat. Handhabung Zum Fullen muss das Fahrzeug mit dem Ventil nach oben aufgebockt werden. Das normale Luftventil wird herausgeschraubt und die Hanauer Maus aufgeschraubt. Uber einen Halbzollschlauch wird Wasser eingefullt, wahrend die Luft uber den Entluftungsschlauch entweicht. Wenn aus dem Entluftungsschlauch Wasser kommt, ist der Reifen ausreichend gefullt und das normale Ventil kann wieder eingeschraubt werden. Zum Schluss wird der Reifen auf Normdruck gebracht und das Fahrzeug kann abgebockt werden. Zum Entleeren muss das Fahrzeug wieder aufgebockt und das nach unten gestellte Ventil herausgeschraubt werden. Nun entweicht ein Großteil des Wassers. Um weiteres Wasser zu entleeren, wird die Maus aufgeschraubt, das Ventil eingeschraubt und der Reifen mit Druckluft aufgepumpt. Uber die Entluftungsleitung entweicht das Wasser. Wenn kein Wasser mehr kommt, ist eine weitere Entleerung nicht mehr moglich und das normale Ventil kann wieder eingeschraubt werden. Zum Schluss wird der Reifen auf Normdruck gebracht und das Fahrzeug abgebockt. Einzelnachweise
Die Hanauer Maus ist eine Wasserfull- und -entleerarmatur fur Reifen. Sie besteht aus vernickeltem Messing.
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c-923
Der Stolperbordstein ist ein Denkmal fur Sexarbeiterinnen, die in der Zeit des Nationalsozialismus diskriminiert und ermordet wurden. Der Name verbindet zwei Begriffe: „Bordstein“ bezieht sich auf die Straßenprostitution und „Stolperstein“ steht fur die Opfer des NS-Regimes. Die Gedenkplatte befindet sich in Hamburg-St. Pauli und erinnert an eine bisher wenig erforschte Gruppe von NS-Opfern. Beschreibung Vor dem Eingangstor zur Herbertstraße an der Davidstraße nahe der Reeperbahn wurde mit Unterstutzung des Bezirks Hamburg-Mitte am 9. August 2024 eine Bodenplatte in den Bordstein eingelassen, die an die Schicksale verfolgter Prostituierter in der NS-Zeit erinnert. Die Inschrift lautet: Die Initiative dazu war vom Verein Lebendiges Kulturerbe St. Pauli und der Kirchengemeinde St. Pauli ausgegangen. Ein QR-Code auf der Platte fuhrt zu weiteren Informationen uber die Geschichte der Herbertstraße und ihrer Bewohnerinnen. Einige Initiativen beanstandeten in einem Offenen Brief, man habe bei dem Denkmal unterschiedliche Geschlechtsidentitaten nicht berucksichtigt, und die Begrenzung auf die NS-Zeit vernachlassige die Diskriminierung nach 1945. Zudem seien der Schopfer der Stolperstein-Idee, der Kunstler Gunter Demnig, oder die Hamburger Stolpersteininitiative nicht einbezogen worden. Hintergrund: Prostitution im Nationalsozialismus In der Zeit des Nationalsozialismus galten Prostituierte als „asozial“, Prostitution wurde als „Sunde und Schande fur die Volksgemeinschaft“ betrachtet. Die Tatigkeit der Frauen war nicht ausdrucklich verboten, unterlag aber strenger Uberwachung, und die Frauen wurden in der Regel kaserniert. In einigen Stadten Deutschlands errichtete man Metalltore vor Bordellgassen, um die Kontrolle zu verscharfen, wie zum Beispiel in der Herbertstraße in Hamburg-St. Pauli. Prostituierte galten im nationalsozialistischen Sozialrassismus als „unterwertige Elemente“ und als unfahig, sich in die Volksgemeinschaft einzugliedern. Sie wurden stark verscharften Kontrollen sowie behordlicher Willkur und Schikane ausgesetzt wie Kasernierung, Entmundigung, Zwangssterilisierung, Zwangsarbeit, Einweisung in Anstalten, Gefangnisse oder Konzentrationslager wie das KZ Neuengamme oder das Frauen-KZ Ravensbruck. = Von der Kontrolle zum Terror = Die nationalsozialistische Prostitutionspolitik durchlief verschiedene Phasen: von Verscharfung der Kontrolle bis zu extremen Formen von Ausbeutung und Zwang, insbesondere in den besetzten Gebieten und Konzentrationslagern. Roger/Debruyne erkennen in der nationalsozialistischen Prostitutionspolitik eine stetige Entwicklung „von der Kontrolle zum Terror“. Anfanglich war die Politik der NSDAP in Sachen Prostitution eher moralisierend und zielte vor allem auf konservativ-christliche Bevolkerungskreise ab. Ein Erlass von 1937 verlieh der Polizei weitreichende Befugnisse zur sogenannten Vorbeugenden Verbrechensbekampfung. Unter dem Vorwand, „asoziales Verhalten“ gefahrde die Sicherheit der Allgemeinheit, konnte die Polizei Menschen ohne Gerichtsverfahren und ohne zeitliche Begrenzung in sogenannte Vorbeugehaft nehmen. Was jeweils als „asoziales Verhalten“ galt, bestimmte die Polizei, die Betroffenen konnten keine Rechtsmittel dagegen einlegen. Daruber hinaus hielten nationalsozialistische Pseudowissenschaftler wie Robert Ritter und Ernst Rudin manche Prostitutierten fur erblich belastet „debil“ und „schwachsinnig“ und forderten ihre Sterilisierung. Mit beginnender Kriegsvorbereitung entwickelte sie sich jedoch in eine andere Richtung. Unter Heinrich Himmler, der die Funktion von Sexarbeit fur eine militarisierte Gesellschaft erkannt hatte, fand eine Ausweitung polizeikontrollierter Bordelle statt, insbesondere in den eroberten Ostgebieten, die von deutschem Militar besetzt waren. Die Frauen in den Bordellen wurden nach rassistischen Kriterien selektiert, denn sogenannte arische Soldaten sollten nur noch auf entsprechende Frauen treffen. Kontakte zu judischen Prostituierten waren strikt verboten und die Frauen wurden kriminalisiert. Auch richtete man spezielle Bordelle fur sogenannte Fremdvolkische ein, um Kontakte von Zwangsarbeitern zu „arischen“ Frauen zu verhindern, wobei nicht selten beschlagnahmter judischer Grundbesitz und Synagogen fur Bordellzwecke benutzt wurden. Nicht wenige Frauen wurden, manchmal als Strafmaßnahme, zur sexuellen Zwangsarbeit in Wehrmachtsbordellen und Lagerbordellen verpflichtet, die mannlichen Haftlingen als Anreiz zur Mehrarbeit dienen sollten. = Die Situation im Konzentrationslager = Wie alle im KZ als „asozial“ Eingestufte trugen Prostituierte einen schwarzen Winkel an der Kleidung. Manche mussten einen grunen Winkel tragen und waren damit als „Berufsverbrecher“ oder als Sicherungsverwahrte markiert, selbst wenn sie nur Kleindelikte begangen hatten wie zum Beispiel eine der zahllosen Kontrollregeln nicht zu beachten. Als „asozial“ Eingestufte standen Sexarbeiterinnen in der Lagerhierarchie auf unterster Stufe und wurden nicht selten von ihren Mithaftlingen verachtet. Wie viele von ihnen im KZ umkamen oder durch die Schikane von Polizei und Gestapo getotet, in den Suizid getrieben oder verletzt wurden, ist nicht genau erforscht. Schatzungen zufolge befanden sich mindestens 70.000 Menschen mit schwarzem oder grunem Winkel in den Konzentrationslagern. Ihre Todesrate lag besonders hoch. Aufarbeitung nach 1945 Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurde die Diskriminierung von Menschen, die von der sozialen Norm abwichen wie zum Beispiel Sexarbeiterinnen, nicht grundsatzlich geandert, sondern haufig in anderer Form fortgesetzt. Sexarbeiterinnen wurden nicht als NS-Opfer anerkannt und erhielten keinerlei Wiedergutmachung oder Entschadigung. Die Betroffenen schwiegen meist aus Scham vor erneuter Stigmatisierung. Im Mai 1946 gaben aber zwei ehemalige KZ-Haftlinge, die zu diesen Kategorien gehorten, eine Zeitschrift mit dem Titel Wahrheit und Recht! „Schwarz-Grun“. Internes Informationsblatt der Konzentrationare Deutschlands der Schwarzen und Grunen heraus, von der insgesamt drei Ausgaben bekannt sind. Ihr Ziel war die moralische Anerkennung des Leidens von „Asozialen“ und „Berufsverbrechern“ sowie der Kampf um materielle Entschadigung dieser beiden KZ-Haftlingskategorien. Erst im Fruhjahr 2020 stimmten fast alle Parteien des Deutschen Bundestags (mit Ausnahme der AfD) einem Antrag der damaligen Regierungsfraktionen zu. Sie folgten damit einem Aufruf aus der Zivilgesellschaft. Der zentrale Satz des Textes lautet: „Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequalt und ermordet.“ Damit wurde zumindest ein Teil des Unrechts, dem Sexarbeiterinnen im Nationalsozialismus ausgesetzt waren, symbolisch anerkannt. Literatur Gisela Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus: Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. MV Wissenschaft 2010, ISBN 978-3-86991-090-1. Elke Frietsch / Christina Herkommer (Hg.): Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Asthetisierung von Korper, „Rasse“ und Sexualitat im „Dritten Reich“ und nach 1945. Transcript Verlag 2009, ISBN 978-3-89942-854-4. Jacob, Frank: Die Polizei und Prostitutionskontrolle im urbanen Raum. Wurzburg 1939–1945 als unterfrankische Fallstudie. In: Gollnitz, M., Mecking, S. (Hg.): Polizei und Sicherheit. Geschichte und Ethik der Polizei und offentlichen Verwaltung. Springer VS, Wiesbaden 2024. Maren Roger, Emmanuel Debruyne: From Control to Terror: German Prostitution. Policies in Eastern and Western European territories during both World Wars. In: Gender & History, Vol. 28, Nr. 3, 2016, S. 687–708, ISSN 0953-5233. Julia Roos: Backlash against Prostitutes' Rights: Origins and Dynamics of Nazi Prostitution Policies. In: Journal of the History of Sexuality, Vol. 11, No. 1/2, Special Issue: Sexuality and German Fascism, University of Texas Press 2002, S. 67–94. Robert Sommer: Das KZ-Bordell: Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Brill | Schoningh 2022, ISBN 978-3-506-79334-8. Frauke Steinhauser: Als „asozial“ im KZ inhaftierte Prostituierte. Zwei Fallbeispiele sozialrassistischer und geschlechtsspezifischer Verfolgung. In: Verein fur kritische Geschichtsschreibung e. V., WerkstattGeschichte, Marz 2023, Jg. 31, Ausgabe 87. DOI:10.14361/zwg-2023-870108. Gaby Zurn: Von der Herbertstraße nach Auschwitz. In: Opfer und Taterinnen: Frauenbiographien des Nationalsozialismus. Hg. Angelika Ebbinghaus, Frankfurt am Main, 1996, ISBN 978-3-596-13094-8. Einzelnachweise
Der Stolperbordstein ist ein Denkmal fur Sexarbeiterinnen, die in der Zeit des Nationalsozialismus diskriminiert und ermordet wurden. Der Name verbindet zwei Begriffe: „Bordstein“ bezieht sich auf die Straßenprostitution und „Stolperstein“ steht fur die Opfer des NS-Regimes. Die Gedenkplatte befindet sich in Hamburg-St. Pauli und erinnert an eine bisher wenig erforschte Gruppe von NS-Opfern.
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c-924
Sumelocenna war eine romische Siedlung, die im heutigen Stadtgebiet der baden-wurttembergischen Stadt Rottenburg am Neckar lag. Sie gehorte damals zu den wichtigsten rechtsrheinischen Siedlungen der romischen Provinz Obergermanien. Sie wurde ungefahr 110 n. Chr. gegrundet und um 260 n. Chr., nach dem Fall des Limes, verlassen, worauf sie verfiel. Sie hatte eine Gesamtflache von etwa 50 ha und mehrere Tausend Einwohner. Ein großer Teil der romischen Stadt ist heute uberbaut. Das romische Stadtmuseum in Rottenburg zeigt die wichtigsten Funde. Name der Stadt Der antike Name Sumelocenna wird von dem keltischen Namen Sumelogenos abgeleitet, was „Sohn des Gottes Sumelo“ bedeutet. Sumelocenna ist auf mehreren Inschriften nachgewiesen, die in Rottenburg und anderen romischen Siedlungen gefunden wurden, wie zum Beispiel im benachbarten Kastell Kongen, dem antiken Grinario. Lage Sumelocenna lag links des Neckars im heutigen Stadtgebiet von Rottenburg am Neckar. Rottenburg liegt rund neun Kilometer sudwestlich von Tubingen am Ubergang des Neckars aus dem engen Tal des Oberen Gaus in ein weites Tal zwischen den Hohen des Schonbuchs im Norden und dem Rammert im Suden. Geologisch gesehen lag Sumelocenna am Ubergang von Muschelkalk zum Keuper. Diese besondere Lage bietet einerseits einen naturlichen Schutz im Westen und Norden durch die vom Neckar aufsteigenden Hange, die in einer Hochflache enden, welche sich bis zum Schwarzwald hinzieht. Andererseits floss im Suden der Stadt der Neckar, wahrend sich die Landschaft im Osten zu einem breiten Tal offnete. Die Stadt war an das romische Straßennetz angebunden. In Sud-Nord-Richtung lag Sumelocenna an der Romerstraße Neckar–Alb–Aare, die von der Schweiz kommend uber Rottweil (Arae Flaviae) uber Kongen (Grinario) an den Obergermanisch-Raetischen Limes fuhrte. Ab Grinario bestand auch eine Verbindung nach Osten nach Augsburg (Augusta Vindelicum). Nach Westen fuhrte eine Straße erst nach Norden zur Civitas Portus (Pforzheim), wo sie auf die Fernstraße Mainz (Mogontiacum) – Bad Cannstatt – Augsburg stieß. Die Lage am Neckar als wichtigem Transportweg sowie die Lage zwischen Limes und Schwarzwald als Grenzhinterland begunstigten die Stadtentwicklung. Geschichte = Vorromische Zeit = Rottenburg am Neckar beziehungsweise Sumelocenna zahlen zu den altesten Siedlungsplatzen in Baden-Wurttemberg. Hier existierten bedeutende Siedlungen in jungsteinzeitlicher Zeit und zahlreiche Funde belegen die Anwesenheit von Jagern zu der Zeit des Neandertalers in der Altsteinzeit. Obwohl bis 2024 noch keine Siedlungskontinuitat belegt wurde, konnten keltische Spuren aus Oberflachenfunden nachgewiesen werden. Hierbei handelt es sich um Scherben, die ostlich des Stadtgebietes gefunden worden waren und der Mittel- bis Spatlatenezeit zugeordnet wurden. = Romische Zeit = Die Forschung gab lange den Zeitraum um 85 – 90 n. Chr. als Grundungsdatum der romischen Siedlung Sumelocenna an, das in die Regierungszeit des Kaisers Domitian (81 – 96 n. Chr.) fallen wurde. Neuere Erkenntnisse datieren die Grundung eher auf 110 – 115 n. Chr., das heißt auf die Zeitspanne, in der der Odenwald-Neckar-Alb-Limes angelegt wurde. Sumelocennas Grundung fiel also mit der Grenzsicherung zusammen und erfolgte unter der Regentschaft von Kaiser Trajan (98 – 117 n. Chr.). Inwieweit zu der Stadt ein Kastell gehorte (ORL 61), ist nicht sicher nachgewiesen. Ein im Nordwestteil der Siedlung gefundener Jupiter-Altar trug die Aufschrift einer 500 bis 1000 Mann starken Reitereinheit, der Ala Vallensium. Diese Einheit wurde bislang an keinem anderen Ort nachgewiesen und die bloße Nennung des Namens ist kein Beweis fur die Existenz eines Kastells. Konrad Miller mutmaßte die Existenz eines Kastells sudwestlich von Sumelocenna auf der Gemarkung Bei der Altstadt. Am Ende der Regentzeit von Kaiser Trajan (98 – 117 n. Chr.) war Sumelocenna Sitz eines Prokurators der kaiserlichen Domane saltus Sumelocennensis. Etwa Mitte des zweiten Jahrhunderts wurde Sumelocenna Hauptort der civitas Sumelocennensis, das heißt der Verwaltungssitz eines großeren Gebietes, welches das mittlere Neckarland umfasste. Dieses reichte etwa vom Gebiet der Rottweiler Siedlung (municipium Arae Flaviae) im Suden, dem Schwarzwald im Westen, der ratischen Provinzgrenze im Osten bis jenseits von Kongen (Grinario) im Norden. Die Blutezeit von Sumelocenna war von 150 n. Chr. bis zum Beginn des dritten Jahrhunderts. In dieser Zeit entwickelte sich die Siedlung zu einem bedeutenden Gemeinwesen in der romischen Provinz Obergermanien. Die durch eine Mauer geschutzte Siedlung hatte intra muros eine Flache von rund 28 ha und etwa die gleiche Siedlungsflache extra muros. Die Anzahl der Einwohner von Sumelocenna wird auf mehrere Tausend Personen geschatzt. Die Einwohner waren wahrscheinlich hauptsachlich Kelten, unter denen sich nach uberlieferten Inschriften auch Angehorige des Stammes der Helvetier befanden. Innerhalb der Stadtmauer uberwog eine stadtische Architektur mit mehrgeschossigen, ziegelgedeckten Hausern, was die neueren Ausgrabungen des Landesdenkmalamtes zeigten. Daneben gab es auch kleinere, stroh- und schindelgedeckte Holzbauten. Wahrend der Blutezeit wurden die wichtigsten urbanen Bauwerke errichtet wie die Stadtmauer, eine Frischwasserversorgung durch einen Aquadukt, mehrere reprasentative Bauten, Tempelbauten und Bader sowie ein Abwassersystem mit offentlichen Latrinen. Extra muros lagen Handwerksbetriebe wie Topfereien und Steinmetzateliers sowie die Begrabnisstatten. Auf der rechten Neckarseite sind ebenfalls romische Siedlungsspuren nachgewiesen, die bei der romischen Straße am Neckarubergang als Bruckenkopfsiedlung gedeutet wird. Nachdem um das Jahr 260 die Alamannen den Limes uberrannten und das Neckargebiet besetzten, verfiel die von ihren romischen Bewohnern verlassene Stadt. = Nachromische Zeit = Die fruhmittelalterlichen Siedlungsraume befanden sich nicht auf dem Gelande der romischen Stadt, sondern nordostlich im Bereich von Sulchen und jenseits des Neckars im Rottenburger Stadtteil Ehingen. Sulchen war der namensgebende Mittelpunkt eines fruhmittelalterlichen Bezirks, des Sulchgaus, dessen Existenz beispielsweise die Lebensgeschichte des von hier stammenden Heiligen Meinrad (um 800 – 861) belegt. Romische Bauten in Sumelocenna Ein Uberblick uber das Leben in Sumelocenna bietet das Rottenburger Sumelocenna-Museum. = Stadtmauer = Sumelocenna war im 3. Jahrhundert von einer etwa 2000 Meter langen Stadtmauer umgeben, wobei das ummauerte Siedlungsgebiet rund 28 ha groß war. Ein genaues Baudatum lasst sich noch nicht angeben. Die Vicusmauer hatte eine Fundamentbreite von etwa 2,2 m und eine Hohe von mindestens 5 m. Die 1,75 m breite Mauer wurde in Zweischalentechnik gebaut. Das Mauerinnere setzt sich aus einer regellosen Mischung von Kalkbruchsteinen und Kalkmortel mit Kiesmagerung zusammen. Das Maueraußere bestand aus gleichmaßig behauenen Steinquadern aus Muschelkalk. Auf der Mauer befand sich ein Wehrgang mit Gesimssteinen aus Stubensandstein mit sauber gearbeiteter Hohlkehle sowie Zinnen mit halbrunden, bis 2,5 m langen Zinnendeckelsteinen. Feindseitig vor der Mauer lag eine 2 – 2,6 m breite Berme sowie ein Spitzgraben von 7 m Breite. Ein kurzes Stuck der originalen nordlichen Stadtmauer befindet sich an der Wittenberger Straße. Im Norden, an der Seebronner Straße, stand ein fast quadratischer Wehrturm von 5,8 m × 5,5 m Seitenlange. Ein weiter Wehrturm befand sich in der Mechthildstraße. An der heutigen Jahnstraße stand das Stadttor mit einem Torturm von 6,6 m × 5,3 m, durch das die Straße nach Kongen verlief. = Bader = Drei Badanlagen sind in Sumelocenna nachgewiesen, zwei am ostlichen Stadtrand und eine im Stadtzentrum. Das Bad I liegt an der Mechthildstraße, ungefahr dort, wo die Stadtmauer einen Knick nach Nordwesten macht. Das Bad war ein offentliches Gebaude vom Reihentypus mit einer Große von mindestens 39 m × 7,7 m. Ein Kaltbad (frigidarium), zwei Laubader (tepidaria), ein Warmbad (caldarium), moglicherweise ein Schwitzbad (sudatorium) sowie ein weiterer beheizbarer Raum konnten nachgewiesen werden. Drei Heizraume vervollstandigen das Bild des Bades. Bad II liegt unter dem Eugen-Bolz-Gymnasium und ist als Museumsraum zuganglich. Da es von drei Mauern umgeben war, wird es als Privatbad angesehen. Ein Umkleideraum (apodyterion), ein Kaltbad mit Becken (piscina) und ein Laubad sowie ein Warmbad mit weißem Tonnengewolbe befanden sich in dem 18 m × 11 m großen Gebaude. Die Wande der Raume waren mit farbenprachtigen Malereien verziert, das heißt mit geometrischen Dekors und Fischdarstellungen. Bad III war wahrscheinlich die ausgedehnte, zentrale Thermenanlage der Stadt mit beheizbaren Trakten und einem Peristyl. Ein Großteil des Bades wurde zerstort, als der mittelalterliche Stadtgraben ausgehoben wurde. Die Ost-West-Ausdehnung dieses offentlichen Bades betrug etwa 60 m. In der heutigen Spiegelgasse wurde ein Teil dieser Anlage aufgedeckt, genauer der Teil eines apsidialen Raumes mit Fußboden- und Wandheizung. Die Apsis mit einem Durchmesser von 9 m gehorte zum Warmbad. Die Ostbegrenzung des Bades reichte bis zum heutigen Hotel „Martinshof“. = Tempelanlage = Im Nordwesten von Sumelocenna befand sich im hochst gelegenen Teil der Stadt ein ummauerter Tempelbereich. Er wurde zu Beginn des 3. Jahrhunderts errichtet, nachdem die Holzbauten, die an dieser Stelle gestanden hatten, bei einem Brand zerstort worden waren. Der Tempelbereich hatte eine Ausdehnung von 53 m × mindestens 100 m. Sieben Gebaude wurden in diesem Bereich aufgedeckt. Die zwei dicht beieinander liegenden gallo-romischen Umgangstempel waren 17 m lang und 18 m breit. Sudwestlich davon lagen zwei kleine Tempel mit quadratischer Grundflache, die eine Seitenlange von etwa 5,5 m hatten. Weiter gehorte zu dem Komplex ein Priesterhaus von 13 m × 8 m, das uber mehrere Raume verfugte. Die Ausubung verschiedener Kulte konnte durch Bildwerke und Weihinschriften nachgewiesen werden, so der Kaiserkult und die Verehrung mehrerer Gottheiten wie Jupiter, Juno, Minerva, Apollo, Viktoria, Mars, Diana, Merkur, Herkules, Aericura sowie Epona und Mithras. = Frischwasserversorgung und Aquadukt = Die Wasserleitung aus dem Rommelstal nach Rottenburg ist mit 7,16 km die langste gemauerte romische Wasserleitung im rechtsrheinischen Gebiet der Provinz Germania superior. Die Quellfassung lag ungefahr 1,2 km oberhalb von Rottenburg-Obernau im Tal des Seltenbachs. Der Kanal von 0,32 m Breite und 0,35 m Hohe wurde von zwei mit Ziegelbeton verputzen Mauern aus Muschelkalksteinen gebildet. Das Fundament des Kanals hatte eine Breite von 1,7 m und eine Hohe von 0,6 m. Ursprunglich war der Kanal wahrscheinlich offen, er wurde spater teilweise uberwolbt, um zu vermeiden, dass Hangrutschungen den Wasserlauf behindern. Das mittlere Gefalle der Leitung betrug 0,33 %, was einer Hohendifferenz von etwa 25 m auf der gesamten Lange des Aquadukts entspricht. Die Wasserforderung lag bei etwa 74 Liter pro Sekunde. Das Frischwasser wurde in einen Sammelbehalter geleitet, der wahrscheinlich am hochsten Punkt der Stadt unter der heutigen Landesvollzugsanstalt lag. Von dort aus konnte das Wasser durch Holz-, Ton- und Bleirohre in der Stadt verteilt werden. = Abwasserentsorgung und offentliche Latrine = Sumelocenna verfugte uber ein gut strukturiertes Kanalisationssystem, was die fortschrittlichen hygienischen Verhaltnisse in romischer Zeit unterstreicht. Es belegt ebenfalls die stadtische Struktur dieses Gemeinwesens. Der Hauptkanal (cloaca maxima), in den weitere kleinere Kanale mundeten, war begehbar. Ein etwa 2,10 m tiefer Kanal konnte am Rande von Bad III nachgewiesen werden, der aus zwei Lagen ubereinandergestellter Sandsteinquader errichtet wurde. Die Sohle des Kanals war mit Ziegelplatten ausgekleidet. An diesen Kanal war die offentliche Latrine angeschlossen, die beim Bad III gefunden wurde. Diese Latrine wurde im spaten 2. Jahrhundert errichtet und bestand aus einem 32 m langen und 5,3 m breiten Raum. Da er unter dem Straßenniveau lag, wurde er uber eine zwei Meter breite, elfstufige Steintreppe betreten, die von der haufigen Benutzung im Laufe der Zeit stark ausgetretene Stufen hatte. Der Boden war mit großen Sandsteinplatten ausgelegt und Sandsteinsaulen standen im Abstand von je vier Metern zentral entlang der Langsachse des Raumes. Ihre Hohe von drei Metern belegt die Raumhohe von ebenfalls drei Metern. Die weiß verputzten Wande waren mehrfarbig bemalt, unter anderem mit Girlanden, Bandern und Pflanzen nachempfundenen Ornamenten. An der Nordostwand des Raumes verlief ein Abwasserkanal. Der Raum diente als Latrine, eine offentliche Bedurfnisanstalt. Uber dem Kanal befanden sich wohl Sitze aus Holz und davor verlief eine schmale Rinne mit Frischwasser zur Reinigung. Die ausgetretenen Stellen im Fußboden belegen einen Abstand zwischen den Sitzbrillen von 0,9 m. Dieser Latrinenraum konnte von 35 Personen gleichzeitig benutzt werden. Er ist einmalig im suddeutschen Raum. Weblinks Stuck der Wasserleitung Blick auf die ausgegrabene Latrine Fresken der Latrinenwand Junostatue im Tempelbezirk Einzelnachweise
Sumelocenna war eine romische Siedlung, die im heutigen Stadtgebiet der baden-wurttembergischen Stadt Rottenburg am Neckar lag. Sie gehorte damals zu den wichtigsten rechtsrheinischen Siedlungen der romischen Provinz Obergermanien. Sie wurde ungefahr 110 n. Chr. gegrundet und um 260 n. Chr., nach dem Fall des Limes, verlassen, worauf sie verfiel. Sie hatte eine Gesamtflache von etwa 50 ha und mehrere Tausend Einwohner. Ein großer Teil der romischen Stadt ist heute uberbaut. Das romische Stadtmuseum in Rottenburg zeigt die wichtigsten Funde.
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c-925
Josue Dupon, auch Josue Dupon oder Josue Dupon, (* 22. Mai 1864 in Ichtegem (Flandern); † 13. Oktober 1935 in Berchem, einem Stadtteil von Antwerpen) war ein belgischer Bildhauer, Maler und Medailleur. Bei den Kunstwettbewerben bei den Olympischen Spielen gewann er in der Kategorie Plaketten postum die Bronzemedaille bei den Sommerspielen 1936 in Berlin mit seinem Werk Reiterplaketten. Leben und Ausbildung Dupons alterer Bruder Karel war ebenfalls Bildhauer. Er brachte Josue Dupon im Atelier seines Lehrers Clement Carbon (1835–1907) unter, der in Roeselare an der Akademie der Stadt lehrte und dort ein Atelier fuhrte, in dem religiose Kunst im neugotischen Stil hergestellt wurde. Josue Dupon erhielt seine kunstlerische Ausbildung zunachst in Abendkursen an der Akademie von Roeselare sowie in der Koniglichen Akademie fur Schone Kunste in Antwerpen (1884) unter der Leitung von Joseph Geefs (1808–1885) und Jacob De Braeckeleer und spater (1885–1887) unter der Leitung von Thomas Vincotte (1850–1925). Von 1905 bis 1934 lehrte Dupon selbst Bildhauerei an der Antwerpener Akademie. Daruber hinaus war er Mitglied des Verwaltungsrats des Antwerpener Museums der Schonen Kunste. Dupon starb mit 71 Jahren. Er wurde in Berchem beerdigt; sein Grab wurde 2001 aufgelost. Arbeiten Bekannt wurde Josue Dupon vor allem als Bildhauer von realistischen Tierstatuen, oft in einem uberlebensgroßen Format. Mehrere Statuen von Dupon sind im Antwerpener Zoo zu sehen, darunter der Kameltreiber (1901) auf dem Dach des Verwaltungsgebaudes und die zwei Bronzefiguren Pelikane und Geier (1903) uber dem Eingang des Zoos. Er schuf zwei Bronzegruppen – Samson, den Lowen totend (1890 oder 1891) und Lowengruppe (1909/1910 oder 1911) – fur den Garten vor der Nationalbank in Antwerpen an der Frankrijklei. Heute stehen sie an der Jan Van Rijswijcklaan. Das Ensemble ist auch unter dem Namen Beyaert-Brunnen bekannt. Er wurde aus Naturstein und Bronze 1886 vom Architekten Henri Beyaert (1823–1894) gestaltet, der ebenfalls das Gebaude der Nationalbank entwarf, das 1879 eingeweiht wurde. Henri Beyaert ist einer der wichtigsten Vertreter der eklektischen Architektur in Belgien. Neben monumentalen Figurengruppen und Denkmalern schuf Dupon auch kleinere chryselephantine Kunst, das sind Werke aus Elfenbein kombiniert mit Edelmetallen. Im Jahr 1891 erhielt Josue Dupon die Goldmedaille des Antwerpener Kunstsalons fur sein Werk Samson, der den Lowen zerreißt und den zweiten Preis von Rom. = Gestaltung der Medaillen fur die Olympischen Sommerspiele 1920 in Antwerpen = Dupon gestaltete die Medaillen fur die Olympischen Sommerspiele 1920. Auf deren Vorderseite ist ein nackter Athlet zu sehen, der in seiner linken Hand ein Palmblatt und eine Lorbeerkrone, Symbole des Sieges, halt. Dahinter eine weibliche Figur, die in eine Posaune blast. Im Hintergrund ein Fries mit griechischem Motiv (Maander) und darunter die Aufschrift VII OLYMPIADE. Die Ruckseite der Medaille zeigt den Brabobrunnen, der an die Legende des romischen Soldaten Silvius Brabo erinnert, der den Riesen Druon Antigoon totete, die Hand abhackte und weit wegwarf, weil er die Schiffe auf der Schelde ausraubte (der Name „Antwerpen“ kommt der Legende nach von „geworfene Hand“). Dahinter sind die Liebfrauenkathedrale und der Hafen von Antwerpen zu sehen; in der oberen Halfte die Aufschrift „ANVERS MCMXX“ (1920). Zwischen dieser Aufschrift wurde der Name des Medaillengewinners eingraviert. Hier ist es Carl T. Osburn (1884–1966), einer der erfolgreichsten amerikanischen Schutzen; er gewann in Antwerpen vier Goldmedaillen. Bildergalerie Ehrungen Leopoldsorden (Belgien), Ritter (am 19. Marz 1903) = Gewinn der Bronzemedaille bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin = Dupon schuf 1934 sechs Medaillen fur die Spiele 1936 und reichte sie im Bereich „Medaillen“ ein. Vorgesehen war, dass ein Kunstler ein Werk einreicht. Die sechs Medaillen mit den laufenden Nummern von 32 bis 37 hatten laut Ausstellungskatalog die Namen Hindernis (L’obstacle), Doppelsprung (Le Saut en couple), Achtung, Teddy! (Achtung, Teddy), Liebkosung (La caresse), Vor dem Hindernis (Devant l’obstacle) und Pokalsieger (Le vainqueur de la coupe). Der Verbleib der sechs Medaillen von Dupon ist unbekannt. Die Kunstwettbewerbe im Bereich „Reliefs und Medaillen“, die 1932 noch zusammen vergeben worden waren, wurden 1936 in die beiden getrennten Veranstaltungen „Reliefs“ und „Plaketten“ aufgeteilt. Die Silbermedaille bei den „Plaketten“ gewann der Italiener Luciano Mercante, eine Goldmedaille wurde nicht vergeben. Es scheint, dass Dupon seine Bronzemedaille fur die Gesamtheit seiner Werke erhielt, was ungewohnlich war, da Medaillen fur ein einzelnes Werk verliehen werden sollten. Er erhielt die Medaille postum, knapp ein Jahr nach seinem Tod. Literatur Dupon, Josue. In: Ulrich Thieme (Hrsg.): Allgemeines Lexikon der Bildenden Kunstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begrundet von Ulrich Thieme und Felix Becker. Band 10: Dubolon–Erlwein. E. A. Seemann, Leipzig 1914, S. 161 (Textarchiv – Internet Archive). Weblinks Arbeiten von Josue Dupon im KMSKA in Antwerpen Josue Dupon im Royal Library of Belgium (KBR) Online Catalogue Daten zu Josue Dupon auf RKD Research Arbeiten von Josue Dupon in Musees royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brussel Kunstenaar: Dupon Josue auf standbeelden.be Werke von Josue Dupon auf artnet Josue Dupon | Smithsonian American Art Museum (si.edu) Josue Dupon in der Datenbank von Olympedia.org (englisch) Einzelnachweise
Josue Dupon, auch Josue Dupon oder Josue Dupon, (* 22. Mai 1864 in Ichtegem (Flandern); † 13. Oktober 1935 in Berchem, einem Stadtteil von Antwerpen) war ein belgischer Bildhauer, Maler und Medailleur. Bei den Kunstwettbewerben bei den Olympischen Spielen gewann er in der Kategorie Plaketten postum die Bronzemedaille bei den Sommerspielen 1936 in Berlin mit seinem Werk Reiterplaketten.
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c-926
Der Kaikoura District ist eine Gebietsverwaltung in Neuseeland, die an der ostlichen Kuste der Sudinsel im nordlichen Teil von Canterbury liegt. Die Region war historisch ein wichtiges Siedlungsgebiet der Maori seit Beginn der Besiedlung. Die europaische Landnahme begann in den 1840er Jahren mit der Grundung von Stationen zum Walfang. Nach deren Niedergang orientierte sich die Region zum Fischfang hin. Das namengebende Zentrum des Distriktes, Kaikoura, war historisch ein kleines und isoliertes Fischerdorf. Straßenverbindungen waren vor 1900 limitiert auf Packpferdwege, und eine Eisenbahnverbindung entstand erst mit der Eroffnung der Main North Line im Jahr 1945. In der Gegenwart ist der Tourismus zu einem wichtigen Wirtschaftszweig in der Gegend geworden, neben der Landwirtschaft und der Erzeugung von Kase. Heritage New Zealand klassifiziert die Statten der New Zealand Heritage List / Rarangi Korero gemaß dem Heritage New Zealand Pouhere Taonga Act 2014 und unterscheidet dabei zwischen der Kategorie 1 („Statte von spezieller oder herausstehender historischer oder kultureller Bedeutung“) und der Kategorie 2 („Statten von historischer oder kultureller Bedeutung“). Statten, die mehrere zueinander in Beziehung stehende Objekte zusammenschließen, sind Historic Areas. Außerdem werden Statten, die fur die Maori-Communitys von Bedeutung sind, gesondert klassifiziert, darunter wahi tapu fur Statten mit spiritueller, traditioneller oder ritueller Wichtigkeit. Zehn Statten innerhalb des Kaikoura District sind Bestandteil der New Zealand Heritage List, davon sieben in der Kategorie 2, eine in der Kategorie 1 sowie eine Historic Area und ein wahi tapu. Zwei fruhere Statten in der Kategorie 2 wurden inzwischen zerstort. Bestehende Statten Fruhere Statten Diese Statten waren fruher Gegenstand der New Zealand Heritage List, wurden aber seitdem zerstort. Belege
Der Kaikoura District ist eine Gebietsverwaltung in Neuseeland, die an der ostlichen Kuste der Sudinsel im nordlichen Teil von Canterbury liegt. Die Region war historisch ein wichtiges Siedlungsgebiet der Maori seit Beginn der Besiedlung. Die europaische Landnahme begann in den 1840er Jahren mit der Grundung von Stationen zum Walfang. Nach deren Niedergang orientierte sich die Region zum Fischfang hin. Das namengebende Zentrum des Distriktes, Kaikoura, war historisch ein kleines und isoliertes Fischerdorf. Straßenverbindungen waren vor 1900 limitiert auf Packpferdwege, und eine Eisenbahnverbindung entstand erst mit der Eroffnung der Main North Line im Jahr 1945. In der Gegenwart ist der Tourismus zu einem wichtigen Wirtschaftszweig in der Gegend geworden, neben der Landwirtschaft und der Erzeugung von Kase. Heritage New Zealand klassifiziert die Statten der New Zealand Heritage List / Rarangi Korero gemaß dem Heritage New Zealand Pouhere Taonga Act 2014 und unterscheidet dabei zwischen der Kategorie 1 („Statte von spezieller oder herausstehender historischer oder kultureller Bedeutung“) und der Kategorie 2 („Statten von historischer oder kultureller Bedeutung“). Statten, die mehrere zueinander in Beziehung stehende Objekte zusammenschließen, sind Historic Areas. Außerdem werden Statten, die fur die Maori-Communitys von Bedeutung sind, gesondert klassifiziert, darunter wahi tapu fur Statten mit spiritueller, traditioneller oder ritueller Wichtigkeit. Zehn Statten innerhalb des Kaikoura District sind Bestandteil der New Zealand Heritage List, davon sieben in der Kategorie 2, eine in der Kategorie 1 sowie eine Historic Area und ein wahi tapu. Zwei fruhere Statten in der Kategorie 2 wurden inzwischen zerstort.
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c-927
Die Bonner Belagerungsmunzen von 1583, auch Bonner Notmunzen und Bonner Notklippen genannt, sind einseitig gepragte Munzen des Kolner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg (1577–1583), die in der Belagerung von Bonn im Jahr 1583 als Sold fur seine Truppen im Truchsessischen- oder Kolnischen Krieg geschlagen wurden. Gebhard hatte einen Waffengang gewagt, besetzte im November 1582 die Residenzstadt Bonn und gab fur das Erzstift die protestantische Religion frei. Kaiser Rudolf II. (1576–1612), die Kurie und der Herzog von Bayern, Wilhelm V. der Fromme (1579–1598, † 1626), griffen nun ihrerseits bewaffnet in den Konflikt ein und bewirkten die Wahl des bayerischen Prinzen Ernst zum neuen Erzbischof von Koln. Graf Salentin von Isenburg und Ferdinand von Bayern (1550–1608), der Bruder von Ernst, schlossen im Dezember 1583 mit ihren Belagerungstruppen die besetzte Stadt Bonn ein. Als Bonn eingeschlossen war, musste Gebhard fur die angeworbenen Soldaten Notklippen ausgeben lassen. Munzbeschreibung Beschrieben ist die oben abgebildete Bonner Belagerungsmunze aus Johann David Kohlers Historische Munzbelustigung. Kohler bezeichnet das oben abgebildete, einseitig gepragte Stuck als „des Erz-Bischofs und Chur-Furstens zu Coln, Gebhards, in der Belagerung Bonn A[nno] 1583 geschlagene Noth-Munze“. Sie zeigt ein kleines Oval, in dem sich mittig auf dem Wappen des Erzbistums Koln, dem schwarzen Kreuz auf weißem Grund, ein Wappenschild mit drei ubereinander gehenden Lowen befindet. Das ist das Wappen des Herzogtums Schwaben, welches das Geschlecht der Truchsesse von Waldburg fuhrte. Links oben im Oval befindet sich der Buchstabe „B“ und rechts oben die Zahl 83. Im Zusammenhang bedeutet das Bonnae (Bonn) 1583. Um das Oval in den vier Winkeln der Klippe stehen vier besonders eingeschlagene „G“, die den Namen des Erzbischofs Gebhard andeuten. Das Munzbild von Belagerungsmunzen ist im Allgemeinen sehr einfach gestaltet. In August Brause-Mansfelds Tafel VI werden etliche Munzen der „Belagerung Bonn 1583“ gezeigt. Sie entsprechen prinzipiell der oben abgebildeten Bonner Notklippe aus Kohlers Munzbelustigung. Die als Nummer 1 vorgestellte unterscheidet sich von denen der Nummern 2 bis 13 im Wesentlichen nur dadurch, dass ein runder Schrotling fur die Pragung verwendet wurde. Das „S“ unter den jeweiligen Abbildungen der Notmunzen bedeutet Silber. Die Abmessungen der sehr seltenen Stucke sowie die einzelnen Munznominale sind nicht bei Johann David Kohler und bei August Brause-Mansfeld angegeben. E. A. Wuest nennt die Nominale dieser Belagerungsmunzen Taler, halbe Taler und viertel Taler. Bei einigen Stucken ist ihr Gewicht in Lot angegeben, das etwa einem Taler und Talerteilstucken entspricht. Die geworbenen Truppen mussten mit gutem Geld bezahlt werden. Karl Truchseß, der Bruder des exkommunizierten und abgesetzten Gebhard Truchseß, hatte die Belagerungsmunzen von Bonn, nachdem die Stadt vom Verkehr mit der Außenwelt getrennt war, im Jahr 1583 im Auftrag seines Bruders aus Kirchen- und Innungssilber schlagen lassen. „Doch waren es sicherlich hochstens Munzen im Wert von ein paar tausend Thaler gewesen“, so der Historiker, „was der Truchseß durch diesen Kirchenraub an Geld sich verschaffen konnte“. Geschichtliche Zusammenhange Der 1577 zum Kolner Erzbischof gewahlte Neffe des Kardinals von Augsburg, Gebhard Truchseß von Waldburg, war nichts weniger als ein katholischer Priester. Gebhard hatte den Plan, seine Geliebte, die schone evangelische Grafin Agnes von Mansfeld-Eisleben zu heiraten und das Erzstift Koln trotz des geistlichen Vorbehalts als weltliches Furstentum weiterzufuhren. Er trat deshalb am 19. Dezember 1582 zur reformierten Kirche uber, verkundete im Januar des folgenden Jahres die Religionsfreiheit und heiratete am 2. Februar 1583 in Bonn seine Geliebte. „Ob Gebhards Ubertritt zum Protestantismus noch andere Grunde hatte, als seinen Wunsch, Agnes von Mansfeld in Ehren zu besitzen, muss dahingestellt bleiben.“ Kaiser Rudolph II. forderte Erzbischof Gebhard zum Rucktritt auf. Am 1. April 1583 wurde Gebhard von Papst Gregor XIII. exkommuniziert und abgesetzt. Es galt fur Kaiser und Papst, den drohenden Zusammenbruch des Katholizismus in ganz Nordwestdeutschland, die protestantische Stimmenmehrheit im Kurfurstenkollegium und eine demnachst zu erwartende protestantische Kaiserwahl zu verhindern. Gebhard erkannte seine Absetzung nicht an. Der danach ausbrechende Truchsessische Krieg (1583–1588) fuhrte zu einer furchtbaren Verwustung des Erzstiftes und des Herzogtums Westfalen und schließlich zum Sieg der gegenreformatorischen Krafte. Der Versuch, das Erzstift Koln in ein erbliches, protestantisches Herzogtum umzuwandeln, war gescheitert. Ernst von Bayern nahm Besitz von Bonn, wo die sehr seltenen Belagerungsmunzen aus Kirchen- und Innungssilber wahrend der Belagerung der Stadt als Sold fur die Truppen Gebhards geschlagen wurden. Gebhard floh nach der Eroberung der Godesburg durch bayerisch-spanische Truppen am 7. Dezember 1583 zunachst nach Westfalen, danach im Jahr 1584 in die Niederlande. Von dort setzte er den Krieg mit niederlandischen Truppen fort. Am 23. Dezember 1587 eroberte er erneut Bonn, was zur Verwustung des Cassius-Stiftes durch protestantische niederlandische Truppen fuhrte. Endlich, nicht zuletzt mittels reichlicher Bestechungen, setzte sich Ernst von Bayern im gesamten Stift durch. Erst im Jahr 1589 gab Gebhard den Kampf auf. In Straßburg starb er als protestantischer Domdechant. Uber Agnes weiteres Schicksal ist nichts bekannt. Siehe auch Protestantischer Trutztaler Literatur August Brause-Mansfeld: Feld-, Noth- und Belagerungsmunzen von Deutschland, Osterreich-Ungarn, Siebenburgen, Moldau, Danemark, Schweden, Norwegen, Russland, Polen u.s.w., Berlin 1897 (mit Tafeln zu Belagerungsmunzen): S. 8/9: Bonn 1583, Tafel VI. Johann David Kohlers Munzbelustigung, Band 1., 1729, 38 Stuck, S. 297: Belagerung Bonn, Notmunze Gebhards 1583 Helmut Kahnt: Das große Munzlexikon von A bis Z. Regenstauf 2005. S. 46: Belagerungsmunzen allgemein August Franzen: Gebhard Freiherr zu Waldburg. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 6, Duncker & Humblot, Berlin 1964, ISBN 3-428-00187-7, S. 113 f. (Digitalisat). Max Lossen: Gebhard, Truchseß von Waldburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 8, Duncker & Humblot, Leipzig 1878, S. 457–470. Herausgeberkollegium Horst Bartel (Leiter): Deutsche Geschichte, Band 3, Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1989 (S. 248/250). Max Lossen: Der Kolnische Krieg Band 1: Vorgeschichte 1561–1581. Gotha 1882; Band 2: 1582–1586. Gotha 1887, passim (Digitalisierte Ausgabe der Universitats- und Landesbibliothek Dusseldorf) Max Wilberg: Regententabellen, Frankfurt (Oder) 1906, Nachdruck 1987 Einzelnachweise
Die Bonner Belagerungsmunzen von 1583, auch Bonner Notmunzen und Bonner Notklippen genannt, sind einseitig gepragte Munzen des Kolner Erzbischofs Gebhard Truchseß von Waldburg (1577–1583), die in der Belagerung von Bonn im Jahr 1583 als Sold fur seine Truppen im Truchsessischen- oder Kolnischen Krieg geschlagen wurden. Gebhard hatte einen Waffengang gewagt, besetzte im November 1582 die Residenzstadt Bonn und gab fur das Erzstift die protestantische Religion frei. Kaiser Rudolf II. (1576–1612), die Kurie und der Herzog von Bayern, Wilhelm V. der Fromme (1579–1598, † 1626), griffen nun ihrerseits bewaffnet in den Konflikt ein und bewirkten die Wahl des bayerischen Prinzen Ernst zum neuen Erzbischof von Koln. Graf Salentin von Isenburg und Ferdinand von Bayern (1550–1608), der Bruder von Ernst, schlossen im Dezember 1583 mit ihren Belagerungstruppen die besetzte Stadt Bonn ein. Als Bonn eingeschlossen war, musste Gebhard fur die angeworbenen Soldaten Notklippen ausgeben lassen.
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c-928
Der Gurtelpeiler (auch: Gurtelpeilgerat, kurz: Fu G P. c) war ein tragbarer Funkpeiler, der wahrend des Zweiten Weltkriegs von deutschen Geheimdiensten, wie Abwehr, Ordnungspolizei (OrPo) oder Sicherheitsdienst (SD), verwendet wurde, um geheime Sender zu orten, die auf vom NS‑Staat kontrollierten Gebiet von feindlichen Agenten oder von Widerstands­organisationen betrieben wurden. Zur elektronischen Aufklarung und insbesondere zur „Aushebung des Agenten“ wurde das Hochfrequenz­messgerat ahnlich einem uberdimensionalen Gurtel um die Taille geschnallt und getarnt unter der Kleidung getragen, beispielsweise unter einem Mantel. Die Anzeige des Peilsignals konnte statt mit einem auffalligen Kopfhorer mit einem speziellen Ohrhorer erfolgen, genannt „Muschhorer“, der nahezu unsichtbar im Ohr getragen werden konnte. Alternativ zur akustischen Anzeige konnte diese auch optisch erfolgen. Hierzu wurde am Handgelenk ein Anzeiger in Form und Große einer Armbanduhr getragen. Die Zuleitungen verliefen durch den Armel. Hintergrund Wahrend des Zweiten Weltkriegs gab es in Deutschland und den besetzten Gebieten immer mehr geheime Funkstationen. Dabei handelte es sich haufig um feindliche Agenten, die von den Alliierten abgesetzt worden waren. Außerdem gab es Widerstands­gruppen. Um solche Funkstellen zu orten, wurden unterschiedliche Abhor- und Funkpeilgerate entwickelt. Am gebrauchlichsten waren mobile Stationen, die beispielsweise als Lieferwagen getarnt waren. Da zu dieser Zeit der Straßenverkehr deutlich geringer war als heute, fielen „fremde“ Fahrzeuge leicht auf. Daraus entstand das Bedurfnis, getarnt „am Mann“ zu tragende Gerate zu benutzen. Es begann mit Peilern, die in einem Koffer versteckt und so mitgefuhrt werden konnten („Kofferpeiler“). Deutlich unscheinbarer war jedoch der Gurtelpeiler, der vollstandig unter der Kleidung des Bedieners verborgen war und keinerlei Aufmerksamkeit erregte. Damit konnte man einfach durch die Nachbarschaft laufen und durch Korperdrehungen feststellen, in welcher Richtung sich ein Sender befand. Geschichte Der Gurtelpeiler war der erste Abhorempfanger, dessen außere Form an den menschlichen Korper angepasst war, so dass er verdeckt unter der Kleidung des Bedieners getragen werden konnte. Er wurde im Jahr 1942 von der Nachrichten-Erprobungs- und Abnahmestelle der Ordnungspolizei entwickelt und von der Firma Kapsch in Wien hergestellt. Aufbau Der Gurtelpeiler arbeitete mit sieben Elektronenrohren (Batterierohren 5 × RV 2,4P700 und 2 × RV 2,4H300), die einen Uberlagerungs­empfanger bildeten. Dieser verfugte uber zehn auswechselbare Spulensatze und erlaubte so die Abdeckung eines Wellenlangen­bereichs von 15 m bis 100 m (entsprechend 3 MHz bis 20 MHz), also nahezu des vollstandigen Kurzwellen­bandes. Der Empfanger hatte zwei Antennen: eine feste Referenzantenne (mit Rundstrahl­charakteristik) und eine Rahmenantenne (mit einer Windung), die um den Hals getragen wurde, und die zur Peilung diente. Anwendung Je nach Art und Bebauung des Einsatzgebietes verfugte der Gurtelpeiler uber eine Reichweite von bis zu 3 km. Gefuhrt durch die akustische oder optische Anzeige der Signalstarke, folgte der Bediener dieser und gelangte so an den Ort des Senders. In unmittelbarer Nahe war dann haufig bereits das „Klackern“ der Morsetaste zu horen und der Agent lokalisiert. Literatur Arthur O. Bauer: Some aspects of the German military “Abwehr” wireless service, during the course of World War Two. In: CDVandT. April 1996, S. 1–17. PDF 1 MB. A. Hagen, Waldemar Fuchs: Die Funkpeilung der kurzen Wellen – ein Lehrbuch fur Beobachtungs- und Peilfunker der Ordnungspolizei nach Ausarbeitungen der Nachrichten-Erprobungs- und Abnahmestelle der Ordnungspolizei. In: Hauptamt Ordnungspolizei. 1943, S. 1–170. Buchdeckel. Louis Meulstee, Rudolf Staritz: Wireless for the Warrior. Band 4, 1995. Buchdeckel, ISBN 0952063360. Hans Schellhoss: Die Funkortung beim Heer. 1944, S. 1–42. PDF; 2,5 MB. Rudolf Staritz: Abwehrfunk – Funkabwehr. Technik und Verfahren der Spionagefunkdienste. 2018, S. 1–100. PDF; 10,5 MB. Weblinks Foto eines Gurtelpeilers Fu G P. c mit Antennen und Anschlusskabeln (Ser.‑Nr.: 0326, Fert.‑Kz.: bpt, Herstelljahr: 1943) Foto einer Person, die einen Gurtelpeiler tragt. Gurtelpeiler. In: Crypto Museum. 30. September 2020; abgerufen am 8. August 2024 (englisch). Gurtelpeiler. In: Deutsches Spionagemuseum. Abgerufen am 8. August 2024. Das Gurtelpeilgerat. In: Adam M. Farson. 25. September 2019; abgerufen am 7. September 2024 (englisch). Wireless for the Warrior. In: Louis Meulstee’s web site. Abgerufen am 8. August 2024 (englisch). Einzelnachweise
Der Gurtelpeiler (auch: Gurtelpeilgerat, kurz: Fu G P. c) war ein tragbarer Funkpeiler, der wahrend des Zweiten Weltkriegs von deutschen Geheimdiensten, wie Abwehr, Ordnungspolizei (OrPo) oder Sicherheitsdienst (SD), verwendet wurde, um geheime Sender zu orten, die auf vom NS‑Staat kontrollierten Gebiet von feindlichen Agenten oder von Widerstands­organisationen betrieben wurden. Zur elektronischen Aufklarung und insbesondere zur „Aushebung des Agenten“ wurde das Hochfrequenz­messgerat ahnlich einem uberdimensionalen Gurtel um die Taille geschnallt und getarnt unter der Kleidung getragen, beispielsweise unter einem Mantel. Die Anzeige des Peilsignals konnte statt mit einem auffalligen Kopfhorer mit einem speziellen Ohrhorer erfolgen, genannt „Muschhorer“, der nahezu unsichtbar im Ohr getragen werden konnte. Alternativ zur akustischen Anzeige konnte diese auch optisch erfolgen. Hierzu wurde am Handgelenk ein Anzeiger in Form und Große einer Armbanduhr getragen. Die Zuleitungen verliefen durch den Armel.
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c-929
Mercy Lena Brown (* 1872 in Exeter, Rhode Island; † 17. Januar 1892 ebenda) war die letzte Person, die als mutmaßliche Vampirin in Neuengland exhumiert wurde. Der Vorfall war Teil der weit verbreiteten Vampirpanik von Neuengland. Leben Mercy Brown war die Tochter der Eheleute George Thomas Brown und Mary Elizabeth, geborene Arnold. Sie wuchs mit ihren funf Schwestern und ihrem Bruder auf der am ostlichen Rand der Stadt gelegenen elterlichen Farm im Washington County in Rhode Island in den Vereinigten Staaten auf. Mercy Browns Heimatort war wie die meisten Landstriche im landlichen Neuengland eine Subsistenzlandwirtschaftsgemeinde und dunn besiedelt. Die als „Schwindsucht“ bezeichnete gefurchtete Infektionskrankheit Tuberkulose hatte sich ab den 1730er Jahren in Neuengland verbreitet und war im 19. Jahrhundert die haufigste Todesursache und fur fast ein Viertel aller Todesfalle verantwortlich. Die Bevolkerungszahl Exeters lag 1890 bei nur noch etwa 960. Die von ihrer Familie „Lena“ genannte Mercy Brown verlor im Alter von elf Jahren ihre Mutter, die 1882 an Tuberkulose erkrankt war und am 8. Dezember 1883 starb. Im Fruhjahr 1884 wurde ihre alteste, zwanzigjahrige Schwester Mary Olive krank und starb am 6. Juni 1884 ebenfalls an der Schwindsucht. Mercy Brown selbst arbeitete auf der Farm mit und erlangte fur eine Heranwachsende beachtliche Fahigkeiten im Quilten. Von ihr ist eine Quiltdecke aus Blumen-, Karo- und Paisleymustern erhalten geblieben, die Textilwissenschaftler der University of Rhode Island auf die 1870er und 1880er Jahre datierten. Im Jahr 1889 bekam ihr einziger Bruder Edwin A. Brown Tuberkulose. Er verließ die Familie und lebte in den folgenden Jahren in Colorado Springs in der Hoffnung, dass das dortige Klima das Fortschreiten der Krankheit verhinderte. Mercy Brown erkrankte erst drei Jahre nach dem Weggang ihres Bruders. Sie wurde zwar in der letzten Krankheitsphase arztlich behandelt, jedoch teilte der fur Exeter und das benachbarte North Kingstown zustandige Arzt Harold Metcalf ihrem Vater mit, „dass weitere medizinische Hilfe nutzlos sei“. Sie starb nicht nach langerem Siechtum, sondern an der sogenannten „galoppierenden Schwindsucht“ nach kurzem Krankheitsverlauf am 17. Januar 1892. Ihr Nachruf vom Januar 1892 lautete nur knapp: „Miss Lena Brown, die an Schwindsucht litt, starb am Sonntagmorgen.“ Sie wurde ebenso wie ihre Verwandten auf dem Chestnut Hill Cemetery der Baptist Church (auch Chestnut Hill Baptist Church) in Exeter beigesetzt. Folgeereignisse Nachdem Mercy Browns Bruder Edwin, dessen Zustand sich bereits in Colorado wieder verschlechtert hatte, zur Beerdigung nach Exeter zuruckgekehrt war, verschlimmerten sich seine Krankheitssymptome weiter. Durch seine Fiebertraume, in denen er sich von seiner toten Schwester verfolgt fuhlte, begannen Geruchte in der Stadt zu wachsen. Die Nachbarn, auch besorgt um die eigene Gesundheit, baten Mercy Browns Vater George um die Exhumierung der Frauen, um Edwin von „dem bosen Geist zu befreien“. Dieser Aberglaube beruhte auf der Annahme, an Tuberkulose Gestorbene lebten als Untote weiter und machten ihre Angehorigen krank. Vom 18. bis zum 19. Jahrhundert fuhrte dies zum spater als Vampirpanik von Neuengland (englisch: New England Vampire panic) bezeichneten im landlichen Neuengland verbreiteten Phanomen, wenngleich die betroffenen Gemeinden die Bezeichnung „Vampir“ nicht nutzten. Obwohl George Brown selbst nicht dem Aberglauben anhing, gab er zur Beruhigung der Nachbarn seine Zustimmung und bat den Arzt Harold Metcalf, eine Obduktion durchzufuhren. Dazu wurden sowohl Mercy Brown als auch ihre Mutter und alteste Schwester am Morgen des 17. Marz 1892 in Anwesenheit eines Korrespondenten des Providence Journals exhumiert und von dem Arzt untersucht. Aufgrund der langeren Liegezeit waren von der Schwester und Mutter fast nur Knochen ubrig, wahrend Mercy Browns Korper relativ gut erhalten war. Der Arzt stellte an ihrer Lunge Anzeichen der Tuberkuloseerkrankung fest. Er entnahm Mercy Browns Leber und Herz, in dem noch etwas Blut gefunden wurde. Die Organe wurden von den Anwesenden verbrannt und die Asche Edwin als Starkungsmittel verabreicht. Anschließend wurden die Leichen wieder beigesetzt. Das Providence Journal berichtete am 19. Marz 1892 von dem furchtbaren Aberglauben in Exeter, der zum Ausgraben der Leichen gefuhrt hatte, um festzustellen, ob eine der drei Brown-Frauen doch nicht tot war, sondern sich heimlich „an Edwins lebendem Gewebe und Blut gutlich tat“. Edwin Brown starb am 2. Mai 1892 und wurde neben seinen Schwestern begraben. Noch drei weitere Schwestern Mercy Browns starben: Annie Laura am 9. August 1895 im Alter von 25 Jahren, Jennie Adeline am 2. Oktober 1895 mit 18 Jahren und Myra Frances am 25. Juni 1899 ebenfalls im Alter von 18 Jahren. Nur ihr Vater († 1922) und die Schwester Hattie May (1875–1954) uberlebten. Mercy Browns Angehorige bewahrten Zeitungsausschnitte aus der Lokalzeitung in Familienalben auf und gaben die Ereignisse als Familiengeschichte weiter. Mercy Browns Grab wird von in Exeter lebenden Verwandten gepflegt. Berichterstattung und Belletristik Anders als andere Exhumierungen zu dieser Zeit machte die von Mercy Brown Schlagzeilen. Nach der Meldung im Providence Journal reiste der bekannte Anthropologe George Stetson nach Rhode Island, um „den barbarischen Aberglauben“ in der Umgebung zu untersuchen, und veroffentlichte seinen Bericht in der renommierten Fachzeitschrift American Anthropologist. Danach fand eine weltweite Verbreitung und Berichterstattung statt, unter anderem in der London Post, dem Boston Daily Globe und 1896 in der New York World. Die Ereignisse um Mercy Browns Tod zahlen zu den am besten dokumentierten Fallen innerhalb der New England Vampire panic und Mercy Brown gilt als die zuletzt gestorbene Person, die aufgrund dieses Aberglaubens exhumiert wurde. Es wird gemutmaßt, dass Zeitungsberichte die Figur von „Lucy“ in Bram Stokers 1897 veroffentlichtem Roman Dracula inspiriert haben konnten, einem „schwindsuchtig wirkenden Teenager“, der zum Vampir wird und in einer Szene des Romans von einem Arzt uberwacht exhumiert wird. Caitlin R. Kiernans Kurzgeschichte So Runs the World Away aus dem Jahr 2001 nimmt auf den Vorfall Bezug. Literatur Michael E. Bell: Food for the Dead – On the Trail of New England’s Vampires. Carrol & Graf Publishers, New York 2001, ISBN 978-0-7867-0899-4 Einzelnachweise
Mercy Lena Brown (* 1872 in Exeter, Rhode Island; † 17. Januar 1892 ebenda) war die letzte Person, die als mutmaßliche Vampirin in Neuengland exhumiert wurde. Der Vorfall war Teil der weit verbreiteten Vampirpanik von Neuengland.
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c-930
Tam (oder Tamas) Lin (auch Tamlane, Tamlin, Tambling, Tomlin, Tam Lien, Tam-a-Line, Tam Lyn oder Tam Lane genannt) ist eine Figur in einer legendaren Ballade aus den Scottish Borders. Sie ist mit einem gleichnamigen Reel verbunden, der auch als Glasgow Reel bekannt ist. Die Geschichte dreht sich um die Rettung von Tam Lin vor der Konigin der Feen durch seine wahre Liebe. Das Motiv, einen Menschen zu gewinnen, indem man ihn durch alle Formen der Verwandlung hindurch festhalt, findet sich in ganz Europa in Volksmarchen. Die Geschichte wurde in zahlreichen Geschichten, Liedern und Filmen verarbeitet. Sie ist als 39. Child Ballade und Nummer 35 im Roud Folk Song Index aufgefuhrt. Inhalt Die Ballade beginnt in den meisten Versionen mit einer Warnung vor Tam Lin, der entweder etwas aus dem Besitz oder die Jungfraulichkeit einer Frau nimmt, wenn sie durch den verbotenen Wald von Carterhaugh geht. Eine junge Frau, die in den unterschiedlichen Variationen der Ballade oft Janet oder Margaret heißt, geht nach Carterhaugh und pfluckt dabei eine gefullte Rose. Ihr erscheint der Elf Tam Lin, der sie fragt, warum sie ohne seine Erlaubnis gekommen sei und noch dazu etwas genommen habe, was ihm gehort. Sie antwortet, dass sie auf dem Weg nach Carterhaugh ware, da sie das Anwesen von ihrem Vater erhalten habe und es ihr gehoren wurde. In den meisten Varianten geht Janet dann nach Hause und entdeckt, dass sie schwanger ist; manche Varianten greifen die Geschichte erst an dieser Stelle auf. Als sie nach ihrem Zustand gefragt wird, erklart sie, dass der Vater ihres Babys ein Elf sei, den sie nicht im Stich lassen werde. Daraufhin bekommt sie in einigen Varianten die Information uber ein Kraut, welches eine Fehlgeburt herbeifuhren konne. In allen Varianten trifft sie Tam Lin erneut, als sie nach Carterhaugh zuruckkehrt, um dort eine Pflanze zu pflucken. Dies ist entweder wie beim ersten Besuch erneut eine Rose oder das Kraut fur die Abtreibung. Tam Lin stellt dabei ihr Handeln infrage. Entweder nach dem erneuten Aufeinandertreffen oder, in einigen Versionen, unmittelbar nach ihrer ersten Begegnung, die zu ihrer Schwangerschaft fuhrt, fragt sie ihn, ob er mal ein Mensch gewesen ware. Tam Lin enthullt ihr, dass er, obwohl er einmal ein sterblicher Mann gewesen war, von der Konigin der Feen in Carterhaugh eingesperrt wurde. Sie entfuhrte ihn, indem sie ihn auffing, als er von seinem Pferd fiel. Er erzahlt Janet, dass die Feen an jedem siebten Halloween um Mitternacht einen der ihren als Zehnten der Holle geben wurden und er befurchtet, dieses Mal derjenige zu sein. Er bittet Janet um Hilfe bei seiner Befreiung und sie sichert ihm ihre Hilfe zu. Dann weist er sie an, zur Zeit der Entrichtung des Zehnten in den Wald zu kommen. Er wurde in Begleitung zahlreicher Feenritter sein und er sagt ihr, dass sie ihn an seinem weißen Pferd erkennen werde. Janet musse ihn von seinem Pferd herunterziehen, was sie zu derjenigen machen wurde, die ihn dieses Mal „auffangt“, und musse ihn festhalten: Er warnt sie, dass die Feen versuchen werden, sie dazu zu bringen, ihn fallen zu lassen, indem sie ihn in alle moglichen Bestien verwandeln wurden, erklart aber, dass keine dieser Formen ihr tatsachlich Schaden zufugen wird. Er wurde schließlich die Gestalt brennender Kohle annehmen. Wenn dies geschieht, soll Janet ihn in einen Brunnen werfen, woraufhin er als nackter sterblicher Mann wieder auftaucht, den Janet verstecken musse. Sie tut, was von ihr verlangt wird, und gewinnt dadurch ihren Ritter; obwohl ihr Erfolg die Konigin der Feen verargert und diese sich wunscht, sie hatte Tam Lin die Augen herausgerissen oder sein Herz durch einen Stein ersetzt, akzeptiert die Konigin schließlich ihre Niederlage. In anderen Varianten soll Tam Lin der Enkel des Laird of Roxburgh, des Laird of Foulis, des Lord Forbes oder des Earl of Moray sein. Sein Name variiert auch zwischen Versionen: Tam Lin ist die haufigste, aber auch als Tom Line, Tomlin, Young Tambling, Tam-a-line und Tamlane ist er bekannt. Fruhe Versionen Die erste Aufzeichnung der Ballade stammt aus dem Jahr 1549, der Veroffentlichung des The Complaynt of Scotland, in dem The Tayl of the Ȝong Tamlene (‚Die Geschichte der jungen Tamelene‘) in einer langen Liste mittelalterlicher Romanzen erwahnt wird. Michael Draytons erzahlendes Gedicht Nimphidia (1627) enthalt eine Figur namens Tomalin, die ein Vasall und Verwandter von Oberon, dem Konig der Feen, ist. Robert Burns schrieb eine Version von Tam Lin basierend auf alteren Versionen der Ballade, die in James Johnsons Liedersammlung Scots Musical Museum gedruckt wurde. Die Geschichte erschien im 19. Jahrhundert unter verschiedenen Titeln in mehreren Marchenbuchern: „Elphin Irving, the Fairies’ Cupbearer“ in Traditional Tales of the English and Scottish Peasantry von Allan Cunningham (1822) „Wild Robin“ in Little Prudy’s Fairy Book von Sophie May (1866) „Tamlane“ in More English Fairy Tales von Joseph Jacobs (1893) Francis James Child sammelte vierzehn traditionelle Varianten in The English and Scottish Popular Ballads im neunzehnten Jahrhundert. Eine andere Ballade von Child, Burd Ellen and Young Tamlane, hat keine Verbindung zu dieser Ballade außer der Ahnlichkeit der Heldennamen. Traditionelle Aufnahmen Es existieren einige traditionelle Aufnahmen, welche von Schotten und Nordiren aufgenommen wurden, die sie durch mundliche Uberlieferung erlernten. Eddie Butcher aus Magilligan, ein Irish Traditional Musician der Grafschaft Londonderry, kannte ein Fragment der Ballade, das im Irish Traditional Music Archive zu horen ist, und Paddy Tunney aus Mollybreen in der Grafschaft Fermanagh sang 1968 eine Version fur Hugh Shields. In Schottland haben Duncan Williamson aus Auchtermuchty, William Whyte aus Aberdeen und Betsy Johnston aus Glasgow traditionelle Versionen aufgenommen, die beiden letzteren von Hamish Henderson. Moderne Aufnahmen Zahlreiche Kunstler haben das Thema aufgegriffen und moderne Versionen der Ballade vertont: Adaptionen = Prosa = John Myers Myers erzahlt eine Variante in Silverlock (1949) The Armourer’s House, von Rosemary Sutcliff (1951); enthalt eine Erzahlung der Tam-Lin-Geschichte, die Parallelen zum Thema des Romans aufweist, namlich einem Madchen, das darum kampft, seine Traume zu verwirklichen. Scottish Folk-Tales and Legends, von Barbara Ker Wilson (1954) Thursday, von Catherine Storr (1971) Red Shift, von Alan Garner (1973) The Queen of Spells, von Dahlov Ipcar (1973) The Perilous Gard, von Elizabeth Marie Pope (1974) Fire and Hemlock, von Diana Wynne Jones (1985) Tam Lin von Joan D. Vinge, in Imaginary Lands bearbeitet von Robin McKinley (1986) Nattens demon (ubersetzt aus dem Norwegischem als Demon of the Night), von Margit Sandemo (1987) Tam Lin: An Old Ballad, von Jane Yolen, illustriert von Charles Mikolaycak (1990) Hold Me Fast, Don’t Let Me Pass, von Alice Munro, in Friend of My Youth (1990) Tam Lin von Susan Cooper, illustriert von Warwick Hutton (1991) Tam Lin, von Pamela Dean (1991) Tam Lin, in der Graphic Novel Serie Ballads and Sagas bearbeitet von Charles Vess (1995) Winter Rose, von Patricia McKillip (1996) Never Let Go, by Geraldine McCaughrean, illustriert von Jason Cockcroft (1999) Burd Janet, von Jane Yolen, in Not One Damsel in Distress (2000) Tam Lin (eine Version in Scots), von Ian MacFadyen, in The Eildon Tree, Special Double Issue 4-5: Winter 2001, bearbeitet von Tom Bryan Cotillion, von Delia Sherman, in Firebirds, bearbeitet von Sharyn November (2003) Tithe: A Modern Faerie Tale von Holly Black (2004) He Said, Sidhe Said von Tanya Huff, in Faerie Tales ed. Russell Davis und Martin H. Greenberg (2004) An Earthly Knight, von Janet McNaughton (2005) Blood and Iron, von Elizabeth Bear (2006) The Lady and the Fox, von Kelly Link, in My True Love Gave to Me, ed. Stephanie Perkins (2014) Roses and Rot, von Kat Howard (2016) = Theater = The Thyme of the Season von Duncan Pflaster (enthalt Elemente und Anspielungen auf die Geschichte) Tamlane von Edwin Stiven = Verfilmungen = Tam-Lin (1970) Regie Roddy McDowall, mit Ava Gardner. = Novellen = In der Novelle von The Dogs of Babel von Carolyn Parkhurst (in Großbritannien bekannt als Lorelei’s Secret) spielt ein Abschnitt von Tam Lin eine zentrale Rolle. Darin entdeckt der Erzahler Paul Iverson, dass seine kurzlich verstorbene Frau ihm in ihrem Bucherregal eine verschlusselte Nachricht hinterlassen hat, in der sie Tam Lin zitiert. In der Novelle The House of the Scorpion von Nancy Farmer ist Tam Lin der Leibwachter des Protagonisten, des Klons von Matteo Alacran. Die Novelle Red Shift von Alan Garner kann als subtile Uberarbeitung der Ballade gelesen werden. Im Fantasyroman The Battle of Evernight von Cecilia Dart-Thornton wird die Geschichte von Tam Lin als die Geschichte von Tamlain Conmor erzahlt. In der Novelle Rumors of Spring von Richard Grant. In der Novelle Cold Days von Jim Butcher wird Tam Lin als ehemaliger Ritter des Winterhofs erwahnt. = Comic = Tam-Lin, ein Lesedrama von Elaine Lee und illustriert von Charles Vess, erschien in The Book of Ballads and Sagas, Sammlung von Adaptionen traditioneller Lieder, meist in Comicform. Vertigo Comic in Fables: Tam Lin starb bei der Verteidigung der letzten Festung der Fables gegen die Streitkrafte des Widersachers. Er soll der von der Feenkonigin geliebte Ritter gewesen sein, der den Ruf eines Schurken hatte, aber seine Chance auf Freiheit seinem Pagen uberließ. In der Vertigo-Comicserie, The Sandman von Neil Gaiman: Die Vorstellung, dass Faerie der Holle einen Opferzehnten zahlt, wird in der Handlung Season of Mists erwahnt. In der Vertigo-Comicserie The Books of Magic, The Names of Magic und The Books of Faerie: Tamlin ist der Vater des Protagonisten Timothy Hunter, moglicherweise des großten Zauberers der Welt. In The Books of Faerie: The Widow’s Tale wird die Geschichte von Tamlins Romanze mit Konigin Titania von Faerie enthullt. = Weitere Verwendung = Die Geschichte wurde eingefugt in Cecilia Dart-Thorntons letztem Buch der Bitterbynde-Trilogie, The Battle of Evernight. Im Handyspiel Fate/Grand Order: In der englischen Ubersetzung des Spiels wird „Tam Lin“ als Bezeichnung fur Feenritter verwendet. In dem Spiel Shin Megami Tensei: Tam Lin ist ein in der Videospielserie The 400 immer wiederkehrender Damon, der oft relativ fruh rekrutiert werden kann und einer der ganz wenigen Damonen ist, dessen Design ein exaktes Modell mit einem anderen Damon teilt – sein Brudermodell ist ein anderer nordeuropaischer mythologischer Held, Cu Chulainn. Diese Ballade war eines von 25 traditionellen Werken, die in Ballads Weird and Wonderful (1912) enthalten waren und von Vernon Hill illustriert wurden. Das Choose-Your-Own-Adventure-Buch Enchanted Kingdom hat ein Ende, bei dem die Figur des Spielers von einem Madchen, mit dem sich die Figur angefreundet hat, vor den Feen gerettet wird und das die Figur durch drei Verwandlungen hindurch begleiten muss. In Seanan McGuires October-Daye-Reihe wird das Gedicht im Laufe der Reihe sowohl gesprochen als auch erwahnt, und Janet ist eine Figur in einigen der spateren Bucher. Die Ereignisse des Gedichts ereigneten sich im Universum. Alastair Whites Mode-Oper WOAD adaptiert die Ballade, um die Implikationen der Multiversum-Theorie zu untersuchen. Einzelnachweise
Tam (oder Tamas) Lin (auch Tamlane, Tamlin, Tambling, Tomlin, Tam Lien, Tam-a-Line, Tam Lyn oder Tam Lane genannt) ist eine Figur in einer legendaren Ballade aus den Scottish Borders. Sie ist mit einem gleichnamigen Reel verbunden, der auch als Glasgow Reel bekannt ist. Die Geschichte dreht sich um die Rettung von Tam Lin vor der Konigin der Feen durch seine wahre Liebe. Das Motiv, einen Menschen zu gewinnen, indem man ihn durch alle Formen der Verwandlung hindurch festhalt, findet sich in ganz Europa in Volksmarchen. Die Geschichte wurde in zahlreichen Geschichten, Liedern und Filmen verarbeitet. Sie ist als 39. Child Ballade und Nummer 35 im Roud Folk Song Index aufgefuhrt.
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c-931
Walter Schmidetzki (* 5. Januar 1913 in Sohrau; † nach 1960) war ein deutscher Kriegsverbrecher und SS-Fuhrer, zuletzt im Rang eines SS-Obersturmfuhrers der Waffen-SS. Aufnahmen aus dem von Lili Jacob uberlieferten Album und dem Hocker-Album belegen Schmidetzkis Beteiligung am Holocaust im KZ Auschwitz-Birkenau. Berufseinstieg, SS-Beitritt und Beginn des KZ-Lagerdienstes Schmidetzki wechselte nach der 9. Klasse von einem humanistischen Gymnasium an die Handelsschule. Nach dem Ende seiner Schullaufbahn war er zunachst beim Arbeitsamt und danach bei der Kammereikasse in Neisse angestellt. Nach seinem SS-Beitritt gehorte er ab 1934 der SS-Verfugungstruppe an (SS-Nummer 224.469). Zum 1. Marz 1935 trat er der NSDAP bei. Als Angehoriger der Waffen-SS nahm er ab 1940 mit der SS-Division Wiking am Zweiten Weltkrieg teil. Einem Unfall folgten ein Lazarettaufenthalt und langere Genesungszeit. Anschließend wurde er dem Wirtschafts- und Verwaltungs-Hauptamt zugeteilt und 1943 im SS-Sonderlager Hinzert eingesetzt. In Hinzert war er fur die weltanschauliche Schulung der Lagermannschaft zustandig. Wegen eines Verhaltnisses mit einer verheirateten Frau wurde Schmidetzki im Fruhjahr 1944 zum KZ Flossenburg strafversetzt. Dort gehorte er dem Lagerstab nominell bis August 1944 an. Teilnahme an der Ungarn-Aktion im KZ Auschwitz-Birkenau Ab dem 23. Mai 1944 leitete Schmidetzki die Gefangenen-Eigentums-Verwaltung (G.E.V.) im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, die der Abteilung Standortverwaltung angegliedert war. Die Birkenauer G.E.V. verwaltete das geraubte Eigentum der nach Auschwitz deportierten Menschen; im Lagerjargon wurde dieses „Effektenlager Kanada II“ genannt. Als Leiter der G.E.V. nahm Schmidetzki an der sogenannten „Ungarn-Aktion“ teil, dem Massenmord an den ungarischen Juden. Aufnahmen aus dem Lilly-Jacob-Album belegen seine Anwesenheit nach der Ankunft, Aufreihung und Selektion deportierter judischer Menschen Ende Mai 1944 auf der Rampe in Auschwitz-Birkenau. Am 21. Juni 1944 wurde er zum SS-Obersturmfuhrer befordert, seinem hochsten erreichten SS-Rang. Am selben Tag wurden auch der Lagerkommandant Richard Baer, dessen Adjutant Karl-Friedrich Hocker und der Fahrbereitschaftsleiter Konrad Wiegand befordert. Diese gleichzeitigen Beforderungen stehen laut dem Historiker Stefan Hordler in einem Zusammenhang, da alle vier SS-Fuhrer „zum Kern der logistischen Abwicklung der ‚Ungarn-Aktion‘ gehorten“. Fotos des sogenannten Hocker-Albums zeigen neben anderem SS-Personal auch Schmidetzki wahrend einer Feier anlasslich des Endes der Ungarn-Aktion auf der Solahutte; die Aufnahmen stammen aus der Zeit um den 29. Juli 1944. Laut Hordler belegen die Aufnahmen Schmidetzkis aus den beiden Auschwitz-Alben „auch die Beteiligung der Standortverwaltung an der Mordaktion“. Verwaltungsfuhrer im KZ Auschwitz-Monowitz und KZ Natzweiler-Struthof Von August 1944 bis zur Raumung des Lagerkomplexes Auschwitz im Januar 1945 fungierte er als Verwaltungsleiter im KZ Auschwitz-Monowitz. Ab Februar 1945 war Schmidetzki Leiter der Verwaltungsabteilung des evakuierten KZ Natzweiler-Struthof und zugleich Adjutant des neuen Lagerkommandanten Heinrich Schwarz, unter dem er bereits in Auschwitz-Monowitz tatig gewesen war. Gefangenschaft, Verurteilung und Nachkriegszeit Nach Kriegsende wurde Schmidetzki interniert, nach Polen uberstellt und in Krakau 1948 zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung aus der Haft soll er in Baden-Wurttemberg gelebt haben. Vom 4. Mai 1960 ist noch eine Aussage von ihm vor dem Landgericht Hechingen aktenkundig. Das Stuttgarter Adressbuch von 1960 verzeichnet einen Dekorateur dieses Namens. Literatur Ernst Klee: Auschwitz. Tater, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. S. Fischer, Frankfurt am Main 2013, ISBN 978-3-10-039333-3. Hans-Christian Harten: Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945. Schoningh, Paderborn 2014, ISBN 978-3-506-76644-1. Stefan Hordler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr. Wallstein Verlag, Gottingen 2015. ISBN 978-3-8353-1404-7. Weblinks Einzelnachweise
Walter Schmidetzki (* 5. Januar 1913 in Sohrau; † nach 1960) war ein deutscher Kriegsverbrecher und SS-Fuhrer, zuletzt im Rang eines SS-Obersturmfuhrers der Waffen-SS. Aufnahmen aus dem von Lili Jacob uberlieferten Album und dem Hocker-Album belegen Schmidetzkis Beteiligung am Holocaust im KZ Auschwitz-Birkenau.
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c-932
Anna Zak (hebraisch אנה זק, eigentlich Anna Kuzenkova, hebraisch: אנה קוזנקוב, russisch: Анна Кузенкова; * 12. Marz 2001 in Sotschi) ist eine israelische Sangerin und Schauspielerin russischer Herkunft. Biografie 2010 wanderten ihre Eltern mit ihr nach Israel aus, wobei auch ihre Schwester und die Großeltern mitkamen. In Russland war sie in einer Madchenband. Die Familie ließ sich in Ashdod nieder. Ihre Mutter betreute im israelischen Beilinson-Krankenhaus als Krankenschwester Fruhgeburten. Spater kehrte ihr Vater nach Russland zuruck, wo er ein Immobilienunternehmen besitzt. Zak erlernte in kurzer Zeit die hebraische Sprache und besuchte in Israel eine High School in Ashdod. Ihren Nachnamen Zak wahlte sie wahrend dieser Zeit als Kunstlernamen. 2018 erklarte Zak in einem Interview mit dem At Magazin, dass sie nicht uber eine Konversion zum judischen Glauben nachgedacht habe (ihr Vater ist Jude, ihre Mutter eine ethnische Russin), sich aber sehr mit Israel und seiner Kultur verbunden fuhle. Im Marz 2020 wurde sie fur ihren obligatorischen Militardienst in die israelischen Verteidigungsstreitkrafte eingezogen. Sie war dort zwei Jahre in der Abteilung fur Rekrutierungsforderung und Digitalisierung tatig. Im Dezember 2023 begann sie eine Beziehung mit dem israelischen Sanger und Schauspieler Jonathan Mergui. Davor war sie mit dem israelischen Sanger Roee Sendler liiert. Karriere = Als Model = Zak wurde 2016 von itmodels aus Tel Aviv als Model unter Vertrag genommen. Im Rahmen einer Jugendkampagne wurde sie neben dem israelischen Model Ruslana Rodina zum Gesicht von Scoop Shoes ausgewahlt, ebenso fur die globale Kampagne der Haarentfernungsmarke Veet. Ein Jahr spater wurde sie zur Markenbotschafterin von Office Depot Israel im Rahmen der Back-to-School-Kampagne gewahlt und zum Model der israelischen Accessoire-Kette Topten. Im selben Jahr brachte das israelische Parfumunternehmen Spring eine Parfumkollektion heraus, die ihren Namen tragt. Seitdem war sie als Moderatorin fur Kampagnen verschiedener Unternehmen tatig und in Werbespots als Model fur verschiedene Marken zu sehen, wie Adika Fashion, Yatvata Dairy oder Skin Girl. = Als Sangerin = 2017 begann mit der Veroffentlichung ihrer Debutsingle Money Honey ihre Musikkarriere. Im selben Jahr gewann sie den ersten Platz beim ersten „Musical Championship Event“, das im Cinema City in Jerusalem stattfand. 2018 wurde Zak ausgewahlt, den Titelsong der israelischen Jugendkomodie To the End – Jesta 2 zu singen, in der sie auch eine Minirolle ubernahm. Im selben Jahr war sie in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen Rapper Fat Joe Gast auf der Single Gravity des franzosischen Musikers Richard Orlinski. 2020 veroffentlichte sie das Lied Block. Es war ihr erstes Lied auf Hebraisch, mit einem auslandischen Namen. Am 28. Juni 2020 veroffentlichte sie das Lied A Sign That We Are Exaggerating (in Zusammenarbeit mit dem Children’s Channel), um gegen Gewalt und Cyber-Mobbing zu kampfen. 2021 veroffentlichte Zak ihre Debut-EP Ratza Solo. 2022 veroffentlichte sie das Lied Lech Lishon, das mehrere Wochen auf Platz 1 der israelischen Musikcharts von Media Forest, Kaan Gimel und Galgalatz stand. In dem Musikvideo zu Lech Lishon isst Zak einen Hamburger und hat es eilig, die darin enthaltenen Kalorien zu verbrennen. Im Songtext geht es um die Frustration und Enttauschung in einer Beziehung. Im selben Jahr veroffentlichte sie die Single Mi Zot, in die ihre echte Telefonnummer eingefugt wurde, sowie das Lied Rishon Be'Boker mit Eden Ben Zaken und Nunu. Ende 2023 veroffentlichte sie eine Live-Session mit funf Songs. Im Mai 2024 veroffentlichten Zak und der israelische Sanger Kfir Tsafrir das Technolied Albabala. Mitte 2024 veroffentlichte sie ihre Single Veni Vidi Vici. Ursprunglich war die Veroffentlichung fur den Winter 2023 geplant und das Lied sollte bei einem Festival aufgefuhrt werden. Aufgrund des Terrorangriffs der Hamas auf Israel im Jahr 2023 wurde das Festival jedoch abgesagt, weshalb Zak die Veroffentlichung verschob. Seit dem 7. Oktober 2023 stehen israelische Kunstler, darunter Anna Zak, „vor der Herausforderung, den passenden Zeitpunkt fur die Veroffentlichung eines frohlichen Popsongs zu finden, ohne dass dieser im Widerspruch zur ernsten und turbulenten Realitat steht“, wie es das At Magazin beschrieb. Veni Vidi Vici erzahlt von der Sehnsucht eines Madchens nach Liebe. Im Zusammenhang der neu erschienen Single erlauterte Zak, „dass die Herausforderungen des vergangenen Jahres sie veranlasst hatten, eine langere Pause von der Veroffentlichung neuer Musik einzulegen. Wahrend dieser Zeit habe sie sich verstarkt der Unterstutzung und Hilfe fur bedurftige Menschen gewidmet.“ Zak beschrieb, „dass Musik eine wichtige Rolle dabei spiele, Menschen in schwierigen Zeiten eine kurze Auszeit zu verschaffen. Sie hob hervor, dass es wichtig ist, eine Vielzahl von Musikstilen anzubieten, um unterschiedlichen Bedurfnissen gerecht zu werden.“ Weitere Tatigkeiten Zak zahlt zu einer der einflussreichsten Israelis im Internet auf TikTok und Instagram. Bereits in der neunten Klasse verdiente sie mit ihrem Social-Media-Profil mindestens 10.000 NIS (ungefahr 2.300 Euro) pro Monat, ohne die Einnahmen aus ihren Sponsoring-Vertragen mitzuzahlen. Im Marz 2017 war sie auf dem 1. Platz der Top-Instagram Accounts in Israel. Die betrachtliche Reichweite von Zak in den sozialen Netzwerken verdeutlicht ihren bedeutsamen Einfluss auf die digitale Kommunikationskultur und die Mechanismen der sozialen Interaktion. Ein Beispiel fur ihren Einfluss ist ein Foto im Kostum zum Purimfest, das uber 52.000 Likes erhielt. Ihr hohes Einkommen war in jungen Jahren teilweise umstritten. Im November 2019 machte Zak mit Fotos darauf aufmerksam, dass soziale Medien oft nicht die Realitat darstellten. Stattdessen konnten sie eine verzerrte Version des Lebens zeigen und es sei wichtig, sich dessen bewusst zu sein. Zak begann ihre filmische Karriere 2014 in der israelischen Kinder-Realityshow Habaniym v'Habanot (englische Ubersetzung: The Boys And The Girls). 2020 kehrte sie als Moderatorin dorthin zuruck. 2018 war sie zusammen mit Kim Or Azulay in der Sendung The Star of Kim and Anna auf dem israelischen Sender TeenNick zu sehen. 2020 spielte sie eine der Hauptrollen in dem israelischen Spielfilm Ubers Meer (Originaltitel: HaRafsoda, internationaler Titel: The Raft), der 2020 beim Internationalen Filmfestival Schlingel die deutsche Erstauffuhrung hatte. Darin stellt sie die Teenagerin Sasha dar, die allein mit drei Jungs auf einem selbst gebauten Floß ubers Meer nach Zypern segelt, nur weil sie dort ein Fußballspiel ihrer Lieblingsmannschaft Maccabi Haifa sehen wollen und nicht genugend Geld fur Flugtickets ubrig haben. Sasha schleicht sich an Bord und fahrt mit, weil sie sich dadurch mehr Klickzahlen auf ihrem Social-Media-Account erhofft. Im gleichen Jahr spielte sie in der Rolle der Shikma in der israelischen Fernsehserie Ziggy mit. Im selben Jahr begann sie die Realityshow The Boys And The Girls zu moderieren. Im September 2020 beteiligte sich Zak an einer Kampagne der Arbeitgeber und Unternehmen in Israel, um die Offentlichkeit vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes wahrend der COVID-19-Pandemie in Israel zu uberzeugen. 2020 war sie gemeinsam mit der Band Static & Ben El Tavori Markenbotschafterin von Urbanika. 2022 war sie als Gast in der 12. Staffel der israelischen Version von Big Brother zu sehen. Im selben Jahr nahm sie an der Fernsehsondersendung Tribute to Dana International Teil. Im Fruhjahr 2023 nahm sie zusammen mit dem Model Yael Shelbia an einer YouTube-Serie mit dem Titel Screams teil, in der sie Achterbahnen in verschiedenen Parks auf der ganzen Welt rezensierte. Im Mai 2023 wurde die erste Folge der Serie Fly on Anna mit Zak in der Hauptrolle bei TeenNick ausgestrahlt. 2023 entwarf Zak eine Make-up-Kollektion in Zusammenarbeit mit der israelischen Kosmetikkette Sacara. 2024 startete Sacara eine gemeinsame Beauty-Kampagne mit ihr und der Israelischen Sangerin Netta Barzilai. Trivia 2017 vertrat Zak Israel in der internationalen Band Now United, die von dem britischen Produzenten Simon Fuller (Grunder der Spice Girls) ins Leben gerufen wurde. 2018 wurde jedoch bekannt, dass sie lediglich als eine der Moderatorinnen vorgesehen war und nicht mit ihnen auftreten wurde. Das fuhrte dazu, dass Zak sich entschloss, nicht zu ihnen zu stoßen. Das Video zu ihrem Lied Beautiful Boys von der 2021 erschienenen EP Ratza Solo wurde wegen des provokativen Inhalts, insbesondere im Zusammenhang mit einer Gruppenvergewaltigung in Eilat, von Zaks PR-Buro als unangemessen empfunden und deshalb nicht veroffentlicht. Der Song selbst wurde jedoch veroffentlicht. In einem Teil des Clips, der den Medien zuganglich gemacht wurde, ist Zak in einer Badewanne zu sehen, umgeben von Mannern, die sie untersuchen. In einer weiteren Szene liegt sie mit diesen Mannern auf dem Boden. Das Album wurde stattdessen von animierten Clips begleitet, die in Zusammenarbeit mit Samsung Israel im Zuge einer Branding-Kampagne fur das neue Smartphone-Modell produziert wurden, wobei Zak als Markenbotschafterin fungierte. Diskografie = EP = = Singles = = Kollaborationen = Filmografie 2014, 2020: Habaniym v'Habanot 2020: Ubers Meer (HaRafsoda) 2020–2021: Ziggy (Fernsehserie) 2023: Screams (Webserie, mehrere Episoden) Weblinks Anna Zak bei IMDb Anna Zak bei edb.co.il Anna Zak bei Spotify Anna Zak bei last.fm Anna Zak bei Genius.com Anna Zak bei Lyrics Translate Anna Zaks Portfolio-Card Offizieller YouTube-Channel von Anna Zak Anna Zak auf Instagram Einzelnachweise
Anna Zak (hebraisch אנה זק, eigentlich Anna Kuzenkova, hebraisch: אנה קוזנקוב, russisch: Анна Кузенкова; * 12. Marz 2001 in Sotschi) ist eine israelische Sangerin und Schauspielerin russischer Herkunft.
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c-933
Die Villa Teresa steht im Coswiger Ortsteil Kotitz im sachsischen Landkreis Meißen. 1873 im spatklassizistischen Stil erbaut, verfugt die Villa uber einen englischen Garten und ist heute ein Ort kultureller Veranstaltungen. Sie war zeitweiliger Wohnsitz des Komponisten Eugen d’Albert und seiner Frau, der Pianistin Teresa Carreno. Nach ihr ist die Villa benannt. Beschreibung Die Villa ist ein markanter historistischer Villenbau, der stilistisch noch spatklassizistische Anklange aufweist. Sie steht auf einem mit einer gemauerten Einfriedung umgebenen Grundstuck. Die 1,3 Hektar große Parkanlage mit unterschiedlichen Baumarten ist als Gartendenkmal geschutzt. Darin befinden sich ein 1905 aus Japan importiertes Teehaus, der 1892 errichtete Kompositionspavillon von Eugen d’Albert und ein Teich. Des Weiteren sind auf dem Gelande ein Brunnen und Reste eines Weinkellers vorhanden. Das Landesamt fur Denkmalpflege Sachsen sieht die Villa als baugeschichtlich sowie kunstlerisch bedeutend an. Geschichte = Vom Bau bis 1961 = Der aus Torgau stammende Pfarrer Gustav Theodor Keßler ließ in den Jahren 1873 und 1874 in Kotitz auf dem Gelande des Heubuschs, eines ehemaligen Weinbergs, die Villa erbauen. Nach dem Tod des Bauherren kam es mehrfach zu Besitzerwechseln. Ein Besitzer war der preußische General Herwarth von Bittenfeld. 1891 erwarb der Komponist Eugen d’Albert die Villa. Nach seiner Heirat mit der Pianistin Teresa Carreno 1892 bezogen beide die Villa mit ihren Kindern aus vorherigen Beziehungen. Unverzuglich wurde das zu dem Zeitpunkt Villa Palstring genannte Haus in Villa Teresa umbenannt. Im Park errichtete Eugen d’Albert einen Kompositionspavillon, um in Ruhe arbeiten zu konnen. Als die Ehe 1895 geschieden wurde, nahm Eugen d’Albert eine Stelle als Hofkapellmeister in Weimar an. Carreno zog mit ihren beiden Kindern nach Berlin, wo sie ihre Karriere fortsetzte. Im Jahr 1896 verkaufte Eugen d’Albert die Villa an den Schweizer Paul Matter, der sie umbaute. Es wurde ein 300 m² großer Teich angelegt. Im Jahr 1905 wurde ein japanisches Teehaus im Park errichtet. Auf dem Grundstuck ließ Paul Matter ein Kutscherhaus errichten, in dem die Pferde, eine Kutsche und spater ein Automobil Platz fanden. Die Ehefrau von Paul Matter, Elisabeth Matter, wohnte bis zu ihrem Tod 1961 in der Villa. Sie vererbte das Anwesen der Stadt Coswig. = 1960er bis 1990er Jahre = Die Stadt Coswig baute die Villa 1968 zu einem Sechsfamilienhaus um. Der stilvolle Park verwilderte vollends. Die DDR-Gebaudewirtschaft konnte durch die Mangelwirtschaft die notigen Instandhaltungsmaßnahmen nicht durchfuhren und das Gebaude nur notdurftig reparieren. So wurde das Dach nur geflickt, um es dicht zu halten. Im Jahr 1987, anlasslich des 70. Todestags von Teresa Carreno, ließ der Botschafter von Venezuela an der Villa eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Kunstlerin und ihren Mann anbringen. = Seit 1995 = Im Jahr 1995 grundete sich der Forderverein Villa Teresa, dessen Schirmherr der Pianist Peter Rosel ist. Dem Verein gehoren Personen aus ganz Deutschland, Venezuela und den USA an. Ziel des Vereins ist die Erforschung des Lebens und Wirkens des Kunstlerehepaars Teresa Carreno und Eugen d’Albert und ihres Freundeskreises. Mit der Grundung des Fordervereins und der Ausfuhrung der Plane fur eine Gedenkstatte und ein Kammermusikzentrum in Kotitz begann der Umbau des Hauses. Im Jahr 1999 begannen die Sanierungsarbeiten an der Villa, die bis 2002 andauerten. In dem Jahr wurde das Gebaude als Zentrum fur Kammermusik und Literatur neu eroffnet. Heute ist die Villa ein kulturelles Zentrum, in dem verschiedene Veranstaltungen, wie Lesungen, Gesprache und Klavierkonzerte stattfinden. Das Gebaude bietet Platz fur bis zu 80 Gaste im Innen- und bis zu 200 Gasten im Außenbereich. In der Villa sind standesamtliche Trauungen moglich. In den Jahren von 2002 bis 2012 gab es 400 Kulturveranstaltungen. 2006 wurde der Park neu gestaltet und der Teich auf 400 m² vergroßert. 2014 wurde in der Villa ein kleines Museum eroffnet, das dem Kunstlerpaar Teresa Carreno und Eugen d’Albert als fruheren Bewohnern gewidmet ist. Es ist weltweit die einzige, der Offentlichkeit zugangliche Gedenkstatte fur das Kunstlerpaar. Literatur Jenny Pfriem: Der Garten der Villa Teresa in Coswig. Refugium des Kunstlerehepaares Eugen d’Albert und Teresa Carreno. 2020. (Online) Weblinks Website der Villa Teresa Villa Teresa auf den Seiten der Stadt Coswig Eine Villa fur Konzerte, Hochzeiten oder Urlaub. Chronologie zur Villa Teresa bei historisches-coswig.de Einzelnachweise
Die Villa Teresa steht im Coswiger Ortsteil Kotitz im sachsischen Landkreis Meißen. 1873 im spatklassizistischen Stil erbaut, verfugt die Villa uber einen englischen Garten und ist heute ein Ort kultureller Veranstaltungen. Sie war zeitweiliger Wohnsitz des Komponisten Eugen d’Albert und seiner Frau, der Pianistin Teresa Carreno. Nach ihr ist die Villa benannt.
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c-934
Die T.A.M.I. Show (Teenage Awards Music International) ist ein US-amerikanischer Konzertfilm von Steve Binder aus dem Jahr 1964. Die Konzertshow mit zeitgenossischen Musikstars wie Chuck Berry, Gerry and the Pacemakers, Smokey Robinson and the Miracles, Marvin Gaye, The Beach Boys, The Supremes, James Brown und den Rolling Stones wurde am 29. Oktober 1964 im kalifornischen Santa Monica Civic Auditorium live vor Publikum aufgezeichnet und als Film vermarktet. Kinopremiere war am 29. Dezember 1964 unter der irrefuhrenden Ankundigung „The first annual T.A.M.I. Show“. Einziger Nachfolger war die von Phil Spector produzierte The Big T.N.T. Show von 1965. Im Jahr 2006 wurde die T.A.M.I. Show von der Library of Congress der Vereinigten Staaten als „kulturell, historisch oder asthetisch bedeutsam“ eingestuft und fur die Aufnahme in die National Film Registry ausgewahlt. Hintergrund = Vorgeschichte = Ab 1964 bekam das Geburtsland des Rock ’n’ Roll neue musikalische Impulse aus dem Ausland. Im Zuge der British Invasion eroberten englische Bands wie die Beatles, The Searchers und The Animals die US-amerikanischen Billboard-Charts und belebten mit Phanomenen wie der Beatlemania das Show- und Mediengeschaft. Nun galt es, dieses neue Geschehen einzufangen und fur ein junges Zielpublikum kommerziell aufzubereiten. = Geschichte = Die T.A.M.I. Show war der erste bedeutende Konzertfilm, der ein Rockkonzert bzw. eine Rockshow dokumentierte. Das Konzept fur die Show geht auf den Produzenten und Entrepreneur H. William „Bill“ Sargent Jr. zuruck, der die T.A.M.I. Show ursprunglich einmal jahrlich abhalten wollte, um die aktuellsten Entwicklungen im Bereich Teenager-Musik abzubilden. Hierbei kam ein von Bill Sargent entwickeltes neuartiges Aufnahmeverfahren zum Einsatz. Mit Electronovision war es moglich, Liveshows und Theaterstucke in sehr hoher Auflosung mitzuschneiden, um sie hinterher ohne Qualitatsverluste auf Kinoleinwanden prasentieren zu konnen. Die Aufzeichnung der Show fand an zwei Tagen im Oktober 1964 in Santa Monica, Kalifornien, statt. Am 28. Oktober wurde geprobt und am 29. vor einem Teenager-Publikum live aufgezeichnet. Bis auf die Rockbands wurden alle Kunstler von den Studiomusikern der Wrecking Crew (Hal Blaine, Jimmy Bond, Lyle Ritz, Don Peake, Tommy Tedesco, Glen Campbell, Barney Kessel, Nino Tempo und Leon Russell) unter der Leitung von Jack Nitzsche begleitet. Aus dem Material der Vorstellung entstand der rund zweistundige Konzertfilm. Die Tickets fur die Vorstellung wurden kostenlos an Schuler lokaler High Schools verteilt. Die Moderation ubernahm das Surf-Pop-Duo Jan & Dean, das als eigenstandiger Act auch einen kleinen Auftritt innerhalb der Show hat. Chuck Berry wird von ihnen mit den Worten „the guy who startet it all back in 1958“ angekundigt. Berry eroffnete mit Johnny B. Goode die Show. Ab dem zweiten Lied prasentierte Chuck Berry seine Songs im Wechsel mit der britischen Beatkapelle Gerry and the Peacemakers, die bei dem Song Maybellene ubernahm. Der Auftritt der Beach Boys war aus rechtlichen Grunden nicht im Originalfilm enthalten. Ihre vier Titel wurden erst bei der Veroffentlichung der DVD-Version hinzugefugt. James Brown und die Rolling Stones begegneten sich hier zum ersten Mal und betrachteten sich anfanglich als Konkurrenten. James Brown, der gern als Hauptattraktion nach den Rolling Stones aufgetreten ware, zeigte sein ganzes Konnen und verausgabte sich mit vollem Korpereinsatz. Im einbeinigen Schimmy und zu den Klangen von Out of Sight betrat er die Buhne. Bei Please, Please, Please fiel Brown immer wieder theatralisch auf die Knie und simulierte eine Erschopfung, was zu seinem Repertoire gehorte und durch die „Cape-Routine“, die er sich bei dem Wrestler Gorgeous George abgeschaut hatte, wieder aufgelost wurde. Seine Hosen waren dadurch den Rest des Auftritts an den Knien beschmutzt. Zum Abschluss vollfuhrte er bei Night Train mehrmals einen Spagat. In seiner Autobiografie Godfather of Soul schrieb er dazu: „Ich glaube, ich habe nie wieder in meinem Leben so besessen getanzt wie damals, und ich glaube auch, die hatten noch nie jemanden gesehen, der sich so schnell bewegen konnte.“ Die Rolling Stones bekamen 25.000 US-Dollar fur ihren Auftritt, denselben Betrag wie Gerry and the Pacemakers und Billy J. Kramer & The Dakotas. Laut Keith Richards hatten die Stones den Auftritt nur angenommen, um Geld fur ihre Heimreise zu verdienen, denn die Band war pleite und musste auf ausstehende Tantiemen warten. Die Rolling Stones befanden sich gerade auf ihrer zweiten US-Tournee. Noch am 25. Oktober 1964 war die Band erstmals in der Ed Sullivan Show aufgetreten. Bedeutung Die Library of Congress stufte die T.A.M.I. Show als „kulturell, historisch oder asthetisch bedeutsam“ ein. Die Show versammelte Vertreter der angesagtesten Musikgenres jener Zeit in den USA wie Rock and Roll (Chuck Berry), Motown-Soul (Smokey Robinson and the Miracles, Marvin Gaye, The Supremes), Pop (Lesley Gore), Surfmusik (Jan & Dean, The Beach Boys), Garagenrock (The Barbarians), Rhythm and Blues (James Brown) sowie drei Bands der British Invasion: zwei Bands des Merseybeat aus Liverpool (Gerry and the Pacemakers, Billy J. Kramer and the Dakotas) und eine Rhythm-and-Blues-Band aus London (The Rolling Stones). Dadurch gab der Konzertfilm den Zuschauern einen guten Uberblick uber die zeitgenossische Pop- und Rockmusik. Daruber hinaus waren die auftretenden Kunstler gut gemischt, das heißt, es gab mit Lesley Gore eine weiße Sangerin, die als Solistin auftrat, mit Jan & Dean ein weißes Duo und mit James Brown einen schwarzen Sanger, der als Bandleader eine ganze Kapelle dirigierte. Die Supremes waren eine schwarze Girlgroup und die Miracles eine rein mannliche Gesangsgruppe. Marvin Gaye ließ sich vom Hintergrundgesang der Girlgroup The Blossoms begleiten, wahrend die Rolling Stones als Band aus gleichberechtigten Mitgliedern agierten. Dadurch, dass sich Chuck Berry und Gerry and the Pacemakers bei ihrem Auftritt abwechselten, standen ein schwarzer US-Amerikaner und vier weiße Briten als Musiker gleichberechtigt auf der Buhne. Im Hintergrund tanzte die ganze Veranstaltung hindurch ein gemischtes Ensemble von Go-go-Tanzern mit unterschiedlichem Bekleidungsgrad, darunter die damals noch unbekannte Schauspielerin Teri Garr (im Pullover mit Zielscheibe). Zusammen mit Filmen wie Rocky (1976), Und taglich grußt das Murmeltier (1993) und Fargo (1996) wurde die T.A.M.I. Show im Jahr 2006 in die National Film Registry aufgenommen. Setlist Literatur James Brown und Bruce Tucker: Godfather of Soul. Die Autobiografie. Munchen 2014, ISBN 978-3-453-64060-3, S. 266–268. David E. James: The T.A.M.I. Show. In: Rock ’n’ Film: Cinema’s Dance with Popular Music, Oxford University Press, New York, 2016. (Download) Weblinks T.A.M.I. Show bei IMDb DVD-Trailer: The T.A.M.I. Show: Collector’s Edition auf YouTube Harvey Kubernik: 60th Anniversary of the T.A.M.I. Show bei Music Connection vom 21. Juni 2024 (englisch) Einzelnachweise
Die T.A.M.I. Show (Teenage Awards Music International) ist ein US-amerikanischer Konzertfilm von Steve Binder aus dem Jahr 1964. Die Konzertshow mit zeitgenossischen Musikstars wie Chuck Berry, Gerry and the Pacemakers, Smokey Robinson and the Miracles, Marvin Gaye, The Beach Boys, The Supremes, James Brown und den Rolling Stones wurde am 29. Oktober 1964 im kalifornischen Santa Monica Civic Auditorium live vor Publikum aufgezeichnet und als Film vermarktet. Kinopremiere war am 29. Dezember 1964 unter der irrefuhrenden Ankundigung „The first annual T.A.M.I. Show“. Einziger Nachfolger war die von Phil Spector produzierte The Big T.N.T. Show von 1965. Im Jahr 2006 wurde die T.A.M.I. Show von der Library of Congress der Vereinigten Staaten als „kulturell, historisch oder asthetisch bedeutsam“ eingestuft und fur die Aufnahme in die National Film Registry ausgewahlt.
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c-935
Die Theodor-Herzl-Schule war eine private zionistische und religios neutrale Volksschule des judischen Schulvereins in Berlin, in der von 1920 bis zu ihrer Schließung im Jahr 1939 judische Schuler koedukativ unterrichtet wurden. Drei Jahre vor ihrer Schließung wurde sie umbenannt. Namensgeber war Theodor Herzl (1860–1904), ein osterreichisch-ungarischer Wegbereiter fur die Grundung des Staates Israel. Geschichte Die Geschichte judischer Schulen in Deutschland ist laut Jochanan Ginat kaum erforscht. Ein „Versuch“ wurde Ginat zufolge von Solomon Colodner mit seiner Dissertation Jewish education in Germany under the Nazis unternommen, die er am Dropsie College in Philadelphia vorlegte. Vor 1933 empfanden viele Juden judische Schulen als „Schwachung ihrer Integration in die deutsche Kultur“. Trotz aller Assimilationsbemuhungen gab es 1922 etwa zweihundert judische Schulen in Deutschland mit mehr als 20.000 Schulern, die in den Jahren danach kontinuierlich zuruckging. Im Jahr 1920 wurde die Berliner Schule unter dem Namen Private Volksschule des Judischen Schulvereins gegrundet. In Ermangelung von Raumen nahm sie ihre Arbeit mit den ersten sechs Schulern in der Privatwohnung von Arthur Nathan – einem der Grunder des judischen Schulvereins – auf. Ihre Umbenennung erfolgte nach dem letzten von insgesamt vier Umzugen drei Jahre vor ihrer Schließung. In den Amtlichen Bekanntmachungen vom Gemeindeblatt der Judischen Gemeinde zu Berlin wurde am 31. Mai 1936 mitgeteilt: „Die Schule am Kaiserdamm hat auf ihren Antrag von der Schulaufsichtsbehorde die Erlaubnis erhalten, fortan den Namen ‚Theodor-Herzl-Schule‘ zu fuhren.“ In den 19 Jahren ihres Bestehens war die Schule an verschiedenen Orten untergebracht: in den 1920er Jahren zunachst am Stuttgarter Platz, dann im Hof der Synagoge Fasanenstraße, danach in der Grolmannstraße, anschließend in der Klopstockstraße und schließlich von 1933 bis zur Schließung am Kaiserdamm 77–79 in Berlin-Charlottenburg. Dort kam es 1936 zur Umbenennung. Nach der Schließung der Schule – „eine direkte Folge der Kristallnacht“ – wurde die Auswanderung der Schuler von Paula Furst organisiert. Sie wurden in drei Gruppen eingeteilt. Eine Gruppe wurde auf eine Schule in Talpiot, einem Stadtteil von Jerusalem, geschickt, eine zweite Gruppe kam nach Jagur und eine dritte nach Ben Shemen. Im April 1939 publizierte Martin Deutschkron – Vater von Inge Deutschkron und nach Entlassung aus dem offentlichen Schuldienst Lehrer an dieser Privatschule – aus Anlass der Schließung im Judischen Nachrichtenblatt eine Art Nachruf auf die Schule. Von „zionistischen Eltern gegrundet“ habe sie „als Familienschule klein angefangen“, dann aber ab 1933 „einen ungeahnten Aufschwung genommen“. Diese Schule hatten tausende von Schulern durchlaufen. Zur Schulschließung schrieb er: „Die Verhaltnisse sind oft starker als der Wille, und so fallt diese Schule den wirtschaftlichen Zeitverhaltnissen zum Opfer.“ Diese kryptisch anmutende Begrundung ist der Tatsache geschuldet, dass das Judische Nachrichtenblatt nie den Prinzipien der Pressefreiheit unterlag. Laut dem Leo Baeck Institut nahm es seine Berichterstattung auf Anordnung der Nazis auf, nachdem andere judische Zeitungen ihr Erscheinen einstellen mussten. Es stand unter strenger Kontrolle des nationalsozialistischen Regimes. Ausschließlich akzeptierte Texte durften veroffentlicht werden. In der Reichspogromnacht wurde das Haus am Kaiserdamm „in Brand gesteckt und verwustet, im Marz 1939 folgte die endgultige Schließung durch die Nationalsozialisten“. Herzl hatte sich fur die Grundung des Staates Israel eingesetzt. Er organisierte den ersten Zionistenkongress und gilt laut dem Historiker Michael Brenner als einer der Begrunder des politischen Zionismus. Nach ihm ist unter vielem anderen auch eine bis heute aktive Schule in Haifa benannt, uber deren Eingang sich eine ihm nachgebildete Buste befindet. Die Leibniz-Gemeinschaft will Kultur bewahren, ihre zahlreichen Archive werden als „sammelnde Spezialarchive“ verstanden. Eines ihrer Archive sammelt Dokumente uber die Theodor-Herzl-Schule. Es umfasst handschriftliche Mitschriften, Schulbucher, Abschiedsmappen fur auswandernde Kinder, ein handgefertigtes Misrach-Tuch, eine handgefertigte Schriftrolle fur das Purimfest und Schul- und Arbeitszeugnisse. Daneben stellten ehemalige Schulerinnen und Schuler Briefwechsel, Fotografien und Zeitungsartikel uber die Schule als Originale oder in Kopie zur Verfugung, mitunter erganzt durch Berichte uber die Erinnerungen an die Schulzeit. Am 31. Oktober 2000 ist am Kaiserdamm 78, an dem sich zu diesem Zeitpunkt ein Gebaude des Sender Freies Berlin (SFB) befand, in Anwesenheit von Andreas Nachama, dem seinerzeitigen Vorsitzenden der Judischen Gemeinde zu Berlin, und im Beisein des damaligen SFB-Intendanten Horst Schattle sowie von Monika Wissel, der zu dieser Zeit amtierenden Bezirksburgermeisterin von Charlottenburg-Wilmersdorf, eine vom SFB finanzierte Gedenktafel enthullt worden. Der Bibliothekar Christian Ritzi, Leiter der Bibliothek fur Bildungsgeschichtliche Forschung, war der Uberzeugung, die „wenigsten Berlinerinnen und Berliner“ konnten den Hinweis auf eine „religios neutrale zionistische Schule“ interpretieren. = Vorgeschichte = Ein gesellschaftspolitisch bedeutsamer Prozess innerhalb der judischen Gemeinde – „vor allem an den judischen Schulen deutlich abzulesen“ – wurde in einer von Jochanan Ginat unter seinem Geburtsnamen Hans Gartner verfassten und 1956 vom Leo Baeck Institut herausgegebenen Schrift beschrieben. Sie trug den Titel Die Problematik judischer Schulen in Deutschland unter dem Hitler-Regime. Vor 1933 distanzierte sich „die nicht-orthodoxe Mittelschicht der Großstadte“ als reprasentativer Teil der deutschen Juden von der judischen Schulbewegung. In dieser ablehnenden Haltung „kamen samtliche Vorurteile der assimilierten deutschen Juden zum Ausdruck.“ Kritisiert wurde insbesondere ein Mangel an Ordnung und Disziplin. Zwischen 1933 und 1938 entwickelte sich mit „nie dagewesener Intensitat“ eine „neue judische Lebensweise“. Dieser „Anachronismus“ ist laut Ginat nur eingedenk der Tatsache erklarlich, „dass die Nazi-Politik damals zwar alles daran setzte, die Juden aus dem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben auszuschließen, aber noch nicht auf deren Vernichtung abzielte“. Dadurch kam es zu einer „Wiederbelebung des judischen Gemeindelebens“ und zugleich zum Aufgeben der „jahrhundertealten Assimilationsbestrebungen“. Der Wechsel von einer deutschen zu einer judischen Schule war umstritten, auch familienintern. Oft waren es die Kinder und Jugendlichen, „die eine judische Schule einer deutschen vorzogen“. Hanna Shalem zeichnet in ihrer Reise in die Vergangenheit das Wachstum der Berliner Gemeinde in Berlin nach, die von 4000 registrierten Juden im Jahr 1895 auf 172.500 im Jahr 1925 wuchs – bei einer allerdings als hoch einzuschatzenden Dunkelziffer. Sie stammten laut Shalem bevorzugt aus der „gebildeten Schicht“, zwei Drittel der „großeren Unternehmer und Immobilieneigentumer“ waren judischer Herkunft. Das judische Schulwesen in Deutschland begann Shalem zufolge im 19. Jahrhundert mit der „Grundung der Knabenschule in der Großen Hamburger Straße“ im Jahr 1825. Zehn Jahre spater kam es 1835 zur „Grundung einer entsprechenden Madchenschule“, noch bevor die erste stadtische hohere Madchenschule ihre Pforten offnete. Im Jahr 1839 wurde das Lehrerseminar gegrundet und 1850 die allgemeine Schulpflicht verkundet. Judische Studenten, die die Assimilation ihrer Eltern als „Zeichen von Anbiederung“ werteten, wandten sich den Zionisten zu. In Verbindung mit der zionistischen Bewegung entwickelte sich ein „Machtkampf in der Judischen Gemeinde“. Judische Schulbildung wurde in der Gemeinde zum „zentralen Streitpunkt“ der Zwanzigerjahre. Nissan und Betty Berggrun verfassten am 4. September 1936 in der Judischen Rundschau einen Artikel uber die Grundung der Hebraischen Sprachenschule. Sie wurde 1919 mit 14 Klassen, jedoch ohne eigene Raume eroffnet, so dass andere Institutionen aushelfen mussten. Im selben Jahr wurde der Judische Schulverein mit neutraler Ausrichtung gegrundet, damit unabhangig von religioser oder politischer Position darin mitgearbeitet werden konnte. Eine 110 Seiten starke Akte uber den Judischen Schulverein liegt im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York. Ebenfalls 1919 wurde ein Hebraisches Sprachseminar der hebraischen Sprachschule angegliedert, das intensiviertem Sprachunterricht fur Interessierte, aber auch fur Lehrer in der Galut (i. e. Judische Diaspora) dienen sollte. Nachdem bereits „zwei hebraische Kindergarten und funf Spielnachmittage“ eingerichtet waren, wurde die Grundung einer judischen Schule in Angriff genommen, die nach einem ersten, aber gescheiterten Versuch in der Linienstraße zur Grundung der spater so benannten Theodor-Herzl-Schule und 1922 zu einer zweiten Schule in der Rykestraße fuhrte. = Ausstellung 2006 = Vom 5. Oktober bis zum 22. Dezember 2006 wurde in der Warschauer Straße mit einer Ausstellung in den Raumen der Bibliothek fur Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) des Deutschen Instituts fur Internationale Padagogische Forschung (DIPF) an die Berliner Theodor-Herzl-Schule erinnert. Martin-Heinz Ehlert (1932–2016), der kurz zuvor eine Biografie uber Paula Furst verfasst hatte, erarbeitete die Ausstellungskonzeption. Ein „dokumentarischer Katalog“, ebenfalls von Ehlert vorgelegt, begleitete die Ausstellung. Das Material fur den Katalog hatte er wahrend der Arbeit an der Biografie von Furst zusammengetragen. Dazu gehorten Schulhefte, Schulbucher, Zeugnisse, Schulerarbeiten, Korrespondenz sowie Fotografien und Zeitungsartikel, die er anschließend dem Archiv der BBF uberließ. Der Katalog umfasst 12 Kapitel auf 52 Seiten und eine kleine Literaturliste. Umfanglich zitiert werden Artikel aus der Judischen Rundschau. Ein gesondertes Kapitel tragt auf acht Seiten Erinnerungen ehemaliger Schulerinnen und Schuler zusammen, das letzte titelt Pogrom und Flucht. Die Vorgeschichte der Schule begann dem Katalog zufolge mit der Grundung einer Volksschule in der Linienstraße im Osten Berlins, die aber bereits wenige Monate spater „aus verschiedenen Grunden wieder geschlossen werden musste“. Nach der ersten Privaten Volksschule des Judischen Schulvereins im Westen der Stadt wurde 1922 in der Rykestraße im Bezirk Prenzlauer Berg eine zweite Volksschule errichtet, die bis 1941 bestand und „die bedeutendste judische Volksschule im Berliner Osten“ war. Padagogisches Konzept Die Theodor-Herzl-Schule war eine religios neutrale zionistische Schule mit koedukativer Erziehung. Martin Deutschkron teilte in seinem Artikel zur Schulschließung mit, sie habe „immer das einheitliche Erziehungsideal, fur Palastina vorzubereiten, vertreten“. Die hebraische Sprache habe im Mittelpunkt gestanden und sei mit besonderer Stundenzahl „nach den methodischen Grundsatzen eines modernen Sprachunterrichts erteilt“ worden. Die beiden Facher Palastinakunde und Judische Geschichte sollten den Kindern „ein anschauliches Bild von der Geschichte, den geographischen Verhaltnissen und dem Leben der Juden in Palastina“ geben. Damit sollte ihnen nach ihrer spateren Ubersiedelung „die Einordnung in palastinensische Verhaltnisse leicht“ gemacht werden. Im Archiv der Leibniz-Gemeinschaft ist zu erfahren, dass diese Prinzipien neben der Forderung der Kenntnisse hebraischer Literatur und der Vorbereitung auf die Alija (Auswanderung nach Palastina) dem Vereinszweck des Judischen Schulvereins entsprachen. Die Unterrichtspraxis habe sich an den Ideen der Reformpadagogen orientiert. Auch landwirtschaftliches und handwerkliches Know-how wurde vermittelt. Schulleitung, Lehrkorper, Schuler = Ehemalige Schulleitung = Ausnahmslos wurde die Schule von Frauen geleitet. Der Beruf eines Volksschullehrers war „in der judischen Gesellschaft unter Mannern nicht sehr angesehen“, wahrend er fur Frauen eine der wenigen Moglichkeiten fur ein „eigenstandiges Berufsleben“ war. Alle vier Leiterinnen hatten „ungewohnliche Ausbildungswege“ beschritten. Manche studierten nach ihrer Grundausbildung, andere arbeiteten auch im Ausland und teilweise hatten sie umfangreiche Fremdsprachenkenntnisse. Von 1920 bis 1925 wurde die Schule von Betty Berggruen-Landau (1889–1955) geleitet, von 1925 bis 1928 von Klare Panofsky (1887–1981), ab 1928 von Paula Nathan (1881–1949) und ab 1933 von Paula Furst, die sich Anfang der 1920er Jahre Maria Montessori und der nach ihr benannten Montessoripadagogik zugewandt und zeitweise „an der ersten in Berlin eingerichteten offentlichen Montessori-Versuchsschule“ gearbeitet hatte. An den Erziehungszielen und -methoden dieser speziellen Reformpadagogik richtete Furst die Erziehung aus. Im geschichtlichen Abriss der Erinnerungen an die Theodor-Herzl-Schule in Berlin wird fur die Schulleitung Klare Panofsky nicht erwahnt, was aufzuklaren Historikern uberlassen bleibt. = Ehemalige Lehrer = Das Lehrerkollegium „kam nicht unbedingt aus dem Lehrfach“, es war ein „Sammelbecken fur Industrielle, Forscher, Kunstler“ und diese Mischung sei „ein Segen“ gewesen, wie Zvi Silberstein in seinen Erinnerungen erwahnte. Nicht alle Namen der insgesamt uber 60 Lehrer sind bekannt. Die folgenden Namen der Lehrer wurden auf dem ersten Ehemaligentreffen 1996 in Maʿabbarot zusammengetragen. Die Liste ist in der Dokumentation dieses Treffens als nicht vollstandig ausgewiesen. Hier werden uberdies jene Lehrer nicht aufgefuhrt, deren Vorname nicht bekannt ist. Martin Deutschkron (1893–1982) – Vater von Inge Deutschkron –, Marli Ehrman, Hans Keilson, Heinrich Selver und Gustav Uhrmann gehorten ebenfalls dem Lehrerkollegium an. Auch die spater ermordeten Lehrerinnen Hannah Karminski, Rosa Bluh und Kathe Lewy sowie der Lehrer Erich Bandmann gehorten dazu. Die politischen Verhaltnisse beforderten nicht nur einen starken Anstieg der Schulerzahlen und in der Folge einen nicht unerheblichen Lehrermangel – 1932 unterrichteten 18 Lehrkrafte 218 Kinder –, sondern fuhrten zeitgleich zur Entfernung der meisten judischen Lehrer aus den staatlichen Volksschulen und Gymnasien. Ihre Aufnahme in das Lehrerkollegium zog Auseinandersetzungen nach sich, teils weil sie keine Zionisten waren, teils weil die auf wenige Facher spezialisierten Gymnasiallehrer nicht als Volksschullehrer geeignet schienen. Doch war beispielsweise Martin Deutschkron – Oberstudienrat, kein Zionist und von 1934 bis 1936 an der Theodor-Herzl-Schule unterrichtend – durchaus geschatzt. Er reflektierte in der Judischen Rundschau unter dem Titel Vom Studienrat zum Volksschullehrer den „vermeintlichen Abstieg“ der Studienrate, sprach vom „Eindringen“ der Akademiker in die Volksschule und behauptete, auch ein Studienrat konne ein guter Volksschullehrer sein, wenn nachgeholt wurde, „was die fruhere Ausbildung versaumt“ habe. Elias Auerbach außerte sich in einer Elternversammlung gegen die Aufnahme der arbeitslos gewordenen Lehrer, deren „Versorgung Wohlfahrtssache“ sei. Die judische Schule durfe laut Auerbach „kein Wohlfahrtsinstitut werden“, stattdessen mussten junge Krafte „herangezogen werden, fur die das Judische Lebensaufgabe, Ideal, Ziel, Sehnsucht“ sei. Diese Haltung ließ sich jedoch nicht aufrechterhalten. Die neuen Lehrer mussten sich laut Hans Gartner umstellen, denn die „Unruhe und das Durcheinander der ersten Monate“ standen im „Kontrast zu der geordneten und wohlorganisierten deutschen Schule“. = Ehemalige Schuler = Eine Zeitzeugin (Aviva Schmelziger) schrieb in ihren Erinnerungen fur die Zeit von 1928 bis 1933 uber ihre Klassenkameraden, dass sie „eine sehr bunte Gesellschaft“ darstellten. Es waren „Arbeiterkinder und Kinder reicher Industrieller und Kaufleute, Kinder zionistischer Funktionare und von Menschen des offentlichen Lebens, ‚Sabres‘ (Bezeichnung fur in Israel geborene Juden), deren Eltern fur eine Zeit nach Berlin kamen und eine unubersehbare Gruppe von Kindern, Fluchtlinge aus Osteuropa.“ Ursprunglich stammten die Kinder „uberwiegend aus einem zionistisch eingestellten Elternhaus und niemals ware es assimilierten, nicht-zionistischen Eltern eingefallen, ihre Kinder auf diese Schule zu schicken.“ Doch sollte sich das „durch die politischen Ereignisse des Jahres 1933 innerhalb kurzester Zeit grundlegend andern“. Es kam „zu einem rapiden Anstieg der Schulerzahlen auf den bestehenden judischen Schulen“. So stand die Schulleitung vor der Schwierigkeit, bei begrenzten raumlichen Kapazitaten eine große Zahl neuer Schuler in die Schule zu integrieren, denn von „1931 bis 1934/36 verdreifachten sich die Schuler“. In Absprache mit der Elternvertretung pachtete der Schulverein im Oktober 1933 ein „ein leer stehendes Ateliergebaude am Kaiserdamm 5“, baute es um und konnte die Raume bereits im Januar 1934 fur 250 Kinder aus der Klopstockstraße nutzen. In unmittelbarer Nahe befanden sich der damals sogenannte Adolf-Hitler-Platz – spater in Theodor-Heuss-Platz umbenannt – sowie das Haus des Rundfunks, „von wo aus Goebbels seine Hasstiraden gegen die Juden verbreitete“. Von 1936 bis 1938 ging die Schulerzahl wieder zuruck, von etwa 600 auf rund 300 Schuler, weil die Auswanderungszahlen stiegen. Nach den Olympischen Spielen 1936 erließen die Nationalsozialisten zahlreiche neue Verordnungen, die den Druck auf die judische Bevolkerung erhohten. Der ebenfalls zunehmende Verlust von Lehrkraften „stellte die Leitung der Schule vor große Probleme“. Hunderte von Schulern haben mehr oder weniger lange die Theodor-Herzl-Schule besucht. Einige von ihnen sind namentlich bekannt, insbesondere jene, die sich an Klassentreffen beteiligten. So sind im Inlay der DVD-Verpackung des Films Das Wiedersehen 29 der 35 Ehemaligen, die an dem Wiedersehen teilgenommen hatten, namentlich in alphabetischer Reihenfolge verzeichnet: Uberdies nahmen an dem Treffen Gabriel Bach (1927–2022, Jurist) und Jona Rosenfeld (1922–2023, Psychoanalytiker) teil. Einige weitere Personen sind als ehemalige Schuler namentlich bekannt. Dazu gehoren die Autorin Shulamit Arnon, Arno Gruen (1923–2015), Schriftsteller und Psychoanalytiker, Jakob Hirsch (1924–2018), Staatssekretar beim israelischen Staatskontrolleur und aktiv in den deutsch-israelischen Beziehungen sowie bei der Hilfe fur Uberlebende der Shoah, und die Psychotherapeutin Ilse Flatow (1919–1995), Tochter von Georg Flatow. Laut Adin Talbar schlossen sich viele Schuler zionistischen Jugendorganisationen wie Habonim oder HaSchomer haZaʿir an. In seiner Klasse waren „religiose Jugendgruppierungen oder die (revisionistische) ›Betar‹-Bewegung“ nicht vertreten. Talbar selbst wird in der vierteljahrlich erscheinenden Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) als ein Mensch mit „Berliner Schnauze“ bezeichnet, der sich „um die Grundlage der heutigen deutsch-israelischen Freundschaft“ verdient gemacht habe, denn die Aussohnung zwischen Deutschland und Israel war ihm ein „Herzensanliegen“. Besonderheiten Unter den Unterrichtsfachern galten Sprachen, Geschichte, Erdkunde und Sport als besonders wichtig. Allerdings wurden teils andere Inhalte als an offentlichen Schulen behandelt. Unter den Sprachen stand Hebraisch im Vordergrund, so dass manche Kinder, anders als ihre Eltern, nach ihrer Auswanderung diese Sprache fließend beherrschten. Fur den Fall, dass andere Lander fur eine Auswanderung in Betracht kamen, wurde auch auf Englisch und Franzosisch viel Wert gelegt. Im Fach Geschichte wurden zwar auch Altertum, Mittelalter und Neuere Geschichte behandelt, besonderes Augenmerk war aber auf die Judische Geschichte von den Anfangen bis in die Neuzeit gerichtet. Als eine Emigration fur das eigene Uberleben zunehmend unabweislich erschien, „wandelte sich das Fach Erdkunde in Palastinakunde“. Uberdies wurden jene Lander bevorzugt behandelt, die als Einwanderungsland in Frage kamen. Der Sport „sollte die Kinder auf das schwere Leben, besonders in Palastina, vorbereiten“. Weil Turnhallen und Sportplatze nicht ausreichend zur Verfugung standen, wurde Sport im Grunewald auf einem der judischen Gemeinde gehorenden Sportplatz unterrichtet. Neben den ublichen Fachern standen auch Gartenarbeit, Nah- und Kochunterricht – auch fur Jungen – sowie Werkunterricht auf dem Stundenplan. Die Schuler fertigten Kleinmobel an, lernten den Gebrauch einer Nahmaschine, nahten verschiedene Kleidungsstucke und gaben ein kleines Modeheft mit eigenen Entwurfen heraus. Fur die Theaterauffuhrungen wurden Kulissen und Kostume selbst gefertigt. In der Tradition judischer Jugendbunde wie Blau-Weiß wurde großer Wert auch auf Ausfluge und Wanderungen gelegt. Zu den Besonderheiten der Schule rechnete Jochanan Ginat insbesondere drei Faktoren: „ein Lehrerkollegium, das uberwiegend nach den Prinzipien der Bildungsreformbewegung ausgebildet worden war;“ „ein Grundstock von Lehrern, die einerseits zwar in der deutschen Kultur verwurzelt waren, andererseits jedoch bewusst ihr Judentum lebten und aufgrund ihres judischen Wissens von Beginn an die judische Schule uneingeschrankt unterstutzt hatten;“ „Schuler, die in ihrer Mehrheit aus der Mittelschicht kamen und entweder zionistische Eltern hatten oder aber Mitglieder in den judischen Jugendorganisationen waren.“ Die Schule half den Kindern in einem feindseligen Umfeld Erniedrigungen zu entkommen, ihre Herkunft „nicht als Ungluck, sondern als Aktivposten zu begreifen“ und ihnen „kulturelle Werte mitzugeben, die selbst die Nazis nicht zerstoren konnten“. Studienrat Kurt Hammerstein schrieb uber judische Schulen im Mai 1925: „Das Ziel dieser Schulen steht im Einklang mit der Erkenntnis der modernen Padagogik, dass die Schule ihre Aufgabe nicht in der bloßen Vermittlung von Wissensstoff erschopfen durfe, sondern den ganzen Menschen erfassen musse.“ Judische Marchen und Sagen wurden den Kindern nahegebracht und gemeinsame Feste begangen, wie die Chanukka- und Purimfeiern. Eine Zeitzeugin berichtete von Ausschussen zur Selbstverwaltung; bei funf Tagen Unterricht pro Woche sei oft Theater gespielt worden, Exkursionen seien unternommen oder Ausstellungen vorbereitet worden. Ein Zeitzeuge zahlte zur „Einzigartigkeit“ dieser Schule die Tatsache, dass die Lehrer beim Vornamen genannt und geduzt wurden, was in der „damaligen Zeit an einer anderen Schule unmoglich war“. Ein Schulerrat habe „Lehrer zur Klarung einer Angelegenheit“ vorladen und „einen Tadel aussprechen“ konnen, wovon aber wegen des guten Verhaltnisses zwischen Lehrern und Schulern kein Gebrauch gemacht wurde. Das Unterrichtsmaterial sei „zum Teil oder ganzlich in Vergessenheit geraten“, doch blieben „die zwei wichtigsten Ziele“ in Erinnerung: „Willen und Lust zu lernen und das Wissen, wie man selbstandig mit Quellenmaterial arbeitet.“ Manches, was hervorgehoben wurde, war nicht wirklich spezifisch, weil von reformpadagogischen Stromungen der Weimarer Republik beeinflusste Schulen vergleichbare Lehrmethoden anwandten. Das eigentlich Besondere bestand darin, dass es eine zionistische Schule war. „Zwar vertrat der ‚Judische Schulverein‘ laut Satzung keine besondere religiose oder politische Richtung, aber in der Praxis sah das vollig anders aus.“ Miriam Roth, eine ehemalige Schulerin, erinnerte sich an „Beurteilungsgesprache“ vor der Zeugnisvergabe, in denen die Schuler lernen sollten, eigene Leistungen und die der Mitschuler einzuschatzen – „zum Guten wie zum Schlechten“. Mordechai Amit erinnerte sich daran, dass ein „Schulerausschuß“ Lehrer zum Gesprach bestellen und sie ggf. kritisieren konnte, wozu es jedoch nie gekommen sei. „Buffeln“ habe es nicht gegeben, stattdessen wurde viel diskutiert. Zu den Besonderheiten der Schule gehorte das „Gebot des Wassersparens“, zu dem die Kinder unter dem Hinweis angehalten wurden, dass in Israel das Wasser knapp sei. In einem Schulgarten lernten sie, Gemuse und Blumen anzubauen, ein kleiner Zoo diente dem Erwerb von Kenntnissen der Geflugelzucht. Das von den deutschen Behorden verlangte Pflichtfach Heimatkunde behandelte „die Landkarte von Erez Israel“. Das Ende der Theodor-Herzl-Schule Spate Klassentreffen Es gab mehrere Klassentreffen der ehemaligen Schulerinnen und Schuler in jeweils wechselnder Zusammensetzung. Im Jahr 1996 traf man sich im Maʿabbarot, einem Kibbuz nordlich von Netanja im israelischen Zentralbezirk, 2005 in Jerusalem und 2006 in Berlin. = Ehemaligentreffen in Maʿabbarot 1996 = Am 4. Juni 1996 trafen sich etwa 70 Ehemalige im Kibbuz Maʿabbarot. Das Treffen wurde organisiert von Hanna Guttsmann (1996 Hanna Shalem) und zwei weiteren Frauen. Dass die Idee, sich zu treffen, so spat entstand, hatte laut Shulamit Arnon vermutlich „mit der Angst zu tun, sich der Wirklichkeit zu stellen“, dass sich „nur eine Handvoll der ehemals Hunderten von Schulern“ einfinden konnte, zumal nicht alle es „schafften, sich zu retten“. Aus diesem Treffen ging 1998 eine Schrift unter dem Titel Erinnerungen an die Theodor Herzl Schule in Berlin hervor. Es handelt sich um eine Art Collage in Form eines Paperbacks mit Ringbindung. Im Intro heißt es dazu vom Produktionsteam: „Wir haben weder die Mittel noch sind wir in der Lage, eine Hochglanzdokumentation auf die Beine zu stellen; auch war es nicht unser Ziel, eine wissenschaftliche oder historiografische Arbeit zu prasentieren.“ Es galt, „dem Vergessen entgegenzuwirken“. Dafur seien Erinnerungen Ehemaliger und Fotos gesammelt und mit Dokumenten zusammengestellt worden, die noch aufgetrieben werden konnten. Man habe „die besondere Atmosphare“ der Schule „ein wenig erfahrbar“ machen wollen. Die Dokumentation hat funf Teile. In einem ersten Teil geht es um die Schule. Der zweite Teil tragt Erinnerungen Ehemaliger fur die Zeit vor Hitler und der dritte fur die Zeit unter Hitler zusammen. Der vierte Teil ist dem „Wiedersehen nach sechzig Jahren“ gewidmet. Der funfte Teil besteht aus einem Anhang mit der „Liste der Lehrerinnen und Lehrer“, der „Verpflichtung zur Finanzierung der Schule“, der „Genehmigungsurkunde zur Eroffnung der Schule“ und Fotos. Neben dem Ausdruck von Begeisterung uber ihre Schule wurde von den ehemaligen Schulern auch Kritik geaußert, zum Beispiel von Mordechai Amit daruber, dass es keinen Sexualkundeunterricht und „nicht eine einzige Bibelstunde“ – weder zur Mischna noch zum Talmud – gab. = Klassentreffen in Jerusalem 2005 = Der Journalist Ulrich W. Sahm (1950–2024) berichtete im April 2005 in dem deutsch-judischen Nachrichtenmagazin haGalil uber ein Klassentreffen, das er als „Nostalgietreffen nach 67 Jahren“ bezeichnete. Obwohl es in Jerusalem stattfand – Adin Talbar hatte in seine Jerusalemer Wohnung geladen –, sei „selbstverstandlich deutsch geredet“ worden. Anlass des Treffens war der Besuch von Martin-Heinz Ehlert, der gekommen war, um den Ehemaligen seine Biografie uber Paula Furst vorzustellen. Es ist laut Sahm „fast die einzige Publikation uber das judische Schulwesen in Deutschland in der Nazizeit“. Auch die zweimal jahrlich erscheinende Zeitschrift aktuell – herausgegeben fur Berlinerinnen und Berliner, die ihre Stadt wahrend des Nationalsozialismus verlassen mussten – berichtete 2005 in ihrer Dezember-Ausgabe uber dieses Klassentreffen. Der Einladung Talbars war unter anderem „der ehemalige Anklager Adolf Eichmanns und Oberrichter Gabriel Bach“ gefolgt. Es kamen „Eli Preis, fruherer Nachbar Martin Bubers, und zwanzig alte Leute in den Achtzigern.“ Sie alle wollten mehr uber ihre ehemalige Schulleiterin erfahren. Sahm zitierte Bach, der bei dem Treffen von seiner Begegnung mit Eichmann berichtete: „Ich habe mich lange mit Eichmann unterhalten. Der erzahlte mir von einem mundlichen Fuhrerbefehl. Daraufhin habe er die Wannsee-Konferenz organisiert, bei der nur noch technische und rechtliche Dinge besprochen wurden. SS-Offiziere und Juristen waren eingeladen. Eichmann und Heydrich befurchteten, dass die Juristen Einwande gegen die Ermordung von Unschuldigen, Frauen und Kindern hervorbringen konnten. Aber es gab keine Einwande. Am Abend hatten Eichmann und Heydrich einen Schnaps getrunken und vor dem großen Kamin der Wannsee-Villa vor Freude zusammen getanzt.“ Ehlert berichtete, es habe 1933 etwa 40.000 schulpflichtige judische Kinder in Deutschland gegeben, 1939 seien es nur noch 9.000 gewesen. In den Jahren dazwischen „hatte eine große Auswanderungswelle eingesetzt“, nachdem die Juden „immer mehr in die Enge getrieben worden waren“ (siehe auch: Reichszentrale fur judische Auswanderung). Nachdem judische Schuler christliche Schulen nicht mehr besuchen durften, wechselten viele zur Theodor-Herzl-Schule, deren Schulerzahl bald auf 600 angewachsen war. Laut Ehlert gab es bis zum 19. Juni 1942 unter der Verantwortung von Paula Furst noch 96 Lehrer und 2700 Schuler: „Sie wurden alle deportiert. Wir wissen nicht wohin. Ausgerechnet fur diese Transporte fehlen die Unterlagen. Keiner hat uberlebt.“ Mit diesen Deportationen endete das judische Schulwesen in Deutschland. = Ehemaligentreffen in Berlin 2006 = Im Oktober 2006 berichtete Marcus Franken in der Judischen Allgemeinen unter Hinweis auf die bis Dezember laufende Ausstellung Wir gehen gern in die Schule uber das Treffen von 35 Ehemaligen der Jahrgange 1919 bis 1928 in Berlin. Zu diesem Treffen hatte Adin Talbar seine fruheren Mitschuler anlasslich der Ausstellung eingeladen, „um sich 67 Jahre nach Schandung und Schließung ihrer Schule zu erinnern“ und „um gegen die Verletzungen zu kampfen, die sie seitdem mit sich tragen“. In den 1930er Jahren waren laut Franken die Zionisten „mit 20.000 nur ein kleines Gruppchen unter den 570.000 Juden“ in Deutschland. Talbar versammelte die Ehemaligen in Berlin auch, um „der Veroffentlichung einer Gedenktafel beizuwohnen.“ Das Treffen fand vom 4. bis zum 11. Oktober in der Bibliothek fur Bildungsgeschichtliche Forschung in Berlin statt. Am Morgen des ersten Tages begrußte die Bezirksburgermeisterin Monika Thiemen die Gaste an der Gedenktafel fur ihre ehemalige Schule. Josie Rucker, eine Berliner Kamerafrau, begleitete das einwochige Treffen hinter der Kamera. Die Idee, das Treffen zu dokumentieren, stammte von Talbar, der gemeinsam mit Rucker die Regie fur den Dokumentarfilm Das Wiedersehen ubernahm. Der gut zwei Stunden lange Film feierte 2008 wahrend des Docaviv in Tel Aviv seine Premiere. Inzwischen liegt der Film als DVD in einer auf 70 Minuten gekurzten Fassung vor. Neben dem Film wurde eine Audio-CD mit insgesamt 30 Episoden in deutscher, englischer oder hebraischer Sprache produziert, die als akustisches Dokument in uber sieben Stunden (437 Minuten) die Erinnerungen von 27 Ehemaligen zusammentragt. Adin Talbar, der als Herausgeber fungiert, spricht einleitende Worte („opening address“), Lea Bar-Efrat steuert neben ihrer Lebensgeschichte einen Ruckblick auf die Jahre 1920 bis 1933 bei, Marianne Berg schaut auf die Jahre 1933 bis 1939 zuruck und Jona Rosenfeld beschließt das Dokument mit seinen „closing words“ (deutsch: abschließende Bemerkungen). Viele der Ehemaligen, die inzwischen auf allen Kontinenten verstreut leben, kamen in Begleitung ihrer Ehepartner, ihrer Kinder und Enkelkinder. Sie besuchten Orte, die sie aus ihrer Kindheit kennen, und erzahlten einander aus ihrer Lebensgeschichte, festgehalten auf Video und in einem Horbuch. Der Film Das Wiedersehen Im Vorwort zum 2008 veroffentlichten Film Das Wiedersehen teilt Adin Talbar mit, dass allein in England zehntausend Kinder Schutz fanden. Sie mussten Deutschland ohne ihre Familie verlassen, die „meisten sahen ihre Eltern nie wieder.“ Spater berichtete eine Teilnehmerin, dass sich in England fur jedes Kind ein Burge finden musste, der bereit war, die 50 Pfund fur die Uberfahrt zu bezahlen. Der Film begleitet die Ehemaligen, deren Namensschilder mit ihren fruheren und ihren heutigen Namen versehen waren, beginnend mit ihrer Ankunft am Hotel Lichtburg am Kurfurstendamm bei ihrer anschließenden Stadtrundfahrt, auf der junge Familienangehorige die Gegend filmten. Zu den Stationen gehorten die offentliche Enthullung der Gedenktafel, die von einem ehemaligen Schuler entworfen worden war, und der Besuch der Judischen Gemeinde in der Oranienburger Straße. Dort hielt die Tochter der ehemaligen Schulleiterin Betty Berggruen-Landau einen Vortrag uber die Grundungsgeschichte. Marianne Berg, aus Stockholm angereist, erzahlte, dass sie lange keinerlei Erinnerung an die Zeit zwischen dem Pogrom und ihrer Emigration hatte. Inge Borck berichtete von ihrer Zwangsarbeit bei Siemens und Halske. Um dem angekundigten Abtransport zu entkommen, hatte sie absichtlich ihren Finger mit der Frase verletzt, damit sie im Krankenhaus versorgt werden musste und zum Zeitpunkt der Deportation nicht vor Ort war. Danach ging sie in den Untergrund und uberlebte, anders als all ihre Freunde und ihre gesamte Familie. Wahrend ihres Aufenthalts in Berlin besuchten die Ehemaligen sowohl das Denkmal fur die ermordeten Juden Europas als auch das Mahnmal Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Uberdies wurde der Ort des ehemaligen judischen Sportplatzes im Grunewald besucht (siehe auch Judischer Sport im NS-Deutschland) und es gab eine Dampferfahrt auf dem Wannsee. Zur Ausstellungseroffnung hielt Martin-Heinz Ehlert einen Vortrag, in dem er darauf hinwies, dass sich viele Disziplinen inzwischen mit Vergangenheitsbewaltigung befasst hatten, was fur Erziehung und Schule weitgehend noch ausstehe. Dem letzten Abend widmet der Film viel Zeit, zeigt die Protagonisten noch einmal im Portrat und zeichnet die Abschiedsworte von Jona Rosenfeld auf, der sich bei „allen Generationen“ bedankte, nicht nur bei den Organisatoren des Treffens, sondern auch bei jenen, die die ehemaligen Schulerinnen und Schuler nach Berlin begleiteten. Ihre Namen fuhrt der Abspann ebenso auf wie die aller Beteiligter. Veroffentlichungen = Literatur = M. Israel Deutschkron: Eine judische Schule. Der Theodor Herzl-Schule zum Abschied. In: Judisches Nachrichtenblatt. Band 27/28, Nr. 1939, 4. April 1939, DNB 1048948706 (dnb.de [abgerufen am 15. August 2022]). Martin-Heinz Ehlert: Paula Furst. Aus dem Leben einer judischen Padagogin. Text Verlag Edition Berlin, Berlin 2005, ISBN 3-938414-76-6. Martin-Heinz Ehlert: "Wir gehen gern in unsere Schule". Die zionistische Theodor-Herzl-Schule in Berlin bis 1939. Ein dokumentarischer Katalog zur Ausstellung. Bibliothek fur Bildungsgeschichtliche Forschung, Berlin 2006, DNB 115975487X, urn:nbn:de:0111-pedocs-40734 (archive.org [PDF; 5,9 MB] Ausstellungsdauer: 5. Oktober bis 22. Dezember 2006, Ausstellungsort: Bibliothek fur Bildungsgeschichtliche Forschung des Deutschen Instituts fur Internationale Padagogische Forschung). Feier der Theodor-Herzl-Schule. In: Judische Gemeinde zu Berlin (Hrsg.): Gemeindeblatt der Judischen Gemeinde zu Berlin. Band 26, Nr. 24, 14. Juni 1936, DNB 1039755062, S. 3 (dnb.de [abgerufen am 15. August 2022]): „Anlaßlich der Umbenennung der Schule veranstaltete deren Verwaltung im Saale des Brudervereinshauses eine Feierstunde. Paula Furst und Frau Bergmann hielten aufschlußreiche Referate uber Sinn und Aufgabe der Schule. Die Feier wurde von Choren umrahmt. Namens des Vorstandes der Berliner judischen Gemeinde sprach dessen Mitglied Dr. Tuchler, fur die Zionistische Vereinigung nahm Dr. Franz Meyer das Wort.“ Jochanan Ginat (geb. Hans Gartner): Probleme der judischen Schule wahrend der Hitlerjahre, unter besonderer Berucksichtigung der Theodor-Herzl-Schule in Berlin. In: Robert Weltsch (Hrsg.): Deutsches Judentum. Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke. Stuttgart 1963, S. 326–352. Willi Holzer: Judische Schulen in Berlin. Am Beispiel der privaten Volksschule der judischen Gemeinde Rykestrasse (= Deutsche Vergangenheit. 54: Statten der Geschichte Berlins). Edition Hentrich, Berlin 1992, ISBN 3-89468-003-2. Adin Talbar: Erinnerungen an die Theodor Herzl Schule in Berlin. In: Leo Baeck Institute (Hrsg.): Center for Jewish History. 2006 (cjh.org). Theodor-Herzl-Schule. Amtliche Bekanntmachungen. In: Judische Gemeinde zu Berlin (Hrsg.): Gemeindeblatt der Judischen Gemeinde zu Berlin. Band 26, Nr. 22. Berlin 31. Mai 1936, DNB 1039754341, S. 12 (dnb.de [abgerufen am 15. August 2022]): „Die Schule hat auf ihren Antrag von der Schulaufsichtsbehorde die Erlaubnis erhalten, fortan den Namen „Theodoer-Herzl-Schule“ zu fuhren.“ Yfaat Weiss: Schicksalsgemeinschaft im Wandel. Judische Erziehung im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938 (= Hamburger Beitrage zur Sozial- und Zeitgeschichte. Band 25). Hans Christians Verlag, Hamburg 1991, ISBN 3-7672-1127-0 (zeitgeschichte-hamburg.de [PDF; 1,2 MB]). = Medien = Adin Talbar, Josie Rucker: Das Wiedersehen. Dokumentarfilm 2008 (124 Min.) Adin Talbar: Reunion after 67 Years. Acoustic Documents of the Reunion (437 Min., deutsch, englisch, hebraisch) Weblinks Theodor-Herzl-Schule (1920–1938). Ein Erinnerungsprojekt der ehemaligen Schulerschaft Anmerkungen Einzelnachweise
Die Theodor-Herzl-Schule war eine private zionistische und religios neutrale Volksschule des judischen Schulvereins in Berlin, in der von 1920 bis zu ihrer Schließung im Jahr 1939 judische Schuler koedukativ unterrichtet wurden. Drei Jahre vor ihrer Schließung wurde sie umbenannt. Namensgeber war Theodor Herzl (1860–1904), ein osterreichisch-ungarischer Wegbereiter fur die Grundung des Staates Israel.
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Die Schlacht bei Boblingen am 12. Mai 1525 war eine der bedeutendsten Schlachten wahrend des deutschen Bauernkriegs. In ihr wurden die aufstandischen wurttembergischen Bauern am Goldberg zwischen Boblingen und Sindelfingen vom Heer des Schwabischen Bundes unter der Fuhrung von Truchsess Georg von Waldburg vernichtend geschlagen. Vorgeschichte Bereits im Jahre 1514 erhoben sich im Remstal Bauern des Armen Konrad fur mehr politische Rechte und faire Behandlung. Hierum ging es auch im deutschen Bauernkrieg, der 1524 mit Aufstanden am Hochrhein und im Sudschwarzwald begann. Bauern erhoben sich in sogenannten Bauernhaufen sudlich von Ulm (Ende 1524), in der Furstabtei Kempten (Februar 1525) sowie am Bodensee (Marz 1525) und formulierten ihre Forderungen nach einem menschenwurdigen Leben in den Zwolf Artikeln von Memmingen. Aus den regionalen Aufstanden entwickelte sich dann der die Territorialgrenzen uberschreitende „Bauernkrieg“. In Wurttemberg begann der Aufstand Mitte April 1525. Am 16. April 1525 – Ostersonntag – sturmten Bauern die Amtsstadt Weinsberg und toteten die adeligen Bewohner auf grausame Art. Noch am Abend der Tat bildete sich auf dem Wunnenstein bei Großbottwar ein wurttembergischer Bauernhaufen unter der Fuhrung von Matern Feuerbacher und Hans Wunderer. Nach der Bluttat von Weinsberg wandte sich der Reformator Martin Luther von den aufstandischen Bauern ab und nannte sie eine „morderische und rauberische Bande“, was bei den Aufstandischen fur Unruhe und Verunsicherung sorgte und ihrem Ansehen bei der Bevolkerung schadete. Vom Wunnenstein beziehungsweise Bottwar ausgehend zog ein sich vergroßerndes Bauernheer durch das wurttembergische Kernland und nahm dabei kampflos einen Ort nach dem anderen ein. Der Haufen zog erst nach Lauffen am Neckar (20. April), dann weiter uber Besigheim (22. April) und Bietigheim (22. April) nach Vaihingen an der Enz (23. April), um in Stuttgart eine kurze Rast einzulegen (25.–27. April). Von Stuttgart ging der Marsch in das Remstal nach Waiblingen (28. April) und in das Filstal nach Ebersbach an der Fils (29. April) und schließlich nach Kirchheim unter Teck (30. April bis 2. Mai). Die Aufstandischen hatten vor, nach Tubingen vorzustoßen, wohin sich nach der Eroberung Stuttgarts die habsburgische Regierung zuruckgezogen hatte. Als die Aufstandischen erfuhren, dass ihnen der Truchsess von Waldburg vom Hegau aus entgegenkomme, anderten sie ihre Plane und erreichten am 3. Mai den heutigen Stuttgarter Vorort Degerloch. Sie zogen dann am 6. Mai weiter nach Sindelfingen und Boblingen und am 8. Mai vor die Tore von Herrenberg. Feuerbacher forderte vergebens die Herrenberger auf, die Stadt friedlich an die Aufstandischen zu ubergeben. Nach zwei vergeblichen Versuchen, die Stadt zu sturmen, was 200 Bauern das Leben kostete, setzten die Angreifer mit Feuerpfeilen 18 Hauser in Brand und sprengten ein Stadttor; Herrenberg kapitulierte. Rebellenfuhrer Matern Feuerbacher achtete auf Disziplin und ließ sogar gefangene Landsknechte vor Rache schutzen. Vor der Schlacht Wahrend ihres Marsches wurden viele Bauern zwangsrekrutiert und in die Haufen der Aufstandischen integriert. In Herrenberg schlossen sich ihnen der Schwarzwalder Haufen „Haufen vor Wald“ unter der Fuhrung von Thomas Maier sowie Bauern aus dem Hegau an (insgesamt 5000 bis 6000 Bauern). Weitere Bauern und Bewohner des Großraumes Boblingen/Sindelfingen wurden gezwungen, sich den Aufstandischen anzuschließen. Das Bauernheer zahlte schließlich etwa 15.000 Aufstandische, die jedoch schlecht ausgerustet waren. Auch die Kampfmoral der „zwangsrekrutierten“ Aufstandischen war wohl nicht sehr ausgepragt. Daruber hinaus waren die Bauernhaufen untereinander nicht einig, so gingen deren Ziele von der Umsetzung der „Zwolf Artikel“ bis zur „Umgestaltung des Staates“ weit auseinander. Um den 9. Mai erreichte Truchsess Georg von Waldburg mit seinen Kanonen und etwa 7500 Soldnern, darunter 1500 Berittene, ebenfalls die Gegend von Herrenberg. Der Truchsess wurde „Bauernjorg“ genannt, weil er in der Vergangenheit mit viel Brutalitat gegen die Aufstandischen vorgegangen war. In Herrenberg suchte der Truchsess die Konfrontation und schuchterte die Bauernhaufen mit seinem Geschutz ein. In der Nacht zum 10. Mai wich er nach Boblingen und Sindelfingen zuruck. Der Truchsess war jedoch vorerst zur Untatigkeit gezwungen, weil seine Soldner den ausstehenden Sold forderten und sich weigerten, die Kampfe wieder aufzunehmen. Er verlegte unterdessen (11. Mai) sein Heer nach Weil im Schonbuch. Der 12. Mai 1525 Am 12. Mai 1525 wollten die Aufstandischen uber das weitere Vorgehen beraten, nachdem am Vortag der gemaßigte Fuhrer Matern Feuerbacher, der sich fur Verhandlungen einsetzte, durch den Ritter Schenk von Winterstetten ersetzt worden war, der eine militarische Losung anstrebte. Die Bauern fuhlten sich zwischen Boblingen und Sindelfingen sicher, da in diesem sumpfigen Gebiet der Truchsess seine Reiter nicht einsetzen konnte. Diese Reiter wurden „Bauerntod“ genannt, weil ihnen die zu Fuß kampfenden Aufstandischen meist unterlegen waren. Es wurde auch berichtet, viele Aufstandische hatten in der Nacht zum 12. Mai gefeiert. Nachdem der Sold eingetroffen war, zog der Truchsess mit seinen Soldnern am 12. Mai fruhmorgens uber Mauren durch den Wald in Richtung Boblingen. Die Bauern wurden uberrascht und bezogen rasch Stellung zwischen Boblingen und Sindelfingen. Ein Bauernhaufen, vermutlich derjenige, der „Gewalthaufen“ genannt wurde, verschanzte sich am Goldberg und errichtete dort eine Wagenburg. Der „verlorene Haufen“ positionierte sich am Wald ostlich des Galgenbergs. Die Bauern verteidigten erst erfolgreich den Hohenzug ostlich des oberen Boblinger Stadttors zwischen Kappele und Waldburg. Wegen des Sumpfgelandes zwischen Boblingen und Sindelfingen konnte der Truchsess die Bauern nicht frontal unter Einsatz der Reiterei angreifen. Er erzwang darum mit der Drohung, Boblingen dem Boden gleich zu machen und alle Bewohner zu „erwurgen“, Zugang zum Boblinger Schlossberg, von wo aus er die Aufstandischen mit großen Hakenbuchsen und Kanonen angreifen konnte. Dieser Beschuss sowie das Anrucken des Grafen Wilhelm von Furstenberg ließ die Bauern hinter das obere Boblinger Stadttor zuruckweichen. Ostlich des Boblinger Stadttors, zwischen Kappele und Waldburg, besetzten daraufhin rasch 80 Reiter den kleinen Hohenzug, wohin vier leichte Geschutze gebracht wurden. Als diese gegen die andrangenden Bauern abgefeuert wurden, wandte sich zuerst der „verlorene Haufen“ zur Flucht, bald darauf auch der „Gewalthaufen“ am Goldberg. Zuvor war bereits der Galgenberg von der Reiterei des Schwabischen Bundes besetzt worden. Aus der Schlacht wurde jetzt ein Massaker an den Bauern. Die Aufstandischen versuchten in die benachbarten Walder zu fliehen. Der ortskundige Truchsess schnitt ihnen jedoch den Weg ab und ließ sie niedermetzeln. In nur vier Stunden von etwa 10 Uhr bis 14 Uhr waren die Bauern blutig besiegt worden. Grunde fur die Niederlage der Aufstandischen Mehrere Grunde werden angefuhrt, um die Niederlage der Aufstandischen zu erklaren: Das Heer der Aufstandischen bestand aus Bauern und Stadtbevolkerung, die im Kampf unerfahren und schlecht bewaffnet waren, wahrend auf Seiten des Schwabischen Bundes kriegserfahrene Soldner kampften. Es herrschte Uneinigkeit sowohl unter den Bauernhaufen selbst sowie unter ihren Anfuhrern uber die Ziele des Aufstandes. Es fehlte eine „Fuhrungspersonlichkeit“. Obwohl die Bauernhaufen in der Uberzahl waren, flohen die Aufstandischen ohne viel Widerstand, was als mangelnder Kampfwille interpretiert wird. Dieser hatte seinen Ursprung sicher auch in der „Zwangsrekrutierung“ auf Seiten der Aufstandischen. Auch die Abwendung Martin Luthers von den Zielen der Aufstandischen soll deren Entschlossenheit geschwacht haben. Folgen der Schlacht Mit der Niederlage der Aufstandischen bei Boblingen war der „Bauernaufstand“ in Wurttemberg beendet. Die Anzahl der Opfer bei den aufstandischen Bauern schwankt je nach Quelle zwischen 2000 und 9000 erschlagenen Aufstandischen. Eine realistische Schatzung durfte bei ungefahr 3000 Toten liegen. Die Verluste auf Seiten des Schwabischen Bundes waren außerordentlich gering. Chronisten sprechen von etwa 25 Reitern und 15 Fußsoldaten. Uberlebende Aufstandische mussten ihr Leben mit Geld erkaufen und/oder wurden des Landes verwiesen. Viele ihrer Familien wurden gezwungen, ihnen in die Verbannung zu folgen, nachdem ihr Besitz enteignet worden war. Matern Feuerbacher wurde 1527 verhaftet und vor das Kaiserliche Hofgericht in Rottweil gestellt (eine andere Quellen nennt das Rottweiler Stadtgericht). Nach einem monatelangen Prozess wurde er von zwolf Geschworenen freigesprochen; sehr zum Arger der Wurttemberger Landesregierung. Die in den „Zwolf Artikeln“ niedergeschriebenen Forderungen der Aufstandischen wurden nicht erfullt. So wurde in Wurttemberg die Leibeigenschaft erst 1817 abgeschafft, derweil Frondienste und Abgaben noch spater im 19. Jahrhundert aufgehoben wurden. Heidrun Brehm, Attila Melzer, Rita Pupcke und Gunther Wahl schrieben folgendes Resumee bezuglich der Bedeutung der Schlacht bei Boblingen: „Der Bauernkrieg war nicht nur die großte Volksbewegung der deutschen Geschichte, sondern auch eine wichtige Station auf dem langen Weg der Deutschen zur Demokratie. Auch wenn das Aufbegehren der Bauern in einer furchtbaren Niederlage endete, so war der Mut der Menschen, die fur ihre Menschenwurde kampften, doch ein Vorbild fur die nachfolgenden Generationen.“ Literatur Heidrun Behm, Attila Melzer, Rita Pupcke und Gunther Wahl: Bauern Burger Pioniere. Unterwegs in Boblingens Geschichte. Hrsg.: Boblinger Bote. Verlag Wilhelm Schlecht, Boblingen 2017, ISBN 978-3-924513-00-9. Einzelnachweise
Die Schlacht bei Boblingen am 12. Mai 1525 war eine der bedeutendsten Schlachten wahrend des deutschen Bauernkriegs. In ihr wurden die aufstandischen wurttembergischen Bauern am Goldberg zwischen Boblingen und Sindelfingen vom Heer des Schwabischen Bundes unter der Fuhrung von Truchsess Georg von Waldburg vernichtend geschlagen.
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c-937
Hossein Ali Beg Bayat (auch Cuchein Olli Beag oder Beit Ali Chan) (* 1567; † 1632) war ein Safawiden-Diplomat aus dem Turkmenen-Stamm der Bayat, der wahrend der Herrschaft des persischen Herrschers Abbas I. als Botschafter im Heiligen Romischen Reich, im Russischen Zarenreich, im habsburgischen Spanien und an mehreren anderen koniglichen und adligen Hofen diente und Teil der ersten safawidischen Gesandtschaft in Europa war. Leben Hossein Ali Beg Bayat diente vor 1598 am Hof des Sultans Abbas I. in Isfahan. Als Abbas I. beschloss, den Englander Sir Anthony Shirley, der ein Jahr vorher den persischen Hof erreicht hatte, auf eine diplomatische Mission in Europa zu schicken, um ein Bundnis gegen das Osmanische Reich zu erwirken, bat Anthony den Sultan, einen Perser von Rang mitzuschicken. Abbas wahlte den Kizilbasch-Adligen Hossein Ali Beg und scheint ihn laut dem Historiker David Blow zum offiziellen Leiter der Mission gemacht zu haben. Dies wurde Sir Anthony jedoch offenbar nie mitgeteilt oder er weigerte sich, dies zu akzeptieren. Dies war der Grund fur haufige, erbitterte Streitigkeiten zwischen den beiden uber ihren Vorrang in der Delegation. Anthonys Bruder, Robert Shirley, der ursprunglich mit Hossein Ali Beg reisen sollte (und 1608 Teresa Sampsonia heiratete), verblieb in Persien, um die dortige Armee auszubilden. Hossein Ali Beg und Anthony wurden von drei weiteren Personen begleitet, darunter Hossein Ali Begs Neffe Ali Qoli Beg, Uruch Beg (der spatere Don Juan von Persien). Zusatzlich zahlten zu dem Gefolge noch 15 Englander und 15 persische Sekretare und Bedienstete, funf Dolmetscher, ein Franziskaner- und ein Dominikanermonch. Die Gesandtschaft wurde zu Beginn ihrer langen Reise nach Europa zwei volle Tage vom Schah personlich begleitet. Neben den Lasttieren und Pferden fur die Reisenden gehorten auch 32 Kamele zu der Karawane, die mit Gastgeschenken fur die europaischen Regenten an den zu besuchenden Furstenhofen beladen waren. Das Gefolge verließ die safawidische Hauptstadt Isfahan am 9. Juli 1599. Nachdem sie Astrachan erreicht hatten, verbrachten sie den Winter am russischen Hof in Moskau. Dort stritten sich Hossein Ali Beg und Sir Anthony daruber, wer der Delegationsleiter sei, doch Zar Boris Godunow entschied sich fur Hossein Ali Beg und ließ Sir Anthony sogar fur einige Zeit inhaftieren, nachdem der portugiesische Monch Nicoloa de Melo gewisse Anschuldigungen gegen ihn erhoben hatte. Im Fruhjahr 1600 verließen Hossein Ali Beg und sein Gefolge Moskau, schifften sich um den 10. Juni 1600 in Archangelsk ein und landeten nach kurzem Halt in Stade im August 1600 im Hafen in Emden. Von Oldenburg fuhrte dann ihr Weg uber Kassel, wo sie sich vom 14. bis 22. September aufhielten und vom Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel empfangen wurden, nach Erfurt. Am 30. September 1600 machten sie in Naumburg im Gasthof Zu den drei Schwanen Station. Ali Beg Bayat schrieb sich dort in ein ihm uberreichtes Stammbuch ein (in der Literatur wird falschlicherweise berichtet, dass Abbas I. selbst in der Stadt war). Uber Leipzig, Louny und Slany (7. Oktober 1600) erreichten sie schließlich nach 3 Tagen Wartezeit in Slany am 10. Oktober 1600 Prag und wurden im Sommerpalast der Konigin Anna außerhalb der westlichen Festungsanlagen von Prag empfangen. Dort wurden sie von 300 Reitern und zwei Hauptleuten, dem Hofmeister der bohmischen Kanzlei Vojtech Popel von Lobkowicz und dem Oberkanzler Schonberg begrußt. Der Zug bestand außerdem aus Dienern des Hofes sowie aus Botschaftern der verschiedenen am Hof akkreditierten Konige und Fursten in funfzehn bis dreißig sechsspannigen Kutschen. Bei einer Audienz mit Kaiser Rudolph II., der sich bereits im Krieg mit den Osmanen befand, gelobte der Kaiser, den Krieg gegen die Osmanen mit „großem Nachdruck“ fortzusetzen. Nach einem langeren Aufenthalt in Prag reiste die Gesandtschaft ab 5. Februar 1601 uber Nurnberg nach Mantua und Florenz, wo sie von den Medici empfangen wurde. Die Beziehungen zwischen Hossein Ali Beg und Anthony Shirley verschlechterten sich zu dieser Zeit drastisch. In Siena kam es zu einem heftigen Streit zwischen den beiden wegen fehlender Geschenke fur die Konige und Adligen, wobei Hossein Ali Beg Sir Anthony als Dieb bezeichnete. Am 5. April 1601 zogen die beiden in Rom ein und wurden mit Salutschussen von der Engelsburg begrußt, waren aber beide standig in einen Disput verwickelt. Aufgrund des Konflikts wurde ihre Audienz bei Papst Clemens VIII. verschoben. Ende Mai desselben Jahres trennten sich die beiden. Anthony Shirley ging zunachst nach Venedig und beendete spater seine Tage in Madrid als Pensionar des Konigs von Spanien. Zu Hossein Ali Begs großer Besturzung konvertierten drei Mitglieder seiner Gruppe zum Katholizismus und verließen ebenfalls die Mission. Er selbst setzte die Reise mit dem Rest der Gruppe fort und wurde am spanischen Hof in Valladolid gut aufgenommen. Am Hof brachte er ein Thema zur Sprache, das fur einige Reibereien sorgte, namlich die angebliche schlechte Behandlung persischer Kaufleute durch die portugiesischen Behorden auf der Insel Hormus. Da Portugal und Spanien unter einer Krone vereint waren, war dies auch eine spanische Angelegenheit. Konig Philip III. versprach, sich der Sache anzunehmen, und versicherte, dass er weiterhin mit allen ihm zur Verfugung stehenden Mitteln gegen die Osmanen kampfen werde. Hossein Ali Beg hatte weitere Probleme mit seinem Gefolge, da die drei wichtigsten Mitglieder, darunter sein Neffe Ali Qoli Beg, von Jesuiten zum Christentum bekehrt worden waren. Ali Qoli Beg und Uruch Beg wurden als Don Felipe und Don Juan von Persien in der Capilla Real getauft, wobei der spanische Konig und Konigin Margarete als Paten fungierten. Hossein Ali Beg segelte 1602 von Lissabon zuruck nach Persien. Uber sein weiteres Leben ist nichts bekannt. Literatur Neue Jahrbucher der Geschichte und Politik. Band 2. Hinrich, Leipzig 1841, S. 481 ff. William Bayne Fisher: The Cambridge History of Iran, Band 6. Cambridge University Press, Cambridge 1986, ISBN 978-0-521-20094-3 (google.com). David Blow: Shah Abbas: The Ruthless King Who Became an Iranian Legend. I.B. Tauris, 2009, ISBN 978-0-85771-676-7 (google.com). Ali M. Ansari: Perceptions of Iran: History, Myths and Nationalism from Medieval Persia to the Islamic Republic. I.B. Tauris, 2013, ISBN 978-1-84885-830-5 (google.com). E. Denison Ross (Hrsg.): Sir Anthony Sherley and his Persian Adventure. Routledge, London 2015. Weblinks Katalog zur Ausstellung Crossing the Caspian Persia and Europe, 1500–1700 im Cantor Arts Center der Stanford University mit Nennung und Reiseroute Hossein Ali Beg Bayats Artikel von Gary Schwartz mit Nennung Hossein Ali Beg Bayats Einzelnachweise
Hossein Ali Beg Bayat (auch Cuchein Olli Beag oder Beit Ali Chan) (* 1567; † 1632) war ein Safawiden-Diplomat aus dem Turkmenen-Stamm der Bayat, der wahrend der Herrschaft des persischen Herrschers Abbas I. als Botschafter im Heiligen Romischen Reich, im Russischen Zarenreich, im habsburgischen Spanien und an mehreren anderen koniglichen und adligen Hofen diente und Teil der ersten safawidischen Gesandtschaft in Europa war.
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c-938
The Walled Off Hotel (englisch fur Das eingemauerte Hotel) ist ein Boutique-Hotel und politisches Kunstprojekt des britischen Streetart-Kunstlers Banksy in der palastinensisch verwalteten Stadt Bethlehem. Es befindet sich nur wenige Meter von einer Mauer der israelischen Sperranlagen entfernt, die in diesem Gebiet quer durch das Westjordanland verlaufen. Der Name ist eine Anspielung auf die bekannte Luxushotelkette Waldorf Astoria. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde das Hotel mit Galerie und Museum bis auf Weiteres geschlossen. Standort Das Hotel mit integriertem Museum und Galerie befindet sich an der Adresse 182 Caritas Street im nordlichen Bethlehem im Gebaude einer fruheren Topferwerkstatt. Lediglich eine schmale Gasse trennt das mehrstockige Eckhaus von einem 2002 fertiggestellten, acht Meter hohen Mauerabschnitt der israelischen Sperranlagen. In der naheren Umgebung liegen der muslimische Friedhof der Stadt sowie das Palastinensische Kulturzentrum und das Naturhistorische Museum Palastinas. Das historische Stadtzentrum mit der Geburtskirche ist rund 30 Gehminuten entfernt. Geschichte Banksy reiste 2005 erstmals nach Palastina und hinterließ in Bethlehem und Qalandia mehrere Stencils und Murals an den israelischen Sperranlagen. Andere Kunstler folgten seinem Beispiel und schufen mit ihren Aktionen eine Art „Freilichtmuseum“ entlang der Mauer. Banksys klar propalastinensische Werke umfassen ein Madchen, das mit Luftballons uber die Mauer zu schweben versucht, eine Friedenstaube in kugelsicherer Weste und ein Kind mit Eimer und Schaufelchen, vor dem sich ein riesiger Spalt im Stahlbeton auftut. 2016 wurden ihm vier weitere Murals in Gaza zugeschrieben, darunter die Darstellung einer griechischen Gottin in den Trummern eines zerstorten Hauses. 2017 jahrte sich – neben dem 50. Jubilaum des Sechstagekriegs – zum 100. Mal die Abfassung der Balfour-Deklaration, in der Großbritannien sein Einverstandnis mit der Errichtung eines judischen Staates in Palastina erklarte und so den Grundstein fur das moderne Israel legte. Zur Hoteleroffnung am 20. Marz veroffentlichte Banksy folgendes Statement: Das Hotel mit Blick auf die Mauer, der laut Eigenwerbung „schlechtesten Aussicht der Welt“, soll seinen Besuchern einen „Zustand erfahrbar machen, der sonst nur als Problem der fernen Weltpolitik wahrgenommen wird“. Banksy, der stets beteuert, mit keiner politischen Gruppierung in Kontakt zu stehen, betonte, dass jeder Gast willkommen sei, und hoffte, speziell junge Israelis ansprechen zu konnen. Da ursprunglich als temporares Projekt geplant, fanden vor allem im ersten Jahr seines Bestehens zahlreiche Veranstaltungen statt. Am Jahrestag der Balfour-Deklaration organisierte Banksy einen ironischen Festakt an der Mauer, bei dem ein Double der Queen eine in den Stahlbeton geritzte Gedenktafel mit der Inschrift „Er… Sorry“ enthullte. Einen Monat spater inszenierte er gemeinsam mit den Regisseuren Danny Boyle und Riham Isaac auf dem Hotelparkplatz ein alternatives Krippenspiel unter dem Titel The Alternativity, das erfolgreich auf BBC Two ausgestrahlt wurde. Im Februar 2018 nahm eine Gruppe britischer und palastinensischer Musiker um Brian Eno und Roisin Murphy vor Ort das Album Block 9 Creative Retreat Palestine als Zeichen des Protests gegen die Mauer auf. Nachdem das Hotel bereits in den ersten Wochen rund 700 tagliche Besucher hatte verzeichnen konnen, kamen laut Manager Wisam Salsaa in den ersten beiden Jahren 130.000 Gaste, die meisten davon aus Europa, insbesondere aus dem Vereinigten Konigreich. Am 12. Oktober 2023 – funf Tage nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel – verlautbarte das Hotel auf seiner Website, seine Turen bis auf Weiteres zu schließen. Beschreibung Das Walled Off Hotel baut in vielerlei Hinsicht auf der Erfahrung von Banksys „Bemusement Park“ Dismaland auf, den der Kunstler 2015 im westenglischen Weston-super-Mare realisiert hatte. Uber der Eingangstur prangt eine Leuchtreklame, darunter empfangt eine am Fuß angekettete Schimpansenpuppe in Pagenkleidung den Besucher. Die großtenteils von Banksy selbst gestaltete Inneneinrichtung folgt einem dystopisch-kolonialen Thema. Den Salon mit Rezeption und Teezimmer beschrieb Emma Graham-Harrison im Guardian als „beunruhigende Version eines Gentlemen’s Club“. An einem Schreibtisch sitzt eine animatronische Nachbildung von Arthur James Balfour, die per Knopfdruck aktiviert werden kann. Ein selbstspielender Flugel steht vor einer Wand, von der drei Putti mit Sauerstoffmasken baumeln. Die Wand daneben ist von Uberwachungskamera-Attrappen, Steinschleudern und Porzellangeschirr mit britisch-royalen Motiven ubersat. Das im Kamin flackernde Feuer leuchtet unter einem Schutthaufen hervor, der dem Schauplatz eines Bombenangriffs nachempfunden ist. Ein vormals daruber platziertes Triptychon namens Mediterranean Sea View, das Meereskusten mit in der Brandung schwimmenden, herrenlosen Rettungswesten zeigt, wurde 2020 fur 2,2 Millionen Pfund versteigert. Den Erlos spendete Banksy an eine lokale Wohltatigkeitsorganisation, die Behinderte bei der Rehabilitation unterstutzt. Eine Buste der antiken Gottheit Apollon ist in eine Wolke von Tranengas gehullt. In den Regalen stehen ausgewahlte Bucher wie A Room With a View und Cage Me a Peacock. Das dreigeschossige Hotel verfugt uber neun Zimmer und eine Prasidentensuite, die alle mit Blick auf die Mauer – oder daruber hinweg auf eine israelische Siedlung – ausgerichtet sind und pro Tag lediglich 25 Minuten Sonnenlicht abbekommen. Wahrend die Suite laut Hotelangaben mit allem ausgestattet ist, was „ein korruptes Staatsoberhaupt braucht“, setzt sich das Zimmer der gunstigsten Preiskategorie aus Mobeln israelischer Armeeuberschusse zusammen. In den Zimmern befinden sich weitere Kunstwerke Banksys, unter ihnen das beruhmteste Gemalde vor Ort, Pillow Fight, auf dem ein israelischer Soldat und ein vermummter Palastinenser sich eine Kissenschlacht liefern. Das Motiv ist eine Reminiszenz an Francisco de Goyas Kampf mit Knuppeln. Das Gemalde hangt uber einem Doppelbett, sodass der Eindruck entsteht, die abgebildeten Federn wurden auf die Schlafenden herabregnen. Einrichtung Ebenfalls im Haus befindet sich die erste Galerie Bethlehems, die sich ausschließlich palastinensischen Kunstlern widmet. Die Werke wurden anfangs fur bis zu 10.000 Dollar verkauft. Des Weiteren ist in den Raumlichkeiten des Walled Off Hotels ein kleines Museum untergebracht, das sich mit dem Nahostkonflikt befasst. Es wird von Gavin Grindon, Kunstprofessor an der University of Essex, kuratiert, der mit Banksy bereits beim „Museum of Cruel Objects“ in Dismaland zusammengearbeitet hatte. Im Nachbargebaude eroffnete der „Wall*Mart“, der Schablonen-Tutorials und Graffiti-Workshops anbietet und es Besuchern ermoglicht, an der Mauer eigene Kunstwerke aufzuspruhen oder aufzumalen. Wirkung und Kritik Medienberichten zufolge hatte die Hoteleroffnung einen positiven Effekt auf den Tourismus der Stadt Bethlehem. Gaste, die fruher nur einen Tag geblieben waren, um die Geburtskirche zu besichtigen, wurden jetzt auch das Walled Off Hotel besuchen und dort nachtigen. Rund um den Betrieb, der 45 Einheimische beschaftigt und dessen Einnahmen ausschließlich der Gemeinschaft zugutekommen, entdeckten viele Gewerbetreibende die Marke Banksy als Geschaftsmodell. Es entstand eine eigene Souvenir-Industrie, die sich auf die Reproduktion seiner Werke spezialisiert hat. Taxifahrer und Stadtfuhrer bieten Touren an, Geschafte eroffneten im zuvor eher gemiedenen Gebiet nahe der Mauer. Die wirtschaftlichen Folgen der durch die israelische Regierung verhangten strengen Einreiseregeln konnten so zumindest teilweise abgemildert werden. Wahrend einige Autoren sein Hotelprojekt als „Vorbild fur sozial engagiertes kunstlerisches Engagement“ und die Gestaltung der Mauer als „Instrument des Widerstandes“ ahnlich der Berliner Mauer sehen, muss sich der Brite auch Kritik an seiner Arbeit in Palastina gefallen lassen. Ein haufiger Vorwurf von palastinensischer Seite ist jener des „Konflikttourismus“. Der Kunstler wurde mit seinen Werken das Leid der Palastinenser verharmlosen oder banalisieren und zudem noch davon profitieren. Einige Einheimische sehen in dem Hotel gar eine internationale Verschworung, die die israelischen Besatzer und die Palastinenser als „gleichberechtigte Seiten im Kampf“ reprasentieren wolle. Jamil Khader, Forschungsdekan der Universitat Bethlehem, verteidigte Banksy gegen Anschuldigungen dieser Art und sieht in dem Hotel „ein machtiges antikoloniales Statement gegen den britischen Imperialismus, das zionistische Kolonialprojekt, die israelische Besatzung und die Apartheidpolitik in Palastina“. Von israelischer Seite wird vor allem das hausinterne Museum kontrovers diskutiert. Der Ausstellung, die die Opferrolle Palastinas in den Fokus ruckt, wird Einseitigkeit vorgeworfen. Kritisiert werden auch einzelne Kunstwerke. Der britische Ableger der Organisation CAMERA sah in einem Portrat von Jesus mit einem Laserpunkt auf der Stirn und drei daruber fliegenden Drohnen die antisemitische Trope des Gottesmordes verbildlicht. Ralf Balke kritisierte 2019 in der Judischen Allgemeinen eine Krippenminiatur, die das Jesuskind mit Maria und Josef vor der Mauer und einem Einschussloch anstelle des Sterns von Bethlehem zeigt. Er warf Banksy vor, an einer „chronischen Israel-Obsession“ zu leiden, erinnerte außerdem an die Schutzfunktion der Sperranlagen und deren Bau als Reaktion auf palastinensische Selbstmordattentate. The Walled Off Hotel Paris Am 9. Juni 2021 eroffneten der belgisch-albanische Unternehmer Hazis Vardar, der in Frankreich mehrere Theater betreibt, und sein Bruder, der Schauspieler Ali, im 9. Arrondissement von Paris eine inoffizielle Nachbildung von Banksys Hotel. Das Hotel und Museum entstand in einem Nachbargebaude der temporaren Ausstellung The World of Banksy und verfugt mit 20 Zimmern uber doppelt so viele wie das Original. Das Werk Banksys wurde laut den Betreibern „dramatisiert“ und viele Einzelstucke anhand von Abbildungen repliziert. Idee sei es, die „Kunst fur Uneingeweihte zuganglich zu machen“ und gleichzeitig „das Werk von Banksy zu thematisieren“. Daruber, ob es sich dabei um eine gelungene Hommage an den Kunstler oder eine Trivialisierung eines seiner bekanntesten Werke handelt, gehen die Meinungen auseinander. Literatur Will Ellsworth-Jones: Banksy – Der Mann hinter der Wand. Librero, Kerkdriel 2022, ISBN 978-94-6359-823-1, S. 139 f., 148–153 (englisch: Banksy – The Man Behind the Wall. Ubersetzt von Peter Simon). Tristan Manco: Banksy’s Walled Off Hotel in Bethlehem and other stories. In: Meinrad Maria Grewenig (Hrsg.): Banky’s Dismaland & Others (= Edition Volklinger Hutte). Edition Crantz, Esslingen 2018, ISBN 978-3-947563-03-6, S. 63–64. Alessandra Mattanza: Banksy. Prestel, Munchen 2021, ISBN 978-3-7913-8823-6, S. 211–233. Xavier Tapies: Provokation. Banksy. 3. Auflage. Midas Verlag, Zurich 2021, ISBN 978-3-03876-160-0, S. 216–217. Weblinks walledoffhotel.com (englisch) Reportage der New York Times (englisch) YouTube-Video von Al Jazeera English Hotelbewertung auf der Website des Telegraph (englisch) Einzelnachweise
The Walled Off Hotel (englisch fur Das eingemauerte Hotel) ist ein Boutique-Hotel und politisches Kunstprojekt des britischen Streetart-Kunstlers Banksy in der palastinensisch verwalteten Stadt Bethlehem. Es befindet sich nur wenige Meter von einer Mauer der israelischen Sperranlagen entfernt, die in diesem Gebiet quer durch das Westjordanland verlaufen. Der Name ist eine Anspielung auf die bekannte Luxushotelkette Waldorf Astoria. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde das Hotel mit Galerie und Museum bis auf Weiteres geschlossen.
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c-939
Die Burg Frankenberg ist eine abgegangene Hohen- und Spornburg in Frankenberg im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg. Sie befand sich auf 315 m Hohe auf der nach Westsudwesten verlaufenden Spitze eines nach drei Seiten steil abfallenden Bergsporns uber der Eder, auf einem grob ovalen, etwa 230 Meter langen und 180 Meter breiten Areal am Sudwestrand der Stadt Frankenberg. Zur Baugeschichte der Burg ist kaum etwas bekannt, ebenso wenig zu ihrem Grundriss und Aussehen. Die ab 1233 erbaute Burg wurde bereits 1373 oder 1376 von Burgern der Stadt, die sich uber Maßnahmen der Dienstmannen des landgraflichen Amtmanns und Pfandbesitzers, Hermann IX. von Treffurt, emporten, in Brand gesetzt, teilweise zerstort und in der Folgezeit nicht wieder vollig hergestellt. Die historischen Stadtansichten des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen die Burg als noch immer imposante Teilruine. Beim verheerenden Stadtbrand im Mai 1476 wurde sie endgultig zerstort. Ihre letzten Reste wurden 1798 bzw. 1908 beseitigt. Erhalten sind Reste einer Stutzmauer an der Sudseite des Berggipfels und der Sockel eines runden Flankenturmes der Ringmauer. Geschichte Landgraf Konrad von Thuringen, der seit 1231 fur seinen Bruder Heinrich Raspe die hessischen Gebiete der Ludowinger Landgrafen von Thuringen verwaltete, ließ ab 1233 auf dem seit 1122 von den Ludowingern besetzten Frankenberg, im Zuge seines Machtkampfes mit Erzbischof Siegfried III. von Mainz und alle Einspruche der benachbarten Grundherren missachtend, eine Burg und eine Stadt errichten. Auf der außersten Spitze der Bergzunge entstand eine Burganlage, die das gesamte mittlere Edertal beherrschte. An sie schloss sich eine Vorburg an, die auch den kirchlichen Bereich mit der ab 1286 erbauten Liebfrauenkirche umschloss. Unmittelbar dahinter wurde die Stadt angelegt. Die fruhesten schriftlichen Belege zur Burg stammen aus den Jahren 1253, als Burgmannen („castrensis“) erwahnt wurden. Aus dieser Anfangszeit Frankenbergs im 13. Jahrhundert sind dort als Burgmannen nachgewiesen: Tammo von Beltershausen, Gerlach Baschard, Ruding von Herbelhausen, Gerlach von Biedenfeld, Arnold Huhn von Ellershausen, Siegfried Rust, Heinrich von Linne, Konrad von Linne und Mitglieder der Familie von Helfenberg. 1263 wird die Burg („castrum“) dann auch selbst als Lehen der Mainzer Erzbischofe im Besitz des hessischen Landgrafen Heinrich I. erwahnt als direktes Ergebnis des Langsdorfer Friedens von 1262, mit dem der thuringisch-hessische Erbfolgekrieg (1247–1264) prinzipiell beendet wurde. Erst im Merlauer Vertrag vom 8. September 1583 verzichtete Erzbischof Wolfgang von Dalberg endgultig auf die Kurmainzer Anspruche in Frankenberg. Die Burg war Sitz eines landgraflichen Schultheißen, ab 1330 eines Amtmannes. Sie wurde mehrfach verpfandet, so zum Beispiel im August 1327, als Graf Heinrich IV. von Waldeck Feldhauptmann des Landgrafen Otto I. und dessen Sohns Heinrich II. in deren Krieg gegen den Mainzer Erzbischof Matthias von Buchegg wurde und dafur die Burgen Frankenberg, Wolfhagen und Schartenberg als Pfand fur die zu erhaltende Bezahlung von 1500 Mark Silber erhielt. Folgenreicher war jedoch die im Juni 1372 durch Landgraf Heinrich II. und seinen Neffen und Mitregenten Hermann II. vorgenommene Verpfandung und Belehnung auf Lebenszeit von Burg und Stadt Frankenberg und dem benachbarten halben Gericht Geismar an Hermann IX. von Treffurt, den wohlhabenden Herrn von Bilstein und Spangenberg und ehemaligen Landvogt an der Werra, und dessen Ehefrau Margarethe von Solms. Deren Burg- und Dienstmannen machten sich bei der ortlichen Bevolkerung schon bald so unbeliebt, dass nach dem Versuch der Burgherren, die Burg auch zur Stadt hin durch eine Mauer befestigen zu lassen, die emporten Stadtbewohner 1373 oder 1376 große Teile der Burg niederbrannten. Offenbar wurde die Burg nicht vollig zerstort, da sie auch im 15. Jahrhundert noch erwahnt wird. Erst ein Jahrhundert spater, nach dem verheerenden Stadtbrand im Mai 1476, verlegte Landgraf Heinrich III. von Hessen-Marburg den Sitz des Amtmanns um oder bald nach 1485 in das von ihm neu erbaute Jagdschloss Wolkersdorf und schuf damit das Amt Wolkersdorf. Danach geriet die Burg Frankenberg mehr und mehr in Verfall, aber noch im 17. Jahrhundert sind die Ruinen in Dilichs Stadtansicht von 1591 zu sehen. Die letzten Reste ließ der hessen-kasselsche Oberst und spatere Generalleutnant Friedrich Conrad Wolff von und zu Todenwarth, Kommandeur des in Frankenberg stationierten Dragonerregiments, 1798 schleifen, um auf dem Bergplateau einen Exerzierplatz anlegen zu lassen. Im Jahr 1828 wurde der Burgplatz Eigentum der Stadt Frankenberg. Beim Neubau der stadtischen Wasserversorgungsanlage wurde 1899 dort auf dem damals hochsten Punkt der Stadt ein Wasserhochbehalter errichtet und der Platz begrunt. Aus dem ehemaligen Exerzierplatz wurde ein offentlicher Park, der heute auch als Freilichtbuhne genutzt wird. Mogliche Vorgangerburg Ob es an gleicher Stelle moglicherweise bereits eine altere Befestigung gab, wie der Ortsname Frankenberg sowie einige, allerdings schwache, archaologische Funde andeuten, ist unbekannt. Trotz geophysikalischer Prospektion im Jahre 2000 liegt ein eindeutiger archaologischer Befund nicht vor. Der nicht immer zuverlassige Chronist Wigand Gerstenberg behauptete um 1500, eine erste Burg sei dort im 6. Jahrhundert vom frankischen Konig Theuderich I. errichtet worden. In dieser Zeit eskalierten die Auseinandersetzungen der bis an die Eder vorgedrungenen Franken mit den nordlich der Eder ansassigen Sachsen. Der gut zu verteidigende Berg hatte damit militarische Bedeutung gewonnen und ware daher von den Franken befestigt worden. Karl Martell soll zu Beginn des 8. Jahrhunderts die Verstarkung der Befestigungsanlagen und ihre Belegung mit einer standigen Besatzung veranlasst haben. Nach dem Ende der Sachsenkriege Karls des Großen im Jahre 804 verlor die Festung, sofern es sie gab, ihre Bedeutung und verfiel. Fußnoten Literatur Georg Dehio: Hessen I; Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler, Deutscher Kunstverlag, Munchen 2008, ISBN 978-3-422-03092-3, S. 234f. Rudolf Knappe: Mittelalterliche Burgen in Hessen. 800 Burgen, Burgruinen und Burgstatten. 3. Auflage. Wartberg-Verlag, Gudensberg-Gleichen 2000, ISBN 3-86134-228-6, S. 142–143. Hans Becker: Geschichte der Stadt Frankenberg an der Eder: Von den Anfangen bis in die heutige Zeit. Herausgegeben anlasslich des Hessentages 1989. Frankenberg 1989, ISBN 3-922225-13-6, S. 34–36. Hans Becker: Wo ist die Frankenberger Burg geblieben? (Frankenberger Hefte Nr. 8, Verein fur hessische Geschichte und Landeskunde, Zweigverein Frankenberg), 2003, ISBN 3-925333-99-1 Roland Pieper (Bearb.): Kulturdenkmaler in Hessen: Landkreis Waldeck-Frankenberg, Band II. Hrsg. Landesamt fur Denkmalpflege Hessen. Theiss, Darmstadt 2015, ISBN 3-8062-3054-4, S. 300ff. Willi Gorich: Grundung und Bedeutung der landgraflichen Burg und Stadt Frankenberg. In: Meine Heimat. Ein Jahrbuch geschichtlicher Nachrichten und bedeutender Ereignisse im Kreis Frankenberg. 6. Jahrgang, Frankenberg 1938. Weblinks Burg Frankenberg, Gemeinde Frankenberg (Eder). Burgen, Schlosser, Herrenhauser (Stand: 13. November 2020). In: Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen (LAGIS). Hessisches Institut fur Landesgeschichte, abgerufen am 27. Oktober 2024. Jens Friedhoff: Frankenberg in der wissenschaftlichen Datenbank „EBIDAT“ des Europaischen Burgeninstituts Landesamt fur Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Historische Stadtbefestigung In: DenkXweb, Online-Ausgabe von Kulturdenkmaler in Hessen Burg Frankenberg auf www.burgenwelt.org Stadtansicht „Franckenberg“ nach Wilhelm Dilich (Bildindex der Kunst & Architektur) Wilhelm Dilich als begabter „Abreißer“ und Illustrator
Die Burg Frankenberg ist eine abgegangene Hohen- und Spornburg in Frankenberg im nordhessischen Landkreis Waldeck-Frankenberg. Sie befand sich auf 315 m Hohe auf der nach Westsudwesten verlaufenden Spitze eines nach drei Seiten steil abfallenden Bergsporns uber der Eder, auf einem grob ovalen, etwa 230 Meter langen und 180 Meter breiten Areal am Sudwestrand der Stadt Frankenberg. Zur Baugeschichte der Burg ist kaum etwas bekannt, ebenso wenig zu ihrem Grundriss und Aussehen. Die ab 1233 erbaute Burg wurde bereits 1373 oder 1376 von Burgern der Stadt, die sich uber Maßnahmen der Dienstmannen des landgraflichen Amtmanns und Pfandbesitzers, Hermann IX. von Treffurt, emporten, in Brand gesetzt, teilweise zerstort und in der Folgezeit nicht wieder vollig hergestellt. Die historischen Stadtansichten des 16. und 17. Jahrhunderts zeigen die Burg als noch immer imposante Teilruine. Beim verheerenden Stadtbrand im Mai 1476 wurde sie endgultig zerstort. Ihre letzten Reste wurden 1798 bzw. 1908 beseitigt. Erhalten sind Reste einer Stutzmauer an der Sudseite des Berggipfels und der Sockel eines runden Flankenturmes der Ringmauer.
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c-940
Die Schildkroten ist ein exilliterarischer Roman von Veza Canetti, den sie 1939 unter dem Pseudonym Veza Magd verfasste. Er wurde posthum 1999 im Carl Hanser Verlag veroffentlicht. Entstehungsgeschichte Das Buch entstand kurz nach Veza Canettis Flucht aus Wien am 19. November 1938 mit ihrem Ehemann Elias Canetti. Veza Canetti schrieb den Roman zwischen Januar und Oktober 1939 im Londoner Exil, nachdem sie uber Paris nach England gekommen war. Das Werk ist, wie Exilliteratur oftmals, stark autobiografisch gepragt. In ihm verarbeitet Veza Canetti Zeitgeschichte und autobiographisches Erleben literarisch verfremdend und reflektiert ihr Leben im austrofaschistischen Bundesstaat Osterreich und die Judenverfolgung nach dem Anschluss Osterreichs in den letzten Monaten vor ihrer Flucht. Als Vorbild fur das Haus ihrer Romanfiguren diente ihre am 2. September 1935 bezogene Wohnung in der Himmelstraße 30 im Wiener Stadtteil Grinzing. Im Juli 1939 wurde das Buch von einem englischen Verlag angenommen. Die geplante Veroffentlichung wurde durch den Ausbruch des Krieges verhindert. Erst 1999 konnte es aus dem Nachlass ihres Mannes verlegt werden. 2001 erschien es in englischer Ubersetzung unter dem Titel The Tortoises. Inhalt Der Roman spielt in Wien ab Juli 1938 nach dem Anschluss Osterreichs im Marz bis wenige Tage nach den Novemberpogromen von 1938 und stellt die Alltagswelt im „Dritten Reich“ dar. Beschrieben wird die Verfolgung des judischen Ehepaars Andreas und Eva Kain und außerdem das komplizierte Verhaltnis von Andreas Kain zu seinem alteren Bruder Werner und ihre unterschiedliche Sicht auf die Welt. Der sensible judische Gelehrte und Dichter Kain und seine Frau Eva leben in Wien in einer Villa am Stadtrand. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten beginnt die Stimmung in der Stadt immer mehr einer „Treibjagd“ auf judische Mitburger zu ahneln. Das Ehepaar entscheidet sich widerstrebend fur die Emigration, muss aber auf das in England beantragte, notwendige Visum warten. Kain sucht Zuflucht in der Literatur, speziell in der Lekture der homerischen Odyssee, wahrend Eva, taglich konfrontiert mit wachsenden antisemitischen, aber auch misogynen Diskriminierungen, immer verzweifelter zur Flucht drangt und vor dem Verlust ihrer Heimat und ihres bisherigen Lebens kapituliert hat. Kain sorgt sich zudem um seine literarischen Ausdrucksmoglichkeiten in einem fremdsprachigen Land. Kains Bruder Werner will das Land, zu dem er als Geologe eine enge Bindung hat, trotz Visum nicht verlassen, auch wenn Kain nur mit ihm zusammen gehen will. Hilfe erhalten Eva und Kain durch eine Freundin, die im Nachbarhaus wohnende unerschrockene, judische Bankierstochter Hilde. Diese versucht, das Vertrauen des SA-Mannes Baldur Pilz zu gewinnen, um mit dem unerlaubterweise vom Bankkonto abgehobenen Geld ihres reichen Vaters ein zur Flucht ihrer Freunde benotigtes Flugzeug zu beschaffen, wahrend Pilz den beiden Frauen nachstellt. Der Plan schlagt fehl und Hildes ahnungsloser Vater wird verhaftet. Die Situation wird fur die Protagonisten immer bedrohlicher, als die Repressalien durch die Nationalsozialisten zunehmen, judische Wohnungen und Firmen geplundert, enteignet und Synagogen in Brand gesteckt werden. Nachdem das Ehepaar Kain nach der Inbesitznahme ihres Hauses durch Pilz gezwungen ist, sich dort in ein winziges Zimmer zuruckzuziehen, mussen sie schließlich am Vorabend von Jom Kippur zu Kains Bruder in dessen kleine Stadtwohnung, bestehend aus einem Zimmer und einer Kuche, ziehen. Dort ist auch der judische Untermieter Felberbaum zwangseinquartiert, der durch den SA-Mann Pilz sein Kino verloren hat und ebenso wie Kain auf sein Visum wartet. Nach den Novemberpogromen eskaliert die Lage zunehmend. Durch eine Verwechslung wird Werner anstelle seines Bruders Kain von der SS abgeholt und in das KZ Buchenwald deportiert, wo er, entkraftet durch die Zwangsarbeit in einem Steinbruch, stirbt. Mit dem endlich erteilten Ausreisevisum gelangen Kain und Eva schließlich in einem Zug außer Landes, nachdem sie von der zuruckbleibenden Hilde, die auf ihren verhafteten Vater wartet, und Felberbaum, der noch immer kein Visum hat, verabschiedet wurden. Als sie an der Grenze nach Devisen oder Schmuck gefragt werden, verneint Kain, wahrend Eva antwortet: „Wir haben ein Wertobjekt. Ja. Die Asche unseres Bruders!“ Themen und Einordnung der Figuren Ein zentrales Thema des Romans sind die Begriffe „Exil“ und „Heimat“ und deren Bedeutung. Anhand der verschiedenen Protagonisten entwirft Canetti divergierende Heimat- und Exilvorstellungen. Sie wirft so die Frage auf, inwieweit das Gefuhl von „Heimat“ von einer gemeinsamen Sprache und Verstandigung, der Verwurzelung in einem Land und dem Interagieren mit den Mitmenschen abhangt und bedingt wird. Canetti dekonstruiert anhand ihrer Figuren die propagierte nationalsozialistische Rassentheorie und die daraus folgende Nationalsozialistische Rassenhygiene, die von der Lesbarkeit korperlicher Merkmale ausgeht, als lacherlich und aberwitzig und entlarvt den Antisemitismus als absurdes Konstrukt. Ihre Protagonisten entziehen sich einer eindeutigen Kategorisierung. Der judischen Bankierstochter Hilde und Andreas Kain gibt Canetti als „arisch“ geltende korperliche Merkmale, wahrend sie dem SA-Mann Pilz als in der NS-Zeit judisch geltende Merkmale beistellt. Die Heterogenitat der judischen Gemeinschaft mit voneinander abweichenden Interpretationen „judischer Identitat“ werden in der Gegenuberstellung von Felberbaum mit dem Ehepaar Kain aufgezeigt. Der ehemalige Kinobetreiber und glaubige Jude Felberbaum wird als tragikomische Figur dargestellt, in welcher der Typ des Schlemihl erkennbar ist, „der im 19. Jahrhundert zur Hauptfigur judischer Humoristen wurde“ und danach trachtet, seine Mitmenschen auch im Elend aufzuheitern. In ihrem selbstlosen Engagement fur ihre Mitmenschen ist die großgewachsene und blonde Hilde, die „als geradezu verzweifelt optimistische Figur“ erscheint, Felberbaum ahnlich. Beide „setzen sie Zeichen der Zuversicht und Hand in Hand damit Zeichen eines aus Heiterkeit erwachsenen Widerstands, der nicht bereit ist, sich der omniprasenten Angst und Trauer vollstandig zu beugen“. Das kultivierte, gebildete und kosmopolitische Ehepaar Kain gehort zu den sakular lebenden Juden, die die Verordnungen und Judengesetze des NS-Staates als „stigmatisierende Zuordnung zu einer judischen Zwangsgemeinschaft“ empfinden. Andreas Kain ist ein feinsinniger, empfindsamer Gelehrter und Dichter, Eva Kain seine aufopferungsvolle Frau und Muse. Werner Kain wird als erd- und heimatverbundener Geologe, Junggeselle und verschrobener Sonderling beschrieben, der sich weigert, ins Exil zu gehen, obwohl er aus dem wissenschaftlichen Institut entlassen wurde. Ihre Entfremdung vom Judentum zeigt sich beispielhaft daran, dass sie, im Gegensatz zu Felberbaum, die Fastentradition an Jom Kippur nicht einhalten und Kain spater den Talmud explizit nicht ins Exil mitnimmt. Der SA-Mann Baldur Pilz wird als Versager dargestellt, der seine Minderwertigkeitsgefuhle mit der Autoritat, die ihm das Tragen einer Uniform verleiht, und der Zugehorigkeit zur Partei zu kompensieren versucht. Er außert sich nur in eingelernten Phrasen, ist ungebildet, unkultiviert und steht als Kontrastfigur zum Ehepaar Kain. In Gesprachen mit ihnen tritt seine intellektuelle Unterlegenheit und rhetorische Unbeweglichkeit zutage. Sprachliche Mittel und Symbolik Canetti verwendet als erzahlerisches Mittel zahlreiche humorvolle, wundersame und fantastische Binnenerzahlungen innerhalb der Rahmenhandlung. Fast alle ihre Figuren entwickeln gegen Tendenzen des Ruckzugs und des Verstummens das Geschichtenerzahlen als aktive Strategie, deren Ausloser jeweils eine Krisensituation ist. „Mit dem Erzahlen wider die Angst und Trauer stehen ‚Die Schildkroten‘ in einer Tradition judischen bzw. aggadischen Erzahlens“. Damit greift die Autorin zudem auf die Tradition des Humors als ein Konzept des Widerstands, das sich aus der judischen Geschichte und Exilerfahrung erklaren lasst, zuruck. Die Schildkroten in Canettis Buch sind ein Leitmotiv und haben Symbolcharakter. Kain verhindert etwa, dass Schildkroten vom Holzschnitzer das Hakenkreuz in den Panzer gebrannt wird, um sie in seiner Verkaufsbude besser verkaufen zu konnen „zum Andenken an die ‚frohlichste Stadt Zentraleuropas‘ – ein Ehrentitel, den das Wien der Vorkriegszeit tatsachlich mit Stolz trug“. Die Schildkroten konnen als Allegorie der verfolgten Juden gelesen werden. „Doch selbst sie verschwinden, wie die Juden, nach und nach von der Bildflache“. Andererseits verkorpern die Tiere das Konzept eines „portativen Vaterlandes“, die ihre „Heimat mit sich, auf ihrem Rucken“ tragen, und stehen so symbolisch als Ausdruck der judischen Diaspora und fur eine deterritoriale Konzeption von Heimat. Innerhalb des Buches finden sich zahlreiche Belegstellen fur eine positive wie auch fur eine negative Besetzung der Schildkrote, etwa wenn Werner Kain mit ihr verglichen wird: „Sie hat ein schweres Leben, wenn sie auf den Rucken fallt. Sie muß verhungern, sie kann sich nicht umwenden. Ihr Haus ist zugleich ihr Tod. Werners Haus ist seine Heimat“. Auch viele der Namen sind hintergrundig. So heißt der SA-Mann, der Evas und Kains Wohnung okkupiert und sich dort ausbreitet, „Pilz“. Canetti greift auf alttestamentarische und mythische Erzahlungen, Motive und Figuren zuruck: Ebenso wie ihre biblische Namensgeberin Eva aus dem Paradiesgarten vertrieben wird, muss Eva Kain ihr Heim mit „paradiesischem Garten“ verlassen. Derselben Chronologie wie in der Bibel folgend steht danach der Tod von Andreas Kains Bruder Werner und Kains Gang ins Exil. Damit evoziert Canetti „zwei biblische Vertreibungsgeschichten und damit zwei Urmodelle des Exils“. Allerdings ist Andreas Kain zwar ebenso schuld am Tod seines Bruders, aber nur indirekt und nicht von ihm gewunscht, anders als in der biblischen Erzahlung von Kain und seinem Bruder Abel. Rezeption Heinz-Ludwig Arnold befindet im Deutschlandfunk, dass dem gesamten Buch eine „sprachliche Uberhohung“ zu eigen sei. Die Prosa bleibe deshalb distanziert, wirke manchmal lakonisch und die Dialoge seien haufig „reflexiv uberlastet“. Nur in der Darstellung des Juden Felberbaum zeige sich „die große, weil einfache Kunst der Menschendarstellung Veza Canettis.“ Ute Baumeister urteilt in literaturkritik.de, Veza Canetti halte zu ihren Figuren „eine seltsam starre Distanz“, die dadurch erst ganz zum Schluss an Kontur gewonnen. Durch ihre fast unpersonliche und sprode Schilderung und sperrigen Dialoge wurde das Geschehen noch beklemmender wirken und entfalte oft erst im Nachhinein seine Wirkung. Gerhild Rochus schreibt im Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Muller, die traumatische Erfahrung der Protagonisten finde ihre Entsprechung in einem „pathetischen Ton“, der die grotesken Passagen immer wieder ins Pathos kippen lasse. Entgegen der gangigen Forschungsmeinung sieht sie diesen Ton nicht als Schwache des Romans, sondern als ein bewusst eingesetztes literarisches Verfahren, um den leidvollen Erfahrungen des Exils sprachlich gerecht zu werden. Heinz-Ludwig Arnold kritisiert im Deutschlandfunk, dass vor allem die ersten Kapitel des Romans am schwachsten seien, in denen der Nazi Pilz wie eine „zwar kleinburgerlich geschmacklose, aber doch zum ernsthaften menschlichen Miteinander scheinbar fahige und letztlich immer noch positive Figur“ dargestellt werde. Dem gegenuber urteilt der Beitrag in der Deutschen Welle, Canetti beschreibe in klaren Worten, „was menschliche Niedertracht vermag und wie sich andererseits Menschen selbst in hochster Not Menschlichkeit, Wurde und Selbstachtung bewahren.“ Auch K. Eckberg lobt in Sandammeer – Die virtuelle Literaturzeitschrift die scharfsinnigen Dialoge und „erhabene Wurde und Klarheit der Worte“. Die uberwiegend nuchternen Darstellungen der menschlichen Abgrunde der Romanfiguren entlarvten sich und ihr Weltbild auf eine Weise, „die den Leser im Innersten beruhrt. Keine leichte, allerdings eine unverzichtbare Kost“. Ute Baumeister zieht in literaturkritik.de das Fazit, der Roman sei nicht schnell konsumierbar, sondern verlange viel Konzentration, und Sabine Kieselbach befindet in der Deutschen Welle, das todtraurige Buch beweise, dass Canetti eine der wichtigen Autorinnen und Autoren des 20. Jahrhunderts sei. Buchausgaben Veza Canetti: Die Schildkroten. Carl Hanser Verlag, Munchen 1999, ISBN 978-3-446-19478-6 Veza Canetti: Die Schildkroten. Taschenbuch, dtv Verlagsgesellschaft, Munchen 2002, ISBN 978-3-423-12992-3 Veza Canetti: The Tortoises, englische Ubersetzung von Ian Mitchell. Verlag New Directions, New York 2001, ISBN 978-0-8112-1468-1 Veza Canetti: Die Schildkroten. Taschenbuch, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-18414-9 Literatur Gerhild Rochus: Veza Canetti: Die Schildkroten (1999). In: Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur: Von Heinrich Heine bis Herta Muller. Bettina Bannasch, Gerhild Rochus (Hrsg.), De Gruyter, Berlin, Boston 2013, S. 270–277, doi:10.1515/9783110256758.270 Moritz Wagner: Veza Canetti: Die Schildkroten (1939). In: Babylon – Mallorca. Figurationen des Komischen im deutschsprachigen Exilroman. Schriften zur Weltliteratur, Band 6, J.B. Metzler, Stuttgart 2017. ISBN 978-3-476-04527-0, doi:10.1007/978-3-476-04528-7_5, S. 211–282 (eingeschrankte Buchvorschau) Einzelnachweise
Die Schildkroten ist ein exilliterarischer Roman von Veza Canetti, den sie 1939 unter dem Pseudonym Veza Magd verfasste. Er wurde posthum 1999 im Carl Hanser Verlag veroffentlicht.
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Das Einzelkulturdenkmal Altes Rathaus, auch Historisches Rathaus genannt, ist ein denkmalgeschutzter Profanbau in Buttelborn, einer Gemeinde und gleichnamigen Kleinstadt im Landkreis Groß-Gerau in Hessen. Das Fachwerkgebaude ist Teil des historischen Ortszentrums und befindet sich in der Mainzer Str. 18 sudostlich der evangelischen Kirche Buttelborn und unweit der nordwestlich davon neu errichteten Gemeindeverwaltung. Beschreibung Das zweigeschossige Fachwerkhaus mit einem Satteldach und reichem Gebalk mit prachtiger Giebelfront wurde im Jahr 1582 als Rathaus erbaut. Es besitzt einen Bruchsteinsockel und ein massiv gemauertes Erdgeschoss, uber dem sich die Obergeschosse in Fachwerkbauweise anschließen. Das massiv errichtete Erdgeschoss wurde ursprunglich als offene Halle genutzt und wird nach baulichen Umgestaltungen von bis zu 75 cm starken Außenwanden umfasst und von einer starken Holzsaule gestutzt. Die frankischen Erker wurden im Jahr 1906 erganzt und vor dem Eingang befindet sich ein kleiner Vorplatz, auf dem ein in Sandstein gefasster Brunnen errichtet wurde. Im Jahr 2009 machten eine schadhafte Dacheindeckung, Faulnis an der Fachwerkkonstruktion und Versalzungen im Sockelmauerwerk eine Sanierung der Gebaudehulle notwendig. Im Zuge dieser Sanierung wurden die Innenraume ausgebessert beziehungsweise in ihren vermuteten ursprunglichen Zustand versetzt. Durch die durchgefuhrte Sanierung wurde die Eingangshalle in den Fassungen der Renaissancezeit wiederhergestellt und die Treppe aus dem 19. Jahrhundert wurde in ihrer historischen Bemalung aus der Zeit des Biedermeier rekonstruiert. Im Zuge der Sanierung entdeckte man eine fruhbarocke Wandbemalung im heutigen Buroraum im Obergeschoss, die in Zusammenarbeit mit dem Landesamt fur Denkmalpflege Hessen gesichert und als zusammenhangendes Gesamtbild rekonstruiert wurde. Der ehemalige Ratssaal wurde bei der Restaurierung in den Zustand des fruhen 20. Jahrhunderts versetzt und mit den zwanzig abgebildeten Handwerkerwappen aus dieser Epoche an den Wanden gestaltet. = Sauerkrautmann = Eine Besonderheit stellt der im Fachwerk auf der Giebelseite geschnitzte Sauerkrautmann dar. Er erinnert an die Tradition der Sauerkrautherstellung in Buttelborn bzw. der naheren Umgebung. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erlangte das landwirtschaftlich gepragte Buttelborn den Ruf einer „Weißkrautgemeinde“, und es bestand von 1887 bis 1922 eine Sauerkrautfabrik in Buttelborn. Bevor die Verarbeitung der Kohlkopfe industrialisiert wurde, war das Krautschneiden eine korperlich schwere Arbeit, die von Mannern erledigt wurde. Die sogenannten Sauerkrautmanner zogen im Herbst zur Erntezeit der Krautkopfe als Wanderarbeiter umher und hobelten den Weißkohl mit den erforderlichen Zutaten in die bereitgestellten Standfasser zur Sauerkrautherstellung. Gehobelt wurden die Krautkopfe mit sechsmesserigen Hobeln, die auf großen Holzplatten angebracht waren. Diese großen Hobel wurden wahrend der Wanderschaft zu Fuß von Hof zu Hof auf dem Rucken transportiert. Auf ihrer Wanderung waren die Krautschneider mit einem weiten Mantel oder einer Joppe und einem breitrandigen Filzhut bekleidet. Sie fuhrten eine Ledertasche oder einen Ranzen mit sich, der mit Werkzeugen und einem Kanten Brot befullt war. Die Krautschneider stammten aus armen Gegenden wie dem Montafon, damals eine der armsten Gegenden von Osterreich. Nutzung Neben der ursprunglichen Nutzung als Rathaus befand sich in der Eingangshalle im Erdgeschoss in den 1920er Jahren eine Arrestzelle. Daneben ubte zur gleichen Zeit ein Schuster in seiner Werkstatt sein Handwerk aus und im ersten Obergeschoss diente der vorhandene Raum als Schulsaal. Mit der Einweihung der Pestalozzischule im Jahr 1930 wurde dieser Raum wieder frei. Im Jahr 1935 wurde das Obergeschoss durch einen großeren Umbau erweitert, um Raume fur die verschiedenen NS-Gliederungen zu schaffen. Die zwischenzeitlich als Spritzenhaus genutzte Eingangshalle wurde zu einer „Ehrenhalle“ umgestaltet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden im Rathaus eine Arztpraxis und im Erdgeschoss die damalige gemeindliche Polizeistation untergebracht. Mit dem Beginn des Wirtschaftsaufschwunges in den 1950er Jahren wurde das Rathaus im Jahr 1958 erneut modernisiert. Nach erfolgter Wiedereroffnung befand sich bis zum Jahr 1968 im Erdgeschoss eine Filiale der ortlichen Kreissparkasse. Im Jahr 1994 wurden die Raume im Ober- und im Erdgeschoss dem Heimat- und Geschichtsverein zur Verfugung gestellt. Der historische Sitzungssaal und die große Eingangshalle stehen den ortlichen Vereinen und der Gemeindeverwaltung fur Veranstaltungen zur Verfugung. Eine Nebenstelle des Standesamtes wurde mit einem Trauzimmer im historischen Rathaus eingerichtet. Siehe auch Liste der Kulturdenkmaler im Landkreis Groß-Gerau Literatur Georg Dehio; Bearbeitet von Magnus Backes: Hessen. In: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmaler. Band 1. Deutscher Kunstverlag, Munchen, Berlin 1966, S. 109. Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler, Hessen II, Regierungsbezirk Darmstadt. Deutscher Kunstverlag, Berlin / Munchen 2008, ISBN 978-3-422-03117-3 Weblinks Gemeinde Buttelborn: Historisches Rathaus Buttelborn. In: Kurzbeschreibung. Gemeinde Buttelborn, 2013; abgerufen am 22. September 2024. Gemeindeverwaltung Buttelborn: Denkmaler. In: Kulturdenkmalbeschreibung. Gemeindeverwaltung Buttelborn; abgerufen am 22. September 2024. Einzelnachweise
Das Einzelkulturdenkmal Altes Rathaus, auch Historisches Rathaus genannt, ist ein denkmalgeschutzter Profanbau in Buttelborn, einer Gemeinde und gleichnamigen Kleinstadt im Landkreis Groß-Gerau in Hessen. Das Fachwerkgebaude ist Teil des historischen Ortszentrums und befindet sich in der Mainzer Str. 18 sudostlich der evangelischen Kirche Buttelborn und unweit der nordwestlich davon neu errichteten Gemeindeverwaltung.
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Ursula Boos-Nunning, geb. Nunning (* 24. August 1944 in Zell, Oberfranken), ist eine deutsche Soziologin, Erziehungswissenschaftlerin und Migrationsforscherin. Sie war von 1981 bis 2009 Professorin fur Interkulturelle bzw. Migrationspadagogik an der Universitat Duisburg-Essen. Lebenslauf Boos-Nunning studierte von 1965 bis 1969 Soziologie an der Universitat zu Koln und der Hochschule fur Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz, wo sie 1971 mit einer religionssoziologischen Arbeit zur Operationalisierung und Messung religioser Einstellungen („Dimensionen der Religiositat“) promoviert wurde. Anschließend arbeitete sie als Akademische Ratin an der Padagogischen Hochschule Rheinland in Neuss und ab 1973 an der Universitat Dusseldorf. Dort schloss sie 1980 ihre Habilitation ab und erhielt die Venia Legendi fur Soziologie. Im Jahr darauf wurde sie als Professorin fur Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Auslanderpadagogik“ an die Universitat-Gesamthochschule Essen berufen, die Denomination wurde spater in „interkulturelle Padagogik“ und schließlich in „Migrationspadagogik“ geandert. Von 1998 bis 2002 war sie Prorektorin bzw. Rektorin der Universitat Essen, die anschließend in der Universitat Duisburg-Essen aufging. Boos-Nunning beriet verschiedene politische Institutionen; so gehorte sie von 1996 bis 1998 der Kommission zum 10. Kinder- und Jugendbericht, von 1999 bis 2007 dem Bundesjugendkuratorium und von 2001 bis 2004 dem Zukunftsrat NRW an. Sie trat 2009 in den Ruhestand. Boos-Nunning fuhrte zahlreiche interdisziplinare Forschungsprojekte zu Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihren Familien durch, insbesondere zu jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Den Begriff „Migrationshintergrund“ pragte Boos-Nunning Ende der 1990er-Jahre. Sie verwendete ihn nach eigener Aussage erstmals im 10. Kinder- und Jugendbericht von 1998, da sie die bis dahin in Deutschland ublichen Kategorien „auslandisch“ und „mit auslandischem Hintergrund“ nicht mehr fur zweckmaßig hielt. Daher ubersetzte sie den in englischsprachiger Fachliteratur verwendeten Ausdruck migration background ins Deutsche. Sie heiratete 1969 und ist Mutter von zwei Tochtern. Auszeichnungen Deutscher Dialogpreis 2021 fur Wissenschaft und Bildung des Bundes Deutscher Dialog Institutionen Veroffentlichungen (Auswahl) Kulturelle Identitat und die Organisation des Muttersprachlichen Unterrichts fur Kinder auslandischer Arbeitnehmer. In: Deutsch lernen, Nr. 4/1983, S. 3–14. Mit Ursula Neumann, Hans H. Reich, Fritz Wittek: Krise – oder Krisengerede? Von den Pflichten einer illegitimen Wissenschaft. In: Hans H. Reich, Fritz Wittek (Hrsg.): Migration – Bildungspolitik – Padagogik. Aus der Diskussion um die interkulturelle Erziehung in Europa. Essen/Landau 1984, S. 7–34. Mit Yasemin Karakasoglu: Viele Welten leben. Zur Lebenssituation von Madchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Waxmann, Munster u. a. 2005. Religiositat junger Musliminnen im Einwanderungskontext. In: Hans-Jurgen von Wensierski, Claudia Lubcke (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslage, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Verlag Barbara Budrich, Opladen/Farmington Hills 2007, S. 117–134. Berufliche Bildung von Migrantinnen und Migranten. Ein vernachlassigtes Potenzial fur Wirtschaft und Gesellschaft. In: Gudrun Hentges u. a. (Hrsg.): Migrations- und Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale Bezugspunkte. 2. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden 2010, S. 257–288. Religionszugehorigkeiten in Deutschland. In: Mathias Rohe u. a. (Hrsg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens. Freiburg 2014, S. 369–391. Als Herausgeberin: Bildungsbrucken bauen. Starkung der Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund – Ein Handbuch fur die Elternbildung. Waxmann, Munster u. a. 2016. Literatur Yasemin Karakasoglu, Julian Luddecke (Hrsg.): Migrationsforschung und interkulturelle Padagogik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis. Ursula Boos-Nunning zum 60. Geburtstag. Waxmann, Munster u. a. 2004. Ursula Boos-Nunning: Migrationshintergrund ist nicht nur eine Variable in logistischen Regressionen, sondern etwas, worauf sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ganz einlassen mussen. In: Sabine Jungk (Hrsg.): Die erste Generation – Pionier:innen der migrationsbezogenen (Sozial-)Padagogik. Wissenschaftler:innen im Gesprach. Verlag Barbara Budrich, Opladen u. a. 2021, S. 57–82. Einzelnachweise
Ursula Boos-Nunning, geb. Nunning (* 24. August 1944 in Zell, Oberfranken), ist eine deutsche Soziologin, Erziehungswissenschaftlerin und Migrationsforscherin. Sie war von 1981 bis 2009 Professorin fur Interkulturelle bzw. Migrationspadagogik an der Universitat Duisburg-Essen.
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c-943
Die Serenade in C-Dur KV 648, auch Serenate ex C oder „Ganz kleine Nachtmusik“, ist eine Wolfgang Amadeus Mozart zugeschriebene Komposition. Das Werk verfasste er als Jugendlicher wahrscheinlich zwischen 1766 und 1769. Es ist in einer um 1780 entstandenen Abschrift erhalten, die in der Musikbibliothek der Stadtbibliothek Leipzig gefunden wurde. Das Stuck wurde 2024 in die Neubearbeitung des Kochelverzeichnisses seiner Werke aufgenommen und am 19. September 2024 bei der Prasentation des uberarbeiteten Verzeichnisses in der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg uraufgefuhrt. Zur Musik Das Stuck besteht aus sieben kleinen Satzen fur Streichtrio (2 Violinen und Bass (oder Violoncello)). Die Gesamtlange betragt etwa zwolf Minuten. Satzbezeichnungen: Marche Allegro Menuet mit Trio Polonaise Adagio Menuet mit Trio Finale. Allegro Entstehungs- und Entdeckungsgeschichte Das Werk selbst ist ein Streichtrio, das Mozart als Jugendlicher offenbar vor seiner ersten Reise nach Italien schrieb. Der Entstehungszeitraum wird auf Mitte bis Ende der 1760er Jahre geschatzt, als Mozart zwischen 10 und 13 Jahre alt war. Ob das Stuck zu Mozarts Lebzeiten aufgefuhrt wurde, ist nicht bekannt. Bei der in der Musikbibliothek der Stadtbibliothek Leipzig gefundenen Handschrift aus der Sammlung Carl Ferdinand Becker handelt es sich um eine Kopie beziehungsweise eine Abschrift, die erst um 1780 angefertigt wurde. Das Stuck stellte sich 2024 als ein mogliches Jugendwerk Mozarts heraus. Auf dem Notenblatt steht der Name „Wo[l]fgang Mozart“, der ubliche zweite Vorname „Amadeus“ bzw. „Amade“ fehlt jedoch bei der Abschrift. Durch Analysen und Vergleiche mit anderen Fruhwerken Mozarts wurde das Werk fur authentisch befunden. Die Autorenschaft Mozarts ist laut Kochelverzeichnis „sehr wahrscheinlich“, dennoch listet das Verzeichnis die Serenade als „Werk zweifelhafter Echtheit“. Die Abschrift ist mit dem Titel „Serenate ex C“ uberschrieben, wird im neuen Kochelverzeichnis aber als „Ganz kleine Nachtmusik“ bezeichnet. In einem Kommentar zum Werk heißt es in der neuen Ausgabe des Kochelverzeichnisses: „KV 648 ist in einer einzigen Quelle uberliefert, bei der die Ansetzung der Autorenangabe eine Entstehungszeit des Werks vor der ersten Italienreise vermuten lasst. Angesichts der Provenienz der Handschrift erscheint es nicht ausgeschlossen, dass es sich um die verschollen geglaubte ‚caßation aus dem C‘ KV 653 (Brief vom 3. Dezember 1801, BD 1338; zitiert nach Kolbin) bzw. die ‚ganz kleine Nachtmusik‘ fur zwei Violinen und Basso KV 41g (Brief vom 8. Februar 1800, BD 1280) handelt, die NM dem Verlag Breitkopf & Hartel als ein Jugendwerk ihres Bruders fur die Oeuvres complettes uberlassen und am 30. April 1807 (BD 1377) vergeblich zuruckgefordert hatte.“ Mozarts Schwester Nannerl hatte dazu 1800 dem damals in Leipzig ansassigen Verlag Breitkopf & Hartel geschrieben: „Auch habe ich eine ganz kleine Nachtmusik, bestehend in 2 Violin und Basso. Da es aber eine sehr simple Composition, die er in sehr fruhen Jahren gemacht hat, so getraute ich mir nicht, solche zu schicken, da sie mir zu unbedeutend schien.“ Die Urauffuhrung fand am 19. September 2024 in der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg bei der Prasentation des uberarbeiteten Kochelverzeichnisses statt. Die deutsche Erstauffuhrung folgte zwei Tage spater im Foyer in der Oper in Leipzig durch Schuler der Musikschule Leipzig „Johann Sebastian Bach“. Weblinks Digitalisat der Notenhandschrift, sachsen.digital „Ganz kleine Nachtmusik“: Noten und Audiodateien im International Music Score Library Project Serenade in C KV 648 im Kochelverzeichnis online Stiftung Mozarteum Salzburg: Weltpremiere KV 648. Ganz kleine Nachtmusik. Serenade in C KV 648. Live-Mitschnitt Urauffuhrung auf YouTube Einzelnachweise
Die Serenade in C-Dur KV 648, auch Serenate ex C oder „Ganz kleine Nachtmusik“, ist eine Wolfgang Amadeus Mozart zugeschriebene Komposition. Das Werk verfasste er als Jugendlicher wahrscheinlich zwischen 1766 und 1769. Es ist in einer um 1780 entstandenen Abschrift erhalten, die in der Musikbibliothek der Stadtbibliothek Leipzig gefunden wurde. Das Stuck wurde 2024 in die Neubearbeitung des Kochelverzeichnisses seiner Werke aufgenommen und am 19. September 2024 bei der Prasentation des uberarbeiteten Verzeichnisses in der Internationalen Stiftung Mozarteum in Salzburg uraufgefuhrt.
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c-944
D’r Hans im Schnokeloch („Der Hans im Schnakenloch“; mit Schnaken sind Stechmucken gemeint) ist ein alemannisches Volkslied aus dem Elsass, das sich bis in das mittlere 19. Jahrhundert nachweisen lasst. Die Texte sind vielfaltig, handeln aber gemeinhin von der notorischen Unzufriedenheit der Liedfigur Hans, der mit nichts und niemandem zufrieden ist. Das in der Gegend von Straßburg entstandene Lied konnte sich im ganzen Elsass und schließlich auch uber dieses hinaus verbreiten. Neben dem Dasein als Volks- und Kinderlied wurde das Lied zu einer Metapher fur die ambivalente Geschichte des Elsass und gilt als dessen inoffizielle „Hymne“. Zudem regte es viele Kulturschaffende an und inspirierte unter anderem mehrere Buhnenwerke. Hintergrund und Geschichte = Entstehungsmythos = Einer gelaufigen Erzahlung nach wurde der Text einem Gastwirt gewidmet, der in einem Schnokeloch genannten Gelande in Konigshofen bei Straßburg seine Statte betrieb. Womoglich handelte der Text ursprunglich davon, dass der Gastwirt Hans alles habe, was die Gaste bei ihm bestellen wollen – oder ebendas gerade nicht. Erst spater sei der Text so abgeandert worden, dass er sich auf ein launisches Gemut bezog. Bei der Melodie handelt es sich um eine damals weit verbreitete Volksweise, zu der auch andere Texte gesungen werden. Zum ersten Mal abgedruckt wurde der Text 1842 im Elsassischen Sagenbuch von August Stober. = Das Schnokeloch = Das Schnokeloch (⊙) ist ein ehemaliges Feuchtgebiet im Straßburger Stadtteil Konigshofen, westlich des historischen Stadtkerns. Mit Schnoke sind in den regionalen Dialekten Stechmucken gemeint, die Bezeichnung als Loch ist auf die einst sumpfige Beschaffenheit der Ortschaft zuruckzufuhren. Es verlauft dort der Muhlbach, ein Nebenfluss der Breusch. Das anliegende Breuscheckschlossel (⊙) ist in vielen bildlichen Darstellungen der Legende im Hintergrund zu erkennen. Durch die Ortschaft verlauft die Rue du Schnokeloch, der Bezug des Straßennamens auf ein „Schnakenloch“ lasst sich bis in das Jahr 1817 nachweisen. Texte = Alemannische Texte = Der bekannte Hauptvers wurde 1842 im Elsassischen Sagenbuch von August Stober zum ersten Mal abgedruckt und in dessen Anmerkungsapparat als „ein im Elsasse altbekanntes Volkslied“ beschrieben. Darauf folgen sechs weitere Verse, die von Adolf Stober, dem Bruder des Herausgebers, beigesteuert wurden. Diese weisen einen tragischen, moralisierenden Charakter auf: Der notorisch unzufriedene „Hans im Schnakenloch“ versagt sich einem behaglichen Dasein mit Frau und Hof und wird vom Schicksal in den Ruin getrieben. Das Lied endet mit dem Tod von Hans, die letzte Strophe ruft zu Genugsam- und Frommigkeit auf. Einige bekannte Verse greifen die Widerspruchlichkeit des Originals auf: Un was er saat, diss denkt er nit; Un was er kann, diss macht er nit, Un was er duet, diss soll er nit. Auch anstoßige Verse mit obszonem oder makaberem Inhalt sind verbreitet. Sie handeln etwa davon, dass Hans „eine Schnake im Loch [Anus]“ habe und sie nicht entfernen kann oder dass Hans aus Verzweiflung aus dem Fenster springt und in ein „Narrenhaus“ kommt. Die in der Deutschschweiz verbreiteten Variationen handeln mitunter vom Hans im Schnaggeloch („Schneckenloch“). = Franzosische Texte = Es konnten sich auch franzosischsprachige Texte etablieren. Neben singbaren Ubersetzungen der alemannischen Vorlage (Le Hans de Schnokeloch) gibt es auch Verse, die eigene Geschichten erzahlen; etwa dass Hans eine Hexe verprugeln geht. Melodie Verbreitung und Bedeutung Unter anderem im Hinblick auf die wechselhafte Geschichte des Elsass, das im Verlauf der Moderne mehrere Male die staatliche Zugehorigkeit wechselte und Schauplatz vieler militarischer Auseinandersetzungen war, erhielt das Volkslied eine lokalpatriotische Aufwertung zur inoffiziellen „Hymne des Elsass“. Der Hans im Schnokeloch wurde zu einer Metapher fur den Elsasser, der weder eindeutig deutsch noch eindeutig franzosisch ist; seine Gefuhlsschwankungen wurden zum elsassischen Lokalgemut stilisiert. Der Schriftsteller, Theologe und Jurist Frederic Hoffet außert sich in seinem Essay Psychanalyse de l’Alsace wie folgt zu den Versen uber den Hans im Schnokeloch: Bei einer Diskussion in der franzosischen Nationalversammlung im Jahre 2019 um die Grundung der Europaischen Gebietskorperschaft Elsass brachte der Abgeordnete Thierry Michels (La Republique en Marche) seine Unterstutzung fur die Gebietskorperschaft zum Ausdruck, in dem er D’r Hans im Schnokeloch zu singen begann. Caroline Fiat (La France insoumise) reagierte mit dem Zwischenruf, dass „die Sprache der Republik“ Franzosisch sei („La langue de la Republique est le francais !“), und auch die Prasidentin mahnte, dass Regionalsprachen im Plenarsaal untersagt seien. Das Lied erlangte auch uber das Elsass hinaus Bekanntheit, als unpolitisches Volks- und Kinderlied ist es im gesamten alemannischen Dialektraum verbreitet. Abgeleitete Buhnenwerke Die Liedfigur des Hans im Schnokeloch diente mehrfach als Inspiration fur Buhnenwerke, wobei D’r Hans im Schnokeloch (1903) von Ferdinand Bastian und Hans im Schnakenloch (1915) von Rene Schickele erhebliche Bekanntheit erlangten. Auch der seinerzeit weit bekannte Kabarettist Germain Muller griff die Figur auf, und der Schweizer Musiker Andrew Bond verfasste auf Grundlage des Volksliedes das Kindermusical De Hans im Schnaggeloch (2013). = D’r Hans im Schnokeloch (1903) = Der elsassische Mundartdichter Ferdinand Bastian veroffentlichte 1903 D’r Hans im Schnokeloch, ein „Volksspiel in 4 Aufzugen“. Das Stuck baut auf dem Text von Adolf Stober im Elsassischen Sagenbuch auf und baut dessen Handlung zu einer Tragikomodie mit musikalischen Einlagen aus. Vor allem im 3. Akt werden viele regionale Volkslieder gesungen, darunter D’r Murwaddel, S’Elsass, unser Landel und auch das dem Stuck zugrundeliegende D’r Hans im Schnokeloch. Die Dialoge sind auf Elsassisch verfasst, mit vielen franzosischen Lehnausdrucken sowie mitunter „Erzen“ und „Ihrzen“ als gebrauchliche Hoflichkeitsformen. Im Jahr 1928 wurde dem Autor zur 1000. Vorstellung des Stuckes gratuliert. Bereits 1922 wurde eine Stummfilmadaption umgesetzt. Handlung Hans ist ein junger, deprimierter Hofbesitzer, der sich von den kleinsten Unzulanglichkeiten aus der Fassung bringen lasst, mit zynischen Spruchen seine Mitmenschen verletzt und einen großen Lebensuberdruss empfindet. Mit seinen Tanten Lehn und Angenes sowie dem murben Knecht Casper bewirtschaftet er seinen Hof. Die Tanten glauben, dass Hans mehr Halt hatte, wurde er eine Frau heiraten. Dieser traumt aber lieber davon, eines Tages ein großes Haus zu besitzen oder wie sein Freund Francois nach Amerika auszuwandern. Nur fur seine Base Urschel empfindet er gewisse Liebesgefuhle. Nach einer ereignisreichen Verkupplung durch Lehn heiratet er diese schließlich, zeugt mit ihr ein Kind und baut sich ein neues Haus, das er sich mit dem Verkauf eines Mondkalbes finanziert. Bei der Tauffeier des Kindes bricht jedoch ein Brand im Schnokeloch aus, worauf Hans frustriert seine Familie im Stich lasst, um nach Amerika auszuwandern. Als er funf Jahre spater verwahrlost nach Straßburg zuruckkehrt, verpasst er um wenige Augenblicke die Abreise von Urschel, die nun ihren Cousin Grosskost geheiratet hat. Er bittet Lehn und Casper, niemandem von seiner Ruckkehr zu erzahlen, und verabschiedet sich fur immer. = Hans im Schnakenloch (1915) = Der deutsch-franzosische Schriftsteller Rene Schickele veroffentlichte im Jahr 1915 das expressionistische Drama Hans im Schnakenloch, welches vom Schicksal der Elsasser bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges handelt. Das Werk gilt als Ausdruck von Schickeles Pazifismus und als erstes deutsches Drama, das auf den Ersten Weltkrieg Bezug nimmt. Beim allgemeinen Publikum beliebt, wurde das Werk der kriegskritischen Tendenzen wegen von deutschen und osterreichischen Behorden zeitweise verboten oder im Sinne ihrer Zensur angepasst. Im Deutschen Reich wurde gar die Oberste Heeresleitung auf das Stuck aufmerksam; der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff nahm erheblichen Einfluss gegen dessen Freigabe durch die Zensurbehorden. Handlung Hans Boulanger ist ein rastloser, selbstherrlicher Mann, der das Schnakenloch, den von seinem Vater geerbten Hof, mit leichtsinnigen Entscheidungen kaputtwirtschaftet, verschwenderische Reisen und Ausfluge unternimmt, die Erziehung seiner Kinder vernachlassigt und seine Frau betrugt. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird die Familie Boulanger gespalten: Hans selbst ist aus gesundheitlichen Grunden nicht dienstpflichtig und mochte das Schnakenloch nicht verlassen. Sein Bruder dient als Leutnant im Deutschen Heer. Die Mutter identifiziert sich als Franzosin, betet aber fur ihren kampfenden Sohn. Hans’ deutsche Frau stellt ihre Nationalitat hinter die Liebe zu ihrer Familie, obwohl ihr Mann sie immer wieder betrugt und verletzt. Als das Kriegsgeschehen das Schnakenloch erreicht, wird Hans von Todessehnsucht ergriffen. Er beschließt, Familie und Hof schlagartig hinter sich zu lassen, um als franzosischer Soldat auf dem Schlachtfeld zu sterben. Trivia Fur das Fahrgeschaft Madame Freudenreich Curiosites im Europa-Park in Rust wurde ein Soundtrack aus verschiedenen Arrangements des Volksliedes produziert. Literatur Jeanne Loesch: D’r Hans im Schnokeloch. In: Albert Lorentz (Hrsg.): Kocherschbari. Nr. 39, 1999, ISSN 0243-2498, S. 70–71 (gallica.bnf.fr). Marie-Christine Perillon, Malou Schneider: Traditions strasbourgeoises. In: Strasbourg. Editions Bonneton, Paris 1993, ISBN 2-86253-153-7, S. 181–183 (franzosisch, archive.org). Carl Hess (Hrsg.): Ringe ringe Rose! – Ein Liederbuch fur die Schweizerkinder, ihre Mutter und Lehrer. Neue Auflage. Helbing & Lichtenhahn, Basel, S. 13. Weblinks Der Hans im Schnokeloch Liedblatt (Noten, funf Strophen) der Klingenden Brucke Einzelnachweise
D’r Hans im Schnokeloch („Der Hans im Schnakenloch“; mit Schnaken sind Stechmucken gemeint) ist ein alemannisches Volkslied aus dem Elsass, das sich bis in das mittlere 19. Jahrhundert nachweisen lasst. Die Texte sind vielfaltig, handeln aber gemeinhin von der notorischen Unzufriedenheit der Liedfigur Hans, der mit nichts und niemandem zufrieden ist. Das in der Gegend von Straßburg entstandene Lied konnte sich im ganzen Elsass und schließlich auch uber dieses hinaus verbreiten. Neben dem Dasein als Volks- und Kinderlied wurde das Lied zu einer Metapher fur die ambivalente Geschichte des Elsass und gilt als dessen inoffizielle „Hymne“. Zudem regte es viele Kulturschaffende an und inspirierte unter anderem mehrere Buhnenwerke.
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c-945
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c-946
Das Rollkommando Hamann (litauisch: Hamanno skrajojantis burys) war eine kleine motorisierte Einheit, die unter dem Kommando von SS-Obersturmfuhrer Joachim Hamann von Juli bis Oktober 1941 schatzungsweise 70.000 judische Manner, Frauen und Kinder ermordete, die im Jager-Bericht vom 1. Dezember 1941 dokumentiert sind. Die Einheit war vor allem fur Morde in Litauen, von Juli bis August 1941 auch in Lettland verantwortlich. Ende 1941 war die Vernichtung der litauischen Juden durch Einsatze des Rollkommandos, des Sonderkommandos des Sicherheitsdienstes SD beim Massaker von Ponary und der litauischen Hilfspolizei TDA (litauisch: Tautinio darbo apsauga, Schutz der nationalen Arbeit) im Fort IX in Kaunas abgeschlossen und schatzungsweise 80 % aller litauischen Juden ermordet. Die wenigen Uberlebenden wurden als Zwangsarbeiter in stadtische Ghettos deportiert, vor allem in die Ghettos von Vilnius und Kaunas. Organisation Auf Befehl von Walter Stahlecker, Leiter der Einsatzgruppe A, und unter Zustimmung von Karl Jager, Leiter des Einsatzkommandos 3 (EK3), rekrutierte Hamann zunachst acht Mitglieder aus dessen Einsatzkommando. Die Einheit hatte keine feste Struktur, bestand aber im Kern aus Hamann, seinem Stellvertreter Helmut Rauca und je nach Bericht aus weiteren 50 bis 58 Litauern der 3. Kompanie des TDA unter dem Kommando von Bronius Norkus, ortlichen Polizeikraften und antisemitischen und antisowjetischen Hilfspolizisten, die sich selbst als „Partisanen“ bezeichneten. Ihr Kennzeichen war eine weiße Armbinde, weshalb sie auch als „Weißbander“ oder „Weißarmbinder“ bezeichnet wurden. Die Einheit wurde fur ihre Ad-hoc-Einsatze in verschiedenen Landgemeinden Litauens jeweils neu zusammengestellt. Der Jager-Bericht dokumentiert die Massenerschießungen des Kommandos, die an 54 Orten in ganz Litauen durchgefuhrt wurden. „Das Ziel, Litauen judenfrei zu machen, konnte nur erreicht werden durch die Aufstellung eines Rollkommandos mit ausgesuchten Mannern unter der Fuhrung des SS-Obersturmfuhrers Hamann, der … es verstand, die Zusammenarbeit mit den litauischen Partisanen und den zustandigen zivilen Stellen zu gewahrleisten“. (Jager-Bericht, Blatt 7) Von Ende Juni bis Anfang Oktober 1941 ermordete das Kommando mit Unterstutzung litauischer Krafte fast die gesamte judische Bevolkerung der litauischen Landgemeinden (Panevezys, Ukmerge, Zarasai, Kedainiai, Kaisiadorys, Utena, Marijampole, Jonava, Raseiniai, Alytus, Zagare u. a.). Vom 13. Juli bis zum 22. August 1941 operierte das Kommando von Daugavpils, Lettland, aus und ermordete in dieser Zeit 9102 Menschen, fast ausschließlich Juden aus dem Ghetto Daugavpils, und wurde nach der Ermordung von fast 70.000 Juden Anfang Oktober 1941 aufgelost. Durchfuhrung der Massenmorde Ublicherweise kundigte das Rollkommando der ortlichen litauischen Polizei am Tag vor einer ihrer Mordaktionen an, dass eine Massenerschießung von Juden stattfinden werde und die Polizei und deren freiwillige Helfer sie durch Aushebung von Massengrabern, Bereitstellung von Wach- und Begleitpersonal und das Zusammentreiben und die Entkleidung der judischen Opfer am vorgesehenen Hinrichtungsort vorzubereiten hatten. Dieser Ort befand sich oft mehrere Kilometer entfernt von der jeweiligen Ortschaft, in der Regel ein abgelegener Wald oder ein weiter entferntes Feld. Am Morgen des sogenannten „Aktionstages“ ruckte das Rollkommando meist aus Kaunas mit einigen Dutzend Angehorigen an und fuhrte die Massenexekutionen durch. Die Erschießungskommandos erhielten oft Alkohol in unbegrenzter Menge. Nach der Beendigung der Massenmorde mussten die ortlichen Hilfskrafte die Massengraber zuschaufeln; die Kleidung und anderes Eigentum der Ermordeten wurde unter den Tatern aufgeteilt. Karl Jager, der Chef des Einsatzkommandos 3, nahm oft als Augenzeuge an den Mordaktionen teil. In der Anfangsphase dieser „Aktionen“ zahlten neben judischen Mannern im wehrfahigen Alter auch vermeintliche oder tatsachliche Kommunisten zu den Opfern, ab August 1941 wurden auch Frauen und Kinder hingerichtet. Die letzte und großte Massenerschießung mit mehreren tausend Opfern fuhrte das Rollkommando am 23. oder 24. August 1941 im Wald von Pajouste durch und loschte damit die judische Gemeinde des Ortes Panevezys aus. Literatur Knut Stang: Kollaboration und Massenmord: die litauische Hilfspolizei, das Rollkommando Hamann und die Ermordung der litauischen Juden. Lang, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1996, ISBN 978-3-631-30895-0. Gerhard Paul: Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg: ›Heimatfront‹ und besetztes Europa. Primus-Verlag, Darmstadt 2000, ISBN 978-3-89678-188-8. Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. Wallstein, Gottingen, Niedersachsen 2016, ISBN 978-3-8353-1980-6. Wolfram Wette: Karl Jager: Morder der litauischen Juden. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2011, ISBN 978-3-596-19064-5. Einzelnachweise
Das Rollkommando Hamann (litauisch: Hamanno skrajojantis burys) war eine kleine motorisierte Einheit, die unter dem Kommando von SS-Obersturmfuhrer Joachim Hamann von Juli bis Oktober 1941 schatzungsweise 70.000 judische Manner, Frauen und Kinder ermordete, die im Jager-Bericht vom 1. Dezember 1941 dokumentiert sind. Die Einheit war vor allem fur Morde in Litauen, von Juli bis August 1941 auch in Lettland verantwortlich. Ende 1941 war die Vernichtung der litauischen Juden durch Einsatze des Rollkommandos, des Sonderkommandos des Sicherheitsdienstes SD beim Massaker von Ponary und der litauischen Hilfspolizei TDA (litauisch: Tautinio darbo apsauga, Schutz der nationalen Arbeit) im Fort IX in Kaunas abgeschlossen und schatzungsweise 80 % aller litauischen Juden ermordet. Die wenigen Uberlebenden wurden als Zwangsarbeiter in stadtische Ghettos deportiert, vor allem in die Ghettos von Vilnius und Kaunas.
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c-947
Der Abelshof ist eine teilweise denkmalgeschutzte ehemalige Hofanlage in Erp, einem Ortsteil von Erftstadt. Das vormals stark verfallene Hauptgebaude wurde uber mehrere Jahre saniert und wird seit 2024 als Wohngebaude benutzt. Beschreibung Der Abelshof bestand ursprunglich aus mehreren Hausern, die einen gemeinsamen Innenhof umstanden und von denen nur noch das Haupthaus und einige Mauerreste vorhanden sind. Das Hauptgebaude ist ein zweigeschossiges Backsteinwohnhaus mit Walmdach an der Straßenecke der Luxemburger Straße zur Steinfelder Straße. Es hat einen Eingang an der Luxemburger Straße sowie einen weiteren an der Steinfelder Straße. Eine rundbogige uberdachte Durchfahrt verbindet das Haus an der Luxemburger Straße mit einem neu erbauten Wohnhaus. An der Steinfelder Straße ist das Jahr der Erbauung 1842 durch Ankerzahlen datiert. Die Fenster sind an beiden Seiten bis zur Tordurchfahrt und an der Steinfelder Straße gleichmaßig aufgereiht. Durch die Sanierung des Gebaudes wurden die Fenster wieder baulich in einen Zustand gebracht, der dem historischen Vorbild entspricht. Auch die zugemauerte Tordurchfahrt an der Steinfelder Straße wurde wieder geoffnet und durch einen zweiten Eingang ersetzt. Der gesamte innere Bereich des Gebaudes wurde durch von außen nicht sichtbare Neubauten ersetzt. Geschichte Der Abelshof wurde 1842 gebaut. Nach einer mundlichen Uberlieferung war der Hof ursprunglich Teil eines großeren historischen Hofes, des Bottenbroichhofs. Dieser wurde von den Brudern Michael und Josef Ismar zusammen mit etwa 800 Morgen Land ersteigert. Auf dem Hof verungluckte der Sohn von Michael Ismar. Zu seinem Gedenken wurde 1925 ein Wegekreuz vor dem heutigen Haupthaus des Abelshofs aufgestellt. Nach dem Tod von Michael Ismar wurde der ehemalige Bottenbroichhof in den Hof Fuhs und den spateren Abelshof geteilt. Die Tochter Katharina heiratete einen Mann aus Kerpen mit dem Namen Klosterhalven und zog in das Haupthaus, uber der Tur befindet sich eine entsprechende Inschrift. Nach dem Tod ihres Mannes heiratete Katharina erneut, diesmal Matthias Abels aus Niederembt, nach dem der Hof benannt wurde. Der Sohn Gustav Abels ubernahm den Hof und heiratete Edonie Lammerty aus Belgien, seine Eltern kauften eine Gastwirtschaft in der Hochstraße in Erp und zogen dort ein. Der Hof wurde in der Vergangenheit als Wohnhaus sowie zu landwirtschaftlichen Zwecken genutzt, zudem befand sich hier zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein „Colonialwarengeschaft“. Das kinderlose Paar Gustav und Edonie Abels adoptierte einen 1927 geborenen Jungen, den sie ebenfalls Gustav nannten und von dem die benannte mundliche Uberlieferung zur Geschichte des Hofes stammte. Wahrend des Zweiten Weltkriegs wurden die Stallungen des Gebaudes bei einem Fliegerangriff zerstort, auch das Geschaft gab es nach dem Krieg nicht mehr. 1999 wurde das Kreuz auf die Grunanlage gegenuber vom Hof an der Ecke Luxemburger Straße und Flussstraße versetzt. Nachdem das Haupthaus einige Jahre unbewohnt und ungenutzt war, verfiel es zunehmend. Anfang der 2020er-Jahre wurde es von seinem aktuellen Besitzer erworben, der es aufwandig neu aufbaute. Dabei wurde die uber Eck fuhrende Fassade erhalten und entsprechend den Denkmalschutzvorgaben saniert, wahrend der ruckwartige Teil komplett neu aufgebaut wurde. Auch das an vielen Stellen eingefallene und undichte Dach wurde entfernt und durch ein neues ersetzt, das dem Original in Form und Große exakt nachgebaut wurde. Seit Anfang 2024 wird das Haus wieder als Wohngebaude genutzt, wobei drei hintereinanderliegende Wohnungen als Reihenhauser uber je drei Etagen mit einer Gesamtwohnflache von 470 Quadratmetern geschaffen wurden. Das Wohnhaus des Abelshofs wurde am 14. April 1993 unter der Nr. 180 in die Denkmalliste der Stadt Erftstadt eingetragen. Belege Literatur Gustav Abels: Der Hof Abels, nach mundlicher Uberlieferung. (aufgezeichnet von Margret Jussen) In: Manfred Faust, Arbeitskreis zur Erper Dorfgeschichte der Volkshochschule Erftstadt in Zusammenarbeit mit der Katholischen Landvolkbewegung Erp: Erinnerungen an das alte Erp: Erper Burgerinnen und Burger berichten., Erp 1995. S. 24–25. Rainer Strotz: Erp in alten Ansichten – Band 2. Zaltbommel, Europaische Bibliothek 1996, ISBN 978-90-288-6292-0; Tafel 9. Weblinks
Der Abelshof ist eine teilweise denkmalgeschutzte ehemalige Hofanlage in Erp, einem Ortsteil von Erftstadt. Das vormals stark verfallene Hauptgebaude wurde uber mehrere Jahre saniert und wird seit 2024 als Wohngebaude benutzt.
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c-948
Dionysios von Mesene (altgriechisch Διονυσιος; * wohl in der sudmesopotamischen Landschaft Mesene; † 323 v. Chr. in Babylon) geriet aus nicht naher bekannter Ursache in die Gefangenschaft Alexanders des Großen, wurde aber befreit und setzte sich in Abwesenheit des Konigs in dessen Gewandern auf den Thron, wofur er hingerichtet wurde. Antike Berichte Nur drei erhaltene Quellen, die antiken Historiker Arrian und Diodor sowie der Biograph Plutarch, bringen kurze Berichte uber Dionysios von Mesene. Der Bericht Arrians basiert, wie er selbst angibt, auf dem Geschichtswerk des zeitgenossischen Alexanderhistorikers Aristobulos, der selbst an Alexanders Feldzug nach Asien teilgenommen hatte. Diodors Bericht folgt dagegen der alternativen Uberlieferung des Kleitarchos. Die erhaltenen Darstellungen uberliefern kaum Nachrichten uber Dionysios’ Herkunft und sein fruheres Leben, sondern beschaftigen sich im Zusammenhang mit Alexanders Anfang 323 v. Chr. erfolgter Ruckkehr nach Babylon fast ausschließlich mit Dionysios’ erwahnter provokativer Tat, die ihn das Leben kostete. Nur Plutarch erwahnt den Namen des Dionysios und seine Herkunft aus Mes(s)ene. Er sei aufgrund nicht naher spezifizierter Anklagen vom Kustengebiet nach Babylon gebracht und dort lange gefangen gehalten worden. In scheinbarem Widerspruch hierzu fuhrt Diodor in seinem Bericht uber Alexanders Babylon-Aufenthalt aus, dass Dionysios ein arretierter „Einheimischer“ – vielleicht ein Perser – gewesen sei. Andrik Abramenko hat den Widerspruch zwischen der Plutarch-Uberlieferung, die vom griechischen Messene oder Messenien als Herkunftsort des Dionysios zu sprechen scheint, und Diodors Aussage dahingehend aufgelost, dass er Mesene, die auch haufig Charakene genannte, schon lange zu Babylonien gehorende historische Landschaft bei Plutarch gemeint sieht. Dies kann sich auch auf einen Teil der handschriftlichen Uberlieferung des Plutarch-Textes stutzen. Vor seiner Ankunft in Babylon war Alexander von babylonischen Wahrsagern oder Chaldaern aufgrund ungunstiger Vorzeichen vor dem Betreten der Stadt gewarnt worden. Nach kurzem Zogern zog er doch in Babylon ein. Hier hielt er sich nun langer auf. Nach seinen Vorstellungen sollte Babylon wieder eine Metropole des Orients werden. Laut Arrians Darstellung entfernte sich Alexander gemeinsam mit seinen makedonischen Begleitern (hetairoi) aus einer Beratung uber die Einreihung neuer Truppenverbande, um seinen Durst zu stillen. Vor seiner Ruckkehr ergriff eine von Arrian namentlich nicht genannte Person – „ein Mensch ohne Bedeutung, von dem einige sagen, es sei einer der frei herumlaufenden Staatsgefangenen gewesen“ – die Gelegenheit, in den Beratungssaal zu gehen, sich die koniglichen Kleider anzuziehen, das Diadem aufzusetzen und auf dem leeren Thron Platz zu nehmen. Diodor gibt an, dass er „spontan“ von seinen Fesseln befreit worden und seinen Wachen entkommen sei, woraufhin er wahrend Alexanders Abwesenheit in den Palast eingedrungen sei und sich auf den Thron gesetzt habe. Da sich die griechischen und makedonischen Gefolgsleute des Konigs mit diesem zuruckgezogen hatten, waren allein die persischen Eunuchen anwesend und wagten nicht, Dionysios seines Platzes zu verweisen. Stattdessen sahen sie in dessen Handlungsweise ein bevorstehendes Unheil, zerrissen ihre Gewander und schlugen sich vor die Brust. Sobald Alexander den Vorfall bemerkte, ließ er Dionysios foltern, um seine Motive herauszufinden. Er argwohnte, dass eine Verschworung gegen ihn geplant sei, konnte aber nichts Konkretes in Erfahrung bringen. Nachdem er seine Seher befragt hatte, ordnete er die Exekution des Dionysios an. Wenige Tage nach dieser Episode, am 29. Mai 323 v. Chr., brach bei Alexander eine todliche Fieberkrankheit aus, der er am 10. Juni 323 v. Chr. erlag. Einschatzungen der Forschung Obwohl die Historizitat vieler der tradierten Omina, die Alexanders baldigen Tod angekundigt haben sollen, fraglich ist, betrachten zahlreiche Althistoriker wie Alexander Demandt und Siegfried Lauffer die erwahnte Episode von Dionysios’ unerlaubter Thronbesteigung als geschichtlich. Der Altorientalist Hans Martin Kummel fand eine plausible, seitdem in der Forschung verbreitete Erklarung fur diesen Vorfall: Demnach wollten die Chaldaer das Alexander nach ihrer Vorhersage drohende Unheil dadurch abwehren, dass sie selbst Dionysios – in Anwendung eines altorientalischen Rituals – dazu uberredeten, auf dem Thron Platz zu nehmen. Gemaß diesem Ritual ware er als Todeskandidat ausersehen worden, um als „Ersatzkonig“ investiert und hingerichtet zu werden. Durch seinen Opfertod hatte er das Alexander drohende Unheil von ihm abwenden sollen. Die griechischen Historiker verstanden das Ritual wohl nicht, sondern uberlieferten es als seltsames Vorzeichen. Eine andere Rekonstruktion versucht der Althistoriker Andrik Abramenko: Ihm zufolge habe es sich tatsachlich, wie von Alexander befurchtet, um eine Verschworung gegen den Konig gehandelt, die von lokalen babylonischen Eliten lanciert worden, dann aber gescheitert sei. Dabei sei das Ritual des Ersatzkonigs als eine Art Vorwand benutzt worden, um den verschworerischen Hintergrund zu verdecken. Letztlich ist die Quellenlage so unklar, dass die Episode zu Spekulationen einladt. Literatur Andrik Abramenko: Der Fremde auf dem Thron. Die letzte Verschworung gegen Alexander d. Gr. In: Klio. Band 82, 2000, S. 361–378 (doi:10.1524/klio.2000.82.2.361). Helmut Berve: Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage. Band 2. Munchen 1926, S. 145, Nr. 278. Alexander Demandt: Alexander der Große. Leben und Legende. C. H. Beck, Munchen 2009, ISBN 978-3-406-59085-6, S. 342. Waldemar Heckel: Who’s Who in the Age of Alexander the Great. Prosopography of Alexander’s Empire. Blackwell, Oxford u. a. 2006, ISBN 1-4051-1210-7, S. 114 (Digitalisat; s. v. Dionysius 3). Siegfried Lauffer: Alexander der Große. 3. Auflage. Deutscher Taschenbuch-Verlag, Munchen 1993, ISBN 3-423-04298-2, S. 185. Hans-Ulrich Wiemer: Alexander – der letzte Achaimenide? Eroberungspolitik, lokale Eliten und altorientalische Traditionen im Jahr 323. In: Historische Zeitschrift. Band 284, 2007, S. 283–309, insbesondere S. 301–306. Anmerkungen
Dionysios von Mesene (altgriechisch Διονυσιος; * wohl in der sudmesopotamischen Landschaft Mesene; † 323 v. Chr. in Babylon) geriet aus nicht naher bekannter Ursache in die Gefangenschaft Alexanders des Großen, wurde aber befreit und setzte sich in Abwesenheit des Konigs in dessen Gewandern auf den Thron, wofur er hingerichtet wurde.
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c-949
Der Flohmarkt von Saint-Ouen (franz. Marche aux Puces de Saint-Ouen oder auch Marche aux Puce de Clignancourt) ist ein Flohmarkt im Norden von Paris. Er gilt als der großte Flohmarkt der Welt, ist in einem eigenen Viertel angesiedelt und bedeckt etwa 70.000 m² Standflache mit rund 3000 Standen und Geschaften. Schwerpunkte der gehandelten Waren sind Mobel, Haushaltsgegenstande, Teppiche, Trodel aller Art und preisgunstige Kleidung und Schuhe. Der Markt besteht aus etlichen Teilmarkten; die Markte fur Endabnehmer sind jedes Wochenende von Samstag bis Montag geoffnet und verzeichnen rund 5 Millionen Besucher pro Jahr. Lage und Beschreibung Der Markt befindet sich an der Porte de Clignancourt im Norden von Paris in der 47.000-Einwohner-Stadt Saint-Ouen (Seine-Saint-Denis) an der Grenze zum 18. Arrondissement und liegt direkt an der Peripherique, der Pariser Ringautobahn. Unweit seines Eingangs ist die Endhaltestelle der Metrolinie 4 „Porte de Clignancourt“. Der Markt ist auch mit der Metrolinie 13, Haltestelle „Garibaldi“, der Metrolinie 14, Haltestelle „Saint-Ouen“, mit den Autobuslinien 85 und 95 und der Straßenbahn T3b zu erreichen. Der Markt besteht aus mehreren Teilmarkten und Hallen mit festen Standen, die meist spezialisiert sind und insgesamt 15 verschiedene Bereiche umfassen. Dazu kommen 5 Gassen mit fest installierten Marktstanden. In samtlichen Bereichen findet sich eine große Auswahl aller Arten von Antiquitaten und Vintage aus unterschiedlichen Perioden und Landern sowie Gebrauchsgegenstande aller Art. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Markt zu einem beliebten Touristenziel entwickelt. Die Markte fur Konsumenten haben jahrlich etwa 5 Millionen Besucher und sind samstags und sonntags von 10 bis 18 Uhr und montags von 11 bis 17 Uhr geoffnet (Stand 2024). Der Markt insgesamt bedeckt ein eigenes Viertel und umfasst rund 2500 Stande und Ladengeschafte auf 70.000 m². In den umliegenden Straßen und um den Markt herum haben sich fliegende Handler vor allem fur preiswerte Kleidung und Schuhe etabliert, die nochmals etwa 500 Anbieter ausmachen. 2001 gelang es dem 1995 gegrundeten Verein „Defense et Promotion des Puces“, dem Markt einen besonderen Status zu verleihen: Der Flohmarkt von Saint-Ouen wurde zu einem der ersten Orte in Frankreich, die aufgrund ihres Ambientes und ihrer Atmosphare als Zone zum Schutz des architektonischen, stadtebaulichen und landschaftlichen Erbes (ZPPAUP) eingestuft wurden. Geschichte Ende des 19. Jahrhunderts durchstreiften Sammler und arme Leute die Straßen von Paris, um Ubriggebliebenes zu sammeln. Das wurde erschwert, als der Prafekt Eugene Poubelle 1883 in Paris Mulltonnen einfuhrte. Lumpensammler durften sie dann nur noch in den fruhen Morgenstunden durchsuchen. Die burgerlichen Kreise waren nicht davon angetan, dass das Sortieren und Aufbereiten der Lumpen in der Stadt betrieben wurde; deshalb entschloss sich die Stadtverwaltung, die Sammler aus Paris zu vertreiben. Diese ließen sich daraufhin direkt vor der Stadt nieder, und zwar zwischen der Stadtmauer und dem Dorf Saint-Ouen auf einem Gelande, das zu dieser Zeit eine unbebaute Militarzone war. Das Gebiet war Teil von „La Zone“, einem etwa 250 m breiten, nicht bebauten Streifen entlang der Thiersschen Stadtbefestigung. Die Thierssche Stadtbefestigung war der letzte 1844 fertiggestellte Mauerring um Paris. Die Befestigungsanlagen zwischen dem Dorf Saint-Ouen und der Porte de Clignancourt wurden 1919 abgerissen. Mit der Zeit verkauften die Sammler ihren Trodel immer an den gleichen Platzen, bis der Burgermeister von Saint-Ouen 1885 den Handlern einen festen Platz zuwies. Das kann auch als das Grundungsjahr des Marktes angesehen werden. Damit ist dieser Markt einer der altesten Flohmarkte uberhaupt. Einige sagen, die Bezeichnung Flohmarkt sei ebenfalls hier entstanden, denn Lumpenhandler hatten schon fruh alte Kleidung aufgekauft und wieder verkauft. Da die hygienischen Bedingungen schlecht waren, hatten sich auch Flohe in der Kleidung eingenistet. Nach einer besonders großen Flohplage hatten die Verantwortlichen die Sammler in den Norden von Paris verbannt und den Markt scherzhaft „Markt der Flohe“ genannt. Der ehemals temporare Markt wuchs und verwandelte sich nach und nach. Die dort errichteten Kneipen und zahlreichen kleinen Stande machten den Ort schnell zu einem beliebten Ziel, an dem Pariser und Sonntagsspazierganger gern flanierten, etwas tranken und den einen oder anderen Trodel kauften. Zwischen 1905 und 1914 erschienen einige Presseberichte uber den Ort und machten ihn damit bekannt. Die Zeitschrift L’assiette au beurre brachte 1910 eine ganze Ausgabe uber den Markt. Das war fur viele Handler ein Grund, dort ebenfalls ihre Geschafte zu eroffnen. Der Flohmarkt wuchs weiter. 1908 wurde die Metrostation Porte de Clignancourt eroffnet, die eine einfach Anreise an dem Markt erlaubte und damit zusatzlich Besucher anlockte. Zwanzig Jahre spater, nach dem Ersten Weltkrieg, ließen sich die Handler der Marktstande dauerhaft nieder und die Markte Biron, Vernaison, Malik und Valles entstanden. Die Entwicklung zu dauerhaften Standen wurde 1920 von Romain Vernaison initiiert, der erstmals kleine Gebaude errichtete und sie an Trodler vermietete. Damit ist dieser Teil der alteste dauerhafte Bereich des gesamten Flohmarktes. 1925 folgte Biron, das damals scherzhaft „Belles Puces“ (Schone Flohe) genannt wurde, da auf diesem Markt, schone, restaurierte antike Gegenstande und Mobel verkauft wurden. Damit anderte sich auch die Ausrichtung des Marktes: Die Gegenstande wurden teurer, der Markt schicker, die Besucher betuchter. 1938 eroffnete der venezianische Handler Amedeo Cesana den Marche Jules Valles. 1942 grundete ein Herr Bourdin auf einem Grundstuck, auf dem ursprunglich Obst und Gemuse gezogen worden waren, den nachsten Markt, auf dem vor allem Altkleider und Schuhe verkauft wurden. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstand 1946 in einer alten Garage der Markt Rosiers. Durch Krieg und Besatzung war der Bedarf an gunstiger Kleidung wieder gestiegen. Die nachste Innovation fuhrte Paul Bert 1954 ein: normierte, dauerhafte Stande von 12 m2, die er an uber 200 Handler vermietete. Der Markt wuchs kontinuierlich und ernahrte in den 1960er Jahren bereits 2800 Menschen. In der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts stieg die Qualitat der angebotenen Waren, und die Lumpensammler und Schrotthandler wurden durch Antiquitatenhandler und professionelle Sammler ersetzt. Es entstanden neue spezialisierte Markte: von hochwertigen Antiquitaten, gutem Schmuck, Alltagsgegenstanden bis hin zu Tand. Zwischen 1985 und 1995 wurde der Markt reorganisiert und die Gebaude wurden verbessert. Dadurch verschwanden einige Markte, dafur wurden neue moderne und professionelle Gebaude und damit deren Markte geschaffen: 1989 wurde der Markt „Malassis“ eroffnet, der Antiquitatenhandlern vorbehalten ist. 1991 folgte der Markt „Dauphine“; er bietet auf zwei Etagen Kunst, Teppiche, antike Einrichtungsgegenstande und alte Schallplatten an. Die wichtigsten Teilmarkte Die einzelnen Teilmarkte sind nicht nur thematisch gegliedert, sondern auch raumlich zusammengefasst. Es gibt: 12 Markthallen, diese sind: Antica, Biron, Cambo, Dauphine, l’Entrepot, Jules-Valles, Malassis, le Passage, Paul Bert, Serpette, Malik, l’Usine und Vernaison 2 Markthallen, die nur fur Geschaftskunden offen sind: Lecuyer, l’Usine. Sie sind im Gegensatz zu den anderen Markten von Dienstag bis Freitag geoffnet. 5 Verkaufsgassen mit fest eingebauten, normierten Standen, diese sind: Rue Jules Valles, Rue Lecuyer, Rue Paul Bert, Rue des Rosiers und die Impasse Simon Temporare Marktstande, vor allem rund um die anderen Markte und entlang der Rue Jean-Henri Fabre und Avenue Michelet. Außerdem gehoren dazu noch die Stande am Le Plateau Marche Django Reinhart, der etwas außerhalb des Marktgelandes auf der anderen Seite des Boulevard Peripherique liegt. Der alteste Teil ist der Marche Vernaison, der etwa 300 Handler auf 9000 m2 umfasst und auf dem vor allem Kleidung, Schmuck und Haushaltsgegenstande gehandelt werden. Der Marche Antica ist ein kleiner, in den engen Gassen angesiedelter Markt mit vielen antiken Sammlerstucken. Der Marche Dauphine ist einer der großten Markte in einer modernen Halle mit Glasdach, die erst 1991 eroffnet wurde. Auf zwei Ebenen bietet sie auf 3000 m2 Platz fur 150 Handler. Das Obergeschoss besteht aus Galerien, außerdem verfugt die Halle uber eine 200 m2 große Ausstellungsflache, die als „Galerie Dauphine“ bezeichnet wird. Sie steht an der Stelle, an der die historische Passage Dauphine stand. Dieser Markt hat viele hochspezialisierte Handler, die Einrichtungsstucke und Kunstwerke des 20. Jahrhunderts, Uhren und Schmuck, Musik auf alten Platten, Bucher oder Mode des 19. Jahrhunderts anbieten. In der Mitte der Halle steht das „Futuro House“, ein Kunstobjekt eines finnischen Kunstlers, das einer fliegenden Untertasse ahnelt. Seit April 2017 gibt es auch regelmaßige kulturelle Veranstaltungen, die „Printemps de Dauphine“, zu denen jeder Handler einen Monat lang einen Kunstler einladt, sich den Besuchern vorzustellen. Der Marche Malassis ist in einer großen Halle mit zwei Ebenen untergebracht, hat eine große Kuppel und ist teilweise uberdacht. Die rund 100 Handler haben sich auf Mobel, Kunst, Stucke aus Asien und dem Maghreb, Art-deco-Stucke und Dekorationsartikel spezialisiert. Viele der Laden sind auf ein Thema ausgerichtet, etwa aus einer Epoche oder einem bestimmten Stil. Der vornehmste Markt ist der Marche Biron. Er ist nach der Rue Biron benannt. Untergebracht ist dieser Markt zwischen der Avenue Michelet, der Rue des Rosiers und der Rue Biron. Es sind im Prinzip zwei parallele Gassen auf einer Flache von rund 7500 m². Der Marche Biron ist auf hochwertige Stucke spezialisiert. Angeboten werden Originalkunstwerke, Mobel aus dem 18. und 19. Jahrhundert und Einrichtungsgegenstande aus dem Jugendstil. Die rund 220 Handler betreiben die Galerien und Laden zum Teil schon seit Generationen. Der Marche Jules Valles ist ein traditioneller Markt mit Bronzefiguren, Buchern, alten Waffen und Ahnlichem. Auf dem Marche Jules Valles wird Trodel angeboten, genauso wie am Marche Paul Bert mit etwa 250 Standen. Der kleinste Markt ist der Marche des Rosiers, auf dem die Handler auf echte Stucke des Art deco und des Jugendstil spezialisiert sind. Im Marche Serpette werden vor allem Antiquitaten angeboten. Hier prasentieren 350 Handler antike Mobel, Goldschmiedearbeiten, Designobjekte und Vintage-Kleidung. Dieser Teilmarkt offeriert auch viele chinesische Objekte. Der Marche Serpette wurde 1977 eroffnet. Der jungste Markt ist Le Passage Marche; er ist eine Verbindung (franzosisch: passage) zwischen der Rue Jules Valles 18 und der Rue Lecuyer 27. Hier werden alte und antike Kuriositaten, Wasche, Teppiche, seltene Bucher und antike Kleidung angeboten. Der Marche Cambo ist ein kleiner Markt mit 20 Handlern, die Waren von Steingut uber Kaminsimse bis zu Mobel und Kunst aus dem 18. und 19. Jahrhundert anbieten. Der Marche L’Usine ist einem Fachpublikum vorbehalten und nur wochentags geoffnet, wenn die Publikumsmarkte geschlossen sind. 40 Handler verkaufen alte und zeitgenossische Objekte an Innenarchitekten und Designer. Ebenso wichtig sind die ansassigen (Kunst-)Handwerker, von denen viele in Werkstatten arbeiten, die sich in den Gassen und Straßen des Marktes verbergen. Mobeltischler, Vergolder, Kunstrestauratoren, Glasmacher, Schlosser, Polsterer, Keramikrestauratoren, Marmorsteinmetze und andere arbeiten alte Gegenstande auf, um ihnen neuen Glanz zu verleihen. Am Rande des Gebiets, vor allem an den Hauptzugangsrouten, gibt es einen Markt mit temporaren Standen, die an preiswerten Alltagsgegenstanden, Kleidung und Taschen orientiert sind. Ihr Angebot kann auch gefalschte Markenware enthalten. Es gibt unter den fliegenden Handlern aber auch wieder Sammler, die Gegenstande verkaufen, die sie aus dem Mull gefischt haben. Im Gelande des Marktes gibt es auch einige Bars und Restaurants. Bilder vom Flohmarkt Rezeption in der Kunst Victor Hugo beschrieb in seinem 1862 erschienenen Roman Les Miserables (Die Elenden) eine Lumpensammlerin von Paris und wie sie die gesammelten Sachen verwertet. Zeitgenossische Kunstler wie Claude Monet, Vincent van Gogh oder Georges Seurat wurden von den sonntaglichen Spaziergangern in Saint-Ouen fur ihre Werke inspiriert. Luigi Loir hat den Flohmarkt in einem seiner Werke portratiert. Andre Breton schrieb 1928 in seinem Roman Nadja uber den Flohmarkt und ließ seine Protagonisten ihn haufig besuchen. Der Schriftsteller Jaques Prevert schuf Collagen aus Bildern, die er am Flohmarkt gefunden hatte. Sein Gedicht Inventaire ist eine Auflistung von zufalligen Eindrucken an einem Tag vom Markt. Der Flohmarkt im Film Der Flohmarkt von Saint-Ouen war mehrmals Schauplatz von Filmen, so z. B. der 2021 gedrehten Netflix-Serie Lupin mit Omar Sy in der Hauptrolle. Einige der Szenen des Films Midnight in Paris von Woody Allen wurden ebenfalls im Markt aufgenommen, und zwar im Marche Paul Bert. Der 1960 gedrehte Film Zazie enthalt einige Szenen auf einem Flohmarkt, die am Flohmarkt von Saint-Ouen gedreht wurden. Es gibt eine TV-Dokumentation uber den Markt, die 3sat sendete. Literatur Kate van den Boogert, Toby Glanville: Der Flohmarkt von Paris: les puces de Saint-Ouen. Prestel, Munchen 2024, ISBN 978-3-7913-7974-6. Weblinks pucesdeparissaintouen.com (franzosisch, englisch) Einzelnachweise
Der Flohmarkt von Saint-Ouen (franz. Marche aux Puces de Saint-Ouen oder auch Marche aux Puce de Clignancourt) ist ein Flohmarkt im Norden von Paris. Er gilt als der großte Flohmarkt der Welt, ist in einem eigenen Viertel angesiedelt und bedeckt etwa 70.000 m² Standflache mit rund 3000 Standen und Geschaften. Schwerpunkte der gehandelten Waren sind Mobel, Haushaltsgegenstande, Teppiche, Trodel aller Art und preisgunstige Kleidung und Schuhe. Der Markt besteht aus etlichen Teilmarkten; die Markte fur Endabnehmer sind jedes Wochenende von Samstag bis Montag geoffnet und verzeichnen rund 5 Millionen Besucher pro Jahr.
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c-950
Alexander Schnickmann (* 28. Juni 1994 in Lunen) ist ein deutscher Autor. Er ist Preistrager des Leonce-und-Lena-Preises der Stadt Darmstadt 2023. Leben Alexander Schnickmann wurde 1994 geboren und wuchs in Bergkamen im Ruhrgebiet auf. An der Humboldt-Universitat zu Berlin studierte er Geschichtswissenschaft und Amerikanistik. Dort arbeitete er u. a. als studentische Hilfskraft von Jorg Baberowski und gab zusammen mit den Kommilitonen Louis M. Berger und Hajo Raupach ein Buch uber Wissen, Praktiken und Zeitvorstellungen der Apokalypse im Campus-Verlag heraus. Schnickmann lebt in Berlin-Charlottenburg. Er ist praktizierender Katholik. Werk Schnickmann nimmt seit 2018 als Autor an Wettbewerben teil. Beim von der Welt 2018 veranstalteten Wettbewerb „Welt von morgen“ fur Autoren unter 25 Jahren kam er als einer von funf Autoren mit dem Text No me llores lagrimitas (spanisch Weint mir keine Tranen nach) ins Finale. Den mit 7.500 € dotierten Preis vergab das Publikum am Ende an die Mitbewerberin Peregrina Walter. 2023 gewann er den Lyrik-Nachwuchs-Preis Leonce-und-Lena-Preis der Stadt Darmstadt. Die Jury, zu der u. a. Ulrike Draesner und Jan Koneffke gehorten, begrundete ihre Entscheidung wie folgt: Fur die Berliner Zeitung und den Tagesspiegel verfasste er ab 2021 Buchbesprechungen und Essays. Das Buch requiem, erschienen 2024, ist eine lyrische Großform, die sich mit dem Klimawandel und dem Artensterben auseinandersetzt. Es wird als „letzte Messe, die man auf Erden erwarten darf: Sie ist eine Liturgie furs Ende“ beschrieben. Schnickmann verwendet einen Bewusstseinsstrom-Stil, der Themen der Umweltzerstorung, des personlichen Verlusts und der Liebe miteinander verwebt. Der Kritiker Daniel Graf merkt fur die Schweizer Republik an, das Werk schaffe „eine neue Art von Ritual fur etwas, das dringend nach Ausdruck verlangt“. Er lobt das Buch fur seinen innovativen Ansatz in der Klimaliteratur, der neben den ernsten Themen auch Elemente des Absurden und des Witzes einbeziehe. Der Rezensent hebt Schnickmanns Fahigkeit hervor, „dem climate grief mit literarischen Mitteln Raum“ zu geben. Fur Deutschlandfunk Kultur interpretiert der Kritiker Nils Schiederjann den Titel des Werks so, dass der Widerstand gegen die Klimakrise zwecklos erscheint und die einzige angemessene Reaktion die Totenmesse fur den sterbenden Planeten bleibt. Das Buch sei trotz der Thematik kein dusteres Buch, sondern vermittle eher eine atemlose Stimmung, die den Leser in ein „orientierungsloses Erleben der Krisen“ hineinziehe. Die Lyrik erinnere eher an die von Ezra Pound als an gangige Climate-Fiction. Der Rezensent zieht ein durchweg positives Fazit und vermutet, dass das Buch auch bei Lesern ankommt, die mit Lyrik sonst eher wenig anfangen konnen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung beschreibt Christian Metz requiem als ein „lyrisches Hochrisikodebut“, das einen „Abgesang auf unsere Kultur der Dinge und das nicht enden wollende Krisenstaccato der heutigen Zeit“ darstellt. Er betont Schnickmanns „virtuose Kunst der Polyphonie und Bilduberlagerung“, die den Text zu einem Sog aus Erinnerungsbildern, Naturkatastrophen und personlichen Reflexionen verdichtet. Besonders hervor hebt Metz die „unheimliche Lust“, die sich beim Bestaunen der beschriebenen Trummer entfaltet, und erkennt darin ein „Skandalon“ des Textes. Trotz der dusteren Themen biete requiem auch komische Momente, wie etwa die skurrile Einfuhrung eines Staubsaugerroboters namens Brunnhilde, der sich nahtlos in das Untergangsszenario einfugt. Metz lobt das Werk als „bewundernswert rasant“ und „betorend in seiner poetischen Eigenart“, das Leser in seinen Bann ziehe und weit uber die gangige Klimaliteratur hinausgehe. Veroffentlichungen No me llores lagrimitas. In: Die Welt. Berlin 28. September 2018 (welt.de). Unter einem anderen Mond. Carlo Ginzburg und die Hermeneutik der Risse. In: Peter Engelmann, Michael Franz, Daniel Weidner (Hrsg.): Weimarer Beitrage. Zeitschrift fur Literaturwissenschaft, Asthetik und Kulturwissenschaften. Band 66, 2020, ISSN 2510-7291, S. 19–35. Louis M. Berger, Hajo Raupach, Alexander Schnickmann (Hrsg.): Leben am Ende der Zeiten. Wissen, Praktiken und Zeitvorstellungen der Apokalypse (= Eigene und Fremde Welten). Campus, Frankfurt / New York City 2021, ISBN 978-3-593-51141-2. brandenburg machine. In: [kon] paper. Nr. 9, November 2022, ISSN 2699-4291. requiem. Roman. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2024, ISBN 978-3-7518-0985-6. Einzelnachweise
Alexander Schnickmann (* 28. Juni 1994 in Lunen) ist ein deutscher Autor. Er ist Preistrager des Leonce-und-Lena-Preises der Stadt Darmstadt 2023.
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c-951
Die Katzenbuckelbrucke (eigentlich Mulheimer Hafenbrucke, auch Drachenbrucke oder Katzenkopfbrucke genannt) ist eine Fußgangerbrucke in Koln-Mulheim, die seit 1957 das Mulheimer Ufer mit der Mulheimer Rheinhalbinsel verbindet. Beschreibung Die Katzenbuckelbrucke uberspannt die Einfahrt des Mulheimer Hafens: Sie verbindet das ostliche Rheinufer in Hohe der Hafenstraße mit der nordostlichen Spitze des Kolner Jugendparks auf der Katzenkopf genannten Rheinhalbinsel. Sudlich schließt sich dort der Rheinpark an. Die Bogenbrucke besteht aus Spannbeton. Die Spannweite ihres Bogens betragt 90,50 Meter; die Gesamtstutzweite 171,40 Meter. Nach Angabe im Architekturfuhrer von Helmut Fußbroich liegt der Scheitelpunkt der Brucke 13 Meter uber dem Wasserspiegel des hochsten Schifffahrtswasserstandes (HWS), was einer Hohe von rund 18 m uber dem Mittelwasser (Zehnjahresdurchschnitt) entspricht. Der drei Meter breite Fußgangerweg auf der Brucke, der bis zu 14 Prozent Steigung aufweist, beginnt parallel zur Hafenstraße und wird dann in einem weiten Bogen uber das Hafengelande gefuhrt. Er verlauft auf dem Bauwerk, das sich, gestutzt von einem Schragpfeiler, mit Hilfe des rund 90 Meter langen Bogens uber das Wasser schwingt, um, von einem Pendelglied unterstutzt, gegenuber auf dem Scheitel des Hafendamms aufzusetzen. Der tragende Bogen mit beidseitig offenen Spandrillen ist, sich in zwei Finger spaltend, auf Einzelfundamenten gelagert. Die Brucke, eigentlich Mulheimer Hafenbrucke, ist als Katzenbuckelbrucke, aber auch als Drachenbrucke oder Katzenkopfbrucke bekannt. Das Bauwerk diente als Vorbild fur kleinere Bauten im ubrigen Stadtgebiet, etwa an der Autobahn-Anschlussstelle Koln-Mulheim und der Severinsbrucke. Geschichte 1937 wurde der erste Entwurf zum Bau einer Brucke uber das Mulheimer Hafenbecken entwickelt, um der Bevolkerung den Zugang zum Rhein zu erleichtern, der durch den Hafen versperrt war. Geplant war eine Stahlkonstruktion mit Treppenanlage, die die Einfahrt zum Hafen uberspannen sollte. Aus Kostengrunden wurde das Projekt aber nicht verwirklicht. Anlasslich der Bundesgartenschau 1957 wurde der Plan zum Bau einer Brucke an dieser Stelle wieder aufgenommen: Der Architekt Bernhard Hermkes konstruierte sie nach einem Entwurf des Bruckenbau-Spezialisten Gerd Lohmer. Dieser hatte seinem Entwurf die Skizze eines Fabeltieres hinzugefugt, um so bildlich die dem Bruckenbogen innewohnenden „animalischen Elemente“ mit gekrummtem Rucken, Fuß, Kopf und Schweif zu verdeutlichen: „So springt sie uber den Hafen, die Drachenbrucke, heute auch Katzenbuckelbrucke genannt.“ Erstellt wurde die Brucke von dem Frankfurter Bauunternehmen Wayss & Freytag. Mit dem Bau der Brucke wurde 1956 begonnen, und im Jahr darauf zur Bundesgartenschau wurde sie am 18. April eroffnet. Fertiggestellt war sie indes schon drei Wochen zuvor. Der Journalist und Autor Horst Schubert schrieb 1997: „Tausende von Mulheimern mußten daher von Wachtern abgehalten werden, die Brucke vorzeitig zu sturmen.“ Die Kosten betrugen 300.000 Deutsche Mark; da die Ausfuhrung der Brucke in tatsachlicher Drachenform mit Kopf und Schwanz 50.000 Mark teurer geworden ware, wurde darauf verzichtet. Spater erhielt die ursprunglich betonsichtige Brucke einen Schutzanstrich. Am 19. Mai 1989 wurde die Brucke unter Denkmalschutz gestellt (Nr. 5048 in der Kolner Denkmalliste). Geplante Sanierung Im Jahr 2024 gab die Eigentumerin der Brucke, die Stadt Koln, bekannt, dass die Brucke umfassend saniert werden muss. Zu diesem Zweck wird die Brucke fur acht Monate gesperrt. Schon 2022 wurden erste Arbeiten an ihr durchgefuhrt. Weblinks Einzelnachweise
Die Katzenbuckelbrucke (eigentlich Mulheimer Hafenbrucke, auch Drachenbrucke oder Katzenkopfbrucke genannt) ist eine Fußgangerbrucke in Koln-Mulheim, die seit 1957 das Mulheimer Ufer mit der Mulheimer Rheinhalbinsel verbindet.
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c-952
Linnea Axelsson (* 10. Dezember 1980 in Porjus) ist eine samisch-schwedische Kunstwissenschaftlerin, Romanautorin und Dichterin. Leben und Werk Linnea Axelsson wuchs in Porjus in der Gemeinde Jokkmokk und in Norsjo in der Provinz Vasterbotten als Tochter einer samischen Mutter und eines schwedischen Vaters auf. Sie studierte an der Universitat Umea Geisteswissenschaften und wurde 2009 mit Omfamningar. Rummets och gransens meningar in Kunstgeschichte promoviert. Sie wohnte einige Jahre in Berlin und lebte anschließend in Robertsfors. Nachdem sie in den 2000er Jahren mehrere Gedichtbande veroffentlicht hatte, erschien mit Tvillingsmycket 2010 ihr erster Roman. Linnea Axelsson lebt mit Mann und Tochter im Ortsteil Bergshamra der Gemeinde Solna bzw. in Stockholm. Mit der 2018 veroffentlichten uber 700 Seiten langen Gedichtsammlung Ædnan, einer Familiensaga uber die Folgen kolonialer Besiedlung, gewann Linnea Axelsson mehrere literarische Auszeichnungen, darunter den seit 1989 bestehenden August-Preis, der zuvor erst einmal fur einen Gedichtband vergeben wurde. Ædnan erzahlt die Geschichte der Samen anhand zweier Familien uber drei Generationen hinweg. Die Gedichte folgen keiner zeitlichen Chronologie. Ein Zeitabschnitt beschreibt die 1920er Jahre mit Armut, Forschung und Zwangsumsiedlungen von Rentierzuchterfamilien aus Nordschweden. Eine weitere Periode spielt in den 1950er Jahren mit Nomadenschulen, der Assimilation und Kolonisierung der Sami durch den schwedischen Staat, die einen Verlust von Sprache, Kultur, Wissen und Traditionen der Samen zur Folge hatte. Außerdem werden die 2010er Jahre beschrieben mit den Bemuhungen der jungeren Generationen, ihre samische Identitat zuruckzugewinnen. Auszeichnungen und Stipendien Preise und Nominierungen fur Ædnan: 2019: Norrlands Literaturpreis 2019: Nominierung fur den Lyrikpreis des Schwedischen Radios 2019: Nominierung fur den Eyvind-Johnson-Preis 2018: Literaturpreis des Svenska Dagbladet 2018: August-Preis im Bereich Belletristik 2018: mit 50.000 Kronen dotierter Autorenpreis der Studieforbundet vuxenskolans 2018: Ordfront-Demokratiepreis 2018: Eric-und-Ingrid-Lilliehooks-Stipendium 2010: Gerard-Bonnier-Stipendium der Schwedischen Akademie in Hohe von 50.000 Kronen Veroffentlichungen (Auswahl) Romane und Gedichtsammlungen: 2022: Magnificat. Verlag Albert Bonniers, ISBN 978-9-10019385-0 2018: Ædnan. Verlag Albert Bonniers, ISBN 978-9-10017365-4 2010: Tvillingsmycket – en syskonlegend. Wahlstrom & Widstrom, ISBN 978-9-14622079-4 2008: Kaos ar en van till mig, ISBN 978-9-19774010-4 2004: Detta ar ett ran. ISBN 91-9751-300-8 2003: Viskningar vittnen – en bilderbok om samisk nutidshistoria Sachbucher: 2009: Omfamningar. Rummets och gransens meningar: Om Louise Bourgeois' och Rachel Whitereads verk (Dissertation), Umea University, Faculty of Arts, Department of culture and media studies, 2009, ISBN 978-91-7264-780-0 2007: Det leende landskapet in Med landskapet bakom 2006: Bildning och kansla i konsthistorisk metod. ISBN 91-7264-100-2 Weblinks LinneaAxelsson im Store norske leksikon (norwegisch) Einzelnachweise
Linnea Axelsson (* 10. Dezember 1980 in Porjus) ist eine samisch-schwedische Kunstwissenschaftlerin, Romanautorin und Dichterin.
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c-953
Say You’ll Be There (englisch fur „Sag, dass du da sein wirst“) ist ein Lied der britischen Girlgroup Spice Girls. Es war im Oktober 1996 ihre zweite Veroffentlichung nach ihrer Debutsingle Wannabe (Juli 1996). Entstehung und Veroffentlichung Say You’ll Be There entstand in Zusammenarbeit der funf Gruppenmitglieder Victoria Adams, Melanie Brown, Emma Bunton, Melanie Chisholm und Geri Halliwell mit dem Songwriter Eliot Kennedy. Produziert wurde das Lied von Andy Watkins und Paul Wilson, Mitglieder des britischen Musikproduzenten-Teams Absolute. Die Single wurde am 14. Oktober 1996 in Großbritannien in drei Singleversionen veroffentlicht. Die erste, eine CD-Maxi-Single, enthielt den Single-Mix des Titels, einen Remix des Plattenproduzenten Junior Vasquez, eine Instrumentalversion und den Non-Album-Track Take Me Home, den die Gruppe ebenfalls zusammen mit Absolute geschrieben hatte. Die zweite Version, die im Digipak erschien, kam mit einem signierten Poster und enthielt den Single-Mix sowie drei Club-Remixe des Titels, die von Vasquez, D Mob und Linslee Campbell produziert wurden. Die dritte Version war eine Kassetten-Single, die den Single-Mix, den Main Pass-Remix von Junior und Take Me Home enthielt. Die Singleveroffentlichung in Nordamerika erfolgte am 6. Mai 1997. Hintergrund Laut Melanie B handelt das Lied von Beziehungen – ob freundschaftlich oder romantisch – und davon, fureinander da zu sein. Sie kommentierte dazu in der Band-Biographie Real Life: Real Spice–The Official Story: „Man muss nicht immer ‚Ich liebe dich‘ sagen, denn wichtig ist, dass man fureinander da ist.“ Melanie C bemerkte im selben Buch, dass die Inspiration fur das Lied von ihren eigenen Erfahrungen der Spice Girls als Gruppe kam. Inhalt Say You’ll Be There ist ein in einem mittleren Tempo (108 Schlage pro Minute) gehaltener Dance-Popsong mit R&B-Einflussen. Das Lied enthalt zwei Strophen, die erste wird von Bunton und Brown, die zweite von Halliwell gesungen. Adams singt die jeweiligen Einleitungen zum Refrain. Nach dem zweiten Refrain folgt eine Bridge, die ein instrumentales Zwischenspiel mit einem Mundharmonika-Solo enthalt, das Kritiker mit dem Werk von Stevie Wonder verglichen. Das Lied endet mit einer Coda, in der die Gruppe den Refrain wiederholt singt, bis das Lied allmahlich ausklingt, wahrend Chisholm Ad-lib-Gesange zwischen den Harmonien der anderen Gruppenmitglieder hinzufugt. Die Instrumentierung umfasst einen Drumcomputer mit synkopierten Handclaps und einen markanten Synthesizersound sowie sparsamen Einsatz von Rhythmusgitarre und Bass, Streicherglissandi und einem Vibraphon, womit sich Anklange an Westcoast-Hip-Hop oder G-Funk bemerkbar machen. Fast alle Instrumente wurden von Paul Wilson und Andy Watkins (Absolute) eingespielt, das Mundharmonika-Solo steuerte Judd Lander (bekannt durch den Hit Karma Chameleon von Culture Club) bei. Plagiatsvorwurfe Im Dezember 1996 geriet Say You’ll Be There in den Mittelpunkt einer Kontroverse, als die israelische Sangerin Idit Shechtman die Gruppe beschuldigte, ihr Lied Bo Elai (בוא אלי) kopiert zu haben, ein angeblich ahnliches Lied, das ein Jahr zuvor in Israel veroffentlicht worden war. Shechtman engagierte Anwalte und drohte mit einer Klage. Ein Sprecher der Spice Girls erklarte spater: „Wo es einen Hit gibt, gibt es auch eine Klage. Es gibt immer jemanden, der aus dem Nichts auftaucht und behauptet, einen Hit geschrieben zu haben. Wir freuen uns darauf, sie vor Gericht zu sehen.“ Zudem weist der Refrain von Say You’ll Be There eine sehr ahnliche Melodie wie der Refrain des Liedes What U R 2 Me der US-amerikanischen R&B-Group After 7 auf. Der amerikanische Singer-Songwriter Jonathan Buck alias Jon B., der diesen Titel fur das dritte Album von After 7, Reflections, das im Juli 1995 erschien, schrieb und produzierte, drohte daher ebenfalls mit rechtlichen Schritten gegen die Spice Girls und Kennedy. Nach einer außergerichtlichen Einigung wurde Buck spater auf der Spice-Girls-Kompilation Greatest Hits (2007) sowie auf der Neuauflage des Albums Spice, die 2021 zu dessen 25-jahrigem Jubilaum veroffentlicht wurde, als zusatzlicher Songwriter des Liedes genannt. Musikvideo Das Musikvideo zu Say You’ll Be There wurde am 7. und 8. September 1996 in der Mojave-Wuste in Kalifornien unter der Regie von Vaughan Arnell gedreht. Es zeigt die Gruppe als Kriegerinnen, die Kampfkunste und hochtechnologische, von Ninjas inspirierte Waffen einsetzen, um einen hilflosen Mann, gespielt vom US-amerikanischen Model Tony Ward, der zufallig in einem blauen Dodge Charger Daytona auftaucht, gefangen zu nehmen. In ihrer Rolle als Kriegerin tragt jedes Spice Girl einen speziellen Kampfnamen: Chisholm spielt „Katrina Highkick“, Halliwells Alter Ego ist „Trixie Firecracker“, Bunton ubernimmt die Rolle von „Kung Fu Candy“, „Blazin’ Bad Zula“ ist das Alter Ego von Brown und Adams spielt „Midnight Miss Suki“. Letztere ist dabei in einem schwarzen PVC-Catsuit gekleidet, der angeblich die Aufmerksamkeit ihres zukunftigen Ehemanns David Beckham erregt haben soll. Die Gefangennahme von Ward fungiert als Symbol mannlicher Entmachtung, genau wie der Rest des Clips dazu dient, die Macht und Kampffahigkeiten der Frauen zu betonen. Am Ende des Videos nimmt die Gruppe zusatzlich einen verwirrten Mann gefangen, der in seinem Pick-up auftaucht. Die Spice Girls fesseln ihn auf das Autodach und fahren mit ihm als Trophae davon. Da diese Szenen fur Kontroversen sorgten, existiert eine alternative Version des Videos, in der sie durch andere Aufnahmen mit Kampfszenen der Spice Girls ersetzt wurden. Das Video gewann den Preis fur das beste Pop-Video bei der Smash Hits Poll Winners Party 1996, den Preis fur das britische Video des Jahres bei den BRIT Awards 1997 und wurde fur den Viewer’s Choice Award bei den MTV Video Music Awards 1997 nominiert. Es gewann die Auszeichnung Fan.tastic Video bei den Billboard Music Video Awards 1997 und wurde außerdem in den Kategorien Best New Artist in a Video und Best Pop/Rock Video nominiert. Im Januar 1999 erreichte das Musikvideo Platz 8 in der VH-1-Sendung All-Time Greatest Music Videos in History. Kommerzieller Erfolg = Chartplatzierungen = Say You’ll Be There avancierte zum Nummer-eins-Hit im Vereinigten Konigreich und Finnland. Daruber hinaus erreichte es Top-10-Platzierungen in Frankreich, Neuseeland und Norwegen (je Rang 2), Belgien-Wallonien und den Vereinigten Staaten (Rang 3), Schweden und der Schweiz (je Rang 4), den Niederlanden (Rang 6), Osterreich (Rang 7) oder auch Belgien-Flandern (Rang 8). In Deutschland platzierte sich Say You’ll Be There auf Rang 16. = Auszeichnungen fur Musikverkaufe = Hauptartikel: Spice Girls/Auszeichnungen fur Musikverkaufe Coverversionen 2009: Ben l’Oncle Soul 2014: MØ 2016: Resaid 2019: Frida Annevik – Det jeg vil ha (fra deg) 2021: Martina DaSilva & Michael Stephenson Weblinks Musikvideo auf YouTube Einzelnachweise
Say You’ll Be There (englisch fur „Sag, dass du da sein wirst“) ist ein Lied der britischen Girlgroup Spice Girls. Es war im Oktober 1996 ihre zweite Veroffentlichung nach ihrer Debutsingle Wannabe (Juli 1996).
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c-954
Hugo Friedrich Koenigsgarten, auch Hugo Frederick Garten (geboren 13. April 1904 in Brunn, Osterreich-Ungarn; gestorben 23. Juni 1975 in London), war ein britisch-osterreichischer Autor, Journalist, Librettist und Dozent. Biographie = Familie, Ausbildung und Jahre bis 1938 = Hugo F. Koenigsgarten war ein Sohn des wohlhabenden judischen Unternehmers Fritz Konigsgarten (1869–1908) und der Elisabeth Bruck (1879–1956). Sein Großvater Ignatz Konigsgarten (1836–1927) hatte ein Metallbearbeitungsunternehmen gegrundet, das auch am Bau der Salzkammergutbahn beteiligt war. Hugos 1908 geborener Bruder Heinrich hatte nicht Fritz als biologischen Vater, sondern dessen Bruder Ernst. Fritz Konigsgarten starb 1908, und seine Witwe Lisi zog 1911 mit ihren Sohnen nach Wien. 1915 heiratete sie den Berliner Borsenmakler Max Bohne (1883–1943) und folgte diesem nach Berlin. Dort besuchte Hugo Koenigsgarten das Bismarckgymnasium; zu seinen Schulkameraden zahlte der spatere Komponist Mark Lothar. Zu seinen Freunden gehorte der ebenfalls in Brunn geborene Schriftsteller Oskar Jellinek, dessen Schwester Helene mit einem Bruder von Fritz verheiratet war. Ab wann er Hugo F. Koenigsgarten als Form seines Namens einfuhrte, ist nicht bekannt. 1923 nahm Koenigsgarten ein Jura-Studium an den Universitaten Jena, Wien, Berlin und Heidelberg auf, das er 1930 mit der Promotion abschloss. Seine Dissertation hatte das Thema Das Problem des Volkerrechts. Eine kritische Ubersicht uber die volkerrechtlichen Theorien. Ab 1928 lebte er als freier Schriftsteller in Berlin und arbeitete vorrangig fur das Theater: 1928 hatte die Oper Tyll von Mark Lothar in Weimar Premiere, fur die Koenigsgarten – laut Lothar sein „uberaus musikalischer und musischer Freund aus Kindertagen“ – nach dem Roman Tyll Ulenspiegel des belgischen Autors Charles De Coster das Libretto verfasst hatte. Zwei Jahre spater folgte die Urauffuhrung von Lothars Oper Lord Spleen an der Dresdner Staatsoper mit dem Text von Koenigsgarten, den dieser auf der Basis des Stuckes Epicoene or The Silent Woman des englischen Buhnenautors Ben Jonson (1572–1637) verfasst hatte. Er schrieb ferner eine Abhandlung uber den Dramatiker Georg Kaiser, mit dem er befreundet war; von 1930 bis 1933 war er Regieassistent bei Max Reinhardt. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 ging Koenigsgarten nach Wien zuruck, in der Hoffnung, dort sicher zu sein. Dort schrieb er Texte fur das politische Kabarett „Der liebe Augustin“, fur die als besonders scharf geltende Kleinkunstbuhne ABC und 1937 fur Erich Zeisl das Libretto von Leonce und Lena. = Leben in London = Hugo F. Koenigsgarten war nach dem Anschluss Osterreichs nicht nur als Jude, sondern auch als kritischer Journalist und Mitglied der „politisch scharfsten Kleinkunstbuhne Wiens“ ABC in Gefahr, im NS-Staat verfolgt zu werden. Am 13. Marz 1938, einen Tag nach dem Anschluss, konnte er dank seines tschechoslowakischen Passes nach England fliehen, wo sein Bruder Heinrich fur ihn burgte. Tatsachlich kam die Gestapo zwei Tage nach seiner Flucht in seine Wiener Wohnung, um ihn zu verhaften. Wahrend des Krieges, so berichtete Mark Lothar spater, habe ihn der Autor Gerhart Hauptmann nach einer Auffuhrung im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt „bekummert“ gefragt: „Haben Sie etwas von unserem Freund Koenigsgarten gehort?“ Mehrere Mitglieder seiner Familie wurden im Holocaust ermordet, so etwa seine Onkel Ludwig und Ernst wie auch seine Schwester Frida, deren Ehemann und Kinder und sein Stiefvater Max Bohne. In London wurde Koenigsgarten bald Mitglied des osterreichischen Exilkabaretts „Laterndl“ und schrieb fur die Deutsche Zeitung. Er blieb auch nach Kriegsende in England, nahm die britische Staatsburgerschaft an und anderte seinen Namen in Hugo Frederick Garten. Er arbeitete als Lehrer fur Englische Literatur, Geschichte, Deutsch, Franzosisch und Latein, zuletzt fast 20 Jahre lang an der Westminster School. Koenigsgarten blieb weiter literarisch tatig: So schrieb er unter anderem fur die BBC und The Times Literary Supplement. Er promovierte ein zweites Mal, uber das deutsche Drama im Zweiten Weltkrieg – eine Arbeit, die in England zum Standardwerk wurde, und schrieb uber Gerhart Hauptmann, Carl Zuckmayer, Max Frisch und Friedrich Durrenmatt. Er war Mitglied von PEN International, der englischen Goethe Society und der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft. In der Westminster School inszenierte Garten jedes Jahr eine Schultheaterauffuhrung, unter anderem Hugo von Hofmannsthals Jedermann. Beruhmt waren offenbar seine „Kulturellen Nachmittage“, an denen er seinen Schulern die europaische Theater- und Opernliteratur naherbrachte. Hugo Frederick Garten starb am 23. Juni 1975 in London. Er hinterließ seine Frau Anne, geborene Leonard Smith, die er 1952 geheiratet hatte. Das Paar hatte keine Kinder. Sein Nachlass wird im Archiv der University of London aufbewahrt, weitere Dokumente befinden sich in der Osterreichischen Nationalbibliothek. Werke (Auswahl) Georg Kaiser. G. Kiepenheuer, Potsdam 1928. Mark Lothar (Komponist): Tyll. Eine Ulenspiegel-Oper in 3 Akten, op. 12. Musikverlag Ries & Erler, Berlin 1928. Mark Lothar (Komponist): Lord Spleen. Die Geschichte vom larmscheuen Mann; Komische Oper in 2 Akten. A. Furstner, Berlin 1930. Mit Elsa Margot Hinzelmann: Wo bist du, Rosinchen? Ein Weihnachts-Spiel von Pfefferkuchen, Autos und Indianern. Arcadia, Berlin 1932. Grundvorstellungen der amerikanischen Wirtschafts-Ethik. Zur Ideologie der „Prosperity“. Hansel-Hohenhausen, Frankfurt a.M./St. Peter Port 1934, ISBN 3-8267-3160-3 (zugl. Diss., Univ. Wien, 1934). Erich Zeisl (Komponist): Leonce und Lena. Lustspiel mit Musik in drei Akten; nach Georg Buchners gleichnamigem Lustspiel. Musikverlag Doblinger, Wien 1937. Gerhart Hauptmann (= Studies in modern European literature and thought). Bowes & Bowes, Cambridge 1954 (als Hugh F. Garten). Modern German Drama. Methuen, London 1959 (als H. F. Garten). Wagner. Calder, London 1977 (als H. F. Garten). Wiener Ringelspiel, in: Oscar Teller (Hrsg.): Davids Witz-Schleuder. Darmstadter Blatter, 1982, S. 129–146 Der Reisepaß erzahlt, in: Oscar Teller (Hrsg.): Davids Witz-Schleuder. Darmstadter Blatter, 1982, S. 159f. Das Spiel von Sodoms Ende, in: Oscar Teller (Hrsg.): Davids Witz-Schleuder. Darmstadter Blatter, 1982, S. 252–274 Literatur Michael Garton: In Search of Ernst. Discovering the Unspoken Fate of the Konigsgartens. Horsgate, Oxford 2015, ISBN 978-0-9927152-4-3. Franzpeter Messmer et al.: Mark Lothar (= Komponisten in Bayern. Band 10). Schneider, Tutzing 1986, ISBN 978-3-7952-0478-5. Garten, Hugo F(rederick). In: Werner Roder; Herbert A. Strauss (Hrsg.): International Biographical Dictionary of Central European Emigres 1933–1945. Band 2,1. Saur, Munchen 1983, ISBN 3-598-10089-2, S. 358 f. Koenigsgarten, Hugo F(riedrich), in: Handbuch osterreichischer Autorinnen und Autoren judischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert, 2002, Band 2, S. 701f. Hugo F. Konigsgarten, in: Volker Kuhn (Hrsg.): Deutschlands Erwachen : Kabarett unterm Hakenkreuz ; 1933–1945. Band 3. Weinheim: Quadriga, 1989, ISBN 3-88679-163-7 (Der Reisepaß erzahlt, S. 201f., Kurzbiografie, S. 377f.) Weblinks Koenigsgarten, Hugo F. im Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit (LexM) Eintrag zu Hugo F. Koenigsgarten in Kalliope Einzelnachweise
Hugo Friedrich Koenigsgarten, auch Hugo Frederick Garten (geboren 13. April 1904 in Brunn, Osterreich-Ungarn; gestorben 23. Juni 1975 in London), war ein britisch-osterreichischer Autor, Journalist, Librettist und Dozent.
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c-955
Die Marienkirche in Waabs im Kreis Rendsburg-Eckernforde ist eine gotische Backsteinkirche aus dem 14. Jahrhundert. Sie liegt im historischen Ortskern von Kleinwaabs und gehort zur Kirchengemeinde Schwansen im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernforde in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Geschichte Die erste Erwahnung einer Kapelle in „Wabenisse“ findet sich im Register des Bischofszehnten des Bistums Schleswig von 1352. Sie unterstand also dem Bischof, an den sie Abgaben abzufuhren hatte. Im Verzeichnis von 1462 ist sie als Pfarrkirche bezeichnet. Der bestehende Kirchbau soll im 13. Jahrhundert einen Vorgangerbau gehabt haben. Diese Kirche wird an der Kuste der Eckernforder Bucht gegenuber der abgegangenen Catharinenkirche von Jellenbek vermutet, und wahrscheinlich stand sie bereits unter dem Patrozinium der Gottesmutter Maria. Der Kirchenchronik zufolge wurde sie Ende des 14. Jahrhunderts wahrend der Kampfe der danischen Konigin Margarethe I. gegen die Holsteiner Grafen um das Herzogtum Schleswig niedergebrannt. Die neue Kirche sei teilweise aus dem Baumaterial der alten entstanden, das der Sage nach von Gespenstern an den neuen Standort gebracht wurde. Nach der Reformation unterstand die Kirche dem Kirchenpatronat von Gut Kohøved, das 1729 in Gut Ludwigsburg umbenannt wurde. Sie war damit eine sogenannte exemte Kirche, die keinem Propst unterstand, sondern direkt dem Superintendenten von Schleswig. Die Gutsherren besaßen das Recht, bei einer Predigerwahl drei Kandidaten zu prasentieren. Da sie bis 1824 auch uber fast die Halfte der Hufen im Kirchspiel verfugten, bestimmten sie damit meist selbst den Ausgang der Wahl. Das Gut gehorte seit dem 14. Jahrhundert der Familie Sehestedt, bis es nach dem Tod von Melchior Sehestedt 1564 uber die mit Paul Rantzau (1527–1579), einem Sohn von Johann Rantzau, verheiratete Erbtochter Beate (1535–1589) in den Besitz der Familie Rantzau uberging. Beate Rantzau ließ das Patronatsgestuhl herstellen. Ihr Sohn Bertram Rantzau stiftete 1600 die Kanzel und veranlasste 1608 den Einbau der Gewolbe im Kirchenschiff und die Anschaffung der ersten Orgel. Nach dem Aussterben dieses Familienzweigs der Rantzau kaufte Friedrich Christian Kielman von Kielmansegg 1672 das Gut und ließ die Kirche in den wenigen Jahren, ehe er das Herzogtum Schleswig verlassen musste, renovieren und barock ausgestalten. 1690 verkaufte er das Gut. Nach mehreren weiteren Besitzerwechseln kam das nun nach Friedrich Ludwig von Dehn benannte Ludwigsburg an Carl Friedrich Ulrich von Ahlefeldt, der eine Gruft an der Nordseite der Kirche anbauen ließ. Sowohl Dehn als auch Ahlefeldt erwiesen sich als finanzielle Wohltater der Gemeinde. Renovierungen, bei denen man auch die Fenster vergroßerte und die sudliche Vorhalle erganzte, fanden in den 1880er-Jahren statt. Dabei wurden mittelalterliche Wandmalereien im Chor entdeckt. Der 1997 gegrundete Forderverein Marienkirche Waabs e. V. ermoglichte ihre Wiederfreilegung und Restaurierung ab 2011. Die Sanierung von Turm und Innenraum konnte 2020 abgeschlossen werden. Dabei wurden die Kreuzrippen der Gewolbe des Kirchenschiffs farblich passend zu den Fresken im Chor gefasst. Die Orgel wurde gereinigt, die Banke hell gestrichen und die 1908 angeschaffte Kirchturmuhr muss seitdem nicht mehr von Hand aufgezogen werden. Architektur Der einschiffige Backsteinbau wird auf die Zeit um 1400 datiert. Das dreijochige Kirchenschiff ist durch einen Chorbogen vom gleich breiten, quadratischen, gewolbten Chor getrennt. Von außen werden die Kirchenmauern durch Stutzpfeiler stabilisiert. Der querrechteckige, schiffbreite Turm mit Satteldach wurde Ende des 16. Jahrhunderts erganzt. Die Kreuzrippengewolbe im Kirchenschiff wurden 1608 eingezogen. Nordlich ist eine barocke Gruft angebaut. Der Vorbau vor dem Sudportal stammt von 1899, als auch die Fenster vergroßert wurden. Ausstattung = Taufbecken = Das alteste Ausstattungsstuck ist das große, fruhgotische Kalksteintaufbecken aus Gotland vom Ende des 13. Jahrhunderts. Wohl im Zuge der Umgestaltung der Kirche im 17. Jahrhundert gelangte es auf Gut Ludwigsburg, wo es als Pferdetranke und noch 1908 als Blumenschale diente. Spater stand es im Pastoratsgarten, ehe es 1969 auf einem erneuerten Fuß wieder in der Kirche aufgestellt wurde. Zunachst stand es rechts vom Chorbogen im Kirchenschiff, seit 2020 ist es im Turmraum aufgestellt. Einen holzernen Taufstander stifteten Friedrich Christian Kielman von Kielmansegg und seine Ehefrau Marie Elisabeth, geb. von Ahlefeld, wahrend ihrer Zeit als Gutsherrschaft von Gut Kohøved 1674. = Marienfiguren = An den Wanden des Kirchenschiffs sind mehrere mittelalterliche, aus Eichenholz geschnitzte Figuren und Figurengruppen aufgestellt. An der Sudostwand des Chorbogens befindet sich eine Pieta, die auf kurz nach 1420 datiert wird und damit als die alteste der Skulpturen gilt. Entlang der Sudwand stehen von Ost nach West weitere, zwischen 72 und 80 cm große Skulpturen aus dem spaten 15. Jahrhundert: Bei der als Anna Selbdritt bezeichneten Figurengruppe tragt Anna ihre sitzende, unproportial kleine Tochter Maria in den Handen, die auf ihrem Knie das schreitende, nackte Jesuskind halt. In derselben Korperstellung befindet sich auch das Jesuskind auf dem Schoß der gekronten Thronenden Madonna. Katharina von Alexandrien tragt ebenfalls eine Krone und halt ein zerbrochenes Rad und ein Schwert in den Handen, die auf ihr Martyrium hindeuten; auf dem Saum ihres reich verzierten Kleides steht in Minuskeln ihr Name. Das gekronte Paar wird als Synthronoi (von griechisch συνθρονος, gemeinsam thronend) bezeichnet, eine Sonderform einer Marienkronung, bei der Maria und Gottvater (oder Jesus Christus) nebeneinander auf dem Thron sitzen und Maria bereits gekront ist. Der Palmenzweig, den die nicht identifizierbare Heilige rechts von der Zweiergruppe tragt, ist eine spatere Erganzung. Vermutlich gehorten diese Figuren zu dem nach Maria benannten Hauptaltar, vergleichbar dem in der Andreaskirche in Haddeby. Besonders die beiden Mariengruppen und die Katharina sind sehr qualitatvolle Arbeiten, aber auch die Anna und die andere Heilige entstanden hochstwahrscheinlich in derselben Werkstatt. Ahnlichkeiten mit Altaren und Figuren im Herzogtum Schleswig und Danemark lassen auf eine im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts in diesem Bereich arbeitende Werkstatt schließen, moglicherweise die des Lutje Moller in Schleswig, von dem die Triumphkreuzgruppe in Oldenswort stammt. Wohl im Zusammenhang mit der Stiftung des Barockaltars kurz nach 1670 aus der Kirche entfernt, lagerten die Schnitzfiguren jahrhundertelang auf dem Dachboden des Pastorats. Obwohl der Kunsthistoriker Richard Haupt sie bereits 1886 beschrieb, dauerte es bis 1914, dass man sich ihrer annahm. Der Maler Wilhelm Jensen aus Garding ließ fehlende Teile durch einen Tischler ersetzen und bemalte sie neu nach alten Befunden und gotischen Vorbildern. Die Reste der ursprunglichen Fassung gingen dabei bis auf wenige Spuren verloren. Nachdem in den 1970er-Jahren die Fassung einmal uberarbeitet worden war und dabei Fehlstellen der Vergoldung mit Blattkupfer erganzt wurden, fand im Zuge der Innenraumsanierung bis 2020 erneut eine Reinigung und Restaurierung statt. = Altar = Der barocke Altarprospekt ist eine Stiftung von Friedrich Christian Kielman von Kielmansegg von 1673. In dem zweigeschossigen architektonischen Aufbau mit gedrehten Saulen wurden zwolf Apostel- und zwei Heiligenfiguren aus spatgotischen Retabeln wiederverwendet. Haupt beschreibt ihn als „geistlos und unschon“, die gotischen Figuren als „mishandelt“. Im unteren Geschoss befindet sich eine Kreuzigungsgruppe, bestehend aus einem grobgeschnitzten barocken Christus und entgegen der Tradition nicht Maria und dem Junger Johannes, sondern zwei weiblichen Heiligen aus dem spaten 15. Jahrhundert. Da ihre Attribute nicht erhalten sind, ist nicht zu rekonstruieren, um welche Heiligen es sich handelt. Die stilistische Ahnlichkeit zu den Marien- und Heiligenfiguren lasst annehmen, dass sie ebenfalls Bestandteile eines Marienaltars waren. Allerdings sind sie etwas kleiner, so dass auch die Herkunft aus einem Nebenaltar moglich ware. Im oberen Geschoss stehen zwolf qualitatsvoll und abwechslungsreich gestaltete Apostelfiguren. Sie sind fast alle anhand ihrer Attribute zu erkennen, so tragt Petrus einen Schlussel und Jakobus der Altere einen Pilgerstab und eine Jakobsmuschel am Hut. Die Apostel, die fruher farbig gefasst waren, konnten aus den Seitenflugeln des Marienaltars mit der Synthronoi-Gruppe im Zentrum stammen. Der Engel in der Halbkuppel und die bekronende Christusfigur sind barocke Erganzungen. An der Predella sind die Wappen der Stifter angebracht, links Kielmansegg, rechts Ahlefeld. Zwei dazugehorige Stifterbildnisse von Kielmansegg und seiner Ehefrau hangen jetzt an der Westwand des Chorbogens. = Kanzel und Gestuhl = Rechts und links vor dem Chorbogen steht das Patronatsgestuhl von Paul und Beate Rantzau mit jeweils vier geschnitzten Tafeln. Als Kunstler wird Cyriakus Dirkes, der Begrunder der Eckernforder Bildschnitzerschule, angenommen. Von ihm stammen auch zwei weitere, um 1578 hergestellte Kirchengestuhle des Paares in der Nikolaikirche in Eckernforde, wo die Familie mit der sogenannten Ritterburg ein Stadthaus besaß, und in der Katharinenkirche in Kirchbarkau, deren Patron Paul Rantzau als Besitzer von Gut Bothkamp war. Das Waabser Gestuhl wurde den Inschriften zufolge von Beate Rantzau geb. Sehestedt († 1589) in Auftrag gegeben und dient der Verbildlichung ihrer Abstammung aus dem Sehestedt-Geschlecht von Kohøved. Auf der nordlichen Seite ist sie mit ihrem bereits verstorbenen Mann „Pawel Rantzau“ vor dem Kreuz kniend abgebildet, wahrend ihre funfzehn Kinder sich um sie drangen. Uber dem Paar sind ihre Wappen dargestellt. Dieses Relief wird von zwei Reliefs mit jeweils acht Wappen ihrer Vorfahren von vaterlicher und mutterlicher Seite flankiert. Darstellung und Aufbau ahneln der Gestaltung von Epitaphien. Die vierte Tafel stellt ihren Bruder Melchior dar, den „leste Sestede to Kohovede“. Er war, wie die Inschrift mitteilt, mit Olegard van der Wisch verlobt, aber „er heft se nicht gekregen“, weil er 1564 vor der Hochzeit starb. Anders als alle anderen kniet Olegard nicht, sondern steht ihrem Verlobten mit verschrankten Armen gegenuber. Beider Kleidung ist besonders kunstvoll herausgearbeitet. Die einzelnen Tafeln sind durch Hermenpilaster voneinander getrennt. Auf der rechten Seite sind auf vier sehr ahnlich gestalteten Tafeln ihre Eltern, Groß-, Urgroß- und Ururgroßeltern abgebildet. Die Paare knien wie Paul und Beate Rantzau jeweils umgeben von ihren Kindern vor dem Kreuz. Das Gestuhl wurde mehrfach umgestaltet und umgestellt. Ursprunglich stand es vermutlich als einteiliges, ebenerdiges Kastengestuhl, bei dem die erhaltenen Reliefplatten die Brustung schmuckten, in der Nordostecke des Kirchenschiffs, also dort, wo sich heute eine Halfte des Gestuhls und die Kanzel befinden. Beates Sohn Bertram Rantzau, der Erbe von Kohøved, ließ es 1608 teilen und durch mehrere Seitenwangen, die Namen und Wappen von ihm und seiner Frau tragen, erweitern. Umbauten spaterer Gutsherren zu einer geschlossenen Loge wurden ruckgangig gemacht. Hinter dem linken Gestuhl steht die 1600 von dem ebenfalls in Eckernforde ansassigen Jurgen Koberch geschaffene und von Bertram und Margarethe Rantzau gestiftete Kanzel. Sie ist deutlich schlichter als das Gestuhl. Die vier Seitenteile zeigen das Rantzau-Wappen, die Geburt Jesu, seine Auferstehung und Himmelfahrt. Die biblischen Szenen sind jeweils in Niederdeutsch beschriftet. Uber den Reliefs steht auf Latein Joh 10,27 . = Wandmalereien = Das Chorgewolbe wurde um 1500 ausgemalt. Wohl nicht lange nach der Reformation ubertunchte man die Malereien. Bei Renovierungsarbeiten 1883 wurden sie wiederentdeckt und 1900 von dem Kunstmaler Hans Hampke aus Schleswig in leuchtenden Farben im Stil der Neugotik erganzt. Im Laufe der Zeit verblasst, verschwanden die Malereien 1968 erneut unter weißem Putz, bis sie 2011 wieder freigelegt wurden. Im jetzigen Zustand ist der Unterschied zwischen den blassen gotischen Malereien und den kraftigeren Farben der neugotischen Erganzungen gut zu erkennen. An der Ostwand hinter dem Altar ist das Jungste Gericht dargestellt: Christus thront als Weltenrichter auf dem Regenbogen, an dessen Enden Maria und Johannes der Taufer furbittend knien. Uber ihm sind zwei Gerichtsengel zu sehen. Rechts von ihm werden die auferstandenen Seligen ins Paradies geleitet, links die Verdammten, von denen einer einen Ablassbrief tragt, in die Holle. Darunter sind links vom Altar eine Mondsichelmadonna und rechts, stark verblasst, der heilige Sebastian abgebildet. In den drei ubrigen Gewolben sitzen jeweils vier Apostel auf einer umlaufenden Bank. Unter den Aposteln befinden sich auf der Nordseite drei Szenen aus der Sundenfallerzahlung: Adam und Eva am Baum der Erkenntnis, der Cherub mit Schwert vor der Tur zum Paradies, wahrend Adam und Eva vor dem Schopfer fliehen, und Adam und Eva mit ihren Kindern bei der Arbeit. An der Sudseite sind die heilige Katharina und der gehornte Mose aufgemalt. Die Figuren sind von reichem Akanthusschmuck umgeben. Im Chorbogen ragen Halbfiguren von zwolf Konigen aus Blumen. = Orgel = Die vermutlich erste Orgel der Kirche wurde 1608 Betram Rantzau gestiftet. Von ihr sind noch Teile erhalten, die in die von Friedrich Christian Kielman von Kielmansegg und seiner Frau 1671 samt der Empore gestiftete neue Orgel integriert wurden. Die Stiftertafel befindet sich an der Empore, vier Gemalde der Emporenbrustung mit Szenen aus der Kindheitsgeschichte Jesu – wohl von demselben Maler, der die Embleme in der bunten Kammer auf Gut Ludwigsburg malte, – wurden 2020 renoviert und unter der Empore aufgehangt. Bei der Darstellung des zwolfjahrigen Jesus im Tempel ist ein Teil des ursprunglichen Rahmens wiederhergestellt. Er zeigt, dass die Empore damals mit denselben Farben und Ornamenten ausgemalt war wie die ebenfalls von Kielman gestiftete Taufe. In den Orgelprospekt von 1608/1671 ist seit 1972 eine Schleifladenorgel des Orgelbauers Klaus Becker eingebaut. Sie hat 14 Register, verteilt auf Ruckpositiv, Hauptwerk und Pedal. = Glocken = Im Turm hangen zwei Glocken. Die kleinere ist von 1472 und „Zur Ehre Gottes und der lieben Frau“ geweiht. Die großere stammt von 1930 und wird als die „Friedensglocke“ bezeichnet. Die Vorgangerglocke musste als „Metallspende des deutschen Volkes“ 1918 abgeliefert werden und wurde fur Kriegszwecke eingeschmolzen. Kirchengemeinde und Pastoren Pastoren war u. a.: 1795–1842: Reinhold Ipsen 1842–1866: Jasper Wald wurde 1856 Propst der Propstei Eckernforde und verließ Waabs 1866, um Propst der Propstei Hutten zu werden. 1866–1891: Johann Heinrich Sierck 1892–1927: Emil Karl Christian Lohse verfasste eine Kirchenchronik und ließ 1900 die Wandmalereien freilegen und erneuern. 1928–1933: Johannes Hermann Lucht war Mitglied der NSDAP und ab 1932 Propsteileiter der Deutschen Christen in der Propstei Hutten. 1935–1952: Peter Wilhelm Gertz war Mitglied der Bekennenden Kirche. Kirsten Fehrs absolvierte 1988–1990 ihr Vikariat in Waabs. Bis Anfang 2020 war Waabs die kleinste Kirchengemeinde im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernforde. Dann fusionierte sie mit den Kirchengemeinden Borby-Land, Rieseby, Karby, Sieseby und Waabs zur Kirchengemeinde Schwansen, die sich uber die gesamte Halbinsel Schwansen erstreckt. Zur neuen Kirchengemeinde gehoren insgesamt vier mittelalterliche Kirchen, neben der Waabser Marienkirche die St.-Petri-Kirche in Rieseby und die Kirchen von Sieseby und Karby, sowie die 1965 eingeweihte Versohnungskirche in Barkelsby und die Kapelle Westerthal von 1954. Die Kirchengemeinde hat drei Pastorinnen. Umgebung Rund um die Kirche liegt der Friedhof. Hier stehen einige alte Grabdenkmaler, darunter zwei schmiedeeiserne Kreuze fur Pastor Reinhold Ipsen, der 1842 im Alter von 80 Jahren starb, und seine 1837 verstorbene Frau. Neben der Kirche befinden sich das Pastorat, das 1842 erbaut wurde, nachdem zwei Vorgangerbauten von 1670 und 1724 durch Brande zerstort worden waren, und das von Gutsherr Friedrich Ludwig von Dehn 1730 als Unterkunft fur nicht mehr arbeitsfahige Arme gestiftete Armenstift. Literatur Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler. Hamburg. Schleswig-Holstein. 2009, S. 949. Richard Haupt: Die Bau- und Kunstdenkmaler der Provinz Schleswig-Holstein. 1887, S. 191–193. Weblinks Kirchengemeinde Schwansen. In: kkre.de. Evangelisch-Lutherischer Kirchenkreis Rendsburg-Eckernforde; abgerufen am 10. September 2024 (mit Link zur digitalen Kirchenfuhrung durch die Waabser Marienkirche). Einzelnachweise
Die Marienkirche in Waabs im Kreis Rendsburg-Eckernforde ist eine gotische Backsteinkirche aus dem 14. Jahrhundert. Sie liegt im historischen Ortskern von Kleinwaabs und gehort zur Kirchengemeinde Schwansen im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernforde in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
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Every Nigger Is a Star ist ein jamaikanischer Spielfilm von Calvin Lockhart aus dem Jahr 1974. In dem Kinofilm, der halbdokumentarischen Charakter hat, waren mehrere bekannte Reggae-Kunstler zu sehen, darunter Big Youth und Count Ossie. Der Film feierte seine Premiere am 13. November 1974 in den Kinos der karibischen Hauptstadte Kingston (Jamaika) und Nassau (Bahamas). Wahrend der Film selbst als „verschollen“ gilt, bekam der Soundtrack von Boris Gardiner dank Kunstlern wie Big Youth (1976), Frankie Paul (1991) und Kendrick Lamar (2015) immer wieder neue Aufmerksamkeit. Titel Das Wort „Nigger“ ist eine abwertende, rassistische Bezeichnung fur Schwarze. Zu Beginn der 1970er kam es in der Black Community der USA zu einer Aneignung und Umdeutung des beleidigenden Begriffs: „Bad Nigger“ stand nun fur einen selbstbewussten schwarzen Mann. In der Karibik hielt der Begriff vor allem durch die sehr erfolgreichen Blaxploitation-Filme Einzug in den Wortschatz der Inselbewohner, allerdings ohne die negative Konnotation. So war der Western The Legend of Nigger Charley mit Ex-Footballspieler Fred Williamson 1972 ein derart großer Erfolg fur Paramount Pictures, dass darauf mit den Fortsetzungen The Soul of Nigger Charley (1973) und Boss Nigger (1975) reagiert wurde. Erst durch die Fernsehserie Roots (1977) reagierte man im Filmgeschaft sensibler auf den Ausdruck. Daruber hinaus ist der Filmtitel eine Anspielung auf die Selbstermachtigungshymne Everybody Is a Star von Sly & the Family Stone aus dem Jahr 1970. Handlung Ein Mann kehrt in seine Heimat Jamaika zuruck. Auf dem Weg nach Hause trifft er auf bekannte Reggae-Kunstler der damaligen Zeit, wie Inner Circle, The Boris Gardiner Happening, Count Ossie’s Mystic Revelation of Rastafari, Mortimer Planno und Cynthia Schloss. Hintergrund Der Hollywood-Schauspieler Calvin Lockhart wirkte in den ersten relevanten Blaxploitation-Filmen mit und befand sich zur damaligen Zeit auf dem Hohepunkt seiner Karriere. Im Jahr 1972 lebte Lockhart, der aus der Karibik stammte, wegen einer Hauptrolle in dem Theaterstuck The Beautiful Caribbean zeitweise auf Jamaika. Lockhart begann, sich fur die jamaikanische Kultur zu interessieren. Im selben Jahr kam der Blaxploitation-Film The Harder They Come in die Kinos, der auf Jamaika spielt und durch seinen Reggae-Soundtrack ein neues Musikgenre weltweit bekannt machte. Nachdem Lockhart seine anstehenden Kinofilme The Beast Must Die und Uptown Saturday Night abgedreht hatte, kehrte er 1974 fur Dreharbeiten zu The Marijuana Affair nach Jamaika zuruck. Er beschloss, einen selbst-finanzierten Film uber die seit 1962 unabhangige Insel, deren kreative Musikszene und die Rastafari-Bewegung zu machen. Rezeption Die Filmpremiere in Anwesenheit des Regisseurs fand am Mittwoch, den 13. November 1974, im Carib Theater von Kingston statt. Die Premiere war gut besucht, denn das Publikum erwartete aufgrund des Filmtitels, des Soundtracks und des Hauptdarstellers eine actiongeladene Blaxploitation-Komodie in jamaikanischer Szenerie. Stattdessen gab es einen halbdokumentarischen Reisebericht uber Jamaika und dessen Rastafari-Kultur zu sehen. Das Publikum reagierte enttauscht und forderte teilweise den Eintritt zuruck. Bereits am Folgetag gingen die Besucherzahlen dramatisch zuruck. Lockhart fand keinen Verleih fur die USA, denn jeder angesprochene Verleiher lehnte den Film kategorisch ab. Der Film geriet in Vergessenheit und gilt seitdem als verschollen („lost“). Der Bassist Boris Gardiner erinnerte sich 2009 im Jamaica Gleaner an die Premiere im Carib-Kinotheater: Obwohl der Film kurz nach der Premiere abgesetzt wurde, war er noch zwei Jahre spater in kleinen Kinotheatern der Insel zu sehen. Soundtrack Zum Kinofilm ist ein gleichnamiger Soundtrack mit zehn Musiktiteln von Boris Gardiner erschienen. Der Soundtrack mit dem suggestiven Plattencover wurde bereits 1973 veroffentlicht, um das Erscheinen des Films im Folgejahr anzukundigen. = Hintergrund = Produzent des Films war der Nachtklubbesitzer Edward „Eddie“ Knight, Inhaber des Bronco Club am Union Square. Knight kontaktierte Gardiner, der hin und wieder in der Hausband spielte, und beauftragte ihn mit dem Soundtrack. Der Titelsong Every Nigger Is a Star ist eine gemeinsame Komposition von Boris und seinem Bruder Barrington Gardiner. Der Text sollte Selbstbewusstsein wecken („I can feel it deep inside / this black nigger’s pride“). Eingespielt wurde der Soundtrack von ihrer Band The Boris Gardiner Happening. Auf Calvin Lockharts Einladung wurde eigens der Sanger Billy Paul eingeflogen, der gerade mit Me and Mrs. Jones einen Grammy in der Sparte „Bester mannlicher R&B-Kunstler“ gewonnen hatte. Paul nahm im April 1974 bei Federal Records in Kingston seine Version des Titelsongs auf. = Plattencover = Das gezeichnete Plattencover von Every Nigger Is a Star (1973) korrespondiert mit dem des Soundtracks von The Harder They Come aus dem Vorjahr. Beide Cover haben eine ahnliche Comic-Asthetik, so dass man auch bei Every Nigger Is a Star von einem typischen Blaxploitation-Movie ausgehen konnte. Zu sehen sind ein Portrat und funf kontrastierende Figuren in Ganzkorperansicht: ein Zuhalter, zwei „Chicks“, ein Obeah-Priester und ein Wandersmann. = Titelliste = Alle Kompositionen wurden aufgenommen, abgemischt und gemastert im Federal Recording Studio in Kingston, Jamaica. = Besetzung = Leslie Butler: E-Orgel und E-Piano Larry McDonald: Conga Clarence Weir: Gitarre Ivor Lindo: Gitarre Blaser Tommy McCook: Tenorsaxophon David Madden: Trompete E. Brackenbridge: 2. Trompete Hintergrundgesang Margaret Lewis Maurice Chambers Richard Johnson Tinga Stewart Streicher Jamaica School of Music Group Technisches Personal Sidney Bucknor: Toningenieur George Raymond: Edit & Mix = Rezeption = Der Titelsong des Albums, Every Nigger Is a Star, wurde von dem jamaikanischen Deejay Big Youth, der im Film auch einen Auftritt hat, gecovert. Seine Version ist auf dem Album Natty Cultural Dread von 1976 enthalten. Der Titel wurde 1991 von Frankie Paul im Dancehall-Stil neu interpretiert und auf seinem Album Every Nigger Is a Star veroffentlicht. Der US-amerikanische Rapper Kendrick Lamar verwendete ein Sample von Every Nigger Is a Star und setzte es an den Anfang seines Albums To Pimp a Butterfly von 2015. Dadurch bekamen Song, Soundtrack und Film neue Aufmerksamkeit. Literatur Erica Moiah James: Every Nigger Is a Star: Reimagining Blackness from Post–Civil Rights America to the Postindependence Caribbean. In: Black Camera: An International Film Journal, Vol. 8, Nr. 1 (Herbst 2016), Indiana University Press, S. 55–83. (JSTOR-Download) (ResearchGate) Weblinks Every Nigger Is a Star bei IMDb Every Nigger is a Star (lost Calvin Lockhart film; 1973–1974) bei Lostmediawiki (englisch) Every Nigger Is a Star Soundtrack bei Discogs Every Nigger Is a Star Soundtrack bei Bandcamp Musikbelege Boris Gardiner: Every Nigger is a Star auf YouTube Big Youth: Every Nigger Is a Star auf YouTube Boris Gardiner: Ghetto Funk auf YouTube Einzelnachweise
Every Nigger Is a Star ist ein jamaikanischer Spielfilm von Calvin Lockhart aus dem Jahr 1974. In dem Kinofilm, der halbdokumentarischen Charakter hat, waren mehrere bekannte Reggae-Kunstler zu sehen, darunter Big Youth und Count Ossie. Der Film feierte seine Premiere am 13. November 1974 in den Kinos der karibischen Hauptstadte Kingston (Jamaika) und Nassau (Bahamas). Wahrend der Film selbst als „verschollen“ gilt, bekam der Soundtrack von Boris Gardiner dank Kunstlern wie Big Youth (1976), Frankie Paul (1991) und Kendrick Lamar (2015) immer wieder neue Aufmerksamkeit.
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c-957
Ein Kabinettschrank oder Kunstschrank ist ein reprasentativer Schrank, der der Aufbewahrung wertvoller Sammlungsobjekte diente, oft als Teil einer namensgebenden Kunstkammer oder eines Kuriositatenkabinetts. Kabinettschranke sind verwandt mit Schreibmobeln, die als Sekretar bezeichnet werden; so hatten viele Kabinettschranke auch eine ausziehbare Schreibplatte. Manche Kabinettschranke enthalten auch Musikautomaten. Entwicklung Kabinettschranke entstanden wohl aus der maurischen Tischlerei Spaniens. Ab 1500 gab es Truhen mit einer Vielzahl von Schubladen („Cofre de Valencia“), woraus sich ein Kasten mit Schubladen und einer ausklappbaren Schreibplatte entwickelte („escritorio“). Durch die Habsburger gelangten diese Tischlerarbeiten in den deutschsprachigen Raum. Schranke mit Schreibfunktion wurden in Augsburg und Nurnberg zur Exportware und auch als „Schreibtisch“ bezeichnet. Zum Schutz der heimischen Handwerksbetriebe verbot Philipp III. von Spanien 1603 die Einfuhr Nurnberger Schranke; zur selben Zeit ist in Frankreich der Begriff „cabinets d’Allemagne“ nachweisbar. Sogar in Japan wurden Mobel nach deutschem Vorbild hergestellt. Besonders im Manierismus kam beim Adel die Nutzung als Teil einer Wunderkammer in Mode. So wurde die Tribuna der Uffizien 1568 mit einem zentralen achteckigen Schrank ausgestattet (Entwurf: Bernardo Buontalenti, nicht erhalten). Als Material wurde Ebenholz bevorzugt, weshalb die Kunsttischler dieser Zeit auch Ebenisten genannt wurden. Im 17. Jahrhundert wurden die Schranke großer und ihre Ausstattung mit Miniaturen, Beschlagen, Einlegearbeiten aus verschiedenen Holzern, Pietra-Dura und Schildpatt sowie Lackarbeiten wurde immer prachtiger. Beispiele und Gattungen Der Begriff stipo a bambocci bezeichnet einen Typ von Kabinettschranken der Renaissance in Oberitalien, dessen Front mit einer Platte verschließbar und der mit kleinen pummeligen Figuren verziert ist. Aus dem deutschsprachigen Raum sind besonders die Augsburger Kunstschranke aus dem 16./17. Jahrhundert zu nennen. Diese sind haufig reich verzierte, bis zu eineinhalb Meter hohe Mobel, die oft auf einem Tisch aufgestellt wurden. Die architektonisch anmutende Dekoration aus Saulchen und Nischen verbirgt Schubladen und Facher. Hergestellt wurden die Schranke oft aus vielen unterschiedlichen Materialien. Aufbewahrt wurden Kunstgegenstande und Kleinode (die dann auch als „Kabinettstuck“ bezeichnet wurden), Gerate und Werkzeug, aber auch Utensilien zur Korperpflege. Die Augsburger Kunstschranke wurden von dem Augsburger Kaufmann und Kunsthandler Philipp Hainhofer entwickelt, der Gruppen von Kunstlern und Handwerkern mit der Herstellung beauftragte und mit ihnen handelte. Das bekannteste Beispiel eines Augsburger Kunstschranks war der Pommersche Kunstschrank. In der Kunst Innerhalb der Gattung des Stilllebens waren Wunderkammern im 17. Jahrhundert ein verbreitetes Sujet; auf den Gemalden sind oft auch Kabinettschranke zu sehen. Eine Sonderstellung nimmt das Historiengemalde Die Ubergabe des Pommerschen Kunstschranks an Herzog Philipp II von Pommern von Anton Mozart ein. Galerie ) Kunst- und Kabinettschrank mit Musikautomat, Entwurf David Roentgen, Neuwied am Rhein 1776, Museum fur Angewandte Kunst, Wien ) Kabinettschrank mit Orgelwerk, Tirol um 1590 (Fruchtkasten, Stuttgart) ) Kabinett- und Stollenschrank, 1659 (Schloss Gustrow) ) Kabinettschrank mit Ebenholzfurnier und Spiegelglas, Entwurf Simon Floquet, zwischen 1630 und 1635, North Carolina Museum of Art ) Kunstschrank des Kurfursten Johann Georg I. mit herausziehbarem Spinett, Dresden 1615, Entwurf Hans Schifferstein, Staatliche Kunstsammlungen Dresden ) Kabinettschrank, Entwurf Hans Niklas Haberstumpf, Eger 1723, Museum fur Angewandte Kunst, Wien Weblinks What Is a Kabinettschrank? In: Getty. Abgerufen im 1. Januar 1 (englisch). Literatur Virginie Spenle: Der Kabinettschrank und seine Bedeutung fur die Kunst- und Wunderkammer des 17. Jahrhunderts. In: Mobel als Medien. Transcript, 2011, doi:10.1515/transcript.9783839414774.69. Dieter Alfter: Die Geschichte des Augsburger Kabinettschranks. In: Schwabische Geschichtsquellen und Forschungen. Band 15. Historischer Verein fur Schwaben, Augsburg 1986, ISBN 1-08-295683-X. Georg Himmelheber: Kabinettschranke. Bayerisches Nationalmuseum, Munchen 1977. Einzelnachweise
Ein Kabinettschrank oder Kunstschrank ist ein reprasentativer Schrank, der der Aufbewahrung wertvoller Sammlungsobjekte diente, oft als Teil einer namensgebenden Kunstkammer oder eines Kuriositatenkabinetts. Kabinettschranke sind verwandt mit Schreibmobeln, die als Sekretar bezeichnet werden; so hatten viele Kabinettschranke auch eine ausziehbare Schreibplatte. Manche Kabinettschranke enthalten auch Musikautomaten.
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c-958
Alison Jane Hargreaves (geboren am 17. Februar 1962 in Mickleover, Derbyshire; gestorben am 13. August 1995 am K2) war eine schottische Bergsteigerin und Kletterin. Sie war eine der besten Bergsteigerinnen im Mixgelande, also gemischt Fels und Eis, und bei vielen ihrer Begehungen jeweils die erste Britin, der dies gelang. Sie bestieg alle großen Nordwande der Alpen im Alleingang in einer einzigen Saison. Bei vier dieser Wande war es jeweils die erste Solo-Begehung einer Frau. Ihr gelang auch die Begehung der Eiger-Nordwand und die Besteigung der 6812 Meter hohen Ama Dablam. Hargreaves wurde vor allem durch ihre Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff und ohne Unterstutzung durch ein Tragerteam im Jahr 1995 bekannt. Mit ihren spektakularen Begehungen erregte sie Aufsehen und sie wurde auch außerhalb der Alpinszene bekannt. So wurde sie in etlichen Zeitungen portratiert und hatte auch einen Leitartikel in der Times. Hargreaves kam 1995 auf dem Hohepunkt ihrer alpinistischen Karriere beim Abstieg vom K2 ums Leben, als sie versuchte, die drei hochsten Berge der Welt innerhalb einer Saison zu besteigen. Leben Hargreaves wurde 1962 als Tochter von Joyce und John Hargreaves in Mickleover/Derbyshire, einem Vorort von Derby geboren. 1975 zog die Familie nach Belper in Amber Valley. Hargreaves Mutter arbeitete als Mathematiklehrerin, ihr Vater in der Forschungsabteilung der British Rail. Sie hatte zwei Geschwister, eine zwei Jahre altere Schwester und einen drei Jahre jungeren Bruder. Ab 1973 bis zu ihrem Tod fuhrte sie Tagebuch. Die ersten Klettereien im Alter von acht Jahren machte Hargreaves mit ihrem Vater und ihrer Schwester. Die ersten ernsthaften Klettereien am Seil mit Partnern unternahm sie im Alter von 13 Jahren, was sie so begeisterte, dass Klettern von da an ein wesentlicher Lebensinhalt von ihr wurde. 1976 sah Hargreaves einen Vortrag des Bergsteigers Doug Scott, der 1975 die erste Besteigung des Mount Everest uber die Sudwest-Wand durchgefuhrt hatte. Das Buch Die weiße Spinne von Heinrich Harrer uber die Besteigung der Eiger-Nordwand wurde zu ihrer Lieblingslekture. Im Urlaub mit ihren Eltern in den Bergen Tirols 1976 sah sie zum ersten Mal die Alpen. In ihr Tagebuch schrieb sie: „Ich schob im Schlafwagen die Jalousie hoch und spahte hinaus und da waren diese phantastischen Felswande und ich brach einfach in Tranen aus. Ich fuhlte, das war mein Zuhause und ich wollte einfach dableiben.“ 1978 begann sie einen Wochenend-Teilzeitjob im „Bivouac“, einem Geschaft fur Sportler und Bergsteiger, das ihrem spateren Ehemann Jim Ballard gehorte. Mit dieser Tatigkeit bekam sie innerhalb der britischen Kletterszene Kontakte zu bekannten Bergsteigern wie Don Whillans oder Ron Fawcett. Durch die Faszination des Bergsteigens vernachlassigte sie ihre schulischen Leistungen, ihre Noten waren so schlecht, dass ihr der Zugang zur Universitat verwehrt blieb. Im Bivouac entwickelte Hargreaves eigenes, sinnvolles Zubehor fur Bergsteiger. Diese Produktlinie nannte sie „Faces“. Sie kaufte eine Industrienahmaschine und begann, Magnesiabeutel und Gamaschen fur Bergsteiger herzustellen. Das Geschaft wurde schnell zu einem weiteren Standbein im Bivouac, eine weitere Werkstatt wurde angemietet und Mitarbeiter eingestellt. Die Jahre darauf war sie immer wieder in den schottischen Bergen unterwegs, trainierte und verfeinerte ihre Technik und baute ihre Produktlinie „Faces“ weiter aus. Am 23. April 1988 heiratete sie Jim Ballard, im selben Jahr wurde ihr Sohn Tom geboren, 1991 ihre Tochter Kate. Lustlosigkeit und unfreundliches Auftreten ihres Mannes fuhrten das einst gutgehende Geschaft Bivouac in die roten Zahlen und im Sommer 1992 mussten sie das Sportgeschaft aufgeben. Hargreaves beschloss daher, das Bergsteigen professionell zu betreiben und damit den Unterhalt der Familie zu gewahrleisten. Als schließlich das Geschaft uberschuldet war und das Haus in Meerbrook Lea versteigert wurde, zogen sie in die Schweiz. In den folgenden Jahren gelang es Hargreaves, als Profibergsteigerin so viel Geld zu verdienen, dass sie wieder zu bescheidenem Wohlstand gelangten. Dies war beachtlich, da nur wenige Bergsteiger von ihren Begehungen leben konnen, insbesondere fur Frauen ist das schwierig. Hargreaves war die erste Britin, der das gelang. Hargreaves hatte Bedenken vor dem standigen Zusammensein mit ihrem Mann, von dem sie sich nach wie vor abhangig fuhlte. Er bestimmte ihre Geschicke und ihre Plane und trat nach außen hin als ihr Manager auf. Es soll auch hausliche Gewalt gegeben haben. Aus Sorge daruber, dass ein Richter das Sorgerecht fur die Kinder wegen ihrer Leidenschaft zum Bergsteigen auf Ballard ubertragen konnte, betrieb sie aber keine Trennung von ihrem Mann. 1995 starb Hargreaves im Himalaya am K2 auf dem Hohepunkt ihrer Karriere. Sie hinterließ ihren Ehemann Jim Ballard und zwei Kinder. Ihr Sohn Tom Ballard wurde auch Bergsteiger, er hat ebenfalls alle großen Nordwande der Alpen solo bestiegen. Tom Ballard starb 2019 bei einem Winterbesteigungsversuch am Nanga Parbat. Alpinistische Karriere Neben der Arbeit im Bivouac trainierte Hargreaves regelmaßig in den Klettergarten der Umgebung und im Winter an den steilen Eisrinnen und Eiswanden. Im Sommer 1982 wurde sie zu einem internationalen Kletterinnentreffen eingeladen, bei dem in zwei Wochen in britischen Klettergebieten zum Teil sehr schwierige Routen geklettert wurden. Diese Erfahrungen ermunterten sie, auch große Alpentouren ins Auge zu fassen. Im Mai 1983 nahm sie an einem weiteren Treffen von Kletterinnen teil, diesmal im Klettergebiet der Gorges du Verdon in den franzosischen Alpen. Dabei lernte sie Catherine Destivelle und Catherine Freer kennen. 1987 kam ihre Freundin und Vorbild Catherine Freer bei einem Absturz im kanadischen Yukon-Hummingbird-Grat/Mount Logan ums Leben. = Der Frendo-Pfeiler an der Aiguille du Midi = Bestarkt durch die Erfolge bei den Kletterinnentreffen, machte sich Hargreaves mit dem befreundeten Kletterer Ian Parsons auf den Weg nach Chamonix, um die Aiguille du Midi uber den Frendo-Pfeiler zu besteigen. Dieser ist 1200 Meter hoch und es sind sowohl Fels als auch Eispassagen zu uberwinden. Sie brauchten fur die Begehung drei Tage und genauso viele Biwaks. Die Anstrengung fuhrte bei Hargreaves zu einer großen Erschopfung. Nach dieser Tour blieben die beiden noch weitere zehn Tage im Mont-Blanc-Gebiet und machten noch andere schwere Routen wie z. B. die Nordwand der Tour Ronde. Hargreaves stellte erleichtert fest, dass die Erschopfung wahrscheinlich auf mangelnde Akklimatisation zuruckzufuhren war – mit jedem Tag wurde sie besser. = Große Touren in den Alpen = Im Mai 1984 war Hargreaves wieder in den Alpen, sie hatte sich jetzt zum Ziel gesetzt, die großen Touren zu bewaltigen. Im Mont-Blanc-Gebiet beging sie das 1000 Meter hohe schwierige Supercouloir am Mont Blanc du Tacul, wieder als erste Britin. Danach beging sie die Nordwande von Aiguille du Triolet und Les Courtes, immer zusammen mit Parsons. Besonders hervorzuheben ist ihre Begehung der Nordwand des Matterhorns, diese ist besonders schwierig und gehort zu den drei großten kombinierten Touren der Alpen. Erst im September 1985 konnte sie wieder in die Alpen fahren, um ihre Besteigungen der großen Touren zu komplettieren: die Besteigung der Grandes Jorasses uber den Croz-Pfeiler und des benachbarten Walkerpfeilers. = Erste Besteigungen im Himalaya = Im Fruhjahr 1985 wurde Hargreaves eingeladen, an einer Expedition zum Kangtega (6780 m) teilzunehmen. Als Akklimationstour wurde der 6119 Meter hohe Lobuche Peak ausgewahlt und zwar uber die Ostflanke, die noch nie begangen worden war. Sie bestiegen den Gipfel im Alpinstil, d. h. ohne eine Kette von Lagern und ohne Trager, was bedeutet, dass alle große Lasten zu schleppen haben. Hargreaves bewahrte sich bei dieser Erstbesteigung und hatte etliche Seillangen gefuhrt, obwohl sie noch nie in so großen Hohen unterwegs gewesen war. Kurz danach versuchte sie den Lhotse Shar (8383 m, Nebengipfel des Lhotse) zu besteigen, wurde aber von Lawinenabgangen gezwungen, umzukehren. = Eiger-Nordwand = Einer der letzten großen Plane von Hargreaves in den Alpen war die Begehung der Eiger-Nordwand. Als sie schwanger wurde, furchtete sie, dass sie dadurch langer nicht zum Klettern kommen wurde, und wollte daher die Begehung vor der Geburt durchfuhren. Als ihr Arzt keine Bedenken außerte, fuhr sie im Juli 1988 mit Steve Aisthorpe nach Grindelwald. Obwohl das Wetter nicht ideal war, stiegen sie ein. In funf Tagen und mit vier Biwaks in der Wand gelang ihnen die Begehung, auch wenn Hargreaves am Ende sehr erschopft war. Die britischen Medien berichteten ausgiebig uber ihren Erfolg, sie war erneut die erste Britin gewesen, der die Durchsteigung gelang. Es gab aber auch kritische Stimmen, die sich auf ihre Schwangerschaft bezogen. Am 1. Oktober 1988 kam ihr Sohn Tom zur Welt. = Solo durch die sechs großen Nordwande der Alpen = 1993 wollte sie die schwierigsten sechs Nordwande der Alpen im Alleingang besteigen, dies sind die Nordwande von Eiger, Matterhorn, Grandes Jorasses, Petit Dru, Piz Badile und der Großen Zinne. Einen Sponsor hatte sie gefunden, der sie fur drei Jahre mit 600 Pfund pro Monat unterstutzte. Sie wollte auch uber diese Solobegehungen ein Buch schreiben und hatte dafur bereits einen Verlag gefunden. Ihr Buch A hard day’s Summer wurde 1995 veroffentlicht, dem aber großer finanzieller Erfolg versagt blieb. Zuerst bestieg sie das Linceul (Leichentuch) am Grandes Jorasses, dann die Matterhorn-Nordwand und darauf den Eiger uber die Lauper–Route. Es folgten die Nordwande der Piz Badile, des Aiguille du Dru und der Drei Zinnen. Fur alle diese Nordwande hatte sie sich vorgenommen, nicht langer als 24 Stunden zu brauchen, was ihr auch gelang. Ihre extrem kurzen Besteigungszeiten wurden angezweifelt, daher beschloss sie den Beweis anzutreten, dass sie schnell und effektiv im Alleingang war. Daher reiste Hargreaves nach Chamonix, um im Winter als erste Frau die Grandes Jorasses uber das Croz Couloir zu besteigen. Es gelang ihr, als Fotografen hatte sie David Sharrock engagiert, der vom Hubschrauber aus Fotos machte und damit die Besteigung dokumentierte. = Ohne Flaschensauerstoff auf den Mount Everest = 1994 erhielt sie die Moglichkeit, an einer medizinischen Expedition unter der Leitung von Simon Currin zum Mount Everest teilzunehmen. Der Versuch, alleine und ohne zusatzlichen Sauerstoff den Everest zu besteigen, misslang aufgrund starken Windes und extremer Kalte in einer Hohe von 8500 Metern, rund 350 Hohenmeter vor dem Gipfel. Auf Anregung von George Band, dem Vorsitzenden des britischen Alpinistenverbandes, reiste sie 1995 erneut zum Everest. Die Idee war, dass innerhalb eines Jahres die drei hochsten Berge der Welt von einer britischen Bergsteigerin ohne Sauerstoff bestiegen werden. Der erste Berg dieser Trilogie sollte der Mount Everest sein. Im Gegensatz zum vorherigen Jahr bestieg sie den Berg nicht mehr von der nepalesischen, sondern von der tibetanischen Seite. Sie war zwar offiziell Teil einer Expedition, war aber am Berg vollig unabhangig und allein unterwegs. Dazu gehorte auch, dass sie alle Ausrustung ohne Unterstutzung durch Trager selbst vom Basislager in die verschiedenen Camps transportierte. Sie musste mehrmals zwischen den verschiedenen Lagern pendeln, um alle benotigten Ausrustungsgegenstande in die oberen Lager zu bringen. Gleichzeitig diente dieser Aufenthalt auch der Anpassung an die Hohe. Obwohl sie viel Material schleppte, uberholte sie mehrere Gruppen von Bergsteigern. Am 13. Mai 1995 kurz nach 12:00 Uhr erreichte Hargreaves den Gipfel des Mount Everest, ohne zusatzlichen Sauerstoff und ohne fremde Hilfe – eine Sensation. Sie war die erste Frau, der dies gelang. Nach ihrer Ruckkehr nach England war das offentliche Interesse an ihrer Besteigung groß, Interview folgte auf Interview. Selbst die Times widmete ihr einen Leitartikel. Beflugelt von diesem Erfolg, konzentrierte sich Hargreaves auf die Besteigung der nachsten zwei Berge: erst des K2, dann des Kangchendzonga. = Besteigung des K2 und Tod = Ende Juni 1995 reiste Hargreaves nach Pakistan, um den K2 zu besteigen, der als einer der schwierigsten und gefahrlichsten Achttausender gilt, mit wechselndem und haufig schlechtem Wetter. Expeditionsleiter war Rob Slater, ein Geschaftsmann aus den USA. Zum Team gehorte auch der britische Bergsteiger Alan Hinkes, den Hargreaves auf der Trekkingtour zum K2 kennengelernt hatte. Ein erster Aufstiegsversuch zusammen mit Teammitgliedern scheiterte am schlechten Wetter. Nach dem Wetterumschlag wartete die Expedition elf Tage im Basislager auf Besserung. Als sich das Wetter besserte, versuchte Hargreaves eine Solobesteigung. Es war aber so viel Schnee gefallen, dass sie ohne die Hilfe anderer beim Spuren keine Chance gehabt hatte. Daher schloss sich Hargreaves einem spanischen und einem neuseelandischen Team an. Im neuseelandischen Team war auch Peter Hillary, Sohn des Erstbesteigers des Mount Everests. Am folgenden Tag erreichten sie das Hochlager auf 7800 Metern. Vom Aufstieg im tiefen Schnee und vom Errichten des Hochlagers waren alle so erschopft, dass sie einen Ruhetag einlegten. Gegen Mitternacht begann Hillary dann mit Kameraden den Aufstieg, zwei Stunden spater folgten Hargreaves, Slater und zwei Neuseelander und noch etwas spater die drei Spanier Lorenzo Ortiz, Javier Escartin und Javier Olivar. Am „Flaschenhals“, einer gefahrlichen und kritischen Stelle, drehte Hillary mit seinen Kameraden wegen Kalte und Erschopfung um. Die anderen gingen weiter, kamen aber nur sehr langsam voran. Hargreaves stand am 13. August 1995 um etwa 18:00 Uhr auf dem Gipfel, nach einem Aufstieg mit dem Team der Spanier und ohne zusatzlichen Sauerstoff. Die Spanier meldeten das Erreichen des Gipfels uber Funk an ihr Team im Basislager und erwahnten dabei auch Hargreaves. Sie begann zusammen mit dem spanischen Team um etwa 19:00 Uhr mit dem Abstieg. Inzwischen schlug das Wetter um und ein Sturm fegte uber den Berg, in den sie mit den anderen Bergsteigern geriet. Sie und die anderen funf vom Gipfel absteigenden Bergsteiger starben in diesem Sturm. Vermutet wird, dass Hargreaves in Hohe des Flaschenhalses uber die Sudflanke absturzte. Ein Bergsteiger aus dem spanischen Team, Lorenzo Ortas, berichtete, dass sie am nachsten Morgen Ausrustungsgegenstande gefunden hatten, die Hargreaves zugeordnet werden konnen. Er vermutete, dass sie etwa aus 8400 Metern Hohe – also noch deutlich uber dem Flaschenhals – vom Berg gefegt wurde. Hargreaves blieb dort liegen, wo sie vermutlich aufgeschlagen war. Anfeindungen als bergsteigende Frau Hargreaves war bei der Besteigung der Eiger-Nordwand schwanger gewesen. Als dies bekannt wurde, wurde sie heftig kritisiert. Sie antwortete darauf: „Ich war schwanger, nicht krank.“ Dies und auch die Tatsache, dass sie Mutter von zwei kleinen Kindern war, wurde immer wieder thematisiert. Ihre Touren stießen ethische Diskussionen an, etwa bezuglich der Verpflichtungen und Risiken, die sie als bergsteigende Mutter einging. Insbesondere nach ihrem Tod am K2 wurden viele Stimmen laut, die beklagten, dass sie zu viele Risiken eingegangen sei und deshalb ihre Kinder Halbwaisen seien. Solche Kritik wurde aber bei bergsteigenden Vatern nie geaußert. Alpinistische Leistungen und Erfolge Literatur und Quellen Alison Hargreaves: A Hard Day’s Summer: Six Classic North Faces Solo. Hodder & Stoughton, London 1995, ISBN 0-340-60602-9. Reportagen vom K2-Ungluck (in englischer Sprache) (Memento vom 10. Oktober 2009 im Internet Archive) David Rose, Ed Douglas: Die Gipfelsturmerin. Triumph und Tragodie der Alison Hargreaves. Ullstein Verlag, Munchen 2000, ISBN 978-3-548-35995-3. Ulrich Remanofsky: Wen die Gotter lieben. Schicksale von elf Extrembergsteigern. Alpinverlag, Bad Haring 2012, ISBN 978-3-902656-09-4. Weblinks Peter Hillary: In the Name of the Father 1995: British woman conquers Everest. bei BBC National Geographic Creative: Quest For K2 Surviving The Summit. auf YouTube Einzelnachweise
Alison Jane Hargreaves (geboren am 17. Februar 1962 in Mickleover, Derbyshire; gestorben am 13. August 1995 am K2) war eine schottische Bergsteigerin und Kletterin. Sie war eine der besten Bergsteigerinnen im Mixgelande, also gemischt Fels und Eis, und bei vielen ihrer Begehungen jeweils die erste Britin, der dies gelang. Sie bestieg alle großen Nordwande der Alpen im Alleingang in einer einzigen Saison. Bei vier dieser Wande war es jeweils die erste Solo-Begehung einer Frau. Ihr gelang auch die Begehung der Eiger-Nordwand und die Besteigung der 6812 Meter hohen Ama Dablam. Hargreaves wurde vor allem durch ihre Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoff und ohne Unterstutzung durch ein Tragerteam im Jahr 1995 bekannt. Mit ihren spektakularen Begehungen erregte sie Aufsehen und sie wurde auch außerhalb der Alpinszene bekannt. So wurde sie in etlichen Zeitungen portratiert und hatte auch einen Leitartikel in der Times. Hargreaves kam 1995 auf dem Hohepunkt ihrer alpinistischen Karriere beim Abstieg vom K2 ums Leben, als sie versuchte, die drei hochsten Berge der Welt innerhalb einer Saison zu besteigen.
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Vortex ist ein Studentenwohnheim in der schweizerischen Gemeinde Chavannes-pres-Renens fur rund 1000 Studenten auf dem Campus Lausanne der beiden Hochschulen EPFL und UNIL. Neben der Grosse zeichnet sich das Gebaude durch seine wendelformige Bauweise aus. Die Geschossebenen steigen kreisformig leicht an, daher kommt der Name «Vortex», deutsch «Wirbel». Beschreibung Das Gebaude beherbergt auf zehn Ebenen 712 Zimmer, darunter Einzelzimmer und Studios sowie Wohngemeinschaften, welche mit zwei bis vier Zimmern ausgestattet sind. Es gibt rund 2400 m² Gemeinschaftsflachen, z. B. fur Kinder sowie Geschafte, Cafes und einen Lesesaal. In unmittelbarer Nahe befindet sich eine Haltestelle der Metro Lausanne. Auch Mitarbeiter der Universitaten sind als Mieter zugelassen. Der wendelformige Aufgang ist insgesamt 2,8 km lang. Es gibt je einen Aufgang auf der Innen- und Aussenseite. Der Durchmesser des kreisformigen Gebaudes betragt 137 m. Das Dach ist mit 1200 Solarpaneelen bestuckt; die Heizung erfolgt uber eine Warmepumpe, die das Wasser des Genfersees nutzt. Geschichte Der Kanton Waadt initiierte 2014 das Vorhaben. Das Architekturburo von Jean-Pierre Durig gewann 2015 den Wettbewerb fur die Planung und den Bau des Gebaudes. Die Durchfuhrung erfolgte zusammen mit dem Buro Itten+Brechbuhl SA. Die Verkleidung der Fassade mit einer vorgefertigten Holzkonstruktion plante Ingenieur Jean-Luc Sandoz, die Ausfuhrung erfolgte durch seine Firma Ecotim. Die Kosten betrugen 156 Millionen Franken. Sie wurden im Wesentlichen durch den Kanton, insbesondere durch dessen Pensionskasse, getragen. Die Fertigstellung des Gebaudes wurde im Herbst 2019 gefeiert. Im Januar 2020 diente es als Olympisches Dorf fur die Athleten der Olympischen Jugend-Winterspiele 2020 in Lausanne. Danach wurde es ab April 2020 als Notunterkunft fur Pflegekrafte in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie genutzt. Ab August 2020 zogen die ersten Studenten der beiden Universitaten ein. Die innere Rampe dient inzwischen alljahrlich fur einen Laufwettbewerb unter dem Namen «Vortex Race». Einschliesslich Startbereich muss eine Strecke von drei Kilometern in der Wendel hochgelaufen werden. Der Sieger des Einzelrennens 2023 benotigte gut neuneinhalb Minuten fur die Strecke. Das Gebaude erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem die Gold-Auszeichnung in der Kategorie «Excellent Architecture» des German Design Award 2023. Weblinks Informationsblatt fur Bewohner des «Vortex» (franz.) «Vortex» auf der Website der UNIL (franz.) Einzelnachweise
Vortex ist ein Studentenwohnheim in der schweizerischen Gemeinde Chavannes-pres-Renens fur rund 1000 Studenten auf dem Campus Lausanne der beiden Hochschulen EPFL und UNIL. Neben der Grosse zeichnet sich das Gebaude durch seine wendelformige Bauweise aus. Die Geschossebenen steigen kreisformig leicht an, daher kommt der Name «Vortex», deutsch «Wirbel».
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Durch die gelbe Holle (Originaltitel: Destination Gobi) ist ein US-amerikanischer Kriegsfilm aus dem Jahr 1953 von Robert Wise mit Richard Widmark und Don Taylor in den Hauptrollen. Das Drehbuch basiert auf der Kurzgeschichte Ninety Saddles for Kengtu von Edmund G. Love. Handlung Im November 1944 ist der Oberbootsmann (Chief Bosun Mate) McHale entsetzt, als er erfahrt, dass er von seinem Flugzeugtrager zu einer von der Marine betriebenen Wetterstation in der Wuste Gobi in der Inneren Mongolei versetzt wird. Captain Gates erklart McHale, dass genaue Wettervorhersagen fur den Erfolg der Alliierten im Pazifik entscheidend sind und dass der Meteorologe Lieutenant Commander Wyatt und seine Crew, bestehend aus Jenkins, Walter Landers, Coney Cohen, Elwood Halsey, Frank Swenson und Paul Sabatello, seine praktische Erfahrung brauchen. Trotz seiner Sehnsucht nach dem Meer gewohnt sich McHale in den folgenden sechs Monaten an das Leben in der Wuste, obwohl Wyatt von McHales Abhangigkeit von der strengen Befehlskette des Militars verwirrt ist. Drei Wochen vor ihrer Ablosung erfahrt die Mannschaft, dass japanische Kavallerie in der Nahe gesichtet wurde. McHale beginnt mit Planen zur Verstarkung der Verteidigung des Außenpostens. Die Gruppe ist verblufft uber die Ankunft eines Stammes nomadischer Mongolen, die in der Oase der Station lagern. Nachdem er festgestellt hat, dass die Marinesoldaten nicht an dem Gras der Oase interessiert sind, zeigt der Anfuhrer der Mongolen, Kengtu, kein weiteres Interesse an ihnen, bis Elwood versucht, Fotos von dem Stamm zu machen. Die Mongolen reagieren feindselig, aber McHale gewinnt Kengtus Respekt, als er ihm zeigt, wie die Kamera funktioniert. Als der ehemalige Cowboy Jenkins die Reitkunste der Mongolen beobachtet, sinniert er, dass sie eine ausgezeichnete Kavallerie abgeben wurden. Am nachsten Tag befiehlt Kengtu seinen Leuten, die vielen Dinge zuruckzugeben, die sie von der Station gestohlen haben. McHale erlaubt ihnen, seine eigene Mutze und Wyatts Ausgehuniform zu behalten. Spater an diesem Tag erfahren die Amerikaner, dass sie aufgrund des zunehmenden Drucks des Feindes nicht abgelost werden. In der Hoffnung, die Mongolen davon zu uberzeugen, ihnen bei der Verteidigung der Station zu helfen, fordert McHale sechzig Sattel an. Obwohl der Befehl auf Verwirrung stoßt, treffen die Sattel bald ein und die begeisterten Mongolen beginnen mit dem Training mit Jenkins, der sie als „1. Mongolische Kavallerie der US-Marine“ bezeichnet. Es dauert jedoch nicht lange, bis das Lager von japanischen Flugzeugen bombardiert wird und Wyatt und mehrere Mongolen getotet werden. Das Funkgerat wird ebenfalls zerstort und McHale ist enttauscht, als die Mongolen verschwinden und sie allein und schutzlos zurucklassen. Anstatt 300 Meilen zur nachsten Wetterstation zu laufen, die ebenfalls angegriffen worden sein konnte, beschließt McHale, dass die Manner 800 Meilen zum Meer zurucklegen sollten. Die Manner sind verblufft, aber McHales Entschlossenheit, zum Meer zuruckzukehren, siegt und sie machen sich zu Fuß auf den Weg. In der Hoffnung, Peking zu erreichen und von dort nach Okinawa zu segeln, das von amerikanischen Streitkraften besetzt ist, treibt McHale die Manner weiter. Sie halten an einer Oase, an der einige chinesische Handler lagern. Ebenfalls in der Oase sind Kengtu und seine Leute. McHale wirft dem Anfuhrer vor, sie im Stich gelassen zu haben. Kengtu antwortet, dass er sein Volk vor den „Vogeln im Himmel“ schutzen musse. Als McHale Schutz im Austausch fur die Sattel verlangt, gibt Kengtu die Sattel zuruck. Der chinesische Handler Yin Tang bietet McHale vier Kamele fur die Sattel an. Am nachsten Tag reisen die Amerikaner mit den Chinesen. In der folgenden Nacht versucht der verraterische Yin Tang die Amerikaner zu toten, wird aber durch die Ankunft von Kengtu und seinen Mannern aufgehalten. Kengtu teilt McHale mit, dass seine Leute die Sattel zuruckhaben mochten und bereit sind, die Amerikaner nach Peking zu eskortieren, vorausgesetzt, sie kleiden sich in einheimischer Kleidung, um den Japanern aus dem Weg zu gehen. McHale stimmt zu, obwohl die Manner befurchten, dass sie als Spione betrachtet werden, wenn sie gefangen genommen werden, weil sie keine Uniform tragen. Kengtus Plan scheint jedoch zu funktionieren, bis sie das chinesische Dorf Sangchien erreichen, eine Garnison der Japaner. Der machthungrige Mongole Tomec, der die lastigen Amerikaner satt hat, scheint Kengtu zu uberreden, sie auszuliefern, und McHale ist entsetzt, als Kengtu sie in einen Hinterhalt japanischer Soldaten fuhrt. Die Amerikaner werden in ein Gefangenenlager in der Nahe des Ozeans gebracht. Als er vom japanischen Lagerkommandanten befragt wird, weigert sich McHale, irgendwelche Informationen uber die verbleibenden Wetterstationen preiszugeben. Wutend halt der Offizier die Manner fur Spione und nicht fur Kriegsgefangene, was bedeutet, dass sie erschossen werden. Ihre Depression wird jedoch durch die Ankunft eines von Kengtus Mannern, Wali-Akhun, gemildert, der verhaftet wurde, als er Wyatts Uniform trug. Wali-Akhun informiert sie, dass Kengtu ihre Flucht arrangiert hat. In dieser Nacht schleichen sie sich aus dem Lager zu den Docks, wo Kengtu mit einer chinesischen Dschunke wartet. Kengtu erklart McHale, dass er sie nicht verraten, sondern die japanischen Soldaten ausgetrickst habe, um sie zum Meer zu bringen. Ein Alarm ertont, und als sich ein japanischer Suchtrupp nahert, sind Kengtu und seine Manner gezwungen, an Bord der Dschunke zu gehen und die Amerikaner zu begleiten. Sie werden von einem Motorboot verfolgt, konnen es jedoch mit einer alten, durch die Mongolen gestohlenen Kanone versenken. Coney wird bei dem Kampf getotet, die Manner segeln ernuchtert nach Okinawa. Elf Tage spater wird die Dschunke von amerikanischen Flugzeugen entdeckt, die sie gerade bombardieren wollen, bis sie ein großes Schild mit der Aufschrift „USS Cohen“ darauf sehen. Die Manner werden gerettet, bald darauf wird Kengtu zusammen mit sechzig Satteldecken zu seinem Volk zuruckgebracht. Kengtu und McHale verabschieden sich. Als McHale versucht zu erklaren, dass er nicht der Oberbefehlshaber der Marine ist, wie Kengtu falschlicherweise angenommen hatte, antwortet Kengtu, dass es der Fehler der Marine sei, nicht seiner. Hintergrund Gedreht wurde der Film vom 23. Juli bis zum 2. September 1952. Nach dem Vorspann heißt es in einem Vorwort: „In den Aufzeichnungen der Navy in Washington gibt es einen obskuren Eintrag mit der Aufschrift ‚Saddles for Gobi‘. Dieser Film basiert auf der Geschichte hinter diesem Eintrag, einer der seltsamsten Geschichten des Zweiten Weltkriegs.“ Laut Werbung des Studios basierte Edmund G. Loves Kurzgeschichte auf einem Vorfall, bei dem US-Militarmeteorologen, stationiert in der Wuste Gobi, einem mongolischen Stamm als Zeichen guten Willens neunzig Sattel schenkten. Nachrichtenmeldungen und Studiowerbung fuhren als Drehorte die Gemeinden Nixon und Fallen im Bundesstaat Nevada auf. Auch spielten Indianer vom Stamm der Paiute, die in einem Reservat in Nixon lebten, die mongolischen Statisten. Der Film war Robert Wises erster Farbfilm. Lewis H. Creber und Lyle R. Wheeler oblag die kunstlerische Leitung. Verantwortliche Toningenieure waren Harry M. Leonard und Arthur von Kirbach. Matthew Yuricich schuf die visuellen Effekte. Musikalischer Direktor war Alfred Newman. Synchronisation Anmerkung: Die kursiv geschriebenen Namen sind Rollen und Darsteller, die nicht im Abspann erwahnt wurden. Veroffentlichung Die Premiere des Films fand am 20. Marz 1953 in Los Angeles statt. In der Bundesrepublik Deutschland kam er am 20. November 1954 in die Kinos, in Osterreich bereits im Februar 1954. Kritiken Der Filmkritiken-Aggregator Rotten Tomatoes hat in einer Auswertung ein Publikumsergebnis von 38 Prozent positiver Bewertungen ermittelt. A. H. Weiler von der The New York Times befand, der Film verbinde auf faszinierende Weise eine willige Besetzung, jede Menge Lacher, knackige Dialoge, einen ungewohnlichen Schauplatz und einige plausible und unwahrscheinliche Wagemutsakte zu einer leichten, aber fesselnden und spannenden Unterhaltung. Manny Farber schrieb im Magazin The Nation, der Film sei gut komponiert aus einer Abfolge von Panoramaaufnahmen und schnellen Actionszenen, leide aber unter Wises Verlust des Bezugs zum Realismus in der Darstellung. Der Kritiker des TV Guide sah eine ziemlich eigenartige Kriegsgeschichte, die auf Tatsachen beruhe, aber stark auf Fiktion basiere. Der Film biete hervorragende Actionsequenzen von Robert Wise, großartige Wustenschauplatze und eine unterhaltsame Darstellung von Widmark, der wahrend des gesamten Films vollig angewidert von Sand, Sonne und Wustenhitze wirke. Das Lexikon des internationalen Films schrieb: „Naiv-ruhrendes Heldenepos mit patriotischen Klangen, das dem ernsten Kriegshintergrund in keiner Weise gerecht wird.“ Weblinks Durch die gelbe Holle bei IMDb Durch die gelbe Holle in der Online-Filmdatenbank Einzelnachweise
Durch die gelbe Holle (Originaltitel: Destination Gobi) ist ein US-amerikanischer Kriegsfilm aus dem Jahr 1953 von Robert Wise mit Richard Widmark und Don Taylor in den Hauptrollen. Das Drehbuch basiert auf der Kurzgeschichte Ninety Saddles for Kengtu von Edmund G. Love.
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L’Ame de la France (deutsch „Die Seele Frankreichs“) ist ein denkmalgeschutztes Kriegerdenkmal in der Gemeinde Salazie auf der franzosischen Insel Reunion. Es erinnert an die gefallenen Soldaten Reunions wahrend des Ersten Weltkriegs. Lage Das Denkmal steht jetzt im Osten des Orts Hell-Bourg in einer Grunanlage vor einem kommunalen Verwaltungsgebaude an der Einmundung der Rue Andre Fontaine in die Rue du General-de-Gaulle. Gestaltung Das Denkmal besteht aus einem hohen steinernen Sockel, auf dem eine 3,20 Meter hohe Frauenfigur mit nach oben gestreckten Armen steht, deren Oberkorper unbekleidet ist. In der linken Hand halt die Kriegerin einen Schild, in der rechten als Symbol fur Frieden und Versohnung einen kleinen Olivenzweig, auf dem Kopf tragt sie einen Helm. Am Fuße des Sockels ist eine Tafel mit franzosischsprachiger Inschrift angebracht, auf der uber die Bedeutung und Geschichte des Denkmals informiert wird. Geschichte Geschaffen wurde die Statue 1921 vom Bildhauer Carlo Sarrabezolles. Zunachst wurde das Denkmal in einer Version aus Gips auf dem Rathausplatz in Salazie vor der Kirche aufgestellt. 1922 wurde stattdessen eine Version aus Marmor, dann aus Bronze errichtet. Der Guss der Bronze erfolgte 1930 durch das Unternehmen Ferdinand Barbedienne. Die Bronze erhielt die Gemeinde 1931 vom Abgeordneten Lucien Gasparin geschenkt. Sowohl die Gips- als auch die Marmorstatue blieben erhalten und sind in Museen in Metropolitan-Frankreich aufgestellt. Die Gipsversion befindet sich im Museum Historial de la Grande Guerre, die Marmorstatue im Musee des Beaux-Arts de Reims. Wegen der teilweisen Nacktheit der nahe der Kirche stehenden Frauenfigur wandte sich 1941 der Pfarrer, Pater Gabriel Bourasseau, gegen das Denkmal und forderte die Entfernung. Er war schockiert, dass der Toten durch eine Frau mit nackten Brusten gedacht wurde. Mit Hilfe einiger Mitglieder der Kirchengemeinde ließ der Pater das Denkmal sprengen. Bei dem dadurch entstehenden Sturz der Statue brachen beide Arme der Figur ab. Die Stucke wurden bis 1946 hinter einem Friseursalon, nach anderen Angaben in einem Schuppen verstaut. In der Amtszeit des letzten Gouverneurs von Reunion, Andre Capagorry, (1942–1947) wurde die durch Schweißung reparierte Figur jedoch im Garten der Verwaltung in Hell-Bourg aufgestellt. 1948 sturzte sie bei einem Zyklon erneut. Die Statue geriet dann in Vergessenheit und wurde bei Bauarbeiten im Jahr 1968 zufallig wiedergefunden und dann an ihrem heutigen Platz wieder aufgestellt. Am 22. Oktober 1998 wurde das Denkmal in das Denkmalverzeichnis aufgenommen und am 5. Mai 2004 als Monument historique ausgewiesen. Literatur Le Patrimoine de La Reunion. Herausgeber Fondation Clement, Editions Herve Chopin, Bordeaux 2023, ISBN 978-2-35720-352-5, Seite 566. Weblinks Monument aux morts intitule l’Ame de la France, situe a Hell-Bourg in der Base Merimee des franzosischen Kulturministeriums (franzosisch) Jean Paul Goursaud: L’Ame de la France. In: randopitons.re. 1. November 2018; abgerufen am 16. Oktober 2024 (franzosisch). L’Ame de la France. In: ville-salazie.fr. 2020; abgerufen am 16. Oktober 2024 (franzosisch). L’Ame de la France. In: sarrabezolles.org. 8. Dezember 2020; abgerufen am 16. Oktober 2024 (franzosisch). Einzelnachweise
L’Ame de la France (deutsch „Die Seele Frankreichs“) ist ein denkmalgeschutztes Kriegerdenkmal in der Gemeinde Salazie auf der franzosischen Insel Reunion. Es erinnert an die gefallenen Soldaten Reunions wahrend des Ersten Weltkriegs.
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c-962
Der Papstbesuch in Osttimor 2024 vom 9. bis 11. September war Teil der 47. apostolischen Reise von Franziskus und der zweite Besuch eines Papstes in Osttimor. Zuvor besuchte Papst Franziskus das indonesische Jakarta und Papua-Neuguinea. Nach Osttimor folgte als vierte Station Singapur. Hintergrund Osttimor befand sich zwischen 1975 und 1999 unter indonesischer Besatzung. Infolge der Okkupation kamen fast 200.000 Menschen ums Leben (etwa ein Funftel der Bevolkerung). Die romisch-katholische Kirche in Osttimor unterstutzte die Timoresen in ihrem Unabhangigkeitsbestreben und gewann dadurch an Sympathie in der Bevolkerung. Von etwa 30 Prozent stieg der Anteil der Katholiken in der Bevolkerung bis 1990 auf etwa 80 %. 1989 besuchte Papst Johannes Paul II. Osttimor. Allgemein hatte Johannes Paul II. erklart, dies sei ein pastoraler, aber kein politischer Besuch. Als er aus dem Flugzeug stieg, hatte er nicht den Boden gekusst, wie er es zu tun pflegte, wenn er ein neues Land betrat. Bei Beginn seiner Messe vor 100.000 Zuschauern in Tasitolu kniete Johannes Paul II. aber nieder und kusste ein Kruzifix, das auf einem Kissen auf dem Boden lag. Auch wenn ein Vatikansprecher dies als normalen Teil der Messe bezeichnete, sahen einige darin eine Anerkennung Osttimors. Die Zuschauer konnten aus ihrer Position das Kruzifix nicht erkennen, so dass die Menschenmenge jubelte, als der Papst wieder aufstand. Zudem nutzten Unabhangigkeitsaktivisten die Anwesenheit der internationalen Presse um Transparente zu entfalten, die fur die Selbstbestimmung Osttimors warben und gegen Menschenrechtsverletzungen protestierten. Seit dem Besuch wird Johannes Paul II. sehr verehrt. Eine sechs Meter hohe Statue erinnert in Tasitolu an ihm und unter anderem ist eine Universitat, die Universidade Catolica Timorense Sao Joao Paulo II., nach Johannes Paul II. benannt. Bei der Volkszahlung 2022 betrug der Anteil der Katholiken 97,47 %. Damit hat Osttimor als Land den hochsten Bevolkerungsanteil an Katholiken (und Christen) nach der Vatikanstadt. Neben Osttimor haben in Asien nur die Philippinen eine katholische Bevolkerungsmehrheit. Vorbereitungen Insgesamt brachte die Regierung Osttimors 12 Millionen US-Dollar fur den Papstbesuch auf. Laut einer Kritikerin des Timor-Leste Institute for Development Monitoring and Analysis betrug das Jahresbudget im Staatshaushalt fur die Steigerung der Lebensmittelproduktion nur 4,7 Millionen US-Dollar. Osttimor leidet in der Trockenzeit immer wieder unter Nahrungsmittelknappheiten. Viele Kinder zeigen Anzeichen von Mangelernahrung. Der Mull auf den Straßen Dilis wurde beseitigt. Handyaufnahmen, die im Netz kursierten, zeigten, wie am 3. September Straßenhandler im Ortsteil Kampung Baru von Sicherheitsbeamten brutal aus dem Weg geraumt wurden. Die Beamten sollen auch einen Journalisten bedroht haben, der uber den Vorfall berichten wollte. Eine weitere wurde kurzzeitig verhaftet und auf die ortliche Polizeistation gebracht. Fur eine Million US-Dollar wurde in Tasitolu ein Altar auf einem Podest errichtet und eine Flache von 23 Hektar (etwa 40 Fußballfelder) fur die große Messe vorbereitet. Fur Kritik sorgte die Vertreibung von 90 Bewohnern von Tasitolu, deren Hauser von Bulldozern abgerissen wurden. Die Regierung erklarte, dass sie den elf Familien Entschadigungen zwischen 7000 und 10.000 US-Dollar gezahlt hatte und die Zwangsraumung nicht im Zusammenhang mit dem Papstbesuch stehe. Das Gebiet von Tasitolu war im Jahr 2000 zum Friedenspark und Schutzgebiet erklart worden, doch im Laufe der folgenden Jahre siedelten sich um die drei Seen zahlreiche Familien illegal an. Bereits im September 2023 wurde den Bewohnern des Viertels eine Raumung angekundigt. Nach dem Papstbesuch sollen weitere 1300 Familien wieder von dem Land vertrieben werden. Die drei Tage des Papstbesuchs erklarte die Regierung zu nationalen Feiertagen. Ablauf des Besuchs Franziskus landete Montag, den 9. September 2024, um 14:20 Uhr auf dem Flughafen Presidente Nicolau Lobato, an Bord eines Sonderfluges der papua-neuguineischen Air Niugini von Port Moresby nach Dili. Er wurde von Prasident Jose Ramos-Horta, Premierminister Xanana Gusmao und zwei Kindern in timoresischer Tracht begrußt, die ihm einen Tais uberreichten, das traditionelle Webtuch des Landes. Es folgte ein kurzes Gesprach in der VIP-Lounge. Der Papst bezog seine Unterkunft in der Nuntiatur. Am Nachmittag fand der offizielle Empfang durch Prasident Ramos-Horta im Prasidentenpalast statt. Hier lobte Franziskus auf seiner Muttersprache Spanisch in seiner ersten Rede die Bemuhungen Osttimors um Aussohnung mit Indonesien. Am Abend kehrte er in die Nuntiatur zuruck. Am nachsten Tag besuchte Franziskus die Schule fur behinderte Kinder Irmas Alma, wo er aus dem Stegreif eine Rede in Spanisch hielt. Hierbei erklarte er, dass behinderte Kinder zu Lehrmeistern der Liebe und Fursorge fur andere werden konnten. Es folgte ein Treffen mit den osttimoresischen Bischofen und weiteren Kirchenvertretern des Landes, um sich uber das Leben der Kirche vor Ort zu informieren. Eine Ordensfrau sagte: „Osttimor ist eine Oase der Priester- und Ordensberufe. Und es konnte Gott sei Dank auch Ordensmanner und -frauen aussenden, um anderen Regionen der Welt zu helfen. Wir sind ein gesegnetes Gebiet, in dem die Mehrheit der Bevolkerung Kinder, Jugendliche und junge Menschen sind. Daher ist die Zukunft der Kirche und der Nation hell und vielversprechend.“ Der pensionierte Katechist Florentino de Jesus Martins verwies aber auch auf die Schwierigkeiten im Land, so die fehlenden Transportmittel und widrige Wetterumstande. Der Priester Sancho Amaral erzahlte dem Papst, wie er in der Besatzungszeit den militarischen Kommandanten der Unabhangigkeitsbewegung im Auto durch indonesische Kontrollen schmuggelte. Der Versteckte war Xanana Gusmao, der jetzige Premierminister. Franziskus griff in seiner Rede vor den Kirchenleuten in der Kathedrale von Dili die Geschichte von Maria von Bethanien auf, die die Fuße Jesu mit einem kostbaren Ol salbte (Joh 12,1-11). Diesen „Duft des Evangeliums“ sollten die Priester und Katecheten nun bewahren. „Wir mussen immer wieder zuruckkehren zum Ursprung des empfangenen Geschenks unseres Christseins, unseres Priesterseins, unseres Lebens als Ordensleute und Katecheten […] Meine Lieben, ihr seid der Wohlgeruch Christi! Und dieses Symbol ist euch nicht fremd. Hier in Timor wachst Sandelholz im Uberfluss, mit seinem Duft, der auch bei anderen Volkern und Nationen sehr geschatzt und begehrt ist […] Ihr seid der Duft des Evangeliums in diesem Land.“ Auch Osttimor brauchte einen „neuen Schwung bei der Evangelisierung“. Franziskus nannte den „Duft der Versohnung und des Friedens nach den leidvollen Jahren des Krieges“, den „Duft des Mitgefuhls, der den Armen hilft, wieder auf die Beine zu kommen“, und den „Duft der Gerechtigkeit gegen die Korruption“. In der Nuntiatur traf Franziskus 41 Mitglieder des Jesuitenordens aus Osttimor, Vietnam, Malaysia und den Philippinen, dem auch der Papst angehort. Unter ihnen war auch der 103-jahrige Pater und Missionar Joao Felgueiras. Papst Franziskus ging gleich bei seiner Ankunft auf ihn zu und dankte dem Pater fur sein Wirken in Osttimor. Fast eine Stunde sprach der Papst mit den Jesuiten unter Ausschluss der Offentlichkeit. Nach Aussagen eines Jesuiten betonte der Papst die Notwendigkeit, dass das Evangelium inkulturiert, und die Kultur der jeweiligen Lander evangelisiert werden musse. Hohepunkt des Besuchs war eine Messe unter freiem Himmel in Dilis Stadtteil Tasitolu, wo auch Johannes Paul II. seine Messe gehalten hatte. Etwa 600.000 Menschen nahmen an der Veranstaltung teil, was etwa dem Doppelten der Einwohner der Landeshauptstadt und fast der Halfte der Landesbevolkerung entsprach. Bereits ab 5 Uhr morgens kamen die Glaubigen zum Veranstaltungsort, obwohl der Zugang erst spater geoffnet wurde. An die Zuschauer wurden weiß-gelbe Schirme verteilt, um sie vor der Sonne zu schutzen. Es herrschten Temperaturen von 30 °C. Weiße T-Shirts, die verteilt worden waren, trugen den Schriftzug „Moge dein Glaube deine Kultur sein.“ Ab 7 Uhr zogen die Pilger ein. Polizei, Soldaten und Freiwillige koordinierten den Einlass. 164.777 Pilger waren registriert und wurden den Landesgemeinden nach im Innenbereich des Gelandes aufgeteilt. Sie kamen aus allen Regionen Osttimors und auch dem benachbarten Teil Indonesiens, in dem es ebenfalls viele Katholiken gibt. Bereits um 10 Uhr waren rund 600.000 Menschen auf den Straßen. Um die Mittagszeit wurde von den Pilgern das Angelusgebet gesprochen. Um 15:30 Uhr leiteten Priester und Nonnen das Rosenkranzgebet, gefolgt vom Ave Maria. Bei der Ankunft des Papstes jubelten die Zuschauer. Timoresen uberreichten traditionelle Geschenke, wie einen Tais, wahrend ein Buffelhorn (Karau dikur) den Einzug zum Altar verkundete. Um 16:30 Uhr begann die Messe. Gehalten wurde sie in Portugiesisch mit Auszugen in Spanisch. Die Gebete wurden in sechs der Nationalsprachen Osttimors gehalten: Mambai, Makasae, Bunak, Galoli, Baikeno und Fataluku. Der Papst sprach von Armut und Reichtum und lobte die lebendige Jugend Osttimors, die ein Symbol der Hoffnung und der Erneuerung sei. Aber auch auf die Alten solle man schauen, denn sie seien das Gedachtnis des Landes. Am Ende der Messe deutete der Papst in einer Inkulturation die beiden timoresischen Schmuckstucke Kaibauk und Belak in einem christlichen Sinne. Die Kaibauk, die zwei Buffelhorner symbolisiert, bedeute Energie und Warme und konne „die lebensspendende Kraft Gottes darstellen“. Weil die Kaibauk als Krone am Kopf getragen wird, zeige es, „dass auch wir mit dem Licht des Wortes Gottes und mit der Kraft seiner Gnade durch unsere Entscheidungen und Handlungen am großen Heilsplan mitwirken konnen.“ Das Belak wird auf der Brust getragen und erganze das erste. Es erinnere laut Franziskus an den Mondschein, „der in der Nacht das Licht der Sonne bescheiden reflektiert“. Das Belak stehe fur Frieden, Fruchtbarkeit, Sanftheit und mithin fur „die Zartlichkeit der Mutter, die mit dem zarten Widerschein ihrer Liebe alles, was sie beruhrt, mit demselben Licht erstrahlen lasst, das sie von Gott empfangt.“ Mit diesen beiden Eigenschaften interpretierte der Papst, „Kraft und Zartlichkeit von Vater und Mutter“, zeige Gott „sein Konigtum, das aus Liebe und Barmherzigkeit besteht“. Franziskus beendete die Veranstaltung mit dem Rat, die Osttimoresen sollten sich nicht wie von „Krokodilen“ ihre Kultur und ihre Geschichte wegschnappen lassen, und wunschte ihnen Frieden. Das gute Krokodil aus dem Entstehungsmythos der Insel ist das Nationaltier Osttimors. Da Krokodile nicht gejagt werden, nahm ihre Zahl in den letzten Jahren zu und es kommt vermehrt zu Angriffen auf Menschen. Danach kehrte Franziskus fur die Nacht wieder in die Nuntiatur zuruck. Spater erklarte der Papst, dass er vor „Krokodilen“ an den Ufern der Insel habe warnen wollen, die von außen neue Ideen bringen und die Harmonie der Timoresen zerstoren wurden. Am 11. September traf Franziskus am Morgen im Centro de Convencoes de Dili (CCD) auf Jugendliche zum Gesprach. 1000 von ihnen waren im Saal, weitere 2000 hatten sich vor dem Zentrum versammelt. Der Papst rief die jungen Leute auf, „große Dinge“ zu traumen und „Krach zu schlagen“. Er warnte vor den Gefahren durch Alkohol, Drogen und einer Versklavung durch das Handy und forderte auf, keine Gewalt auszuuben; Probleme, die unter der osttimoresischen Jugend weit verbreitet sind. „Seid Geschwister und nicht Feinde,“ sagte der Papst. Auch zum Frieden zwischen den verschiedenen Religionen rief der Papst auf. Gegen Mittag bestieg Franziskus den Airbus der Aero Dili fur den Weiterflug nach Singapur. Die einzige Maschine der Gesellschaft erhielt fur den Flug den Namen Sao Miguel Arcanjo (Erzengel Michael). Um 12.25 Uhr Ortszeit hob die Maschine ab. Geschehen am Rande und Fazit Am 9. September entfalteten Aktivisten in der Rua dos Direitos Humanos (deutsch Straße der Menschenrechte) bei der Vorbeifahrt von Papst Franziskus eine Westpapua-Flagge. Es ertonten Rufe „Viva Il Papa“ (deutsch Es lebe der Papst) und „Viva Papua“ (deutsch Es lebe Papua). Das Zeigen der Flagge ist in Osttimor – im Gegensatz zum Nachbarland Indonesien – nicht verboten, doch kam es im Vorfeld des Papstbesuchs zu einem Vorfall zwischen Unterstutzern der Unabhangigkeitsbewegung Westpapuas und der Polizei. Die Region wurde 1963, wie spater auch Osttimor, von Indonesien besetzt und annektiert. Noch immer kommt es dort zu Kampfen und schweren Menschenrechtsverletzungen. In der Woche vor dem Besuch war der Menschenrechtler Nelson Roldao am Flughafen Dilis vorlaufig festgenommen, nachdem er Unabhangigkeitsaktivisten aus Westpapua am Flughafen verabschiedet hatte. Die Polizei beschlagnahmte seine Tasche mit einer Westpapua-Flagge, zwei Banner, Buchern und einen Laptop. Das Propagandamaterial wurde ihm bei seiner Freilassung nicht zuruckgegeben. Die Verhaftung stieß auf Unverstandnis, da in Osttimor viel Solidaritat fur Westpapua herrscht. Die Regierung Osttimors hatte aber Warnungen erhalten und die Westpapua-Bewegung im Vorfeld des Papstbesuchs als Sicherheitsbedrohung eingestuft. Franziskus hatte auf seiner Reise nur nebenbei das Thema bei seinem Besuch der Moschee in Jakarta erwahnt. Seine Aussage „Ihr seid ja das Land mit der womoglich großten Goldmine der Welt“ wurde von Beobachtern als versteckte Anspielung auf Westpapua gedeutet, wo sich diese Mine befindet. Eine Gruppe von Aktivisten aus Dili, die eine Unabhangigkeit Westtimors von Indonesien und eine spatere Vereinigung eines Groß-Timor fordern, zeigte eine Flagge, die eine „Republik Westtimor“ darstellen sollte. Die Flagge wurde kurzzeitig von Polizisten beschlagnahmt, dann aber den Aktivisten zuruckgegeben. Papst Franziskus lobte wahrend seines gesamten Besuchs die hohe Fruchtbarkeitsrate in Osttimor: „In Osttimor ist es schon, weil es dort viele Kinder gibt: Ihr seid ein junges Land, in dem man in jeder Ecke das Leben pulsieren und explodieren spurt. Und das ist ein Geschenk, ein großes Geschenk: Die Anwesenheit von so viel Jugend und so vielen Kindern erneuert namlich standig unsere Energie und unser Leben. Aber noch mehr ist es ein Zeichen, denn den Kindern, den Kleinen, Raum zu geben, sie aufzunehmen, sich um sie zu kummern und uns vor Gott und den anderen klein zu machen, sind genau die Haltungen, die uns fur das Handeln des Herrn offnen.“ Nicht angesprochen hat Franziskus die Falle des sexuellen Missbrauchs von Kindern, zu denen es auch in Osttimor kam. So wurden 2022 gegen den fruheren Bischof Dilis Carlos Filipe Ximenes Belo Vorwurfe offentlich. 2019 hatte der Vatikan bereits von den Anschuldigungen erfahren und 2020 disziplinarische Strafen gegen ihn verhangt. Unter anderem darf Belo das Kloster in Portugal, in dem er nun lebt, nicht verlassen. Strafrechtlich wurde er nicht belangt. 1996 hatte Belo, zusammen mit dem jetzigen Prasidenten Ramos-Horta, den Friedensnobelpreis bekommen und wird in Osttimor noch immer als Held der Unabhangigkeit verehrt. Osttimors Kardinal Virgilio do Carmo da Silva zog eine positive Bilanz des Papstbesuchs. Es sei ein historisches Ereignis und ein Fest fur die Katholiken gewesen. Franziskus habe den Glaubigen verdeutlicht, dass sie „Katholiken mit eigener Identitat“ seien, „egal wie klein das Land ist.“ Der Papst sei wiederum vom starken Glauben der Timoresen sehr bewegt gewesen. Nach der Nachricht vom Tode von Franziskus am 21. April 2025 versammelten sich zahlreiche Osttimoresen auf dem Gelande der großen Messe in Tasitolu und entzundeten Tausende von Kerzen. Am Tag der Beisetzung von Franziskus versammelten sich zur Gedenkmesse erneut 300.000 Menschen in Tasitolu. Literatur Wortlaut der Papstreden: Papstrede im Prasidentenpalast Spontanrede in der Schule fur behinderte Kinder Papstrede vor den Kirchenleuten Papstpredigt in Tasitolu Ansprache an die Jugendlichen beim Treffen in Dili Weblinks Bilder der Arbeiten auf dem Messegelande vor dem Papstbesuch Bilder von der Messe in Tasitolu Einzelnachweise
Der Papstbesuch in Osttimor 2024 vom 9. bis 11. September war Teil der 47. apostolischen Reise von Franziskus und der zweite Besuch eines Papstes in Osttimor. Zuvor besuchte Papst Franziskus das indonesische Jakarta und Papua-Neuguinea. Nach Osttimor folgte als vierte Station Singapur.
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c-963
Tosia Altman (hebraisch טוסיה אלטמן; geboren am 24. August 1919 in Lipno, gestorben am 26. Mai 1943 in Warschau) war eine polnische judische Widerstandskampferin wahrend der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg. Als fuhrendes Mitglied der zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair (Der Junge Wachter) und der Judischen Kampforganisation (ZOB) spielte sie eine bedeutende Rolle bei der Organisation des judischen Widerstands. Sie starb beim Aufstand im Warschauer Ghetto. Kindheit und Jugend Tosia Altman wurde am 24. August 1919 als Tochter von Anka und Gustaw Altman in Lipno, Polen, nahe der Stadt Włocławek geboren. Ihre Familie gehorte der liberalen judischen Mittelschicht an; ihr Vater war Uhrmacher und besaß ein Juweliergeschaft in Włocławek. Die Eltern ermoglichten Tosia den Besuch eines sakularen hebraischsprachigen Gymnasiums, wo sie unter anderem Polnisch erlernte. Mit elf Jahren trat Tosia der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair (Der Junge Wachter) bei. Diese internationale Organisation verband Elemente der Pfadfinder-Bewegung mit dem Ziel einer kollektiv-sozialistischen Zukunft in Palastina. Bemerkenswert war die Gleichberechtigung von Madchen innerhalb der Bewegung. Altman ubernahm schnell Fuhrungsaufgaben. Sie wurde zur Reprasentantin ihrer lokalen Gruppe gewahlt und arbeitete an der Herausgabe der Zeitung Hanawadim (Die Nomaden) mit. Mit 16 Jahren nahm sie als fuhrendes Mitglied 1935 an der Vierten Weltkonferenz von Hashomer Hatzair in Poprad in der heutigen Slowakei teil. 1938 schloss sich Altman einer Hachschara-Gruppe (Ausbildungskibbuz) in Czestochowa an, um sich auf die Auswanderung nach Palastina (Alija) vorzubereiten. Noch im selben Jahr wurde sie jedoch in die Zentrale Leitung von Hashomer Hatzair nach Warschau berufen und gab daraufhin ihre Auswanderungsplane auf. Deutscher Uberfall auf Polen und Zweiter Weltkrieg = Arbeit im Exil = Als die deutschen Truppen im September 1939 in Polen einfielen, floh Altman mit Adam Rand, einem Fuhrer von Hashomer Hatzair, zu Fuß nach Ostpolen in das damals polnische Rivne (heute Ukraine). Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Region stand die zionistische Jugendorganisation vor einem ideologischen Dilemma zwischen ihren sozialistisch-zionistischen Zielen und einer moglichen Sympathie fur den sowjetischen Kommunismus. Die Fuhrungsgruppe, der Altman angehorte, entschied sich, das vorlaufige Hauptquartier von Hashomer Hatzair ins Exil nach Vilnius zu verlegen. Die zu der Zeit litauische Stadt, als „Jerusalem des Ostens“ bekannt, war ein bedeutendes Zentrum judischer Kultur und Gelehrsamkeit. Die Tatigkeit von Hashomer Hatzair konzentrierte sich in dieser Phase noch darauf, jungen Menschen die Flucht nach Palastina zu ermoglichen, denn Vilnius war einer der wenigen verbliebenen Ausgangspunkte fur eine legale judische Einwanderung nach Palastina. = Kuriertatigkeit im Untergrund = Als die Bedingungen durch den Krieg schwieriger wurden, anderte die Organisation ihre Prioritaten. Die Fuhrungsgruppe von Hashomer Hatzair, darunter Tosia Altman, Mordechaj Anielewicz, Jitzhak Zuckerman, Zivia Lubetkin und Arie (Izrael Chaim) Wilner, beschloss angesichts der sich verschlechternden Lage in den Ghettos, auf ihre eigenen Ziele zu verzichten und die judische Bevolkerung zu unterstutzen. Sie entsandten einige fuhrende Mitglieder in das besetzte Generalgouvernement, um Untergrundstrukturen aufzubauen. = Organisation des Widerstands = Als erste wurde Tosia Altman gesandt, die als inspirierende Anfuhrerin und gute Organisatorin galt. Mit ihrem blonden Haar und akzentfreien Polnisch gab sie sich mit gefalschten Papieren als christliche Polin aus. Zwei ihrer Versuche, die sowjetische und die deutsche Grenze zu uberwinden, scheiterten, der dritte gelang. Im Dezember 1939 konnte Altman ihre Familie in Włocławek sehen, danach reiste sie weiter nach Warschau. Altman folgten weitere Mitglieder des Jungen Wachters. In Warschau grundete die Jugendgruppe illegale Schulen, Bibliotheken, Jugendgruppen und Ausbildungskibbuzime, falschte Dokumente und gab eine Untergrundzeitung heraus. Bei der Untergrundarbeit spielten Frauen eine entscheidende Rolle: Sie sollten die Fuhrung ubernehmen, wenn mannliche Fuhrer gefangen, geflohen oder gefallen waren. Besonders als Kurierinnen ubernahmen sie gefahrliche Aufgaben im Untergrund: Sie transportierten unter Lebensgefahr Informationen, Geld, Medikamente, gefalschte Passe und auch Menschen in und aus den Ghettos. = Altmans Rolle = Tosia Altman reiste trotz strikten Verbots (bei Entdeckung hatte ihr die sofortige Erschießung gedroht) durch die besetzten Gebiete. Sie reorganisierte soziale Aktivitaten in verschiedenen Stadten, baute lokale Widerstandsgruppen auf, half Juden bei der Flucht aus dem Warschauer Ghetto und unterstutzte die Bildung von Widerstandsgruppen. Vom „arischen“ Teil Warschaus aus half sie judischen Menschen, aus dem Ghetto zu entkommen und sich im polnischen Teil zu verstecken oder sich in den Waldern Partisanengruppen anzuschließen.Altmans Aufgabe war zudem die Kommunikation zwischen den verschiedenen Zentren des judischen Widerstands. Sie stand in Verbindung mit Fuhrungspersonen des Hashomer Hatzair in Wien (Adam Rand), in der Schweiz (Nathan Schwalb und Heini Bornstein) sowie in Palastina. Mittels verschlusselter Postkarten berichtete sie uber das Leiden der judischen Bevolkerung, informierte uber Deportationen, Massentotungen und Vernichtungslager und warnte vor der drohenden Ausloschung des Judentums. Altmans Besuche in den Ghettos hatten eine wichtige psychologische Wirkung. Ihr Optimismus und ihre Fahigkeit, Hoffnung zu vermitteln, halfen bei der Aufrechterhaltung der Moral in den judischen Ghettos. Ihre Kampfgefahrtin Chaika Grossman berichtete, Altmans Ankunft in den Ghettos habe auf die Eingeschlossenen immer wie ein frischer Wind gewirkt, der ihre Isolation durchbrach. Tosia habe sie ermahnt, nicht nur die negativen Aspekte des Lebens zu sehen: = Aufruf zum bewaffneten Kampf = Am 24. Dezember 1941 begaben sich Tosia Altman und Chaika Grossman ins Vilnauer Ghetto, wo sie mit Abba Kovner und anderen Fuhrungspersonen des Hashomer Hatzair zusammentrafen. Die Kurierinnen informierten uber die Erschießungen und Deportationen im Warschauer und anderen Ghettos. In Vilnius hatten SS-Einheiten und litauische Kollaborateure bereits die Halfte der judischen Bevolkerung ermordet, unter anderem bei dem Massaker von Ponary. Angesichts dieser Lage beschloss die Fuhrungsgruppe, die Informationen uber die Vernichtungsabsichten der Deutschen offen zu verbreiten und in den Ghettos zum bewaffneten Widerstand aufzurufen. Am Silvesterabend 1941 versammelten sich etwa 150 junge Judinnen und Juden unter dem Vorwand einer Neujahrsfeier in einer Kuche im Vilnauer Ghetto in der Straszunstraße 2. Diese Tarnung diente dazu, die Aufmerksamkeit der deutschen und litauischen Wachen abzulenken, die an diesem Abend ohnehin alkoholisiert waren. Bei diesem konspirativen Treffen verlasen Abba Kovner (auf Jiddisch) und Tosia Altman (auf Hebraisch) den spater als „Vilnauer Aufruf“ bekannt gewordenen Text. Der Aufruf markierte einen Wendepunkt in der Organisation des judischen Widerstands gegen die nationalsozialistische Vernichtungspolitik: Auf ihrer Ruckreise nach Warschau besuchte Tosia Altman mehrere ostpolnische Ghettos, darunter Hrodna, Białystok, Czestochowa, Bedzin, Krakau, Łodz und Lwow (Lemberg), wo sie zum Widerstand aufrief. Der Aufruf fand jedoch in der durch Demutigung, Hunger und Verzweiflung geschwachten Bevolkerung wenig Anklang. Die von der SS kontrollierten Judenrate mahnten zur Zuruckhaltung, und die Furcht vor blutigen Vergeltungsmaßnahmen der Besatzer war groß. Lediglich in den Jugendbewegungen entwickelte sich aus der Verzweiflung ein Widerstandsgeist. Im Marz 1942 gelang es den Jugendorganisationen Hashomer Hatzair und Habonim Dror (Freiheit), gemeinsam mit der zionistischen Bewegung Poale Zion und der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) eine uberparteiliche Widerstandseinheit zu bilden: die Antifaschistische Front. Ihr Ziel war die Organisation junger Menschen in Partisanengruppen und die ideelle Anbindung an den internationalen antifaschistischen Widerstand. Doch die Hoffnung der Front auf externe Unterstutzung, insbesondere durch die polnische kommunistische Partei und die Sowjetunion, erfullte sich nicht. Die Widerstandskampfer standen vor einem unlosbaren Dilemma: Sollten sie im Ghetto bleiben und einen aussichtslosen Kampf gegen die ubermachtigen deutschen Besatzer fuhren? Oder sollten sie versuchen, in die Walder zu den Partisanen zu fliehen, was aufgrund der korperlichen Anforderungen nur fur wenige eine Moglichkeit war? Zudem erschwerte die Enttarnung des kommunistischen Untergrunds durch die SS die weitere Zusammenarbeit. Das Bundnis loste sich bald darauf auf. Im Juni 1942 waren bereits 100.000 judische Menschen im Warschauer Ghetto an Terror, Hunger, Krankheiten und Seuchen umgekommen. In einem ihrer letzten Briefe an Adam Rand in Wien schrieb Altman im April 1942: „Die Juden sterben vor meinen Augen, und ich bin machtlos zu helfen. Hast Du jemals versucht, eine Mauer mit Deinem Kopf zu zerschlagen?“ = Grundung der Judischen Kampforganisation (ZOB) = Angesichts der systematischen Vernichtung der judischen Bevolkerung im Warschauer Ghetto und der drohenden Deportation in Vernichtungslager grundete sich im Oktober 1942, vor allem auf Initiative judischer Jugendorganisationen, die Judische Kampforganisation (ZOB). Ziel der ZOB war es, bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer zu leisten, um die Deportationen zu verhindern und die judische Bevolkerung zu schutzen. Eine Gruppe von Fuhrungsmitgliedern des Hashomer Hatzair, darunter Tosia Altman, Arie Wilner, Frumka Płotnicka und Lea Perlstein, sollte Waffen und Munition organisieren. Altmans Aufgabe als Verbindungsperson der Warschauer ZOB war die Organisation von Kontakten zur Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa) und zur kommunistischen Untergrundorganisation Armia Ludowa, von denen die ZOB sich Waffen und Unterstutzung erhoffte. Tatsachlich gelang es ihr, einige Waffen und etwas Sprengstoff zu besorgen und ins Ghetto zu schmuggeln. Im Krakauer Ghetto grundete Altman eine weitere Abteilung der ZOB. Im Oktober erkannte die Polnische Heimatarmee die ZOB an und begann im Dezember mit der Lieferung einiger Waffen. Als die nachste Deportationswelle im Warschauer Ghetto bevorstand, organisierte die ZOB Widerstandszellen unter den zur Deportation zusammengetriebenen Juden, um ihre Deportation zu verhindern. Um die ZOB zu unterstutzen, ging Tosia Altman am 18. Januar 1943 mit einer weiteren Partisanin ins Ghetto und beteiligte sich mit der Gruppe um Mordechai Anielewicz an einem Uberraschungsangriff auf die Deutschen. Die meisten Kampfer und Kampferinnen wurden bei der Widerstandsaktion getotet, nur Anielewicz gelang die Flucht. Tosia Altman wurde verwundet, verhaftet und zum Sammelplatz der Deportation nach Treblinka gebracht, dort jedoch von einem judischen Ghettopolizisten befreit, den man zuvor bestochen hatte. Die Aktion trug jedoch dazu bei, dass die Polnische Heimatarmee anfing, die ZOB ernsthafter zu unterstutzen. Waffenlieferungen großeren Stils blieben weiterhin aus. Stattdessen verfertigten die Menschen im Ghetto nun Behelfswaffen wie mit Saure gefullte Gluhbirnen und Molotow-Cocktails, absolvierten Kampftrainings mit Holzgewehren und bauten Bunker, um sich bei der Liquidierung des Ghettos zur Wehr setzen zu konnen. Tosia Altman und Arie Wilner gelang es, einige Waffen auf dem Schwarzmarkt im „arischen“ Teil zu kaufen. Beim Transport der Waffen ins Ghetto wurde Wilner von der SS entdeckt, doch selbst unter der Folter verriet er nichts. Er uberlebte und es gelang ihm zu fliehen. Altman, die furchten musste, dass die Deutschen sie nun ebenfalls aufspuren, kehrte ins Ghetto zuruck. Statt ihrer wurde Jitzhak Zuckerman Verbindungsmann zum polnischen Widerstand. = Aufstand im Warschauer Ghetto = Am 18. April 1943 umstellten die deutschen Truppen das Ghetto, um seine endgultige Liquidierung vorzubereiten. Nach drei Tagen fingen sie an, die Hauser anzuzunden und niederzubrennen. Altman verließ sofort ihre Wohnung im sicheren „arischen“ Teil der Stadt und schloss sich dem Kommandobunker des umzingelten Ghettos in der Miła-Straße 18 (heute: Anielewicz-Bunker) an, wo ein Teil der Fuhrung sich verschanzt hatte. Von dort aus fungierte sie als Kurierin zwischen dem Kommando- und anderen Bunkern, in denen Verwundete untergebracht waren. Auch rettete sie einige Menschen aus den Branden. Am 8. Mai entdeckten die deutschen Truppen den Kommandobunker und setzten Giftgas ein, um die Widerstandskampfenden aus dem Gebaude zu treiben. Berichten zufolge soll in dieser aussichtslosen Lage der Kommandeur die ungefahr 120 dort versteckten Widerstandskampfer zum Suizid aufgerufen haben, um den Deutschen nicht lebend in die Hande zu fallen. Nur 21 Personen, darunter Tosia Altman, gelang eine Flucht durch die Kanalisation. Die Partisanin Zivia Lubetkin und der Kampfer Marek Edelman kamen den Uberlebenden zu Hilfe und schleusten Tosia Altman und andere auf die „arische“ Seite, wo sie in einer stillgelegten Zelluloidfabrik vorlaufig unterkamen. Am 24. Mai brach in der Fabrik ein Feuer aus. Tosia Altman erlitt schwere Verbrennungen und fluchtete ins Freie, wo die polnische Polizei sie ergriff und der Gestapo ubergab. Zwei Tage spater starb sie in der Haft, ob an Brandverletzungen oder an der Folter, ist ungeklart. Nach einem zeitgenossischen Tagebuch-Eintrag erhielt sie im deutschen Krankenhaus keinerlei medizinische Versorgung und verstarb unter großen Schmerzen. Gedenken Fur ihre Verdienste im Untergrundkampf wahrend der deutschen Besatzung wurde Tosia Altman am 1. April 1948 von der Volksrepublik Polen postum mit dem Silbernen Kreuz des Militarverdienstordens Virtuti Militari ausgezeichnet. Der Fernsehfilm Uprising (2001), in dem Tosia Altman von Leelee Sobieski dargestellt wird, thematisierte Tosia Altmans Beteiligung am Ghettoaufstand. Die Historikerin Judy Batalion kritisierte die Darstellung als „klischeehaft verzerrt“: Der Film prasentiere Altman als schuchternes junges Madchen, wahrend sie tatsachlich schon in jungen Jahren eine Fuhrungsrolle bei Hashomer Hatzair innehatte. Literatur Judy Batalion: Sag nie, es gabe nur den Tod fur uns: Die vergessene Geschichte judischer Freiheitskampferinnen. Piper Verlag 2021, ISBN 978-3-492-05956-5. Chaika Grossmann: The Underground Army: Fighters of the Bialystok Ghetto. Holocaust Library 1988; ebook-Ausgabe von Lume Books 2021, ISBN 978-0-89604-053-3 (Deutsch: Die Untergrundarmee. Der judische Widerstand in Bialystok. Ein autobiographischer Bericht. Fischer 1993, ISBN 978-359 611 59 83). Ziva Shalev: Tosia Altman: From the Leadership of Ha-Shomer ha-Za’ir to the Command of the ZOB (Hebrew). Tel Aviv 1992, S. 15–17 und 268–274. Ingrid Strobl: Die Angst kam erst danach. Judische Frauen im Widerstand 1939–1945. Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-13677-6. Weblinks Raum der Namen, Horbiografie uber Tosia Altman im Holocaust-Denkmal Berlin Einzelnachweise
Tosia Altman (hebraisch טוסיה אלטמן; geboren am 24. August 1919 in Lipno, gestorben am 26. Mai 1943 in Warschau) war eine polnische judische Widerstandskampferin wahrend der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg. Als fuhrendes Mitglied der zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair (Der Junge Wachter) und der Judischen Kampforganisation (ZOB) spielte sie eine bedeutende Rolle bei der Organisation des judischen Widerstands. Sie starb beim Aufstand im Warschauer Ghetto.
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c-964
Das Kloster der Unbeschuhten Karmeliten in Koln, der Konvent St. Maria, St. Joseph und St. Theresia im Dau (Nahe Severinstraße in Koln), entstand 1614 und war das erste Kloster des Ordens der Unbeschuhten Karmeliten (Ordo Carmelitarum Discalceatorum, OCD) im heutigen Deutschland. Es wurde 1802 infolge der Sakularisation aufgelost. Die letzten Gebaude wurden 1945 abgerissen. Geschichte Die beschuhten Karmeliten (OCarm) hatten bereits seit der Mitte des 13. Jahrhunderts ein Kloster in Koln am Waidmarkt. Aus einer Reformbewegung dieses Ordens, die von Teresa von Avila und Johannes vom Kreuz im Jahr 1568 in Duruelo in Spanien initiiert worden war, entstand seit 1593 eine selbststandige Ordensgemeinschaft papstlichen Rechts, die Unbeschuhten Karmeliten (OCD) als mannlicher Zweig des Teresianischen Karmels. Auf Vermittlung von Kaiser Ferdinand II. kamen 1613 die ersten Bruder der Unbeschuhten Karmeliten im Auftrag von Papst Paul V. und mit dem Einverstandnis von Erzbischof Ferdinand von Bayern von Bologna nach Koln. Sie wurden angefuhrt von dem Spanier Tomas a Jesu (1564–1627), Generaldefinitor des Ordens, wohnten zunachst im Haus „Krantzgen“ in der Sandkaul und nutzten die Thomaskapelle am Domhof. Der Rat der Stadt Koln wollte der Klostergrundung nicht zustimmen, da er keine weitere Ordensniederlassung in Koln wunschte. Die Bedenken konnten vom papstlichen Nuntius Antonio Albergati sowie von Erzherzog Albrecht VII. von Habsburg und General Ambrosio Spinola zerstreut werden, jedoch sollte der Konvent nicht mehr als 12 Mitglieder umfassen. 1615 erwarben die Karmeliten von den Geschwistern Hasselt einen Teil von deren 1579 erbautem Hof „zum Dau“ an der Severinstraße im Kolner Suden. Im Beisein von Nuntius Albergati und Erzbischof Ferdinand legten sie 1620 den Grundstein fur Kirche und Kloster. Durch Blitzeinschlag brannten die Gebaude 1622 ab und mussten neu aufgebaut werden. Dadurch konnte die Kirche erst 1628 geweiht werden. 1626 wurde Koln zum Sitz einer Provinz des Ordens und des Noviziats. Die Karmeliten betreuten eine Marienbruderschaft der Skapulierbruder bei ihrem Kloster und versahen die Seelsorge und Klosteraufsicht fur die Unbeschuhten Karmelitinnen des Klosters „Maria vom Frieden“ in der Schnurgasse/Vor den Siebenburgen. Durch Schenkungen und Kauf hatte der Konvent Landereien und zum Teil auch landwirtschaftliche Gebaude in mehreren Ortschaften, vornehmlich zwischen Koln und Bonn, die sie verpachteten. Weitere Einkunfte stammten aus Messstiftungen. 1795 umfasste der Konvent 20 Priester und sechs Laienbruder. Das Kloster wurde infolge der Sakularisation 1802 aufgehoben. Grundstuck und Gebaude erhielt die franzosische Militarverwaltung, die sie als Wohnungen fur franzosische Veteranen nutzte. Als Koln 1815 preußisch wurde, wurde das Kloster Sitz des preußischen Proviantamtes. Ab 1816 wurde die Kirche zum Getreidespeicher umgebaut, das Gewolbe wurde entfernt, und vier Schuttboden wurden eingebaut. Nachdem der Militarfiskus das Gelande an die Stadt Koln verkauft hatte, wurde 1910 das Kloster zugunsten eines Exerzierplatzes abgerissen mit Ausnahme des Kapitelsaals, der als Trausaal diente. Auf dem Freigelande wurde eine Verbindungsstraße „Im Dau“ zwischen Severinstraße und Ulrichgasse neu angelegt. 1911 wurden Kirche und Kapitelsaal restauriert. In die Kirche wurde eine Zwischendecke eingezogen, ihr Obergeschoss wurde zusammen mit dem Kapitelsaal zum Hygienemuseum, das Untergeschoss wurde als Turnhalle fur eine Volksschule genutzt. 1945 wurden alle Gebaude abgerissen. Kirche und Kloster = Klosterkirche = Die 1628 geweihte Klosterkirche wurde von einem Baumeister namens Jodokus erbaut, der vermutlich mit dem suddeutschen Baumeister Christoph Wamser, dem Erbauer der Kirche St. Maria Himmelfahrt, nach Koln gekommen war. Das Gebaude war nach Suden ausgerichtet. Mit der Nordfassade grenzte es an einen kleinen Vorhof, von dem ein etwa 40 Meter langer Verbindungsgang zur Severinstraße fuhrte. Die kreuzformige Anlage hatte zwei kurze Querarme und einen einjochigen Chor von geringer Tiefe. Das Langhaus war ein einschiffiger Saal mit vier rechteckigen Jochen, einer zweistockigen Wandgliederung und Kreuzrippengewolbe; es hatte eine Breite von etwa 8,7 Metern und einer Lange von 43 Metern. Ostlich besaß es eine Empore, westlich zwei Seitenkapellen, die dem heiligen Petrus und der Gottesmutter Maria gewidmet waren. Die Kirche besaß ein Satteldach und uber der Vierung einen Dachreiter. Unter dem erhohten Monchschor befand sich eine Gruft zur Beisetzung von Gonnern des Konvents. Die Nordfassade hatte eine reichhaltige Struktur. Uber einem hochgestellten Rechteck befand sich als Abschluss ein Dreiecksgiebel aus Niedermendiger Lavagestein, der mit Obelisken geschmuckt war. Das Eingangsportal darunter war von toskanischen Basalt-Saulen gerahmt und gekront von einer mit Ornamenten geschmuckten Mariennische. Der Hochaltar nahm die gesamte Stirnwand des Chores ein. Das Retabelbild (Ol auf Leinwand) zeigte die Einkleidung der heiligen Teresa mit dem Ordenskleid durch Jesus Christus, Maria, Josef und Petrus. Es wurde geschaffen von Jakob Schmitz nach einer Komposition von Gerard Seghers und ersetzte nach 1777 ein Vorgangerbild. Weitere Darstellungen an den Seitenaltaren und der Kanzel zeigten Motive aus Legenden um die heilige Teresa, so ihre Transverberation und ihren Tod. Einige von ihnen sind verschollen, andere befinden sich im Wallraf-Richartz-Museum und im Karmelitinnenkloster St. Maria vom Frieden. = Konventsgebaude = Das zweigeschossige Klostergebaude schloss mit der Sakristei westlich an die Kirche an und war von der Severinstraße aus zuganglich. Uber der Sakristei befand sich ein Nonnenchor. Die Fassade war in der Formensprache der Spatrenaissance gestaltet. Der Komplex war um zwei Innenhofe gruppiert. Der quadratische Kapitelsaal besaß eine Hangekuppel. Literatur Wolfgang Rosen: Koln – Karmeliter (im Dau). In: Manfred Groten, Georg Molich, Gisela Muschiol, Joachim Oepen (Hrsg.): Nordrheinisches Klosterbuch. Lexikon der Stifte und Kloster bis 1815. Teil 3: Koln (= Studien zur Kolner Kirchengeschichte. 37. Band, 3. Teil). Verlag Franz Schmitt, Siegburg 2022, ISBN 978-3-87710-462-0, S. 354–360. U. Scholten: St. Joseph und Theresia. Kirche der Unbeschuhten Karmeliter „im Dau“ (nach 1945 abgebrochen). In: Colonia Romanica. Jahrbuch des Fordervereins Romanische Kirchen Koln e. V., Bd. 18/19, 2003/2004, S. 228–236. Einzelnachweise
Das Kloster der Unbeschuhten Karmeliten in Koln, der Konvent St. Maria, St. Joseph und St. Theresia im Dau (Nahe Severinstraße in Koln), entstand 1614 und war das erste Kloster des Ordens der Unbeschuhten Karmeliten (Ordo Carmelitarum Discalceatorum, OCD) im heutigen Deutschland. Es wurde 1802 infolge der Sakularisation aufgelost. Die letzten Gebaude wurden 1945 abgerissen.
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c-965
Der Bahnhof Doai (jap. 土合駅 Doai-eki) ist ein Bahnhof auf der japanischen Insel Honshu. Er wird von der Bahngesellschaft JR East betrieben und befindet sich in der Prafektur Gunma auf dem Gebiet der Gemeinde Minakami. Doai liegt an der Joetsu-Linie inmitten des Mikuni-Gebirges und besteht aus einem oberirdischen Teil aus dem Jahr 1931 sowie einem 1967 eroffneten Tunnelbahnhof. Letzterer befindet sich im 13,5 km langen Shin-Shimizu-Tunnel und ist nur uber 486 Treppenstufen erreichbar. Er liegt uber 70 Meter unter dem Boden und damit tiefer als jeder andere Bahnhof Japans. Verbindungen Doai ist ein Zwischenbahnhof an der Joetsu-Linie der Bahngesellschaft JR East, die Takasaki in der Prafektur Gunma mit Nagaoka in der Prafektur Niigata verbindet. Aufgrund der geringen Bevolkerungsdichte entlang des Gebirgsbahnabschnitts beschrankt sich das Angebot (Stand: 2024) auf sechs Zugpaare taglich zwischen Minakami und Nagaoka. Hinzu kommt an Wochenenden ein Ausflugszug von Omiya nach Echigo-Yuzawa und zuruck. Anlage Der Bahnhof steht fernab jeglicher Besiedlung am Sudfuß des 1977 m hohen Bergs Tanigawa-dake im Mikuni-Gebirge – genauer im Bergtal des Yubiso, eines Zuflusses des Tone, auf dem Gebiet der Gemeinde Minakami. Die Talstation der Tanigawadake-Seilbahn ist knapp einen Kilometer entfernt. Die Anlage ist von Sudosten nach Nordwesten ausgerichtet und besteht aus zwei Teilen mit jeweils einem Gleis. An der Oberflache, unweit des Sudportals des Shimizu-Tunnels, halten die sudwarts fahrenden Zuge an einem 653,7 m T.P. hoch gelegenen Seitenbahnsteig. Uber 70 Hohenmeter darunter, auf 583 m T.P., halten die nordwarts fahrenden Zuge im 13,5 km langen, ebenfalls eingleisigen Shin-Shimizu-Tunnel. Da die im Tunnelbahnhof weilenden Fahrgaste mitunter mit Maulwurfen verglichen werden, wird die Anlage scherzhaft als „Japans Maulwurfsbahnhof Nr. 1“ (jap. 日本一のモクラ駅 Nihon ichi no mogura-eki) bezeichnet. Das Empfangsgebaude hat eine charakteristische dreieckige Eingangsfront, deren Form einer Schutzhutte nachempfunden ist. Es ist mit Quarzdiorit verkleidet, der beim Tunnelbau ausgehoben wurde. Die ungewohnlich großzugig dimensionierte Eingangshalle enthalt einen Warteraum sowie das Cafe Mogura („Maulwurfscafe“) mit Lounge im ehemaligen Stationsburo, das mit den originalen Beschriftungen und Fahrscheinschaltern einen nostalgischen Eindruck hinterlasst. Neben dem Empfangsgebaude steht das Doai Village, eine Glamping-Anlage. Herausragendes Merkmal des Bahnhofs ist die große Entfernung zwischen beiden Betriebsteilen. Um zum Tunnelbahnhof zu gelangen, ist ein rund funfminutiger Fußmarsch erforderlich. Vom Zwischenkorridor hinter der Eingangshalle aus betritt man zunachst einen 143 Meter langen bruckenartigen Verbindungsgang, der aufgrund seiner Bauweise aus Betonblocken eher wie ein Tunnel wirkt. Dieser Teil fuhrt uber den Fluss Yubiso hinweg in den Berg hinein und enthalt die ersten 24 Treppenstufen. Nach einem holzernen Windbrecher folgt ein 338 Meter langer Treppengang mit 462 weiteren Treppenstufen. Beidseits der Treppe fließt warmes Wasser hinunter, das im Gestein versickert. Nach insgesamt 486 Treppenstufen ist der Bahnsteig im Tunnel erreicht, auf dem ein containerartiger Warteraum steht. Artikel uber den Bahnhof bezeichnen ihn als duster und vergleichen ihn gern mit Szenen aus Horrorfilmen oder mit Dungeons in Computerspielen. Da im Tunnel das ganze Jahr uber eine konstante Temperatur von 15 °C herrscht, nutzt eine lokale Mikrobrauerei einen Betriebsraum zur Lagerung von Craftbier. Gleise Bilder Linien Geschichte Das Eisenbahnministerium eroffnete den oberirdischen Teil des Bahnhofs am 1. September 1931, zusammen mit dem von Minakami nach Echigo-Yuzawa fuhrenden Teilstuck der Joetsu-Linie. Zunachst war er ein reiner Betriebsbahnhof fur Zugkreuzungen. Ab dem 17. Dezember 1932 hielten vereinzelte Zuge wahrend der Wintersportsaison und seit dem 19. Dezember 1936 ist Doai ein regularer Bahnhof. Von 1940 bis 1961 wurden hier auch Guter umgeschlagen. Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit fuhrte zu einem markanten Anstieg des Verkehrsaufkommens zwischen Tokio und Niigata, weshalb die Japanische Staatsbahn die Joetsu-Linie ab 1961 etappenweise zweigleisig ausbaute. Auf dem Gebirgsbahnabschnitt zwischen Minakami und Echigo-Nakazato verlauft die Trasse unter anderem durch zwei Kehrtunnel. In diesem Bereich entschloss sich die Staatsbahn dazu, das zweite Gleis durch zwei neue, tiefer gelegene Tunnel zu fuhren, um die steilsten Abschnitte zu umgehen. Nach vierjahriger Bauzeit ging das Herzstuck des Ausbaus, der 13.490 m lange Shin-Shimizu-Tunnel, am 28. September 1967 in Betrieb. Um die Bedienung Doais in beiden Richtungen zu gewahrleisten, erhielt der Bahnhof tief unten im Tunnel einen zweiten Bahnsteig; seither halten sudwarts fahrende Zuge weiterhin oberirdisch, nordwarts fahrende hingegen im Tunnel. Die Umbau- und Erweiterungsarbeiten am oberirdischen Teil des Bahnhofs waren im Oktober 1968 abgeschlossen. Seit seiner Eroffnung ist der Bahnhof uberwiegend bei Bergwanderern beliebt, da sie von hier aus den Tanigawa-dake erreichen konnen. Die Eroffnung der Joetsu-Shinkansen und der Kan’etsu-Autobahn fuhrte jedoch zu einem deutlichen Ruckgang der Benutzerzahlen, weshalb der Bahnhof seit dem 14. Marz 1985 nicht mehr mit Personal besetzt ist. Im Rahmen der Staatsbahnprivatisierung ging er am 1. April 1987 in den Besitz der neuen Gesellschaft JR East uber. Uber die Jahre entwickelte sich der Bahnhof zu einer Touristenattraktion und begann zahlreiche Besucher anzulocken, die ihn nicht als Fahrgaste nutzen, sondern ihn wegen seines bisweilen gruseligen Flairs und seiner Darstellung in verschiedenen Medien (beispielsweise in der Manga-Serie Yama no Susume) besichtigen. Es gab eine Reihe von Vorfallen, bei denen Bergwanderer unerlaubterweise im Warteraum ubernachteten und dabei Gaskocher und andere Gerate fur die Zubereitung von Mahlzeiten benutzten. Der Raum wurde im April 2016 vorubergehend geschlossen; seither fuhren Bahnmitarbeiter und Polizisten regelmaßig Kontrollgange durch. JR East und ihre Tochtergesellschaft JR East Startup suchten nach Moglichkeiten zur besseren Nutzung des touristischen Potenzials. Im Februar und Marz 2020 war probeweise die Glamping-Einrichtung Doai Village in Betrieb. Im August desselben Jahres folgte die Eroffnung des Cafe Mogura im ehemaligen Stationsburo und seit November 2020 ist das Doai Village dauerhaft geoffnet. Weblinks Bahnhofsinformationen von JR East (japanisch) Einzelnachweise
Der Bahnhof Doai (jap. 土合駅 Doai-eki) ist ein Bahnhof auf der japanischen Insel Honshu. Er wird von der Bahngesellschaft JR East betrieben und befindet sich in der Prafektur Gunma auf dem Gebiet der Gemeinde Minakami. Doai liegt an der Joetsu-Linie inmitten des Mikuni-Gebirges und besteht aus einem oberirdischen Teil aus dem Jahr 1931 sowie einem 1967 eroffneten Tunnelbahnhof. Letzterer befindet sich im 13,5 km langen Shin-Shimizu-Tunnel und ist nur uber 486 Treppenstufen erreichbar. Er liegt uber 70 Meter unter dem Boden und damit tiefer als jeder andere Bahnhof Japans.
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c-966
Die Tramway de Biskra a la Fontaine Chaude (deutsch Pferdebahn von Biskra zur Thermalquelle) war zwischen 1896 und 1955 bei der Oasenstadt Biskra in Algerien in Betrieb. Geschichte Die Decauville-Bahn bediente den Badeort Hammam Salahine an der Thermalquelle. Sie wurde mit einer Spurweite von 600 mm gebaut und die Wagen wurden von Zugtieren gezogen. Die Decauville-Pferdebahn mit offenen und geschlossenen Wagen verband das Bad direkt mit dem Kasino von Biskra. Die Straßenbahn verkehrte mehrmals am Tag und erleichterte den Transport von Badegasten und Touristen. Ab Mai 1897 wurde das bereits zuvor in der Stadt bestehende Straßenbahnnetz auf 12 Kilometer verlangert und bediente die Stadt Biskra, den Cercle des Etrangers, den Bahnhof, den Park, die Thermen und die vorstadtischen Dorfer der einheimischen Volksgruppen. Die Thermalquelle ist leicht alkalisch und gehort zu den chloridhaltigen, natriumhaltigen und schwefelhaltigen Wassern. Um 1896 betrug die Schuttung 25 Liter pro Sekunde, die Temperatur am Austrittspunkt war 46,2 °C. Die Araber, von denen viele an Hautkrankheiten litten, vertrauten dem Wasser dieser Quelle, was durch seine Wirkung und jahrhundertelange Erfahrung gerechtfertigt war. Die Compagnie de Biskra et de l’Oued-Rirh (C.B.O.R.), die 1878 als Fau, Foureau & Cie gegrundet worden war und um 1893 das Casino gebaut hat, hat 1897 auch die Badeanstalt erneuert, oder besser gesagt, neu geschaffen. Es wurden Plane fur ein neues Thermalbad erstellt, das in seinen wichtigsten Teilen vollstandig neu gebaut wurde. Das alte Freibad blieb erhalten, war aber den einheimischen Badegasten vorbehalten, die neben den Betriebsgebauden auch die Ruheraume, ein Cafe usw. nutzen konnten. Auf der den einheimischen Badern gegenuberliegenden Seite befanden sich die neuen Schwimmbecken, das Cafe und der Hydrotherapieraum, die Empfangsraume, Betriebsgebaude und Aufenthaltsraume. Nebenan befand sich das Restaurant. Die damalige Gestaltung des Bades war sehr modern. Der ursprungliche Plan sah den Bau eines an das Restaurant angeschlossenen Hotels vor, in dem die Badegaste ubernachten konnten, wenn sie abends nicht mit der Tramway nach Biskra fahren wollten. Historische Fotos Weblinks Einzelnachweise
Die Tramway de Biskra a la Fontaine Chaude (deutsch Pferdebahn von Biskra zur Thermalquelle) war zwischen 1896 und 1955 bei der Oasenstadt Biskra in Algerien in Betrieb.
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Bibi Khanum Astarabadi (persisch بی بی خانم استرابادی; geboren 1858/59 in Mazandaran; gestorben 1921; Lebensdaten nach dem iranischen Kalender 1274 bis 1339) war eine iranische Schriftstellerin und Satirikerin und eine der Pionierinnen der Frauenbewegung im Iran. Sie grundete die erste nicht-missionarische Schule fur Madchen in Teheran. Ihre 1894/95 verfasste Schrift Die Sunden der Manner ist die fruheste bislang bekannte schriftliche Hinterlassenschaft einer iranischen Frau. Leben Die Eltern von Bibi Khanum Astarabadi waren Muhammad Baqir Han Astarabadi, Vorsteher der Reiterschaft von Astarabad (heute Gorgan), der wie sein Vater zuvor im Dienst der Kadscharen stand, und Khadijeh Khanum (?–um 1890), Tochter eines Religionslehrers. Khadijeh Khanum war insgesamt dreißig Jahre am kadscharischen Hof unter Naser ad-Din Schah als traditionelle Lehrerin (mollabagi) tatig. Mit Erlaubnis des Schahs heiratete sie nach den ersten Jahren am Hof Muhammad Baqir und zog mit ihm in die Provinz Mazandaran, wo sie drei Kinder bekam. Die Ehe war nicht glucklich, unter anderem weil Muhammad Baqir funf weitere Frauen hatte. Mit Hilfe ihres Bruders, eines Religionsgelehrten, gelang es Khadijeh Khanum unter einem Vorwand, mit ihren Kindern nach Teheran zu fliehen, wo sie wieder ihre Tatigkeit als Lehrerin aufnahm. Ihr Mann starb zwei Jahre spater. Bibi Khanum wuchs im andarun von Sukuh as-Saltanah, einer der Frauen von Naser ad-Din Schahs, auf. Dort profitierte sie von den Vorzugen des hofischen Lebens, das unter anderem Privatunterricht fur die adeligen Tochter umfasste. Auch nachdem sie den andarun verlassen hatte, war sie spater regelmaßig zu Gast. Mit 22 Jahren heiratete Bibi Khanum Musa Han Waziri (1862/63–1922) (Geburtsname Vazirow), der aus dem Kaukasus eingewandert war und zu diesem Zeitpunkt Mitglied der persischen Kosakenbrigade war. Spater wurde er Brigadegeneral (mir-panj). Es war eine Liebesheirat. Da es in der Familie Widerstand gegen die Verbindung gegeben hatte, hatte das Paar vier Jahre auf die Eheschließung warten mussen. Das Paar lebte nach der Hochzeit in einem vornehmen Stadtviertel Teherans und bekam in den ersten neun Jahren der Ehe sechs Kinder (zwei Tochter und vier Sohne). Bibi Khanum kosteten die Geburten viel Kraft, ihr Leben beschrankte sich auf die Sorge um die Kinder und den Haushalt. Nach vierzehn Jahren Ehe kam es zu einem heftigen Einschnitt. Wahrend Bibi Khanum ein paar Tage im andarun des Kadscharenhofs zu Gast war, schloss ihr Mann eine sogenannte Zeitehe mit einer ihrer Bediensteten. Bei ihrer Ruckkehr kam es zu einem Streit zwischen dem Ehepaar, in dessen Verlauf ihr Mann Bibi Khanum aufforderte, das Haus zu verlassen. Sie kam bei einer Tante unter. Dort suchte sie Musa Han Waziri mehrfach auf und bot ihr die Scheidung an. Erst nach einiger Zeit erfuhr Bibi Khanum von der Zeitehe, die ihr Mann eingegangen war. Sie lehnte die Scheidung ab und schließlich versohnte sich das Paar so weit, dass Bibi Khanum in ihr altes Haus zuruckzog, in dem jedoch nun die temporare Zweitfrau ihres Mannes die Herrin war. Auf Wunsch der Zweitfrau, die sich von der Fuhrung des Haushalts uberfordert fuhlte, wurde die Zeitehe vorzeitig aufgelost. Bibi Khanum und ihr Mann wurden wieder vertrauter und Bibi Khanum bekam ein siebtes Kind. Einige Jahre spater ging Musa Han Waziri eine weitere Zeitehe ein, aus der eine Tochter hervorging. In den folgenden Jahren blieb die Verbindung zum Kadscharenhof fester Bestandteil im Leben Bibi Khanums und ihrer Familie. Ihr Haus war ein Treffpunkt fur Intellektuelle und Gelehrte. Sie war eine Befurworterin der konstitutionellen Revolution. Sie wollte ihren Tochtern eine gute Bildung ermoglichen. Nachdem die amerikanische Schule Iran Bethel ab 1895 auch muslimische Madchen aufnahm, schickte Bibi Khanum ihre alteren Tochter dorthin. Als ihre Tochter Afdal Waziri (1889–1981) sechs Jahre alt war, verkleidete sie sie als Jungen und schickte sie gemeinsam mit ihren Brudern auf die Jungenschule. Der Betrug flog nach wenigen Tagen auf. Afdal Waziri wurde daraufhin daheim von ihrer Schwester und ihren Onkeln unterrichtet. Im Zuge der konstitutionellen Revolution wurde Musa Han Waziri 1906 nach Schiraz versetzt. Zwei seiner Sohne zogen mit ihm dorthin, wahrend Bibi Khanum mit den restlichen Kindern in Teheran in dem großen Haus mit 12 Zimmern zuruckblieb. Sie beantragte eine Erlaubnis des Bildungsministeriums und eroffnete noch im gleichen Jahr in ihrem Haus die erste nicht-missionarische Schule fur Madchen in Teheran, der sie den Namen Dabistan-i dusizagan (Grundschule (jungfraulicher) Madchen) gab. Bibi Khanum und ihre beiden Tochter ubernahmen den Unterricht. Es gab jedoch bald heftige Proteste gegen die Schule von Gegnern der konstitutionellen Revolution, vor allem von religioser Seite. In Absprache mit dem Bildungsministerium beschrankte sich Bibi Khanum deswegen darauf, vier- bis sechsjahrige Madchen zu unterrichten. Als ihr Ehemann nach einem Jahr zuruckkehrte, verlangte er die Schließung der Schule. Daraufhin verlegte Bibi Khanum sie in ein angemietetes Haus in einem Nachbarviertel. Den neuen Ort gab sie in der Zeitung Maglis offentlich bekannt. Funf Lehrerinnen unterrichteten dort die Geschichte Irans, Kalligraphie, Religion, Geographie, Kochkunst und Rechnen. Doch am neuen Ort gab es wiederum Kritik. Madchenbildung stehe im Widerspruch zu den religiosen Gesetzen. Wegen der offentlichen Erregung musste Bibi Khanum die Schule nach nur einem Monat Betrieb schließen. Zur Verteidigung der Schule und der Notwendigkeit von Frauenbildung und Madchenschulen veroffentlichte sie mehrere Zeitungsartikel. Im April 1908 konnte die Schule schließlich wieder eroffnet werden. Sie stand unter strenger Aufsicht und Kontrolle des Bildungsministeriums. Die Schule ebnete den Weg zur Zulassung von Frauen zum Studium an der Universitat Teheran dreißig Jahre spater. Nach Bibi Khanums Tod im Jahr 1921 wurde die Schule noch 22 Jahre aufrechterhalten. Dann wurde sie geschlossen und das Gebaude verkauft. Die Sunden der Manner In den fruhen 1880er Jahren veroffentlichte ein Unbekannter – vermutlich ein kadscharischer Prinz – das Pamphlet Ta’dib an-niswan (Die Schule der Frauen). Dieses wurde in hofischen Frauenkreisen lebhaft diskutiert. Bibi Khanum beschaftigte es so sehr, dass sie 1894/95 eine Antwort verfasste: Ma’ayib ar-rigal (Die Sunden der Manner). Das in einer unverhohlenen und derben Sprache verfasste satirische Pamphlet Die Schule der Frauen war an Manner gerichtet. Es gab ihnen Ratschlage fur den Umgang mit Ehefrauen und bei der Erziehung der Tochter. Detailliert wird beschrieben, wie eine Frau ihre Launen im Zaum halten, dem Mann das Leben so angenehm wie moglich gestalten und ihn sexuell befriedigen solle. Die perfekte Frau zeichne sich aus durch Gehorsam, vollige Unterwerfung, keine Widerworte, Bescheidenheit sowie die Bereitschaft, die Launen ihres Mannes anstandslos zu ertragen und ihm ein angenehmes Leben zu bereiten. Das Frauenbild war dem Verhalten der Frauen, das der Autor um sich herum beobachtete, entgegengesetzt. Diese wirkten aufmupfig, nachlassig und geschwatzig. Die ungehemmten Gesprache uber Manner, die Frauen zum Beispiel im offentlichen Bad miteinander fuhrten, storten ihn offenbar. Der Text enthielt auch Tipps, wie ein Mann, wenn er unter seiner Frau litt, sie zuchtigen solle. Die Schule der Frauen war kein ungewohnlicher Text. In der damaligen Zeit erschienen weitere Abhandlungen satirischer Art mit ahnlicher Thematik. Das Werk wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder aufgelegt, die letzte bekannte Version stammt aus dem Jahr 1938. Bibi Khanums Erwiderung Die Sunden der Manner richtete sich nach Auffassung der Islam- und Religionswissenschaftlerin Jasmin Khosravies ausschließlich an eine weibliche Zuhorerschaft, was sich an deren verwendeten „internen Sprache“ zeigt. Die Erziehungswissenschaftlerin Fathiyeh Naghibzadeh widerspricht dieser Interpretation: So ubernahm die Autorin einfach den scharfen Tonfall der Schrift, auf die sie erwiderte. Bibi Khanums Text besteht aus drei Teilen. Im ersten fugte Bibi Khanum Absurditat und innewohnende Komik aller „Ratschlage“ vor. Die „Sunden der Manner“ behandelte sie im zweiten Teil. Der dritte Abschnitt enthalt ihre Autobiografie, was sehr ungewohnlich war. Bibi Khanum schilderte darin offen und emotional die Geschichte ihrer zeitweiligen Verstoßung und der Zeitehe ihres Mannes, wobei sie die Verantwortung vor allem der Zweitfrau zuschob. Bibi Khanum argumentierte, dass die Ratschlage aus Schule der Frauen voraussetzten, dass Ehemanner „glaubig und tugendhaft“ waren. Doch die „Sunden der Manner“ waren, wie im zweiten Teil ihrer Schrift dargelegt, schwerwiegend und zahlreich. Deshalb entbehrten die Forderungen an die Frauen jeglicher Grundlage. Wie Jasmin Khosravie darlegte, stellte die Autorin also das „traditionelle Geschlechterverhaltnis innerhalb eines patriarchalischen Rahmens“ an sich nicht in Frage, sondern knupfte die Gultigkeit der Konzepte an Bedingungen. Fur Bibi Khanum liegen die in Schule der Frauen dargestellten „Probleme“ im erniedrigenden Umgang der Manner mit ihren Frauen. Zudem warf sie dem unbekannten Autor Realitatsferne vor. Seine Vorstellungen von „sauberer Kleidung, reiner Bettwasche und einer stets wohlduftenden Partnerin“ sei mit den armlichen und schlechten Lebensumstanden vieler Familien nicht vereinbar und zeige die vollige Ignoranz der sozialen Bedingungen. „Die Europaerin“ sah Bibi Khanum stets im Sinne eines erstrebenswerten Vorbilds fur die iranische Frau. Diese sei eine „aktive, gebildete und respektierte Dame“, die im Umgang mit dem anderen Geschlecht Freiheiten genieße und deren Lebensmittelpunkt nicht unbedingt auf das Heim beschrankt sei, was sie alles im Kontrast zur traditionellen Situation der Iranerin darstellte. Mit rhetorischem Geschick argumentierte Bibi Khanum, dass die Forderungen des unbekannten Autors von Schule der Frauen nur erfullbar waren, wenn sich Mann und Frau von alten Mustern losten und iranische Frauen sich den Europaerinnen und ihrer Lebensweise annaherten. Im zweiten Teil ihrer Schrift prangerte Bibi Khanum vier Sunden der Manner an: Trinkerei, Glucksspiel, Drogenkonsum und das uble Verhalten von sich herumtreibenden Straßenbanden und Zunften junger Manner. Sie kritisierte zudem in allen Kapiteln sexuelle Beziehungen mit jungen Mannern (amrad-bazi) als Schandfleck (ehe-)mannlichen Verhaltens, teils garniert mit homophoben Anekdoten. Etliche kadscharische Quellen berichten von homoerotischen Beziehungen von alteren Mannern mit Knaben (Paderastie). In Iran wurde dies sonst erst ab Anfang des 20. Jahrhunderts kritisch diskutiert. Bibi Khanums Vorstellung von Mannlichkeit beschrankte sich auf heterosexuelle Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau. Bibi Khanum kritisierte zudem die standig prasente Gefahr fur Frauen, von ihrem Mann verstoßen zu werden. Dies konnte durch die fur Manner leicht zu erreichende Scheidung geschehen oder emotional, indem der Mann eine zweite Frau in den Haushalt der Familie einfuhrte. Gegen das unmoralische und selbstsuchtige Verhalten ihrer Ehemanner hatten Frauen keinen rechtlichen Schutz. Bibi Khanums Schrift verwendete die unter iranischen Frauen ubliche „interne Sprache“, die sexualisiert und freizugig war, solange nur Frauen anwesend waren. Im zweiten Teil wurde ihre Sprache sogar teils offen vulgar, dem jeweiligen Thema und ihrer Abscheu davor entsprechend. Die Autorin verwendete eine Varianz rhetorischer und narrativer Methoden. Dazu gehoren klassische Poesie, pornographisch gefarbte Kurzgeschichten, Koranverse bzw. Hadithe und satirische Reime. Das zeigt ihre Bildung und Belesenheit, aber auch, dass sie bei ihren Leserinnen von einer vergleichbaren literarischen und rhetorischen Bildung ausgehen konnte. Nachkommen Bibi Khanums altester Sohn war Ali-Naghi Waziri, ein Musikwissenschaftler, Komponist, gefeierter Tar-Spieler und Grunder der Musikakademie Irans sowie des iranischen Nationalorchesters. Ihr Sohn Hasan Waziri war ein bekannter Maler und ihre Tochter Khadijeh Afzal Waziri eine bekannte Journalistin. Wirkungsgeschichte Das Manuskript von Die Sunden der Manner wurde in der Madschles-Bibliothek aufbewahrt. Der Sozialhistoriker Fereydun Adamiyat und die Historikerin und Professorin fur Geschichte Homa Nategh gaben 1977 eine wichtige Sammlung von Dokumenten der Sozialgeschichte aus der Kadscharen-Periode heraus, die unveroffentlichte Manuskripte zum sozialen, politischen und okonomischen Denken umfasste. Darin wurde zum ersten Mal Bibi Khanum Astarabadi als Pionierin der iranischen Frauenbewegung und ihre Schrift Die Sunden der Manner in einer historiographischen Abhandlung erwahnt. Die Schrift ist die fruheste bislang bekannte schriftliche Hinterlassenschaft einer iranischen Frau und eines der wenigen schriftlichen Zeugnisse iranischer Frauen aus dem 19. Jahrhundert. 1992 wurde die Schrift zuerst auf Persisch und 2010 auf Englisch veroffentlicht. 1972/73 nahm Bibi Khanums Tochter Khadijeh Afdal Waziri fur ihren Sohn ihre Erinnerungen an ihre Mutter und an ihre Großmutter Khadijeh Khanum auf. Khadijeh Afdal Waziris Tochter Nargis Mihrangiz Mallah gab diese 1996 heraus. Neben dem dritten Teil von Die Sunden der Manner sind diese Erinnerungen die wichtigsten Quellen fur Bibi Khanums Lebensgeschichte. Die iranische Frauenbewegung reicht bis ins 19. Jahrhundert. Bibi Khanum ist eine von drei Frauen, die namentlich als Teil der Bewegung bekannt sind und von denen schriftliche Zeugnisse uberliefert sind. Literatur Hasan Javadi, Willem Floor (Hrsg.): The Education of Women and The Vices of Men: Two Qajar Tracts. Syracuse University Press, Syracuse 2010, ISBN 978-0-8156-3240-5. Jasmin Khosravie: Die Sunden der Manner – Konzepte von Weiblichkeit im Spiegel der Lebenswelt von Bibi Khanum Astarabadi (st. 1921). In: Stephan Conermann, Syrinx von Hees (Hrsg.): Islamwissenschaft als Kulturwissenschaft (= Bonner Islamstudien. Band 4). EB-Verlag, Hamburg 2007, ISBN 978-3-936912-12-8, S. 235–262. Fathiyeh Naghibzadeh: Eine Bibi Khanum (1858/59-1921). Eine Frauenrechtlerin am Vorabend der konstitutionellen Revolution im Iran. In: Ariadne. Forum fur Frauen- und Geschlechtergeschichte. Nr. 80, Juli 2024, ISSN 0178-1073, S. 6–15. Bonnie G. Smith (Hrsg.): The Oxford encyclopedia of women in world history. Oxford University Press, Oxford 2008, ISBN 978-0-19-514890-9, S. 229 (google.de). Weblinks "The School for Girls" (مدرسه دوشيزگان) bei der Deutschen Welle. Eine Sendung zum 100-jahrigen Jubilaum der konstitutionellen Revolution in Iran mit einem Interview mit Mah-Lagha Mallah, Enkelin von Bibi Khatum, 11. August 2006. "Bibi Khanom Astarabadi (Gorgani)", eine kurze Biografie von Bibi Khanum (in Persisch). Siehe auch Frauenrechte in Iran Einzelnachweise
Bibi Khanum Astarabadi (persisch بی بی خانم استرابادی; geboren 1858/59 in Mazandaran; gestorben 1921; Lebensdaten nach dem iranischen Kalender 1274 bis 1339) war eine iranische Schriftstellerin und Satirikerin und eine der Pionierinnen der Frauenbewegung im Iran. Sie grundete die erste nicht-missionarische Schule fur Madchen in Teheran. Ihre 1894/95 verfasste Schrift Die Sunden der Manner ist die fruheste bislang bekannte schriftliche Hinterlassenschaft einer iranischen Frau.
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You Never Can Tell (deutsch sinngemaß: ‚Man kann nie wissen‘; alternativ auch als C’est la vie und Teenage Wedding bekannt) ist ein Rock-’n’-Roll-Song, den der US-amerikanische Sanger und Komponist Chuck Berry geschrieben hat. Wie oft bei Berrys Liedern geht es auch bei You Never Can Tell inhaltlich um Facetten des Lebens von Teenagern. Das Lied wurde von mehr als 100 Kunstlern und Gruppen interpretiert, darunter auch von Berry selbst. Seine Version war 1964 ein Charts-Erfolg; gut zehn Jahre spater hatte Emmylou Harris mit einer im Country-Rock-Stil arrangierten Aufnahme erneut einen Hit. Eine Renaissance erlebte You Never Can Tell in Chuck Berrys Originalversion durch den 1994er Spielfilm Pulp Fiction, in dem es die Hintergrundmusik einer außergewohnlichen Tanzszene mit Uma Thurman und John Travolta ist. Entstehungsgeschichte Chuck Berry gilt als einer der Pioniere des Rock ’n’ Roll. Mit Liedern wie Maybellene, Roll Over Beethoven und Johnny B. Goode, die zu den großten Erfolgen der 1950er-Jahre gehoren, pragte er diese Musikrichtung mehr als jeder andere Musiker. Seine Karriere kam zu Beginn der 1960er-Jahre zum Stillstand, als Berry wegen eines Verstoßes gegen den Mann Act zu einer dreijahrigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Berry saß die Strafe ab Februar 1962 in einem Bundesgefangnis ab und wurde nach 20 Monaten im Oktober 1963 wegen guter Fuhrung vorzeitig entlassen. Berry gelang es, nach der Entlassung unmittelbar an seine fruheren Erfolge anzuknupfen. Vom allgemeinen Niedergang des Rock’n’Roll, der zu Beginn des neuen Jahrzehnts schrittweise von der Beatmusik verdrangt wurde, war er kaum betroffen: Zahlreiche Beatbands coverten Berrys Lieder und hielten damit seine Musik selbst in der Hochphase der Beatlemania prasent. Außerdem hatte Berry in der Haft neues Material geschrieben, das er bei Chess, seinem bisherigen Label, bereits ab Dezember 1963 neu einspielen konnte. Hierzu gehorte You Never Can Tell, das im Januar 1964 aufgenommen und wenig spater als Single und danach auch auf einem Album veroffentlicht wurde. Beschreibung You Never Can Tell beschreibt die Beziehung und den Lebensstil eines Teenager-Paares aus den Sudstaaten, das in New Orleans unter finanziell beengten Verhaltnissen heiratet, von zu Hause auszieht und nach und nach zu bescheidenem Wohlstand kommt. Im Gegensatz zu vielen anderen Beziehungsgeschichten steht die Eheschließung nicht am Ende, sondern am Beginn der Erzahlung. = Struktur = Das Lied besteht aus funf Strophen, wobei die funfte Strophe eine wortliche Wiederholung der ersten ist. Jede Strophe hat vier Verse, deren letzter in allen Strophen wortidentisch ist. Funktional tritt der wiederkehrende vierte Vers an die Stelle eines Refrains. Die Strophen sind paarweise gereimt. = Inhalt = Die ersten drei Verse einer jeden Strophe befassen sich mit den Entwicklungen der Eheleute. Nach der Eheschließung in New Orleans (erste Strophe) beziehen die beiden ein bescheidenes Zwei-Zimmer-Appartement, das sie mit Discounter-Mobeln aus dem Ausverkauf von Roebuck einrichten. Der junge Mann findet Arbeit und sorgt fur ausreichendes Einkommen. Das Paar schafft sich einen Kuhlschrank an, der mit Fertiggerichten (TV Dinners) und Ginger Ale gefullt ist (zweite Strophe). Die dritte Strophe beschreibt das Paar als Musikfans: Die beiden haben inzwischen eine HiFi-Anlage, die sie gerne laut aufdrehen, und 700 Schallplatten, alle aus den Genres „Rock, Rhythm und Jazz“; nur abends wird die Musik langsamer. In der vierten Strophe schließlich fahren sie mit einem eigenen Auto, einem kirschroten, aufgepeppten Transporter von 1953, zuruck nach New Orleans, um dort den Jahrestag ihrer Hochzeit zu feiern. Der vierte Vers jeder Strophe stellt der Entwicklung des jungen Paares „die alten Leute“ (the old folks) gegenuber, die das Ganze von Beginn an beobachten und jeden Schritt wortgleich kommentieren: So ist das Leben; es zeigt sich: Man kann nie wissen… Trotz gleichbleibender Wortwahl kann man darin angesichts der Erfolge der jungen Leute einen Wandel von anfanglicher Skepsis „der alten Leute“ hin zu einer Form von Anerkennung sehen. = Sprache und Stilmittel = Wie in vielen seiner Lieder baut Berry auch bei You Never Can Tell Idiome aus lokalem Slang und der zeitgenossischen Jugendsprache ein. Ein Beispiel sind die Begriffe souped-up jitney, mit denen er das erste Auto des jungen Paares beschreibt: Ein jitney ist im weiteren Sinne ein billiges Beforderungsmittel, und souped-up steht fur „hergerichtet“ und lasst sich sinngemaß mit „frisiert“ ubersetzen. Zum Lokalkolorit der Sudstaaten tragen einige Namen und Begriffe aus der franzosischen Sprache bei, die auch heute noch in Louisiana und den anliegenden Staaten verbreitet ist. Der mannliche Protagonist tragt den franzosischen Vornamen Pierre; seine Partnerin, deren Name nicht genannt wird, ist zunachst die Mademoiselle und nach der Hochzeit die Madame. Das im Refrain verwendete Cest la vie ist ein gangiges Idiom fur „So ist das Leben“. Berry verwendet an mehreren Stellen konkrete Namen von Marken und Konsumgutern (z. B. Ginger Ale und Roebuck). Damit gibt er einen Einblick in die amerikanische Alltagskultur und offnet ein Fenster zur wirklichen Welt. = Musik = Das Lied wird im Vier-Viertel-Takt gespielt; die Tonart ist G-Dur. Das Tempo von Chuck Berrys 1964er-Version liegt bei 157 Beats per minute. Hinsichtlich Besetzung und Arrangements unterscheiden sich die einzelnen Versionen erheblich voneinander. Chuck Berrys Aufnahme = Aufnahme = Chuck Berry spielte seine Version von You Never Can Tell in der vom 7. bis zum 9. Januar 1964 dauernden Session im Ter-Mar Recording Studio von Chess Records in Chicago ein. Zur Besetzung gehorten: Chuck Berry: Gitarre, Gesang (erste und zweite Stimme) Johnnie Johnson: Piano George Patterson: Tenorsaxophon Rubin Cooper: Tenorsaxophon Louis Satterfield: E-Bass Odie Payne: Schlagzeug. Produzenten waren die Bruder Leonard und Phil Chess, die Inhaber von Chess Records. Eine Besonderheit im Arrangement dieser Aufnahme war der breite Einsatz von Blasern, der fur Berrys Stucke untypisch ist. Markant ist außerdem Johnnie Johnsons blechern klingendes Piano-Zwischenspiel nach der vierten Strophe, das von Mitchell Toroks 1953er Hit Caribbean inspiriert ist. = Veroffentlichungen = Chess veroffentlichte Chuck Berrys Version von You Never Can Tell im Fruhjahr 1964 in den USA als Single unter der Nummer Chess 1906. Auf der B-Seite der Single erschien Brenda Lee, eine Hommage an die zu dieser Zeit 19 Jahre alte gleichnamige Sangerin aus Atlanta. In Großbritannien kam die Single bei Pye Records auf den Markt. Ende 1964 brachte Chess dann Chuck Berrys Album St. Louis to Liverpool heraus, das viele Aufnahmen seiner in der Haftzeit geschriebenen Lieder enthalt. Dazu gehort auch You Never Can Tell, das als letztes Lied der A-Seite erschienen ist. St. Louis to Liverpool, mit dem Berry auf die britische Metropole der Beatmusik Bezug nahm, gilt als eines der besten Rock-’n’-Roll-Alben der Musikgeschichte. = Erfolge = Chuck Berrys Single You Never Can Tell war 1964 auf zahlreichen Markten erfolgreich. Die hochsten Charts-Positionen erreichte das Lied in Kanada, in den USA und in Großbritannien: Kanada: Hochste Position Platz 13, USA: Hochste Position Platz 14 in den Billboard Hot 100, Großbritannien: Hochste Position Platz 26 in den Official Charts. Emmilou Harris’ Version (You Never Can Tell) C’est la vie Die Country-Sangerin Emmilou Harris war in den fruhen 1970er-Jahren vor allem als Teil der Band von Gram Parsons aktiv. Nach dessen Tod 1973 intensivierte sie ihre Bemuhungen um eine Solokarriere. 1975 brachte sie unter eigenem Namen zwei erfolgreiche Alben im Country-Rock-Stil heraus, die von Harris’ spaterem Ehemann Brian Ahern produziert wurden und sich stilistisch an den letzten Werken von Parsons orientierten. Fur ihr nachstes Soloalbum Luxury Liner, das im Januar 1977 in den USA auf den Markt kam, spielte Harris Ende 1976 eine neue Version von Chuck Berrys You Never Can Tell ein, der sie den (leicht veranderten) Titel (You Never Can Tell) C’est la vie gab. = Aufnahme = (You Never Can Tell) C’est la vie wurde wie alle anderen Lieder aus dem Album Luxury Liner in Brian Aherns mobilem Studio „Enactron Truck“ aufgenommen, das zu dieser Zeit in Los Angeles stand. Das Arrangement entfernte sich von Chuck Berrys Original. Harris und Ahern produzierten eine Honkytonk-taugliche Version. Das Piano-Zwischenspiel von Johnnie Johnson wurde durch ein Violinensolo von Ricky Skaggs ersetzt. Zur Besetzung gehorten: Emmilou Harris: Gesang Brian Ahern: Akustikgitarre Rodney Crowell: E-Gitarre Hank DeVito: Pedalsteel Emory Gordy: Bass Glen Hardin: Piano Albert Lee: Gitarre Ricky Skaggs: Violine John Ware: Schlagzeug = Veroffentlichungen = Harris veroffentlichte (You Never Can Tell) C’est la vie zunachst auf Luxury Liner, das im Januar 1977 in den USA bei Warner Records auf den Markt kam. Im Februar 1977 wurde C’est la vie auch als Single herausgebracht, wobei die B-Seiten auf regionalen Markten variierten. = Erfolge = Emmilou Harris’ Version von 1977 war in den USA erfolgreicher als das Original von Chuck Berry. USA: Hochste Position Platz 6 der Billboard Hot Country Songs Deutschland: Hochste Position Platz 44. Weitere Coverversionen Bis 2024 entstanden etwa 100 Coverversionen von You Never Can Tell. Neben Emmilou Harris nahmen unter anderem John Prine, Donny und Marie Osmond, Billie Jo Spears, Aaron Neville, Texas Lightning, Jerry Garcia, Roch Voisine und Status Quo das Lied auf. Bruce Springsteen und seine Band improvisierten You Never Can Tell im Rahmen der Wrecking Ball World Tour im Sommer 2013 live in Leipzig. Eine Studioaufnahme Springsteens dazu gibt es nicht. You Never Can Tell in Pulp Fiction 1994 brachte Quentin Tarantino den Gangsterfilm Pulp Fiction heraus, der in einigen Rankings zu den besten Spielfilmen aller Zeiten gezahlt wird. Der Film erzahlt lose verwobene Episoden uber den Gangsterboss Marsellus Wallace, seine Frau Mia Wallace (Uma Thurman) und den Auftragsmorder Vincent Vega (John Travolta). In der Episode Vincent Vega und Marsellus Wallaces Frau kummert sich Vega wahrend Marsellus Wallaces Abwesenheit in dessen Auftrag um Mia. Beide gehen zum Essen in ein Theme Diner, das im Stil der 1950er-Jahre eingerichtet ist und in dem Doubles bekannter Schauspieler jener Zeit als Kellner arbeiten. Zum Programm gehort ein Twist-Wettbewerb, an dem Mia Wallace und Vince Vega teilnehmen. Die beiden tanzen zu Chuck Berrys Version von You Never Can Tell. Travolta und Thurman zeigen hier neben klassischen Twist-Bewegungen auch modische Abwandlungen wie The Monkey, The Swim und The Batman; letzteres ist eine – spater als The Batusi bekannt gewordene – Bewegung, bei der die Augen vorubergehend mit zwei Fingern einer Hand abgedeckt werden. Tarantino griff mit dieser Szene, die nicht speziell fur John Travolta geschrieben war, sondern bereits vor dessen Verpflichtung im Drehbuch stand, ein Stilmittel des – von ihm anfanglich bewunderten – franzosischen Regisseurs Jean-Luc Godard auf, der in einige seiner Filme scheinbar zusammenhanglos Musikstucke in die Erzahlstrange einbaute. Tarantino meinte, durch die Verwendung des Namens Pierre und des Begriffs Mademoiselle erwecke das Stuck den Eindruck einer typischen 50er-Jahre-Tanznummer aus Frankreich. Travoltas und Thurmans Tanz zu Chuck Berrys You Never Can Tell gilt als ikonisch; andere halten die Tanzszene fur „eine Szene fur die Ewigkeit.“ Literatur Bruce Pegg: Brown Eyed Handsome Man: The Life and Hard Times of Chuck Berry. Psychology Press, 2002, ISBN 978-0-415-93751-1. R. J. Smith: Chuck Berry: An American Life. Omnibus Press, 2022, ISBN 978-1-913172-95-4, Weblinks You Never Can Tell bei Discogs You Never Can Tell bei Secondhandsongs (englisch) Musikbelege Chuck Berry: You Never Can Tell auf YouTube Emmylou Harris: You Never Can Tell/C'est La Vie (TopPop vom 20. Juni 1977) auf YouTube Anmerkungen Einzelnachweise
You Never Can Tell (deutsch sinngemaß: ‚Man kann nie wissen‘; alternativ auch als C’est la vie und Teenage Wedding bekannt) ist ein Rock-’n’-Roll-Song, den der US-amerikanische Sanger und Komponist Chuck Berry geschrieben hat. Wie oft bei Berrys Liedern geht es auch bei You Never Can Tell inhaltlich um Facetten des Lebens von Teenagern. Das Lied wurde von mehr als 100 Kunstlern und Gruppen interpretiert, darunter auch von Berry selbst. Seine Version war 1964 ein Charts-Erfolg; gut zehn Jahre spater hatte Emmylou Harris mit einer im Country-Rock-Stil arrangierten Aufnahme erneut einen Hit. Eine Renaissance erlebte You Never Can Tell in Chuck Berrys Originalversion durch den 1994er Spielfilm Pulp Fiction, in dem es die Hintergrundmusik einer außergewohnlichen Tanzszene mit Uma Thurman und John Travolta ist.
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Ko Panyi (thailandisch เกาะปันหยี [kɔʔ pan.jiː]; akzeptierte alternative Transliteration: Koh Panyee) ist ein Fischerdorf in der Provinz Phang-nga, Thailand, das großtenteils auf Stelzen im Meer errichtet wurde. Geographie Die Siedlung Ko Panyi befindet sich in der Phang-nga-Bucht in der Provinz Phang-nga, Thailand. Die Besonderheit dieses Fischerdorfes liegt darin, dass es fast ganzlich auf Stelzen uber dem Wasser errichtet wurde. Geographisch befindet sich Ko Panyi vor einer kleinen Felseninsel gleichen Namens, die dem Dorf als naturlicher Schutz vor Sturm und Seegang dient. Die Lage in der Phang-nga-Bucht bietet ideale Bedingungen fur die Fischerei, die traditionell die Haupterwerbsquelle der Bewohner ist. Das Dorf erstreckt sich uber eine betrachtliche Flache des flachen Kustengewassers, wobei die einzigen Landstrukturen die Moschee und ein Sußwasserbrunnen sind, die auf der angrenzenden Insel errichtet wurden. Geschichte Die Grundung von Ko Panyi wird auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert, als eine Gruppe nomadischer javanischer Fischer auf der Suche nach einem neuen Siedlungsgebiet war. Der Legende nach wurden sie dabei von einem Omen geleitet – einem Fisch, der dreimal aus dem Wasser sprang. Die ersten Siedler gelobten, eine Moschee zu bauen, wenn sich der Ort als ertragreich erweisen wurde. Zu dieser Zeit beschrankte das thailandische Recht den Landbesitz ausschließlich auf Personen thailandischer Herkunft. Daher errichteten die javanischen Fischer die Siedlung großtenteils auf Stelzen im Schutz der Insel, was ihnen einen einfachen Zugang zum Meer ermoglichte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich Ko Panyi zu einer bluhenden Gemeinschaft. Mit dem Anstieg des Wohlstands durch die wachsende Tourismusindustrie in Thailand wurde der Landkauf auf der Insel selbst moglich. Die ersten bedeutenden Bauwerke an Land waren eine Moschee und ein Sußwasserbrunnen. Eine Besonderheit von Ko Panyi ist der schwimmende Fußballplatz. Inspiriert von der FIFA-Weltmeisterschaft 1986 bauten Kinder den Platz aus alten Holzresten und Fischerfloßen. Sie grundeten ein Fußballteam und nahmen an den Southern Thai School Championships teil. Trotz ungewohnlicher Umstande erreichten sie den dritten Platz, was das ganze Dorf inspirierte, den Sport aufzunehmen. Heute ist der Panyee FC einer der erfolgreichsten Jugendfußballvereine in Sudthailand. In der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts wurde es fur die Gemeinschaft schwierig, allein von der Fischereiindustrie zu leben. Der Postbote schlug vor, Touristen ins Dorf einzuladen, um die Einwohner zu unterstutzen. Heute ist Ko Panyi eine der Hauptattraktionen auf Touren durch die Phang-nga-Bucht von Phuket aus und dient oft als Mittagsstopp. Die Entwicklung des Tourismus hat das Leben in Ko Panyi verandert, aber die Fischerei bleibt weiterhin eine wichtige Grundlage der lokalen Wirtschaft, insbesondere außerhalb der Hochsaison. Die Bewohner haben sich an die neuen Moglichkeiten angepasst, indem sie Meeresfruchterestaurants eroffnet und Souvenirladen eingerichtet haben. Trotz der zunehmenden Modernisierung und des Tourismus hat Ko Panyi seine kulturelle Identitat bislang bewahrt. Als muslimische Gemeinde gibt es bestimmte Verhaltensregeln fur Besucher, wie das Verbot von Alkohol und die Anforderung angemessener Kleidung. Demografie Demografisch setzt sich die Bevolkerung von Ko Panyi aus etwa 360 Familien bzw. insgesamt rund 1600 Einwohnern zusammen. Die Bewohner sind uberwiegend Nachkommen von zwei seefahrenden muslimischen Familien, die ursprunglich von der indonesischen Insel Java stammten. Diese Siedler ließen sich Ende des 18. Jahrhunderts in der Region nieder. Daher ist die Bevolkerung von Ko Panyi mehrheitlich muslimischen Glaubens, was sich in der zentralen Rolle der Moschee im Gemeindeleben widerspiegelt. Die religiose Pragung beeinflusst auch die sozialen Normen und Verhaltensweisen in der Gemeinschaft. Das Bildungssystem in Ko Panyi umfasst eine muslimische Schule, die von Jungen und Madchen gleichermaßen besucht wird. Fur weiterfuhrende Bildung verlassen viele junge Menschen das Dorf, um Schulen in Phang-nga oder Phuket zu besuchen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die wirtschaftliche Grundlage von Ko Panyi diversifiziert. Wahrend die Fischerei nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, hat der Tourismus zunehmend an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung hat zu Veranderungen in der Beschaftigungsstruktur und der sozialen Dynamik des Dorfes gefuhrt. Trotz der Offnung fur den Tourismus und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Chancen bleibt die Bevolkerungszahl von Ko Panyi relativ stabil. Wirtschaft = Fischerei = Historisch gesehen bildet die Fischerei das wirtschaftliche Ruckgrat von Ko Panyi. Noch heute spielt die Fischerei eine bedeutende Rolle fur die Wirtschaft und Kultur des Ortes. Viele Familien verdienen ihren Lebensunterhalt durch den Fang von Fischen, Tintenfischen und Schalentieren, die sowohl fur den lokalen Verzehr als auch fur den Verkauf auf Markten bestimmt sind. = Tourismus als Wirtschaftsfaktor = In den letzten Jahrzehnten hat sich der Tourismus zu einem wichtigen wirtschaftlichen Standbein fur Ko Panyi entwickelt. Das Dorf ist zu einem beliebten Ziel fur Tagesausfluge von Phuket aus geworden und dient oft als Mittagsstopp bei Touren durch die Phang-nga-Bucht. Die einzigartige Architektur des Dorfes auf Stelzen, seine malerische Lage und die traditionelle Lebensweise der Bewohner ziehen Besucher aus aller Welt an. Um von diesem Touristenstrom zu profitieren, haben viele Einwohner ihre wirtschaftlichen Aktivitaten angepasst: Restaurants: Mehrere große Restaurants wurden errichtet, um die steigende Zahl von Touristen zu bewirten. Diese Etablissements bieten frische Meeresfruchte an und tragen erheblich zur lokalen Wirtschaft bei. Souvenirladen: In den engen Gassen des Dorfes haben sich zahlreiche Stande und Geschafte etabliert, die Souvenirs und Handwerksprodukte an Touristen verkaufen. Unterkunfte: In jungster Zeit wurden einige Bungalows gebaut, um Ubernachtungsmoglichkeiten fur Besucher anzubieten. Fuhrungen: Gefuhrte Touren durch das Dorf geben Einblicke in die Geschichte, Architektur und das tagliche Leben der Bewohner und sind eine weitere Einnahmequelle. = Entwicklung = Die Entwicklung des Tourismus hat zu einer wirtschaftlichen Anpassung in Ko Panyi gefuhrt. Wahrend die Fischerei nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, haben viele Einwohner begonnen, sich auf touristische Dienstleistungen zu spezialisieren. Diese Diversifizierung hat es der Gemeinschaft ermoglicht, ihre wirtschaftliche Stabilitat zu verbessern und sich an die veranderten globalen Wirtschaftsbedingungen anzupassen. Die touristische Entwicklung bringt auch Herausforderungen mit sich. Die Saisonabhangigkeit des Tourismus und die Notwendigkeit, die traditionelle Lebensweise mit den Anforderungen der Besucher in Einklang zu bringen, stellen die Gemeinschaft vor neue Aufgaben. Infrastruktur Das Dorf Ko Panyi verfugt uber ein Netz von holzernen Stegen und Plattformen, die die verschiedenen Teile der Siedlung miteinander verbinden. Diese Stege dienen als Hauptverkehrswege innerhalb des Dorfes und ermoglichen den Bewohnern und Besuchern, sich zwischen den Hausern, Geschaften und offentlichen Einrichtungen zu bewegen. Der Transport von und nach Ko Panyi erfolgt hauptsachlich uber Boote. Es gibt regelmaßige Verbindungen zu den umliegenden Gebieten, die von lokalen Bootsbesitzern und Tourunternehmen betrieben werden. Diese Wasserstraßen sind von entscheidender Bedeutung fur die Versorgung des Dorfes mit Gutern und den Transport von Touristen. Das Dorf hat nun zahlreiche Seafood-Restaurants, die sowohl Einheimische als auch Touristen bedienen. Zudem gibt es Souvenirladen, die lokale Handwerkskunst und andere Waren anbieten. Die Wasserversorgung des Dorfes erfolgt hauptsachlich durch Regenwassersammlung und Wassertanks. In den letzten Jahren wurden Verbesserungen vorgenommen, um eine zuverlassigere Wasserversorgung zu gewahrleisten. Die Stromversorgung wird durch Generatoren und zunehmend auch durch Solaranlagen sichergestellt, was die Abhangigkeit von fossilen Brennstoffen reduziert. Die Kommunikationsinfrastruktur in Ko Panyi hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Das Dorf verfugt uber Mobilfunkempfang und Internetzugang, was die Verbindung zur Außenwelt erleichtert und neue Moglichkeiten fur Bildung und Geschafte eroffnet. Tourismus Der Tourismus in Ko Panyi begann in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts, als die Gemeinschaft Schwierigkeiten hatte, allein von der Fischerei zu leben. Seitdem hat sich Ko Panyi zu einem beliebten Zwischenstopp fur Touren in der Phang-nga-Bucht entwickelt, insbesondere fur Tagesausflugler von Phuket. Mit der zunehmenden Zahl von Besuchern hat sich in Ko Panyi eine touristische Infrastruktur entwickelt. Mehrere Meeresfruchte-Restaurants im Dorf bieten unter anderem den Touristen Gelegenheit zum Mittagsstopp. Zudem gibt es verschiedene Stande, die Souvenirs, Postkarten, Kleidung und Pflegeprodukte verkaufen. Eine der Hauptattraktionen von Ko Panyi ist die ungewohnliche Architektur des Dorfes. Die auf Stelzen errichteten Holzhauser, die durch Stege miteinander verbunden sind, bieten einen faszinierenden Anblick fur Besucher. Ein weiterer Anziehungspunkt ist der schwimmende Fußballplatz des Dorfes. Inspiriert von der FIFA-Weltmeisterschaft 1986 wurde der ursprungliche Platz von Kindern aus alten Holzresten und Fischerfloßen gebaut. Diese ungewohnliche Sportstatte ist zu einer beliebten Sehenswurdigkeit fur Touristen geworden. Die zweistockige Moschee des Dorfes, die sich deutlich von den anderen Gebauden abhebt, ist ebenfalls ein markantes Wahrzeichen und kann leicht vom Wasser aus gesehen werden. Der zunehmende Tourismus hat Ko Panyi zu einer Mischung aus traditionellem Fischerdorf und touristenorientiertem Geschaft gemacht. Wahrend der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle fur die Dorfbewohner darstellt, bringt er auch Probleme mit sich. Aufgrund der uberwiegend muslimischen Bevolkerung gelten in Ko Panyi bestimmte Verhaltensregeln fur Touristen. Dazu gehoren das Verbot von alkoholischen Getranken, Hunden und Schweinen sowie die Anordnung, dass Besucher vollstandig bekleidet sein mussen und Bikinis nicht erlaubt sind. Ko Panyi ist hauptsachlich per Boot erreichbar. Viele Besucher kommen im Rahmen organisierter Touren, die oft Bootsfahrten durch die Phang-nga-Bucht beinhalten. Die Hauptsaison fur Besuche ist wahrend der Trockenzeit, obwohl das Dorf das ganze Jahr uber zuganglich ist. Fußball Die Entstehung des Fußballs in Ko Panyi geht auf das Jahr 1986 zuruck, als eine Gruppe von Kindern, inspiriert durch die Weltmeisterschaft in Mexiko, beschloss, einen eigenen Platz zu bauen. Da die Insel dafur zu wenig Landflache aufweist, konstruierten die Kinder einen schwimmenden Fußballplatz aus alten Holzplanken, Fischerbooten und anderen Materialien. Trotz der ungewohnlichen Bedingungen – der Platz war instabil und der Ball fiel haufig ins Wasser – entwickelten die Kinder von Ko Panyi beachtliche fußballerische Fahigkeiten. Sie grundeten den Verein Panyee FC und nahmen an regionalen Turnieren teil. Bei ihrer ersten Teilnahme am Phang Nga Cup erreichten sie uberraschend das Halbfinale, obwohl sie barfuß und ohne professionelle Ausrustung spielten. In den Folgejahren etablierte sich der Panyee FC als eine der erfolgreichsten Jugendmannschaften Sudthailands. Von 2004 bis 2010 gewann das Team sieben aufeinanderfolgende sudthailandische Jugendmeisterschaften, die Southern Thai School Championships. Dieser Erfolg ist besonders bemerkenswert angesichts der bescheidenen Anfange und der ungewohnlichen Trainingsbedingungen des Teams. Das ursprungliche Spielfeld wurde mehrfach renoviert und verbessert. Heute verfugt Ko Panyi uber einen moderneren schwimmenden Fußballplatz mit glatter Oberflache und Umzaunung, der auch von Touristen genutzt wird. Der alte Holzplatz existiert weiter als Touristenattraktion und Erinnerung an die Anfange des Fußballs auf der Insel. Die Geschichte des Panyee FC hat uber die Grenzen Thailands hinaus Aufmerksamkeit erregt. Im Jahr 2011 wurde der Kurzfilm TMP Panyee FC uber die Entstehung des Teams produziert, der auf Interviews mit den ursprunglichen Teammitgliedern basiert. Der Film trug dazu bei, die Geschichte des Teams einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Fußball spielt weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Bewohner von Ko Panyi. Das Team Panyee FC besteht fort, und viele der ursprunglichen Spieler, die den schwimmenden Platz in den 1980er-Jahren bauten, sind heute als Erwachsene in der Jugendforderung und als Trainer aktiv. Die Insel veranstaltet regelmaßig Fußballturniere fur Kinder und Jugendliche im Alter von 7 bis 18 Jahren. Weblinks Koh Panyee, the floating Muslim village im Thailand Magazine. Phang Nga Bay – Koh Panyee auf der Website von Easy Day Thailand. Ko Panyi Darussalam Mosque auf der Website ForeverVacation.com Ko Panyi, the most beautiful floating village in Thailand auf der Website Mekong Cruise.com Everything You Need to Know About Visiting Koh Panyee auf der Website Rental for the Holidays. Phang Nga Bay Floating Muslim Village auf der Website von Thailandisches Wohnen. Koh Panyi: Die Geschichte eines schwimmenden Dorfes auf der Website Urlaub in Bangkok. Einzelnachweise
Ko Panyi (thailandisch เกาะปันหยี [kɔʔ pan.jiː]; akzeptierte alternative Transliteration: Koh Panyee) ist ein Fischerdorf in der Provinz Phang-nga, Thailand, das großtenteils auf Stelzen im Meer errichtet wurde.
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c-970
Verzaubert (Untertitel Lesben und Schwule erzahlen Geschichte) ist ein deutscher Dokumentarfilm aus dem Jahr 1993. Er handelt von den Lebensgeschichten 13 aus Hamburg stammender, homosexueller Personen. Die Handlung konzentriert sich besonders auf ihre Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus sowie in der Nachkriegszeit. Der Film war die erste deutsche Produktion zu dieser Thematik. Die insgesamt neun Regisseure hatten die Idee zu Verzaubert Ende der 1980er Jahre in einem Seminar uber Homosexualitat im Film. Sie verzichteten bei ihrer Arbeit auf in Dokumentarfilmen ubliche Elemente wie nachgespielte Szenen oder weiterfuhrende Erklarungen. Stattdessen ließen sie die Gesprachspartner frei erzahlen. Die Produktion wurde im Januar 1993 erstmals im Kino veroffentlicht, spater auch auf DVD und bei VoD-Diensten. Kritiker außerten sich mehrheitlich positiv uber den Film. Handlung Im Film berichten funf Schwule, vier Lesben sowie zwei gleichgeschlechtliche Paare aus Hamburg nacheinander von ihrem Leben. Ein Schwerpunkt liegt auf ihren Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit. Die Erzahlungen sind thematisch angeordnet, weswegen die Schilderungen eines Gesprachspartners oft durch Einschube anderer Interviewter unterbrochen und anschließend wieder aufgegriffen werden. Bis auf wenige Zwischenfragen reden die Regisseure nicht. = Edith = Ediths erste lesbische Beziehung entwickelte sich aus nachtlichen Treffen mit ihrer Bekannten Dina zum Diebstahl von Fischen aus Aalreusen. 1936 erhielt die Sittenpolizei den Abschiedsbrief einer homosexuellen Frau, in dem Edith Erwahnung fand. Bis auf die Durchsuchung ihrer Wohnung inklusive Beschlagnahme eines Fotos von ihr und einer Kollegin im Freibad passierte Edith nichts. Wahrend des Zweiten Weltkriegs waren in ihrem Freundeskreis Ehen zwischen Schwulen und Lesben verbreitet, hauptsachlich zum Schutz der Manner. Nach dem Krieg gab Edith vor ihren Eltern einen Freund als Partner aus. In Wahrheit hatte sie eine Freundin namens Ernie. 1951 begegnete sie Anneliese, mit der sie bis zu deren Tod 32 Jahre lang zusammen war und ein Lebensmittelgeschaft fuhrte. Das Klischee von lesbischen Paaren, die immer aus einer maskulinen und dominanten sowie einer devoten und femininen Frau bestehen, konne sie nicht vollstandig bestatigen. Auf einige Verhaltnisse treffe das zwar zu, es gebe aber auch viele davon abweichende Beziehungen. = Rudolf = Rudolf und ein gleichaltriger Nachbar fuhrten mit zwolf eine heimliche Beziehung, die nach ungefahr zwei Jahren herauskam. Ihre Eltern trennten sie durch erzwungene Umzuge voneinander. Im Krieg trat der Freund auf Drangen seiner Familie der Waffen-SS bei und fiel vier Wochen nach Einsatzbeginn. Rudolf kam indes in ein britisches Kriegsgefangenenlager. Sein Engagement als Darsteller in weiblichen Rollen im Lagertheater beschreibt er als glucklichste Zeit seines Lebens, da er so erstmals er selbst habe sein konnen. Unmittelbar nach seiner Heimkehr fing Rudolf an, zu arbeiten. Wie die meisten Deutschen habe er im Zuge des Wirtschaftswunders einen guten Lebensstandard erreichen wollen und dafur die eigene Person nach hinten gestellt. Er besuchte zwar viele Schwulentreffpunkte wie den Bronzekeller, unterdruckte aber dennoch seine Sexualitat, was ihn im Laufe der Jahre immer starker belastete. Erst im Alter von 60 Jahren entschloss er sich nach dem Besuch einer Waldschlosschen-Tagung zu schriftlichen Coming-outs gegenuber seinen Freunden. = Werner „Therese“ = Werner, auch bekannt unter dem Travestiekunstlernamen Therese, ging dank seiner Selbstandigkeit fruh sehr offen mit seiner Homosexualitat um. Seine Mutter akzeptierte ihn, riet ihm jedoch aufgrund des § 175, dessentwegen einige ihrer Nachbarn in Konzentrationslagern ermordet wurden, zur Vorsicht. Mit 19 hatte er einen One-Night-Stand, was seinen eifersuchtigen Partner zu einer Selbstanzeige bewegte, die fur Werner eine Haftstrafe nach sich zog. Drei seiner Freunde, davon zwei KZ-Uberlebende, waren ebenfalls wegen eines Verstoßes gegen den § 175 angeklagt und nahmen sich vor ihren Prozessen das Leben. Nach seinem Gefangnisaufenthalt beteiligte sich Werner an der Verteilung der Homosexuellen-Zeitschrift Die Freunde. Das Magazin wurde regelmaßig von der Polizei beschlagnahmt und schließlich wegen „Unzuchtigkeit“ verboten. Werner hatte als Unternehmer ebenfalls Schwierigkeiten. Er fuhrte auf der Reeperbahn die Kneipen Stadtcasino und Neustadtcasino, die unter dem Namen seiner Mutter liefen, da Homosexuelle keine Konzession bekamen. Aufgrund des damaligen in Hamburger Schwulenbars geltenden Tanzverbots und damit verbundenen Razzien fuhr sie Gaste, die feiern wollten, sonntags per Bus zum Lokal Wielandseck in Hannover, das Freunde von ihr betrieben. = Heiner und Peter = Heiner fuhrte in der Hitlerjugend und beim Militar gleichgeschlechtliche Beziehungen, die er angesichts drohender Repressalien verbarg. Mit seinem Lebensgefahrten Peter, der in seiner Jugend auch einige Freundinnen hatte, ist er seit 38 Jahren zusammen. Der Grund fur die Langlebigkeit ihrer Beziehung bestehe Peters Ansicht nach in ihrer Freundschaft, gegenseitigen Achtung und Toleranz sowie dem Fehlen einer typischen femininen-maskulinen Rollenverteilung. Die beiden leben seit Anfang ihrer Beziehung zusammen, was seinen Ursprung in der Nachkriegs-Wohnungsnot hatte. Bis zum Erwerb ihrer eigenen Unterkunft lebten sie in Einzimmerwohnungen und bekamen nie Probleme mit den Vermietern oder Nachbarn. Sie erklaren, dass das an ihrem normalen Umgang mit ihrer Sexualitat lag. Sie seien weiterhin keine „Bekennertypen“, weswegen heterosexuelle Freunde ihre Beziehung nie als ungewohnlich, sondern selbstverstandlich betrachteten. = Kathe = Nachdem Kathe im Strandhaus ihrer Eltern Besuch von ihrer Partnerin bekommen hatte, wurde sie zu einem Nervenarzt geschickt. Er sollte sie per Hypnose „heilen“. Kathe widersetzte sich der Therapie korperlich dermaßen heftig, dass der Arzt sie als unbehandelbar einstufte. Jahre spater betrat sie eines Nachts spontan das Lesbenlokal Goldene Dreizehn, in dem sie mit Anzug tragenden Frauen tanzte und ihre Partnerin kennen lernte. Fur Kathe seien in einer liebevollen Beziehung nicht die Ubernahme mannlicher und weiblicher Rollen sowie die damit verbundene Kleiderwahl, sondern Zartlichkeit und Aufmerksamkeit gegenuber der anderen Person wichtig. = Wally = Wally versteckte sich als Jugendliche in ihrem Stammlokal Tiedtke regelmaßig vor Gestapo-Kontrolleuren im Keller. Wahrend des Krieges kam sie, nachdem ihr Stiefvater sie vergewaltigt hatte, in einer schwul-lesbischen Wohngemeinschaft unter. Die Behorden losten die WG schließlich auf und brachten Wally in ein Heim fur schwer erziehbare Madchen, wo sie an Tuberkulose erkrankte. Nach ihrer Genesung sollte sie aus dem Krankenhaus in Barmbek fur eine Zwangssterilisation nach Lubeck verlegt werden, worauf sie floh. Nach dem Krieg kehrte Wally zuruck nach Hamburg und fand wegen der durch die Bombardierungen verursachten Zerstorungen keine Bleibe. Deswegen beschloss sie, in der Herbertstraße als Domina zu arbeiten. Sie bereue die Entscheidung zur Prostitution nicht, weil sie im Bordell ein eigenes Zimmer und eine Freundin hatte und dank des dort verdienten Geldes im Gegensatz zu vielen ihr bekannten Frauen nicht mehr arbeiten muss. Mittlerweile bleibe sie Bars wie der Tiedtke oder den Ika-Stuben fern. Es gebe dort nur noch „arrogante und rumhopsende“ junge Homosexuelle, weswegen die alten in ihren Wohnungen „verkummerten.“ = Karl = Karl wurde 1939 aufgrund des § 175 in Schutzhaft genommen und ins KZ Neuengamme deportiert. Drei Jahre spater kam er in das Außenlager Wittenberge, anschließend nach Auschwitz. In letzterem verstand er sich gut mit einigen Standartenfuhrern, wodurch er nicht den Rosa Winkel fur homosexuelle, sondern den Roten Winkel fur politische Haftlinge erhielt. Das verhalf ihm zu gunstigeren Lebensbedingungen, weil Homosexuelle bei besonders schlechter Verpflegung besonders schwer arbeiten mussten. Von einem homophoben Obersturmbannfuhrer abgesehen hatte Karl bezuglich seiner Sexualitat im KZ keine Angst, da er von der Lagerleitung geduldete Beziehungen zwischen Haftlingen mitbekam und selbst eine Zeit lang in einer solchen lebte. Der Alltag in Auschwitz sei zwar leichter gewesen als in Auschwitz-Birkenau, allerdings musste er dennoch stets befurchten, durch Arbeit vernichtet oder in den Gaskammern ermordet zu werden. Nach seiner Befreiung stellte Karl bei mehreren Behorden erfolglos Antrage auf eine finanzielle Entschadigung. = Arno = Arno hatte in seiner Jugend oft Klappensex. Die Treffen erfolgten im Geheimen, wobei sich die Beteiligten aus Angst vor Anschwarzungen meistens nicht wiedersahen und mit anderen nicht daruber sprachen. Die Sittenpolizei fuhrte an den Treffpunkten standig Razzien durch, ließ die meisten Festgenommenen aber bald wieder gehen. Hingegen erhielten zu zweit Erwischte Gefangnisstrafen. Arno war zweimal verheiratet. Seine erste Ehe sei ein „Schutzschild vor der Welt“ gewesen, um als schwuler Mann keine beruflichen oder privaten Probleme zu bekommen. Nach der Scheidung suchte er nur auf Wunsch seiner Mutter nach einer neuen Gattin und Stiefmutter fur seinen Sohn. Er outete sich ihr gegenuber ein halbes Jahr nach der Hochzeit, was seine Frau relativ schnell akzeptierte. Letztlich habe Arno zwei Identitaten gelebt: den „zur Welt hin normal Erscheinenden“ und den „im Untergrund lebenden Wirklichen, Liebenden“. = „Lutten“ = Eine Frau mit dem Pseudonym Lutten erzahlt mit dem Rucken zur Kamera von ihrer 27-jahrigen Beziehung zu Hanni. Sowohl sie als auch ihre Partnerin wurde von den Angehorigen der jeweils anderen gemocht, wobei besonders ihre Mutter ein gutes Verhaltnis zueinander hatten, zumal Luttens Mutter fruher selbst kurzzeitig mit einer anderen Frau zusammen war. Im Urlaub zeigten sich die beiden offen als Paar, bezeichneten sich vor den Nachbarn jedoch als Cousinen. Lutten verdiente den Lebensunterhalt, wahrend sich Hanni um den Haushalt kummerte und die treibende Kraft gewesen sei, etwa bei Anschaffungen. Erst nach deren Tod sei Lutten klar geworden, dass Hanni allgemein die treibende Kraft, sie hingegen nur das „ausfuhrende Organ“ war. = Ernst = Ernst berichtet aus dem Off von der Situation der Hamburger Schwulengemeinschaft nach dem Krieg. Die meisten ihrer Mitglieder waren mittellos, viele mussten auch aufgrund der fehlenden Wohnungen in unbeheizten Mietunterkunften leben. Deswegen gingen etliche Schwule oft aus. In ihren Stammtreffpunkten traten „Fummelerscheinungen“ auf, Travestiekunstler, die sich ihre Roben aus in Gebaudetrummern gefundener Kleidung nahten. Zudem habe es damals keine Trennung zwischen alten und jungen Homosexuellen gegeben. = Eva und Inge = Eva wollte als Kind „Mann sein“, weil ihr Vater seinem Beruf und seinen Hobbys mit Freude nachging, wahrend sich ihre Mutter nur um den Haushalt und die Kindererziehung kummerte. Deswegen wurde Eva 1942 Fahrerin in der Landwirtschaft, ein damals reiner Mannerberuf. Sie sei von ihren Kollegen immer akzeptiert und respektiert, von einigen Frauen hingegen um ihre Unabhangigkeit beneidet worden. Fur Eva ist Letzteres unverstandlich, da die Entscheidung, Gattin und Mutter zu werden, trotz gesellschaftlicher Erwartungen nicht obligatorisch sei. Evas Partnerin Inge beschreibt sie als bestimmend. Eva bestatigt das, erganzt jedoch, sich vor Entscheidungen immer mit ihr zu beraten, daneben gebe es sonst keine wirkliche Rollenverteilung zwischen den beiden. Sie wurden oft fur ein lesbisches Paar gehalten, da sich Außenstehende beim Anblick zweier miteinander lebender Frauen nichts anderes vorstellen konnten. Allerdings fuhle sich Eva zu Mannern und Frauen gleichermaßen hingezogen, zudem seien viele ihrer Sexpartnerinnen vor und nach dem Krieg Heterosexuelle gewesen, die in ihr einen „Ersatzmann“ sahen. Sie sei nur wenigen echten Lesben begegnet und besitze deswegen in Hinsicht auf weibliche Homosexualitat weder viel Erfahrung noch richtige Vorstellungen. Produktion Die Idee zur Produktion entstand an der Universitat Hamburg. Im Wintersemester 1988/1989 veranstalteten einige Studierende ein autonomes Seminar uber Homosexualitat im Film. Neun Teilnehmende fassten den Entschluss, gemeinsam eine Dokumentation uber die Erfahrungen von aus Hamburg stammenden Homosexuellen im Dritten Reich und in der jungen Bundesrepublik zu drehen. Ihre Produktion war der erste deutsche Film uber das Thema. Die Suche nach Interviewpartnern war schwierig, da viele altere Schwule und Lesben in der Stadt zuruckgezogen lebten oder die Kontaktaufnahme verweigerten. Die Regisseure kamen schließlich ins Gesprach mit 50 Personen, von denen sie 13 uberzeugen konnten, vor der Kamera zu sprechen. Die im Film Portratierten waren zwischen 60 und 80 Jahre alt. Anders als im Genre ublich verwendeten die Filmemacher bei ihrer Arbeit weder nachgestellte Szenen noch Erklarungen aus dem Off, sondern ausschließlich die Aussagen der Gesprachspartner. Zur Anschauung ist im Film historisches Material zu sehen, darunter Fotos von sowie Werbeanzeigen fur damalige Homosexuellen-Treffpunkte in Hamburg, zudem eine kurze Filmaufnahme in einer stadtischen Schwulenbar der 1950er Jahre. Der Titel bezieht sich auf von den Interviewten Edith und Werner verwendete Synonyme fur schwul sowie lesbisch. Aufgrund der in ihrer Jugend bestehenden, negativen Konnotation der Worter sagten sie stattdessen Homo und verzaubert beziehungsweise Freundschaftsfrauen und Freundschaftsmanner. Die in Hamburg ansassige Trigon-Film ubernahm die Finanzierung der Produktion. Fur den Vertrieb war der auf queere Filme spezialisierte Verleih Salzgeber verantwortlich. Veroffentlichung Verzaubert kam im Januar 1993 in die deutschen Kinos. Im Mai 1995 lief die Produktion im Programm der vom Kunsthaus Tacheles und mutvilla, der schwul-lesbischen Interessenvertretung der Humboldt-Universitat zu Berlin, organisierten schwul-lesbischen Filmtage. Im Oktober 2000 wurde sie beim Hamburg International Queer Film Festival gezeigt. Im August 2010 wurde der Film auf DVD veroffentlicht. Im November war er Teil einer DVD-Box mit funf Dokumentarproduktionen uber die Geschichte von Homosexualitat in Deutschland und den USA. Im Januar 2023 erschien eine restaurierte Fassung von Verzaubert auf DVD und bei einigen VOD-Anbietern. Rezeption Fur Eva Hohenberger vom Filmdienst sei Verzaubert eine interessante, aber gelegentlich zu widerspruchslose Aufarbeitung der Biografien einiger alterer Homosexueller aus Hamburg. Durch die Erzahlstruktur bundle und verallgemeinere sie die Erfahrungen des Einzelnen. Jakob Michelsen beschrieb die Produktion fur die taz als facettenreich sowie bislang besten Film uber die Lebenslaufe von Homosexuellen vor und nach der NS-Zeit. Sie behandle Themen wie verschiedene Identitats- und Lebenskonzepte in einem vielschichtigen Kontext, ohne intellektuell zu uberfrachten. Ein anderer Rezensent derselben Publikation nannte Verzaubert ein wichtiges Zeitdokument. Durch die sensiblen, einfuhlsamen Portrats fachere die Produktion einen fast vergessenen beziehungsweise nie erinnerten Teil deutscher Geschichte auf. Ein Kritiker von PopcornQ lobte die Interviewpartner, die sich charmant, mutig und ruhig an erschreckende Anekdoten erinnerten. Durch sie werde die Produktion eine fesselnde und inspirierende Geschichte uber schwul-lesbischen Heldenmut und Ausdauer. Paul Lenti bezeichnete den Film in der Variety als eindringliche Doku und faszinierenden Einblick in eine furchterregende Zeit. In einem von den Historikerinnen Kirsten Heinsohn, Barbara Vogel und Ulrike Weckel herausgegebenen Sachbuch wurde Verzaubert als eindringliche Herausarbeitung der Kontinuitat der nationalsozialistischen Schwulen- und Lesbenpolitik nach 1945 benannt. Weblinks Verzaubert bei IMDb Offizieller Trailer des Films Einzelnachweise
Verzaubert (Untertitel Lesben und Schwule erzahlen Geschichte) ist ein deutscher Dokumentarfilm aus dem Jahr 1993. Er handelt von den Lebensgeschichten 13 aus Hamburg stammender, homosexueller Personen. Die Handlung konzentriert sich besonders auf ihre Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus sowie in der Nachkriegszeit. Der Film war die erste deutsche Produktion zu dieser Thematik. Die insgesamt neun Regisseure hatten die Idee zu Verzaubert Ende der 1980er Jahre in einem Seminar uber Homosexualitat im Film. Sie verzichteten bei ihrer Arbeit auf in Dokumentarfilmen ubliche Elemente wie nachgespielte Szenen oder weiterfuhrende Erklarungen. Stattdessen ließen sie die Gesprachspartner frei erzahlen. Die Produktion wurde im Januar 1993 erstmals im Kino veroffentlicht, spater auch auf DVD und bei VoD-Diensten. Kritiker außerten sich mehrheitlich positiv uber den Film.
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c-971
Matilda Koen-Sarano (hebraisch מתילדה כהן-סראנו; geboren am 31. Juli 1939 in Mailand; gestorben am 4. Juni 2024 in Israel) war eine italienisch-israelische Schriftstellerin. Ihre Werke zahlen zu den bekanntesten im ladinischen Sprachraum (Judao-Spanisch). Leben = Jugend = Koen-Sarano wurde am 31. Juli 1939 in Mailand geboren. Sie entstammte einer sephardischen Familie aus der Turkei. Ihr Großvater, Moshe, wurde 1874 in Bergama geboren. Ihre Eltern, Alfredo Sarano und Diana Hadjes, wurden beide in Aydın geboren. Ihr Vater lebte bis 1925 in Rhodos, wahrend ihre Mutter bis 1938 in Izmir lebte. Das Paar heiratete 1938 in Mailand. Wahrend des Zweiten Weltkrieges versteckte sich die Familie in den italienischen Bergen vor den Nazi-Verfolgungen. Ihr Vater war von 1945 bis 1969 Sekretar der judischen Gemeinde Mailand. Sie heiratete Aaron Koen und wanderte 1960 nach Israel aus. = Karriere = Koen-Sarano studierte an der Judischen Gemeindeschule von Mailand und außerdem Sprachen an der Universita Commerciale Luigi Bocconi in Mailand sowie Italienische Literatur und Judisch-spanische Literatur und judisch-spanische Folklore an der Hebraischen Universitat Jerusalem. 1960 wanderte sie nach Israel ein, was im judischen Kontext als Alija bezeichnet wird. Im Sommer 1979 nahm sie am Seminar fur ladinischsprachige Radioproduzenten in Kol Israel teil. Das weckte in ihr den Wunsch, in dieser Sprache zu schreiben und alles, was sie bis zum Ende ihrer Kindheit erlebt hatte, aufzuzeichnen. Um dies zu erreichen, begann sie, Menschen aus der sephardischen Gemeinschaft zu interviewen, um Hunderte von Volksmarchen und traditionellen Geschichten aufzuzeichnen und aufzubewahren. Außerdem fuhrte diese Tatigkeit dazu, dass sie als Wissenschaftlerin an die Universitat zuruckkehrte. Dann veroffentlichte sie 1986 in Jerusalem ihr erstes Buch mit sephardischen Volksmarchen mit dem Titel Kuentos del Folklor de la Famiya Djudeo-Espanyola (Volksmarchen der judisch-spanischen Familie). Im April 2009 veroffentlichte sie ihr letztes Buch, Kon bayles i kantes, Sefaradis de dor en dor (Mit Tanzen und Liedern, Sephardim von Generation zu Generation). Koen-Sarano lehrte seit 1996 Ladino an der Ben-Gurion-Universitat des Negev und leitete seit 1998 einen Kurs fur Ladino-Lehrer, der von der Autoridad Nasionala del Ladino in Jerusalem organisiert wurde. Sie verfasste auch die Judeo-Spanischen Nachrichten fur Kol Israel. = Tod = Koen-Sarano starb am 4. Juni 2024 im Alter von 84 Jahren. Familie Koen-Sarano hatte drei Kinder und acht Enkel. Zusammen mit ihrer Tochter Liora Kelman verfasste sie das Kochbuch Gizar kon Gozo. Werke = Sammlungen = Kuentos del folklor de la famiya djudeo-espanyola + kaseta de kuentos, Kana, Yerushalayim 1986 (djudeo-espanyol/ebreo). Djoha ke dize?, Kana, Yerushalayim, 1991. Konsejas i konsejikas del mundo djudeo-espanyol, Kana, Yerushalayim 1994. Lejendas i kuentos morales de la tradision djudeo-espanyola, Nur, Yerushalayim 1999. Sipure Eliau Anavi, kon notas de Shifra Safra, Midreshet Amalia, Jerusalem 1993-4. De Saragoza a Yerushalayim, Ibercaja, Zaragoza 1995. Storie di Giocha, in two editions:one for schools (1991) and another for the general public, Sansoni, Firenze, 1990. (Italienisch) Le storie del re Salomone. Sansoni, Firenze 1993. (Italienisch) King Solomon and the Golden Fish. with notes from Reginetta Haboucha, Wayne State University Press, Detroit, Michigan 2004. (Englisch) Ritmo antiko, poezias i kantigas. Edision de la Autora. Jerusalem 2005 (djudeo-espanyol-ivrit). Por el plazer de kontar – Kuentos de mi vida. Selection of stories. Nur Afakot. Jerusalem 2006. (Ladino) Kuentos salados djudeo-espanyoles, Editorial Capitelum, Valencia 2000. (Ladino) Folktales of Joha. Jewish Trickster. Translation to by David Herman, Jewish Publication Society, Philadelphia 2003. El kurtijo enkantado, Kuentos populares djudeo-espanyoles. Nur Hafakot, Jerusalem 2003. (Ladino und Hebraisch) Guerta muzikal: Koleksion de piesas muzikales djudeo-espanyolas. (Sefaradis de dor en dor, Music Comedy and Radio adaptation; Maridos i mujeres, Mil i un Djoha, El novio imajinario i Tres ermanikas). Matilda Koen-Sarano, Moshe Bahar, Hayim Tsur and Avraham Reuveni. Jerusalem 2002. (djudeo-espanyol) Kuentos del bel para abasho. Kuentos djudeo-espanyoles, Ed. Shalom, Istanbul 2005. Kon bayles i kantes, Sefaradis de dor en dor. 2009. (Ladino) Vejes liviana, kuentos djudeo-espanyoles. Nur Hafakot, Jerusalem 2006. (Ladino und Hebraisch) = Drehbucher = Sefaradis de dor en dor. music soap opera. Musik: Hayim Tsur. Israeli Ministry for Education and Culture, Jerusalem 1997. Adaptiert fur Radio 1999. Mil i un Djoha, komedia muzikal. (muzika de Hayim Tsur), Edision de la Autora, Jerusalem 1998. Ubers. Gloria J. Ascher, USA 2003 (englisch). Maridos i mujeres. radio soap opera in 12 sketches, Musik: Hayim Tsur, Edision de la Autora. Jerusalem 2000. Tres ermanikas, komedia radiofonika. Musik: Hayim Tsur, Edision de la Autora. Jerusalem 2000. Adaptiert als Theaterstuck 2004. = Horbucher = Vini kantaremos, koleksion de kantes djudeo-espanyoles. Edision de la Autora, Jerusalem 1993. Tresera edision 2003, kuartena edision 2006. Jewish Ladino Songs., Hataklit, Ramat-Gan 1993 (five stories in Ladino) Narration: Matilda Koen-Sarano, Musik: Hayim Tsur. Nostaljia. Hataklit, Ramat-Gan 1995 (18 stories in ladino). Narration: Matilda Koen-Sarano, Musik: Hayim Tsur. Sefaradis de dor en dor (las kantigas de la komedia muzikal). Narration: Matilda Koen-Sarano; Musik: Hayim Tsur. Hataklit 1999. Di ke no es tadre, 14 new stories in Ladino. Narration: Matilda Koen-Sarano, Musik: Avraham Reuveni. Jerusalem 2002. Guerta muzikal: Koleksion de piezas muzikales djudeo-espanyolas. (Sefaradis de dor en dor, Music Comedy and Radio adaptation; Maridos i mujeres, Mil i un Djoha, El novio imajinario i Tres ermanikas). Matilda Koen-Sarano, Moshe Bahar, Hayim Tsur, Avraham Reuveni. Jerusalem 2002. = Sprachkurse = Kurso de Djudeo-Espanyol (Ladino) para Prinsipiantes. Ben Gurion University, Negev 1999. En traduksion al ingles de Gloria J. Ascher, idem 1999/2002. Kurso de Djudeo-Espanyol (Ladino) para Adelantados. Ben Gurion University, Negev 1999. (En traduksiyon, idem komo arriva). Kon Maymon Benchimol, Vokabulario Djudeo-Espanyol (Ladino) – Ebreo; Ebreo -Djudeo-Espanyol (Ladino). Ben Gurion University, Negev 1999. Tabelas de verbos en Djudeo-Espanyol (Ladino). Ed. de la Autora. Jerusalem 1999. = Kochbucher = Gizar Kon Gozo. Mit Liora Kelman. S. Zack. Jerusalem 2010. = Worterbucher = Diksionario Ebreo-Djudeo-Espanyol (Ladino), Djudeo-Espanyol (Ladino)-Ebreo. (Hebrew-Ladino-Hebrew Dictionary). Zak, Jerusalem 2010. Weblinks Poemas de Matilde Koen-Sarano. Selection of poetry by Matilda Koen-Sarano. sephardicstudies.org (Ladino) Matilda Koen Sarano. Selection of writings. eSefarad. (Ladino) Einzelnachweise
Matilda Koen-Sarano (hebraisch מתילדה כהן-סראנו; geboren am 31. Juli 1939 in Mailand; gestorben am 4. Juni 2024 in Israel) war eine italienisch-israelische Schriftstellerin. Ihre Werke zahlen zu den bekanntesten im ladinischen Sprachraum (Judao-Spanisch).
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c-972
Pep (* um 1923; † 1930) war ein schwarzer Labrador Retriever, der einem scherzhaften Zeitungsartikel zufolge des „Mordes“ an einer Katze angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dieser vermeintliche Justizirrtum loste international Emporung aus. In Wirklichkeit wurde Pep ins Gefangnis gebracht, um die Moral der Haftlinge zu verbessern. Geschichte Pep wurde der Frau des Gouverneurs von Pennsylvania, Gifford Pinchot, von Percival Baxter, dem Gouverneur von Maine, geschenkt. Baxter regte an, Pep als Therapiehund im Gefangnis einzusetzen. Der Hund wurde am 31. August 1924 ins Eastern State Penitentiary in Philadelphia gebracht. Laut der erfundenen Zeitungsmeldung erhielt er die Haftlingsnummer C-2559, und es wurde ein Fahndungsfoto angefertigt. Der Eintrag in das offizielle Gefangnisbuch bescheinigte Pep eine lebenslangliche Haftstrafe fur die Totung einer Katze. Internationale Zeitungen griffen die Geschichte auf. Er wurde als „Katzenmorderhund“ bezeichnet und die Geschichte mit Phantasie weiter aufgebauscht. Der Gouverneur erhielt wahrend seiner verbleibenden Amtszeit auch zahlreiche ernst gemeinte Briefe, in denen seine unmenschliche Grausamkeit angeprangert wurde. Pinchot und seine Frau stellten klar, dass Pep weder Katzen getotet noch eine lebenslange Freiheitsstrafe erhalten habe, sondern stattdessen in der Haftanstalt sei, damit das Los der Gefangenen gemildert werde. Pep bewegte sich frei im Gefangnis und auf dessen Gelande; er war bei Gefangenen und Wartern gleichermaßen beliebt. Die Zeitung Boston Daily Globe veroffentlichte am 26. Dezember 1925 ein Foto, wo er vor einem Radiomikrofon sitzt, begleitet von zwei Gefangniswartern. Viele Haftlinge kauften mit ihrem Verdienst Leckerlis fur ihn, so dass er „fett und faul“ wurde, was 1927 zu einem Bericht in einer Lokalzeitung und einer strengen Diat fur Pep fuhrte. 1929 wurde Pep „begnadigt“ und auf die neu errichtete Gaterford Prison Farm verlegt, etwa 48 km nordlich von Philadelphia, wo er 1930 starb. Er wurde in einem Blumenbeet auf dem Gefangnisgelande begraben. Im Eastern State Penitentiary, das spater in ein Museum umgewandelt wurde, erinnert ein Schild an Pep als einen der „bemerkenswertesten Insassen“. Weblinks Bad Dog: A Penitentiary Tale bei IMDb The Dog Who Got Sentenced To Life In Prison For Murder | Pep the Black Labrador. 87 Seconds auf YouTube (englisch) Einzelnachweise
Pep (* um 1923; † 1930) war ein schwarzer Labrador Retriever, der einem scherzhaften Zeitungsartikel zufolge des „Mordes“ an einer Katze angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Dieser vermeintliche Justizirrtum loste international Emporung aus. In Wirklichkeit wurde Pep ins Gefangnis gebracht, um die Moral der Haftlinge zu verbessern.
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c-973
Das Sinti-Mausoleum ist ein Grabmal im Ortsteil Osendorf von Halle (Saale). Es wurde um das Jahr 1915 fur den in Osendorf verstorbenen osterreichischen Sinto Josef Weinlich errichtet. Im Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalts ist das Mausoleum mit der Erfassungsnummer 094 18536 eingetragen. Geschichte Josef Weinlich war ein im Ort ansassiger Pferdehandler, der eigentlich Nauni hieß, aber einen deutschen Namen annehmen musste, um eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu bekommen. Die Dorfer Osendorf und Radewell dienten zu jener Zeit haufig als Winterquartier der fahrenden Sinti, die hier ihre Zelte und Wagen aufstellten. Sie wurden daher auch als „Osendorfer Gruppe“ bezeichnet. Nauni/Weinlich war unter ihnen hoch angesehen, da er als Rechtsprecher der „Osendorfer Gruppe“ agierte. Er starb am 9. Oktober 1915. Sein Grabmal wurde auf dem von ihm ausgewahlten Gelande des Osendorfer Friedhofs noch zu seinen Lebzeiten errichtet. Er wurde darin in einem Eichensarg mit einem kleinen Fenster am Kopfende beerdigt. Unter den Einwohnern war das Denkmal als „Zigeuner-Mausoleum“ und „Zigeunerkapelle“ bekannt. Spater wurden noch zwei Nachfahren Naunis in Sargen hier beerdigt, zudem gab es drei Urnen, die aber nicht mehr in dem Mausoleum sind. Die Namen der drei Urnenbestattungen waren auf einer Tafel verzeichnet, so dass sie als Wilhelm Ernst (1852–1937), Paul Ernst (1880–1946) und Rudolf Wesel (1887–1946) identifiziert werden konnten. Diese waren miteinander verwandt. Zu Rudolf Wesel konnte ermittelt werden, dass er im Zwangslager Berlin-Marzahn interniert wurde und dort von Leni Riefenstahl fur den Film Tiefland als Komparse ausgewahlt wurde. Eine in der Nachbarschaft lebende Familie kummerte sich bereits seit zirka 1930 um den Erhalt und die Pflege des Mausoleums, wofur sie von den Sinti bezahlt wurde. Falschlicherweise wird Nauni/Weinlich teilweise mit der Person des sogenannten „Zigeunerkonigs“ von Radewell vermischt, der aber lediglich ein entfernter Verwandter namens Johann Watosch war, der 1926 in Berlin starb. Aufgrund der großtenteils mundlichen Uberlieferung der Details sind der Name und Rang der zuerst beerdigten Person nicht vollstandig gesichert. Im Jahr 2012 war eine erste Notsicherung notwendig, bei der zwei der drei Sarge geborgen wurden. Nach weiteren deutlichen Verfallserscheinungen, darunter großere Risse und brockelnder Putz, die auf die schlechte Grundung am Rand der Saale-Elster-Aue bei Halle zuruckzufuhren sind, bestand dringender Handlungsbedarf, weshalb der hallesche Verein Zeit-Geschichte(n) e.V. und die Gedenkstatte Roter Ochse Halle (Saale) eine Initiative fur die Restaurierung starteten. Diese beschaftigt sich seitdem auch mit Moglichkeiten des Erinnerns an die ermordeten Sinti und Roma. Regelmaßig wurde zum Tag des offenen Denkmals auf das Bauwerk aufmerksam gemacht. Hierbei spielt die Arbeit mit Schulerinnen und Schulern des halleschen Elisabeth-Gymnasiums eine wichtige Rolle, die in eigenen Projekten die Erforschung der Geschichte – etwa durch Auswertung von archivalischen Quellen – weiterfuhren. Zudem wirken sie an der Organisation des Programms zum Tag des offenen Denkmals mit und veranstalteten u. a. im Jahr 2023 eine Spendenaktion fur den Erhalt. Bereits im Jahr 2018 gab es gemeinsame Planungen von Stadt und Initiative, das Mausoleum zu einer Gedenkstatte fur die im Jahr 1943 in die Konzentrationslager Auschwitz und Mittelbau-Dora deportierten und ermordeten Sinti umzugestalten. Da der ehemalige Osendorfer Friedhof seit der Entwidmung im Jahr 2012 ein Spielplatz ist, wurde das Mausoleum im Jahr 2022 mit einer Gedenktafel versehen, die seine Bedeutung erklart. Der Kulturausschuss der Stadt Halle beschloss am 7. August 2024 die denkmalgerechte Sanierung des Kulturdenkmals mit einem Gesamtwertumfang in Hohe von 350.000 Euro, nachdem der Haushaltsausschuss des Bundes am 3. Juli 2024 die Bereitstellung von Geldern aus dem Denkmalschutz-Sonderprogramm der Beauftragten der Bundesregierung fur Kultur und Medien zugestimmt hatte. Baubeginn soll im 2. Quartal 2025 sein. Baubeschreibung Das Mausoleum ist eine kleine Grabkapelle, die um 1915 errichtet wurde. Im Jahr 1998 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt. Das nach Sudosten gewandte Portal ist rundbogig gestaltet, wodurch sich ein Turbogenfeld bildet, das als einzige Lichtquelle diente, heute aber verdeckt ist. Das Portal wird von Saulen flankiert und ist mit zwei Lowenkopfen zusatzlich geschmuckt. Uber ihm befindet sich ein Reliefstein mit den Insignien Naunis (Hufeisen, Kandare, Reitpeitschen). Den Giebel kronte lange Zeit ein Stein, der aber mittlerweile nicht mehr erhalten ist. Die Fassade war mehrfarbig gestaltet. Vor dem Mausoleum stehen zwei kleine Stelen. Wurdigung Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, ordnete das Mausoleum im Juli 2024 folgendermaßen ein: „Diese Grabstatte ist ein wichtiges Kulturgut fur die nationale Minderheit der deutschen Sinti und Roma, das ihre lange Geschichte in Halle dokumentiert.“ Es handele sich um eines der wenigen nach dem Holocaust erhaltenen materiellen Zeugnisse, das an das Leben der Minderheit in Sachsen-Anhalt erinnert. Neben diesem Mausoleum ist nur eine weitere uberdachte Grabstelle der Sinti in Deutschland bekannt. Sie befindet sich in Merzig. Mutmaßlich handelt es sich zudem um das einzige von Sinti erbaute Gebaude in Mitteldeutschland. Literatur Manfred Doll: Die Radeweller Zigeuner. In: Heimat-Jahrbuch Saalkreis 1999, S. 81–85. Simone Trieder und Markus Hawlik-Abramowitz: Sinti in der DDR. Alltag einer Minderheit. Edition Zeit-Geschichte(n), Band 7. Mitteldeutscher Verlag. Halle 2020, ISBN 978-3-96311-399-4. Weblinks Sinti-Mausoleum, Karl-Meißner-Straße 43 in Halle-Osendorf. In: roma-und-sinti-sachsen.de. Abgerufen am 9. September 2024 (mit Innenaufnahmen). Ein Mausoleum in Osendorf als Zeugnis von Sinti in Halle. In: radiocorax.de. Radio Corax, 5. Februar 2019, abgerufen am 9. September 2024 (mit zwanzigminutigem Audiobeitrag). In Gedenken – Mausoleum erinnert an die Sinti und Roma. In: mdr.de. Mitteldeutscher Rundfunk, 2. August 2024, abgerufen am 9. September 2024 (mit zweiminutigem Videobeitrag). Einzelnachweise
Das Sinti-Mausoleum ist ein Grabmal im Ortsteil Osendorf von Halle (Saale). Es wurde um das Jahr 1915 fur den in Osendorf verstorbenen osterreichischen Sinto Josef Weinlich errichtet. Im Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalts ist das Mausoleum mit der Erfassungsnummer 094 18536 eingetragen.
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c-974
Loney Clinton Gordon (* 8. Oktober 1915 in Forrest City, Arkansas; † 16. Juli 1999 in East Lansing, Michigan) war eine US-amerikanische Chemikerin. Sie ist zusammen mit den Biologinnen Grace Eldering und Pearl Kendrick fur ihre Beteiligung an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Keuchhusten bekannt. Leben und Werk Gordon war die Tochter von John V. Clinton und Leona S. Moss Mayo. Sie besuchte die South High School, wo sie wie Gerald Ford im Jahrbuch der Schule von 1931 abgebildet ist. Sie studierte anschließend Hauswirtschaft und Chemie am Michigan State College. 1939 erhielt sie dort ihren Bachelor-Abschluss und wollte als Ernahrungsberaterin arbeiten. Als afroamerikanische Frau hatte sie Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle als Ernahrungsberaterin zu finden. Laut einem Interview mit Gordon aus dem Jahr 1999 von der Geschichtsprofessorin Carolyn Shapiro Shapin sagte Gordon, sie habe einen Job als Ernahrungsberaterin in einer psychiatrischen Anstalt in Virginia gefunden, aber der Arzt habe sie schlecht behandelt und sie habe unzureichende Wohnraume erhalten. Um dieser Diskriminierung zu entkommen, kehrte sie nach Grand Rapids zuruck, wo sie feststellte, dass niemand sie einstellen wurde, weil Koche keine Anweisungen von einer afroamerikanischen Frau entgegennahmen. 1944 stellten die Bakteriologinnen Pearl Kendrick und Grace Eldering sie als Labortechnikerin ein fur ihre Forschungen an den Western Michigan Laboratories, spater bekannt als Kent Community Hospital, in Grand Rapids. Zu dieser Zeit verzeichnete Michigan eine der hochsten Todeszahlen im Zusammenhang mit Keuchhusten. Gordons Aufgabe war es, das Bakterium Bordetella pertussis, das Keuchhusten verursacht, zu analysieren und zu isolieren. Die damals verwendeten Impfstoffe waren nicht stark genug und daher unwirksam. Durch ihre Forschung entdeckte Gordon die Verwendung von Schafsblut als wirksame Methode zur Inkubation der Bakterienkulturen. Aufgrund des von Gordon isolierten Stamms fuhrten Kendrick und Eldering ein Kontrollexperiment durch, aus dem spater ein Impfstoff hervorging, der besser schutzte als alle anderen, die es zu dieser Zeit gab. Nach ihrer Entdeckung arbeitete Clinton weiter fur das Michigan Department of Health, zunachst im Labor in Grand Rapids. Am 23. Juni 1956 heiratete sie Howard Gordon und wechselte im selben Jahr in das Lansing-Labor des Michigan Department of Health. Bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 1978 arbeitete sie weiter in den Bereichen Mikrobiologie und offentliche Gesundheit. Dank ihrer Arbeit an den Keuchhustenstudien konnte Gordon mit dem National Council on Christians and Jews durch Europa und den Nahen Osten reisen. Außerdem hielt sie in den Vereinigten Staaten uber 50 Vortrage uber ihre Arbeit. 1997 wurde in der Resolution Nr. 115 des Reprasentantenhauses von Michigan ihr Beitrag zur Entwicklung des Keuchhusten-Impfstoffs gewurdigt. Gordon starb 1999 im Alter von 83 Jahren in East Lansing an den Folgen eines Schlaganfalls. Ehrungen 1997 wurde in der Resolution Nr. 115 des Reprasentantenhauses von Michigan ihr Beitrag zur Entwicklung des Keuchhusten-Impfstoffs gewurdigt 2000: Aufnahme in die Women’s Hall of Fame in Michigan 2019 wurde im Forschungszentrum der Michigan State University in Grand Rapids die von Jay Hall Carpenter geschaffene Skulptur Adulation: The Future of Science aufgestellt. Sie zeigt Gordon mit den Forscherinnen Pearl Kendrick und Grace Eldering. Literatur Virginia Burns: Bold Women in Michigan History. MOUNTAIN PR, 2006, ISBN 978-0-87842-525-9. Weblinks Historical Figure of the Month: Loney Clinton Gordon (englisch) Youtube-Video: Grand Rapids woman helped make stronger whooping cough vaccine (englisch) Einzelnachweise
Loney Clinton Gordon (* 8. Oktober 1915 in Forrest City, Arkansas; † 16. Juli 1999 in East Lansing, Michigan) war eine US-amerikanische Chemikerin. Sie ist zusammen mit den Biologinnen Grace Eldering und Pearl Kendrick fur ihre Beteiligung an der Entwicklung eines Impfstoffs gegen Keuchhusten bekannt.
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c-975
Der Storchenhof Loburg ist eine Vogelschutzwarte in Loburg im Landkreis Jerichower Land. Aufgaben Die Hauptaufgabe der vereinsfinanzierten Einrichtung in Sachsen-Anhalt ist die Aufzucht und Auswilderung verwaister Jungstorche sowie die Pflege verletzter Storche. Tiere, die aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht mehr ausgewildert werden konnen, werden auch dauerhaft im Storchenhof untergebracht. Wildlebende Storche werden per Satellitentelemetrie uberwacht, und ihre Zugrouten werden erforscht. Beruhmtestes Beispiel hierfur war die Weißstorchin Prinzesschen. Neben Storchen beherbergt der Hof alte Haustierrassen wie die Heidschnucke und verschiedene Haushuhner. Auf drei Hektar Flache werden die Tiere versorgt, teils siedeln sie sich auch nach ihrer Auswilderung in der Umgebung an. Geschichte Der Loburger Ornithologe Christoph Kaatz widmete sich der Zahlung und Erhaltung des Storchenbestandes, dem Bau von Horsten und der Beringung von Storchen. Er grundete eine Fachgruppe fur den Weißstorchschutz und trat offentlich fur die Belange des Natur- und Artenschutzes in seiner Heimat ein. Im Jahre 1979 errichtete die Familie Kaatz auf ihrem Grundstuck in Loburg eine Auffangstation fur verletzte und verwaiste Storche. 1988 wurde der Storchenhof in der DDR verstaatlicht, bei der Abteilung Kultur des Bezirks Magdeburg angesiedelt und der damals noch eigenstandigen Stadt Loburg unterstellt. Nach Grundung des Landes Sachsen-Anhalt wurde der Storchenhof zu einer Einrichtung des Ministeriums fur Umwelt- und Naturschutz des Landes Sachsen-Anhalt und Standort der Staatlichen Vogelschutzwarte in der Abteilung Naturschutz des Landesamtes fur Umweltschutz. Am 1. Januar 2006 ubernahm der Tragerverein Storchenhof Loburg e. V. unter dem Vorsitz von Christoph Kaatz die Verantwortung fur die Vogelschutzwarte. Der Verein Storchenhof Loburg e. V. finanziert sich neben Spenden uber den Verkauf von Andenken und Tierpatenschaften fur einzelne Tiere. Umweltbildungszentrum 2016 erwarb der Verein eine ehemalige Gaststatte und das dazugehorige Wohnhaus. Mithilfe von Fordermitteln wurde der ehemalige Gastraum zu einem Umweltbildungszentrum mit einer Dauerausstellung uber den Weißstorch umgebaut. Im Mai 2023 wurde es nach sieben Jahren Bauzeit eroffnet. Galerie Weblinks storchenhof-loburg.de Einzelnachweise
Der Storchenhof Loburg ist eine Vogelschutzwarte in Loburg im Landkreis Jerichower Land.
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c-976
Alessandro Bellardita (geboren am 30. Januar 1981 in Modica, Sizilien) ist ein deutscher Jurist, Publizist und Hochschullehrer. Leben = Jugend und Ausbildung = Bellardita ist der Sohn sizilianischer Einwanderer, die Anfang der 1980er Jahre vor den von der Mafia geschaffenen Verhaltnissen nach Deutschland flohen. Er machte 1999 das Abitur an der Europaischen Schule Karlsruhe. Anschließend studierte er Rechtswissenschaft an den Universitaten Mannheim und Heidelberg. An ersterer wurde er 2010 mit der Arbeit Der Absender im frachtrechtlichen Schuldverhaltnis und seine Haftung promoviert. = Jurist = Bellardita arbeitete zunachst in Heidelberg als Rechtsanwalt, trat 2012 in den Justizdienst ein und war am Amtsgericht Heidelberg tatig. Ab 2015 ubernahm er bei der Staatsanwaltschaft Heidelberg den Bereich der organisierten Kriminalitat. Seit 2017 ist er Richter in Karlsruhe: Von September 2023 bis September 2024 war er Strafrichter am Landgericht, seit September 2024 Vorsitzender Richter des Jugendschoffengerichts am Amtsgericht. Bis Juli 2023 war er Dozent an der Hochschule fur Rechtspflege Schwetzingen in den Fachern Europarecht, Staats- und Verwaltungsrecht. Zudem unterrichtet er beim Deutschen Roten Kreuz zum Thema „Recht im Rettungsdienst“. In zahlreichen Vortragen referiert er zu Themen wie „Freiheit und Recht“ oder „Mafia in Deutschland“. = Publizist = Seit 2005 veroffentlichte Bellardita juristische Artikel in deutschen und italienischen Zeitungen und Zeitschriften. Beim Corriere della Sera hat er seit 2007 die Kolumne „Rubrica legale“. Fur die Schwetzinger Zeitung schreibt er Beitrage unter der Rubrik „Gesellschaft & Recht“. In juristischen Fachzeitschriften veroffentlicht er Artikel zu unterschiedlichen juristischen Themen. Außerdem nahm er an Radio- und Fernsehsendungen sowie an dem Podcast „Mafialand“ von ARD und SWR teil. 2020 veroffentlichte er sein erstes Buch zum italienischen Cantautore Fabrizio De Andre. Diesem folgten weitere zu juristischen Themen und zur Mafia. 2021 veroffentlichte er seinen ersten Kriminalroman uber den deutsch-italienischen Staatsanwalt De Benedetti. Thema ist die Mafia in Deutschland. Daher ist der zweite Band der Reihe von 2024 dem sizilianischen Richter Rosario Livatino gewidmet, der als erster die Verbindungen der Mafia nach Deutschland aufdeckte und deswegen 1990 ermordet wurde. = Thema: Mafia in Deutschland = Bellardita macht in Vortragen, Interviews und seinen Romanen darauf aufmerksam, dass die Mafia in Deutschland ein weitgehend ungestortes Aktionsgebiet gefunden hat. Seit den 1960er Jahren war Deutschland fur die Mafia ein Ort des Ruckzugs vor der italienischen Justiz. Nachdem die Mafia in den 1980er Jahren noch mit Schutzgelderpressungen vor allem in Mannheim auffiel, hat sie sich aus der Offentlichkeit zuruckgezogen und agiert im Hintergrund im Drogenschmuggel und bei der Geldwasche. Bellardita warnt davor, dass in Deutschland dasselbe passieren konnte wie in Norditalien, wenn man die Entwicklung nicht ernst nimmt. Das wurde bedeuten, dass allmahlich Verwaltungs- und Politikpositionen von Leuten besetzt werden, die direkt oder indirekt mit der Mafia verbunden sind. Da sie uber große Geldmengen verfugt, ist es einfach, einheimische Unternehmen mit Konkurrenzfirmen in den Ruin zu treiben oder Gastronomen mit unschlagbaren Produktpreisen von sich abhangig zu machen. Bellardita fordert einen Lehrstuhl zum Thema Organisierte Kriminalitat, eine Bargeldobergrenze und eine unabhangige Staatsanwaltschaft, die nicht an den Justizminister berichten muss. Auszeichnungen 2022: Premio Mannozzi des Vereins „Incontri Berlinesi“, ausgelobt fur eine Person, die die Nahe zwischen Deutschland und Italien lebt. Veroffentlichungen = Fachpublikationen = Der Absender im frachtrechtlichen Schuldverhaltnis und seine Haftung (= Schriften zum Europaischen Transport- und Verkehrsrecht. Band 12). Lit, Berlin / Munster 2012, ISBN 978-3-643-11094-7 (Zugleich: Dissertation an der Universitat Mannheim, 2010). Recht im Rettungsdienst: Grundlagen, Strafrecht, Zivilrecht, Arbeitsrecht. Stumpf + Kossendey, Edewecht 2021, ISBN 978-3-96461-041-6. I Vostri diritti in Germania: un orientamento nella societa tedesca. Tredition, Hamburg 2021, ISBN 978-3-347-33131-0 (italienisch). mit Theodor Morvillus, Kurt Stober, Anahita Wesely: GBO-Verfahren und Grundstuckssachenrecht: Einfuhrung und Lehrbuch. 4. Auflage. C. H. Beck, Munchen 2023, ISBN 978-3-406-77006-7. mit Jurgen Damrau, Walter Zimmermann, Roseluise Koester-Buhl, Cordelia Ahr, Florian Bollacher u. a.: Betreuungsrecht: Kommentar zum materiellen und formellen Recht. Kohlhammer, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-17-041338-2. = Sachbucher = Fabrizio de Andre – die Essenz der Freiheit. Tredition, Hamburg 2020, ISBN 978-3-347-09837-4. La fine delle mafie – a lezione da Giovanni Falcone. Tredition – AltreMenti, Hamburg 2022, ISBN 978-3-347-50229-1 (italienisch). Demokratie & Pluralismus. Ein Pladoyer fur eine offene Gesellschaft. AltreMenti, Ahrensburg 2025, ISBN 978-3-384-49344-6. = Romane = Der Zeugenmacher. J. S. Klotz Verlagshaus, Neulingen 2021, ISBN 978-3-948968-54-0. Die sizilianische Akte: De Benedettis zweiter Fall. istole, Wuppertal 2024, ISBN 978-3-910347-36-6. Weblinks Werke von Alessandro Bellardita im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Internetauftritt von Alessandro Bellardita Italia qui: In Erinnerung – 23. Mai 1992 Einzelnachweise
Alessandro Bellardita (geboren am 30. Januar 1981 in Modica, Sizilien) ist ein deutscher Jurist, Publizist und Hochschullehrer.
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c-977
Das Stadthaus – auch im Englischen mit dem deutschen Wort bezeichnet – ist ein 2009 fertig gestelltes neunstockiges Wohngebaude am Murray Grove in Hackney, London. Mit neun Stockwerken und einer Hohe von 30 Metern galt es bei seiner Entstehung als das zweithochste Wohngebaude aus Holz weltweit – nach dem Apartmentkomplex „Forte“ in Melbourne, Australien. Es wurde in Zusammenarbeit des Architektenburos Waugh Thistleton mit dem Ingenieurburo Techniker Ltd. als Tragwerksplaner und dem Holzplattenhersteller KLH entworfen. Einordnung des Weltrekords Das Stadthaus ist das erste Wohngebaude, das aus vorgefertigten Brettsperrholzplatten errichtet wurde. Es war das erste Gebaude dieser Hohe weltweit, bei dem nicht nur tragende Wande und Bodenplatten, sondern auch Treppen- und Aufzugskerne vollstandig aus Holz bestehen. Der Rekord wurde 2019 durch das Holzhochhaus Mjøstarnet in Norwegen und 2022 durch das Ascent MKE in den USA gebrochen. Der in Wien geplante „Timber Marina Tower“ soll 2025–2026 mit einer Hohe von 113 Metern und 32 Obergeschossen gebaut werden. Okologische Aspekte Holz speichert 0,8 Tonnen Kohlendioxid in einem Kubikmeter und ist ein nachwachsender Rohstoff. Im Vergleich dazu sind die Herstellung von Beton und Stahl energieintensive Einwegprozesse, bei denen große Mengen Kohlendioxid in die Atmosphare freigesetzt werden. Die Platten konnen außerdem am Ende der Nutzungsdauer des Gebaudes leicht demontiert und als Energiequelle genutzt werden (Stichworte „Graue Energie“ und „CO2-Bilanz“). Gestaltungsansatz Der Spielraum fur den Entwurf wurde durch eine Reihe von Faktoren vorgegeben. Fruhere Architekten hatten zwei Genehmigungsabsagen fur das Grundstuck erhalten, durch die Begrundungen waren die genehmigungsfahigen Parameter fur ein Gebaude klar definiert. Die Grundstucksflache betragt 17 × 17 m und ist auf allen Seiten von anderen Wohngebauden begrenzt. Eine Verbreiterung der Grundstucksflache gab die Grundrissform des Gebaudes vor, und die Hohe wurde auf neun Stockwerke als Maximum festgelegt, um eine Verschattung fur die Umgebungsbebauung zu vermeiden. Es gab zwei Bauherren, den „Metropolitan Housing Trust“ fur die Sozialwohnungen, „Telford Homes“ fur die anderen Wohnungen. Letztere befinden sich in den funf oberen Stockwerken, die Sozialwohnungen in den drei unteren. Fur die Sozialwohnungen wurde ein separater Eingang im Erdgeschoss gefordert. Dies fuhrte zu einem gespiegelten Grundriss von Ost nach West mit einem identischen Eingang in jeder Richtung. Der Großteil der Sozialwohnungen besteht aus Familienwohnungen mit Blick auf den Spielbereich auf der Ruckseite des Gebaudes. „Telford Homes“ verlangte, dass die Innenausstattung den Standardvorgaben des Bautragers entsprache. Das fuhrte dazu, dass die Wohnungen innen vollig konventionell wirken und den revolutionaren Charakter ihrer Struktur verbergen. Die Farbgestaltung der Außenfassade wurde nach Aussage der Architekten von Gerhard Richters Gemalde Les gris entre ciel et mer du nord inspiriert. Bauablauf Das Gebaude wurde mithilfe eines strukturellen Brettsperrholzplattensystems zusammengebaut. Die Holzplatten werden in Osterreich vom Unternehmen KLH Massivholz aus Fichtenbrettern hergestellt, die mit einem ungiftigen Klebstoff zusammengeklebt werden. Das Abfallholz wird in Brennstoff umgewandelt, der sowohl die Fabrik als auch das ortliche Dorf mit Energie versorgt. Jede Platte ist vorgefertigt und mit Ausschnitten fur Fenster und Turen sowie zu verlegenden Versorgungsleitungskanalen versehen. Als die Platten auf der Baustelle ankamen, wurden sie sofort mit einem Kran in Position gebracht und befestigt. Vier Zimmerleute errichteten das neunstockige Gebaude in 27 Tagen. Die Geschwindigkeit, mit der der Bau in einer so dicht besiedelten Umgebung durchgefuhrt werden konnte, ist besonders relevant, ebenso wie die Tatsache, dass weder Larm noch Abfall entsteht, wodurch die Anwohner weitaus weniger gestort werden als bei einer traditionellen Betonrahmenkonstruktion. In der gesamten Struktur wird eine „Plattformkonstruktion“ verwendet. Jedes Stockwerk wird auf die darunter liegenden Wande gesetzt, dann wird ein weiteres Stockwerk hochgezogen und so weiter das Gebaude hinauf. Verbindungen werden mit Schrauben und Winkelplatten gesichert. Die Spannungen sind in der Regel in der gesamten Struktur sehr gering und an Stellen mit hohem Querdruck wurden Schrauben hinzugefugt, um das Holz lokal zu verstarken. Auszeichnungen Das Stadthaus wurde mit dem Wood Award 2008, Kategorie Structural / Judges Special Award und dem RIBA President’s Award for Research 2009 ausgezeichnet. Literatur Henrietta Thompson, Andrew Waugh: A Process Revealed / Auf dem Holzweg: Stadthaus. Murray & Sorrell FUEL, London 2009, ISBN 978-0-9558620-6-9 (englisch). Siehe auch Holzbau Weblinks Stadthaus. In: Skyscraper Center. CTBUH, abgerufen am 1. Juni 2017 (englisch). TRADA Technology Ltd 2009: Case study: Stadthaus, 24 Murray Grove, London. (PDF) Abgerufen am 8. September 2024 (englisch). Einzelnachweise
Das Stadthaus – auch im Englischen mit dem deutschen Wort bezeichnet – ist ein 2009 fertig gestelltes neunstockiges Wohngebaude am Murray Grove in Hackney, London. Mit neun Stockwerken und einer Hohe von 30 Metern galt es bei seiner Entstehung als das zweithochste Wohngebaude aus Holz weltweit – nach dem Apartmentkomplex „Forte“ in Melbourne, Australien. Es wurde in Zusammenarbeit des Architektenburos Waugh Thistleton mit dem Ingenieurburo Techniker Ltd. als Tragwerksplaner und dem Holzplattenhersteller KLH entworfen.
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c-978
Federlappen (auch Federspiele) waren, und sind in abgewandelter Form auch heute, Hilfsmittel bei der Lappjagd. Sie bestehen im ursprunglich wortlichen Sinne aus Bundeln von jeweils zwei oder drei langen Schwingenfedern von Schwan, Gans oder Ente, die in regelmaßigen Abstanden (meist etwa 1 m oder weniger) an eine Leine genaht und bei der Druck- oder Treibjagd den Schutzen abgewandte Seiten des bejagten Bereichs begrenzen und durch ihre Farbe und Bewegung das Wild abschrecken und somit im bejagten Bereich zuruckhalten sollen. Varianten Bereits die Romer nutzten das sogenannte Blendzeug, bestehend aus einem langen, aus Flachs oder Hanffaser angefertigten Seil, an dem hellschimmernde, weiße und rote Federn befestigt waren. Eine Variante der Federlappen waren Tuchlappen, die aus an eine Leine genahten langen, schmalen Streifen Tuch bestanden und durch ihre Bewegung das Wild ebenfalls abschreckten. Eine weitere, meist regionale Abwandlung der Tuchlappen war das Flintern. Dabei wurden gespaltene, dunne Schindelbrettchen von etwa 15 cm Breite und 30 cm Lange mit starkem Bindfaden durch Locher am oberen Rand aufgefadelt und etwa alle 30 cm an der Leine befestigt. Verwendung finden heute auch industriell hergestellte Lappen in allerlei Farben und Ausfuhrungen, wie man sie von Geburtstags- und Festgirlanden kennt, ebenso rotweißes oder blauweißes Absperrband aus Papier oder aus dunner Kunststofffolie. Sprichwort „Durch die Lappen gehen“ im Sinne von „entkommen, entgehen“ ist eine aus der Jagersprache entlehnte und seit dem 18. Jahrhundert belegte Redensart. Sie verweist darauf, dass immer wieder einige Tiere die Absperrung durchbrechen und somit buchstablich „durch die Lappen gehen“. Daher sagt man auch von jemandem, der entwischt oder glucklich davongekommen ist, er sei „durch die Lappen gegangen“. Siehe auch Federlappengeld Literatur Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Worterbuch der Hochdeutschen Mundart. digitale-sammlungen.de Jagdzeug. In: Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. Band 10: Ionier–Kimono. Bibliographisches Institut, Leipzig / Wien 1907, S. 142 (Digitalisat. zeno.org). Federlappen. In: Heinrich August Pierer, Julius Lobe (Hrsg.): Universal-Lexikon der Gegenwart und Vergangenheit. 4. Auflage. Band 6: Europa–Gascogne. Altenburg 1858, S. 154 (Digitalisat. zeno.org). Einzelnachweise
Federlappen (auch Federspiele) waren, und sind in abgewandelter Form auch heute, Hilfsmittel bei der Lappjagd. Sie bestehen im ursprunglich wortlichen Sinne aus Bundeln von jeweils zwei oder drei langen Schwingenfedern von Schwan, Gans oder Ente, die in regelmaßigen Abstanden (meist etwa 1 m oder weniger) an eine Leine genaht und bei der Druck- oder Treibjagd den Schutzen abgewandte Seiten des bejagten Bereichs begrenzen und durch ihre Farbe und Bewegung das Wild abschrecken und somit im bejagten Bereich zuruckhalten sollen.
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c-979
Das Kloster Engelberg uber dem Main ist ein Kloster bei Großheubach in Unterfranken (Diozese Wurzburg), in dem nacheinander Kapuziner und Franziskaner lebten. Ab Herbst 2024 werden Oblaten des heiligen Joseph als Seelsorger dort tatig sein. Die bekannte Wallfahrtsstatte ist auch offizielle Grablege des Furstenhauses zu Lowenstein-Wertheim-Rosenberg und liegt in einer Hohe von 250 m auf dem markanten Engelberg auf einem Auslaufer des Spessart hoch uber Großheubach, von wo aus es u. a. uber 612 Sandsteinstufen, die so genannten „Engelsstaffeln“, zu erreichen ist. Geschichte Die Geschichte des Engelberges uber dem Main, damals „Rulesberg“ genannt, geht zuruck bis in die vorchristliche Epoche. Damals befand sich dort eine heidnische Kultstatte, wovon heute noch der sogenannte „Hunenstein“ oder „Heuneschussel“, ein gewaltiger Felsblock mit einer schusselartigen Vertiefung, Zeugnis gibt. Etwa um 1300 wurde auf dem Berg eine einfache Kapelle aus Holz errichtet und dem Erzengel Michael gewidmet. Als Anfuhrer der himmlischen Heerscharen wahlte man ihn mit Vorliebe zum Kirchenpatron an Platzen ehemaliger heidnischer Heiligtumer. So wurde aus dem alten „Rulesberg“ allmahlich der „Engelberg“. Anfang des 14. Jahrhunderts (1310 wird genannt) kam in die Kapelle auch eine Marienstatue, die dort bis heute als wundertatiges Gnadenbild verehrt wird und das Ziel von Wallfahrten ist. Die Doppelverehrung des Erzengels Michael und der Gottesmutter Maria (als „Konigin der Engel“) ist der Ursprung der hiesigen Wallfahrt. Ihre alteste authentische Urkunde stammt aus dem Jahr 1406. Ihr Inhalt lasst auf eine stark besuchte, aber reparaturbedurftige Kapelle schließen. Als die Zahl der Pilger immer mehr zunahm, berief der Mainzer Erzbischof Anselm Casimir Wambolt von Umstadt, zu dessen Sprengel das Gebiet seinerzeit gehorte, 1630 die Kapuziner auf den Engelberg und ließ sie ein Kloster mit einer Kirche bauen, zunachst ein Hospiz mit wenigen Brudern, das 1647 zum Konvent erhoben wurde. 1637 wurden die „Engelsstaffeln“ als Pilgerweg auf den Berg angelegt. Den ersten urkundlich belegten Marien-Gnaden-Altar stiftete 1692 General Jakob Alfons Franz Calderon d’Avila, der auch 1695 in der Klosterkirche beigesetzt wurde und dessen Grabplatte dort erhalten ist. Die Kapuziner betreuten die Wallfahrt und das Kloster bis zur Sakularisation 1803, als auch die Wallfahrten verboten wurden. Das Kloster wurde in diesem Jahr im Zuge der Sakularisation aufgelost, die Kapuziner mussten nach Kloster Aschaffenburg umziehen. 1828 wurde das Kloster auf Anordnung Konig Ludwigs I. von Bayern von den Franziskanern wieder als Hospiz eroffnet, und zwar zunachst von der Frankischen Franziskanerprovinz, die aber 1836 in der Bayerischen Franziskanerprovinz (Bavaria) aufging. Die 1865 erschienene zweibandige Erzahlung Maria Regina von Ida Hahn-Hahn rankt sich um das Kloster Engelberg uber dem Main. Das Provinzkapitel der Deutschen Franziskanerprovinz, zu der der Konvent seit 2010 nach Fusion der deutschen Provinzen gehorte, beschloss im Marz 2019, im Zuge der Konzentration der Krafte der Ordensprovinz das Kloster Engelberg neben weiteren sechs Niederlassungen zeitnah aufzugeben. Dies wurde am 31. Juli 2024 vollzogen. Als Nachfolger werden ab dem 1. November 2024 Oblaten des heiligen Joseph auf dem Engelberg tatig sein. Kloster Engelberg uber dem Main ist Ziel zahlreicher Pilger und Touristen. Es ist u. a. bekannt wegen seines dunklen Biers aus Holzfassern, das in der Klosterschanke gereicht wird. Klosterkirche = Das Gebaude = Die geostete Klosterkirche ist im Stil einer Bettelordenskirche erbaut. Sie besitzt kein eigentliches Querschiff, jedoch sind in Hohe des mittleren Jochs des Langhauses zu beiden Seiten niedrigere Kapellen angebaut: nach rechts die Marienkapelle, nach links eine dem heiligen Antonius von Padua gewidmete Kapelle. Der quadratische Chor ist der alteste Teil der Kirche. Er ist gegenuber dem Langhaus eingezogen, den Ubergang bildet ein Chorbogen. Anstelle eines Turmes tragt die Kirche einen Dachreiter. Die Westfassade des Gebaudes ist von einem steinernen Kreuz auf dem Dachfirst gekront. Sie hat vier kleine, runde Fenster und in einer Muschelnische eine drei Meter hohe Steinskulptur des Kirchenpatrons Michael im Kampf mit dem Satan, geschaffen 1635 von dem Miltenberger Bildhauer Zacharias Huncker d. A. Im Dreiecksgiebel uber dem Hauptportal befindet sich eine Statue der Gottesmutter Maria mit dem Jesuskind auf dem Arm, flankiert von zwei Engeln, darunter die lateinische Inschrift HIC EST DOMUS DEI ET PORTA CAELI (‚Hier ist das Haus Gottes und die Pforte des Himmels‘). = Innenraum = Der einschiffige Innenraum der Kirche hat eine Ausstattung im Stil des Neobarock. An den Seitenwanden spannen sich farblich abgehobene Pilaster zu Gewolbebogen und gliedern so das Kirchenschiff in drei Joche. In jedem Joch ist ein Deckengemalde zu sehen, das die Engelthematik aufnimmt: uber der Orgelbuhne im westlichen Joch die Vertreibung aus dem Paradies, im mittleren Joch den Kampf Michaels gegen Luzifer und sein Gefolge und im vorderen Joch die Verkundigungsszene. In der rechten Supraporte zur Marienkapelle ist der Erzengel Raphael, der Reisebegleiter des Tobias, dargestellt, in der linken vor der Antoniuskapelle Christus am Olberg, dem ein Engel eine Starkung reicht. = Altare = Die Altare in der Kirche stammen in der heutigen Form und Aufstellung alle aus dem 20. Jahrhundert. Der Hochaltar vor der Abschlusswand des Chorraums wurde 1909 geschaffen, davor steht ein moderner Zelebrationsaltar. An den Stirnwanden des Langhauses beiderseits des Durchgangs vom Chor befinden sich zwei Seitenaltare. Die Kreuzigungsgruppe uber dem rechten Seitenaltar mit Jesus am Kreuz, Maria und dem Apostel Johannes stammt wahrscheinlich aus dem 18. Jahrhundert. Als Pendant schuf der Munchener Bildhauer Thomas Buscher 1907 den linken Seitenaltar mit einer Darstellung des heiligen Franziskus unter dem Kreuz. Es spielt an auf die Christoformitas, die Christusformigkeit des Heiligen, und seine Stigmatisierung. = Marienkapelle = Die Marienkapelle rechts auf der Hohe des mittleren Jochs des Langhauses wurde 1701 geweiht. Sie enthalt im Altarschrein des Altar-Retabels das holzerne, geschnitzte Gnadenbild Maria von der Freude aus dem 14. Jahrhundert. Es hat eine Hohe von 75 cm und ist das Ziel der Wallfahrer, die auf den Engelberg kommen. Die sitzende Maria mit gutigem Lacheln auf dem Gesicht tragt in der rechten Hand ein Szepter, mit der linken halt sie Jesus, der in der Pose eines Lehrenden ein Buch prasentiert, moglicherweise als Buch des Lebens oder Symbol fur Weisheit zu verstehen. Uber dem Gnadenbild im Abschluss des Retabels ist die Kronung Mariens durch die Heilige Dreifaltigkeit dargestellt, links vom Altar der heilige Josef von Nazaret, rechts Anna, die Mutter Mariens. Die vier Felder im Gewolbe sind mit Motiven aus der Lauretanischen Litanei ausgemalt. An den Seitenwanden befinden sich rechts ein Grabmal fur Furstin Christine Polyxena zu Lowenstein, gestorben 1728 im Alter von 45 Jahren und Mutter von 13 Kindern, rechts eines fur Furst Ludwig Carl Franz Leopold zu Hohenlohe-Waldenburg-Bartenstein. Aus den Grabmalen an dieser Stelle ist zu schließen, dass die Marienkapelle auch als Grabkapelle diente. Von der Marienkapelle aus erreicht man einen Beichtraum, der ostlich von der Kapelle an die Kirche angebaut ist. = Antoniuskapelle = Die Antoniuskapelle links vom Langhaus wurde gestiftet von Anna Gottlob von Nentwich, die 1695 38-jahrig starb, und 1698 geweiht. An die Stifterin erinnert eine steinerne Tafel an der rechten Wand der Kapelle. Der Antoniusaltar wurde 1909, zum 700. Jubilaum der Grundung des Franziskanerordens, aufgebaut. Im Altarschrein steht hier eine Statue des heiligen Antonius von Padua mit dem Jesuskind, geschaffen von dem Wurzburger Bildhauer Heinrich Schiestl. Im oberen Abschluss ist eine Skulptur der Pieta zu sehen. Der Retabel wird flankiert von Statuen der franziskanischen Heiligen Elisabeth von Thuringen links und ihrem Verwandten Erzbischof Ludwig von Toulouse rechts. An der linken Seitenwand der Kapelle ist eine Statue des Kirchenlehrers Bonaventura angebracht, an der rechten eine des Kapuzinerbruders Konrad von Parzham. In den Feldern des Kreuzgratgewolbes finden sich Gemalde von Heiligen des franziskanischen Dritten Ordens: der Volksheilige Rochus von Montpellier, Maria Crescentia Hoss von Kaufbeuren, Margareta von Cortona und der heilige Ludwig IX., Konig von Frankreich. = Orgel = Als erste Orgel wird ein 1859 von Balthasar Schlimbach erbautes Instrument erwahnt. Die Disposition ist nicht bekannt, das Gehause war schmucklos. Nachdem 1899 die beiden ubereinander liegenden Emporen durch eine einzige Empore ersetzt worden war, errichtete das Orgelbauunternehmen Steinmeyer aus Oettingen dort eine neue Orgel mit 10 klingenden Registern und einem neobarocken Gehause. Die heutige Orgel mit 19 Registern auf zwei Manualen und Pedal wurde von Orgelbau Vleugels (Hardheim) 1992 neu gebaut, nachdem die Vorgangerorgel infolge von Erweiterungen und Umdispositionen gelitten hatte. Das Pfeifenwerk wurde in das vorhandene neobarocke Gehause eingebaut. Am 20. Dezember 1992 nahm der Wurzburger Weihbischof Helmut Bauer die Orgelweihe vor. Der Prospekt der Orgel ist dreiteilig und von Saulen gegliedert, das mittlere Pfeifenfeld steht hoher. Aus seinem gebrochenen Giebel ragt eine Zierurne. Die Pfeifenfelder werden nach oben und die außeren Pfeifenfelder nach außen durch Akanthusschnitzereien abgeschlossen. Die Disposition lautet: Koppeln: Normalkoppeln Bemerkungen: Schleiflade, mechanische Traktur, teilweise Verwendung des Steinmeyer-Prospektes. Konventsgebaude Das Konventsgebaude mit seinen drei Flugeln ist ostlich an die Marienkapelle und den Beichtraum der Klosterkirche angebaut und ergibt zusammen mit der Kirche annahernd ein Quadrat um einen Innenhof. Es enthalt neben dem Wohnbereich der Ordensleute auch eine „Klosterschanke“ und Raume fur Pilgergruppen. Pilgerwege und Umgebung Die „Engelstaffeln“ (auch „Himmelssteige“ genannt) mit ihren 612 Stufen sind der kurzeste Weg von Großheubach auf den Engelberg. Er ist gesaumt von Kreuzwegstationen und sechs Wegkapellen mit Darstellungen aus dem Leidensweg Jesu. Bis 1701 war die letzte dieser Kapellen Chor und Gnadenkapelle einer kleinen spatgotischen Wallfahrtskirche. Diese wurde abgebrochen, als nach dem Bau der heutigen Kirche das Gnadenbild in die Marienkapelle ubertragen worden war; die fruhere Gnadenkapelle wurde um 1900 unterhalb der neuen Kirchenterrasse eingebaut und birgt heute ein Vesperbild aus der Mitte des 17. Jahrhunderts. Von Miltenberg im Sudosten des Engelbergs fuhrt der „Maria-Hilf-Weg“, ein Fußweg durch den Wald, als Pilgerweg zu der Andachtsstatte. Am Weg steht die vermutlich um 1690 entstandene „Maria-Hilf-Kapelle“, in dem sich ursprunglich ein inzwischen verschollenes Marienbild befunden haben soll, das Lukas Cranach nachempfunden war. Heute steht dort eine schlichte Marienstatue. Nordlich der Klosterkirche erreicht man am Klosterfriedhof vorbei durch einen Torbogen mit einem Zitat aus dem Sonnengesang des heiligen Franz den „Franziskus-Garten“. Dort ist Franziskus beim Geigenspiel in einer Bronzefigur als „Spielmann Gottes“ dargestellt. Eine „Opferkerzen-Kapelle“ mit einem naturbelassenen Sandsteinblock in der Mitte, in dessen Aussparung eine Madonnenstatue steht, zeigt auf drei Buntglasfenstern Sonne, Mond und Sterne als Anspielung auf den Sonnengesang und zwei franziskanische Heilige. Grablege der Fursten zu Lowenstein-Wertheim-Rosenberg Seit 1724 ist das Kloster Engelberg die Grablege der Wittelsbacher Seitenlinie der Fursten zu Lowenstein-Wertheim-Rosenberg, die seit 1721 auf Schloss Lowenstein im nahen Kleinheubach residieren. Die dortige Schlosskapelle wurde fruher von den Kapuzinern des Klosters Engelberg mitversehen. Ursprunglich setzte man die verstorbenen Familienmitglieder in der Engelberger Klosterkirche bei; 1840 ließen die Fursten auf dem Klosterareal eine separate Gruftkapelle fur ihr Geschlecht errichten, die bis heute als Familiengrablege dient. In der Klosterkirche selbst befindet sich das Epitaph von Furst Ludwig Carl Franz Leopold zu Hohenlohe-Waldenburg-Bartenstein, einem Verwandten der Lowensteiner, der 1799 einen Kutschenunfall hatte und in Kleinheubach starb. Galerie Furstengruft Literatur Philipp J. Madler: Das Kloster auf dem Engelberg; geschichtlich, topographisch beschrieben. Amorbach 1843 (Digitalisat). Philipp J. Madler: Das Kloster auf dem Engelberg und die Familiengruft des Furstenhauses Lowenstein-Wertheim-Rosenberg. Weiden 1857 (Digitalisat). Nobert Vad: Franziskanerkloster und Wallfahrtskirche Engelberg ob dem Main. (= Schnell, Kunstfuhrer Nr. 1210, von 1980) 6. neu bearbeitete Auflage, Schnell und Steiner, Regensburg 2006, ISBN 3-7954-6601-6. Weblinks Homepage von Kloster Engelberg Kloster Engelberg uber dem Main, Basisdaten in der Datenbank Kloster in Bayern im Haus der Bayerischen Geschichte Einzelnachweise
Das Kloster Engelberg uber dem Main ist ein Kloster bei Großheubach in Unterfranken (Diozese Wurzburg), in dem nacheinander Kapuziner und Franziskaner lebten. Ab Herbst 2024 werden Oblaten des heiligen Joseph als Seelsorger dort tatig sein. Die bekannte Wallfahrtsstatte ist auch offizielle Grablege des Furstenhauses zu Lowenstein-Wertheim-Rosenberg und liegt in einer Hohe von 250 m auf dem markanten Engelberg auf einem Auslaufer des Spessart hoch uber Großheubach, von wo aus es u. a. uber 612 Sandsteinstufen, die so genannten „Engelsstaffeln“, zu erreichen ist.
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c-980
Marcellus Coffermans (auch Marcellis Koffermans, Marcellis Koffermaker, Marcellis Coffermans, Marcellus Koffermans, Marcel Helmon und Marcellus Koffermaker; * 1524 oder 1525 in Helmond; † 17. November 1581 in Antwerpen) war ein flamischer Maler. Seine Werke werden den Antwerpener Manieristen zugeordnet und sind bis auf die Iberische Halbinsel verbreitet. Sein archaischer Stil scheint von Albrecht Durer und Martin Schongauer inspiriert. Leben und Werk Weder uber Coffermans’ Geburt, seine Eltern, noch uber seine Ausbildung liegen verlassliche Erkenntnisse vor. Nachdem er aber im August 1570 sein Alter mit 45 Jahren angegeben hatte, kann davon ausgegangen werden, dass er 1524/25 geboren wurde. Ab 1549 – also im Alter von Mitte 20 – ist er als Meister der Lukasgilde in Antwerpen genannt. In der Werkstatt Coffermanns wurde 1554 der Maler Lucas Edelinck ausgebildet. 1575 wurde seine Tochter Isabella (auch Ysabella; † vor 1587), die ebenfalls als Malerin arbeitete, in diese Gilde aufgenommen. Diese Tochter entstammte der ersten Ehe mit Lysbeth Beermans. Weitere Kinder waren Clara, die als Nonne in ein Kloster in der Nahe von Lissabon eintrat, Godefridus, der Franziskanermonch wurde, und Maria, die den Maler Dominicus de Duitsche heiratete. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Marcellus Kathelijne Uyten († 1583), mit der zusammen er im Dezember 1580 ein Testament uber sein eher durftiges Vermogen zugunsten seiner Kinder aus erster Ehe ausstellte. Sein Œuvre ist meist kleinformatig und uberwiegend religiosen Themen gewidmet. Viele Werke gingen in den Export und sind nur von mittlerer Qualitat. Durch die engen Handelsbeziehungen innerhalb des Konigreichs gelangten etliche seiner Werke ins Mutterland Spanien. Coffermans’ Arbeiten entsprachen vor allem in Spanien dem aktuellen Zeitgeschmack. In den Spanischen Niederlanden findet sich nirgends sonst bis auf die Kanarischen Inseln eine so große Anhaufung seiner Werke. Das spanische Publikum, sowohl bei Hof als auch im Burgertum, liebte die nordalpine Malerei. Seine Werkstatt arbeitete nahezu industriell. Zahlreiche Museen konnen Bestande von ihm vorweisen, so das Museo de Bellas Artes de Sevilla, das Monasterio de las Descalzas Reales und das Museo Lazaro Galdiano in Madrid, das Kloster von Yuste, das Real Sitio de San Lorenzo de El Escorial, das Museo del Prado, der Palacio del Virrey Laserna in Jerez de la Frontera bei Cadiz, das Museo de Arte Religioso o Arte Sacro von Villadiego bei Burgos und die Einsiedelei von Las Nieves in Taganana auf Teneriffa oder auch das Berliner Bode-Museum. Weitere zugeschriebene Werke Madonnentriptychon mit den Heiligen Joseph, Michael und Bartholomaus, um 1550 Anbetung der Hirten, um 1550 (New York, Metropolitan Museum of Art, Inv. Nr. 17.190.3) Kreuzabnahme, um 1560 (Privatbesitz) Passionstriptychon (Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. HK-745) Literatur Matias Diaz Padron: Indentificacion de algunas Pinturas de Marcelus Coffermans. In: Bulletin Musees Royaux des Beaux-Arts de Belgique (1981–1984), S. 33–62. Marc Rudolf de Vrij: Two Panels of a portable Altarpiece by Marcellus Coffermans. In: Konsthistorisk Tidskrift 71 (2002), S. 228–240. Marc Rudolf de Vrij: Marcellus Coffermans. Amsterdam 2003. Marie Grappasonni: Addenda a Marcellus Coffermans, Peintre anversois archaisant du XVIe Siecle. Œuvres inedites, Œuvres meconnues. In: Les Cahiers d’Histoire de l’Art 14 (2016), S. 6–15. Weblinks Einzelnachweise
Marcellus Coffermans (auch Marcellis Koffermans, Marcellis Koffermaker, Marcellis Coffermans, Marcellus Koffermans, Marcel Helmon und Marcellus Koffermaker; * 1524 oder 1525 in Helmond; † 17. November 1581 in Antwerpen) war ein flamischer Maler. Seine Werke werden den Antwerpener Manieristen zugeordnet und sind bis auf die Iberische Halbinsel verbreitet. Sein archaischer Stil scheint von Albrecht Durer und Martin Schongauer inspiriert.
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c-981
Alexander Pereswet (russisch Александр Пересвет, deutsch: „Alexander Lichtbringer“; † 8. September 1380 bei Kulikowo Pole in der Oblast Tula) war ein legendarer russisch-orthodoxer Monch. Pereswet trat zu Beginn der Schlacht auf dem Schnepfenfeld im Zweikampf gegen den tatarischen Krieger Temir-Mirza (Tschelubei) an. Beide Kontrahenten toteten sich gegenseitig, aber da Pereswet als Zweiter vom Pferd fiel, galt er als Sieger. Alexander Pereswet wurde auch in der Ara Putin als Held stilisiert, hat aber vermutlich nie existiert. Legende Die Existenz einer Person namens Alexander Pereswet wird aus der Legende abgeleitet und ist historisch nicht belegt. Quellen fur die Legende sind das Epos von der Schlacht am Don (russ. Sadonschtschina) aus dem Ende des 14. Jahrhunderts und die Legende von der Schlacht bei Mamajew aus dem 15. Jahrhundert. Laut dem Autor der Sadonschtschina, dem Bojaren Sifoni von Brjansk, wurde Alexander in oder bei Brjansk geboren. Im Borisoglebski-Kloster zu Rostow am Don legte Alexander das Monchsgelubde ab und schloss sich dem heiligen Sergius von Radonesch an. Dmitri, der Großfurst von Moskau und Wladimir, besuchte das Kloster von Sergius vor der anstehenden Schlacht gegen die zahlenmaßig uberlegene Goldene Horde und ließ sich von Sergius segnen. Die Monche Alexander und Rodion Osljabja schlossen sich daraufhin als Waffenbruder dem Heer des Großfursten an. Alexander meldete sich fur das traditionelle Heldenduell, das vor Beginn der Schlacht ausgetragen wird und als Vorzeichen fur den Ausgang der Schlacht dienen soll. Die Goldene Horde wahlte den Tataren Temir-Mirza aus, der als unbesiegbar galt. Alexander verzichtete auf eine Rustung und trug nur ein Hemd mit einem gut sichtbaren Kreuz. Das Kreuz sollte seinem Gegner als Zielscheibe dienen, denn der Speer sollte ungehindert den Korper durchdringen, ohne dabei Pereswet vom Pferd zu werfen. Gleichzeitig totete er den Tataren und warf ihn mit seinem Speer zu Boden. Da Pereswet nach Temir-Mirza tot vom Pferd fiel, galt das als positives Omen fur einen russischen Sieg. In der anschließenden Schlacht auf dem Schnepfenfeld fugten die Kampfverbande der russischen Furstentumer dem Heer der Mongolen und Tataren eine vernichtende Niederlage zu. Nach der Schlacht wurden die Gebeine von Alexander Pereswet und seinem Glaubensbruder Rodion Osljabja geborgen. Sie sind heute angeblich neben der Geburtskirche der Heiligen Jungfrau Maria von Stari Simonowo im Simonow-Kloster bei Moskau beerdigt. Rezeption = Heiligsprechung = Pereswet wurde als Martyrer angesehen und inoffiziell verehrt. In mundlichen Uberlieferungen wurde das Andenken an seine Heldentat bewahrt und uberliefert. Die Russisch-Orthodoxe Kirche hat ihn 2016 heiliggesprochen. Sein Gedenktag in der Kathedrale der Heiligen von Radonesch ist der 6./19. Juli (gregorianisch), in der Kathedrale der Moskauer Heiligen am Sonntag vor dem 26. August/8. September, in der Kathedrale der Heiligen von Brjansk am 7./20. September und in der Kathedrale der Heiligen von Tula am 22. September/5. Oktober. Sein Tod gilt als Symbol fur Todesmut und Opferbereitschaft. = Bildhauerei = Auf einem Flachrelief, das bis 1931 in der Moskauer Christ-Erloser-Kathedrale befestigt war, ist Alexander Pereswet unmittelbar neben dem segnenden Sergius abgebildet. Das Flachrelief wurde vor der Sprengung der Kathedrale durch Stalin abgenommen und ins Donskoi-Kloster verbracht. Auf dem Pokrowskaja-Berg bei Brjansk erinnert ein monumentales Reiterstandbild an Alexander Pereswet. Ebenso steht in seiner Geburtsstadt Brjansk eine Statue des Kampfmonchs. = Briefmarken = Die sowjetische Post gab 1968 eine Briefmarke heraus, die Alexander Pereswet im Kampf zeigt. Die Marke im Wert von 50 Kopeken gibt das Gemalde Duell zwischen Pereswet und Temir-Mirza (1943) von Michail Awilow wieder. Eine Marke der russischen Post von 2014 zeigt den berittenen Pereswet vor dem Duell. Ebenfalls 2014 wurde anlasslich des 700. Geburtstages des heiligen Sergius ein Sondermarkenblock herausgegeben, der zentral Sergius zum Nennwert von 70 Rubel zeigt und hinter ihm den Großfursten Dmitri und die beiden Monche Pereswet und Osljabja. = Namensgeber = Die Pereswet-Klasse war eine Linienschiffsklasse der Kaiserlich-Russischen Marine. Alle drei Schiffe der Klasse wurden im Russisch-Japanischen Krieg von 1904–1905 versenkt. Die Pereswet wurde im Juni 1905 von den Japanern geborgen, wieder flott gemacht, im Ersten Weltkrieg an die Russen zuruck verkauft und 1917 von einer deutschen Mine im Mittelmeer erneut versenkt. Das zweite Schiff der Pereswet-Klasse wurde nach Alexanders Waffenbruder Osljabja benannt. Die Osljabja sank 1905 in der Seeschlacht bei Tsushima. Am 8. Dezember 1999 wurde der Raketenforschungsstadt Nowostroika (russ. „Neubau“) bei Krasnosawodsk in der Oblast Moskau der offizielle Name Pereswet verliehen. Die Stadt fuhrt ihren Namenspatron als Reiter mit Lanze im Stadtwappen. Im Marz 2018 stellte die russische Regierung die neue Laserwaffe Pereswet mit einer angeblichen Reichweite von 1500 Kilometern vor, die gegnerische Satelliten- und Aufklarungssysteme blenden und damit außer Gefecht setzen konnen soll. Literatur Mark Galeotti: Kulikovo 1380: The Battle that Made Russia. Bloomsbury Publishing, Februar 2019. S. 57–60. ISBN 978-1-4728-3123-1. Weblinks Einzelnachweise
Alexander Pereswet (russisch Александр Пересвет, deutsch: „Alexander Lichtbringer“; † 8. September 1380 bei Kulikowo Pole in der Oblast Tula) war ein legendarer russisch-orthodoxer Monch. Pereswet trat zu Beginn der Schlacht auf dem Schnepfenfeld im Zweikampf gegen den tatarischen Krieger Temir-Mirza (Tschelubei) an. Beide Kontrahenten toteten sich gegenseitig, aber da Pereswet als Zweiter vom Pferd fiel, galt er als Sieger. Alexander Pereswet wurde auch in der Ara Putin als Held stilisiert, hat aber vermutlich nie existiert.
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c-982
Die Dame von Bonifacio ist das Skelett einer Frau aus dem Mesolithikum (Mittelsteinzeit), das an der Avenue Sylvere Bohn nordlich von Bonifacio auf der franzosischen Insel Korsika entdeckt wurde. Es fand sich am Abri Araguina-Sennola, einer als Monument historique eingestuften Fundstelle. Das etwa 9100 bis 9900 Jahre alte Skelett wurde 1972 von den Archaologen Francois de Lanfranchi (1926–2024) und Michel-Claude Weiss (1939–2021) ausgegraben. Es ist eine der altesten bekannten Bestattungen auf Korsika. Fundstelle und Beschreibung Der Abri war mit einer Unterbrechung im Mittelalter vom Mesolithikum bis zur Neuzeit besiedelt. Es wurden auch jungere Bestattungen gefunden. Die Stratigraphie besteht aus 53 Schichten mit einer Machtigkeit von uber 6 Meter. Araguina-Sennola wurde 1988 als historisches Denkmal eingestuft. Die Dame von Bonifacio wurde in Schicht XVIIIb entdeckt, die dem „Insel-Mesolithikum“ zugerechnet wird, also der mittelsteinzeitlichen Kultur Korsikas. Die Dame war 1,54 m groß und zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen 30 und 35 Jahre alt. Sie wurde mit einer großen Menge rotem Ocker bedeckt auf dem Rucken liegend begraben, ein Ritual, das dem des kontinentalen Mesolithikums ahnelt. Sie hatte im Laufe ihres Lebens Wachstumsstorungen und mehrere Traumata erlitten, darunter Arthritis, einen Bruch des linken Unterarms, einen gutartigen Knochentumor am Schienbein, infektiose Gewebeschadigung und vermutlich eine Kieferentzundung. Ihr linker Oberarm war gelahmt. Eine Fehlbildung des linken Fußes behinderte sie vermutlich beim Gehen. Zu ihrem Tod fuhrte offenbar eine Infektion, verursacht insbesondere durch einen gebrochenen Backenzahn. Das Skelett ist im Museum Alta Rocca in Levie (Sudkorsika) ausgestellt. Literatur Sylvain Gagniere, Francois de Lanfranchi, Jean-Claude Miskovsky, Michel Prost, Josette Renault-Miskovsky, Michel-Claude Weiss: L’abri d’Araguina-Sennola a Bonifacio (Corse) In: Bulletin de la Societe prehistorique francaise. Etudes et travaux, nos 66–1, 1969, S. 385–418 (ISSN 0583-8789 et 2437-2404). Francois de Lanfranchi, Michel-Claude Weiss: Le Neolithique ancien de l’'abri d'Araguina-Sennola (Bonifacio, Corse) In: Bulletin de la Societe prehistorique francaise. Etudes et travaux, nos 69-1, 1972, S. 376–388 (ISSN 0583-8789). Francois de Lanfranchi, Michel-Claude Weiss; Henri Duday: La sepulture preneolithique de la couche XVIII de l’abri d’Araguina-Sennola (Bonifacio, Corse) In: Bulletin de la Societe des Sciences Historiques et Naturelles de la Corse, no 606, 1973, S. 7–24 (ISSN 1154-7472). Weblinks Kurzbeschreibung und Foto Einzelnachweise
Die Dame von Bonifacio ist das Skelett einer Frau aus dem Mesolithikum (Mittelsteinzeit), das an der Avenue Sylvere Bohn nordlich von Bonifacio auf der franzosischen Insel Korsika entdeckt wurde. Es fand sich am Abri Araguina-Sennola, einer als Monument historique eingestuften Fundstelle. Das etwa 9100 bis 9900 Jahre alte Skelett wurde 1972 von den Archaologen Francois de Lanfranchi (1926–2024) und Michel-Claude Weiss (1939–2021) ausgegraben. Es ist eine der altesten bekannten Bestattungen auf Korsika.
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c-983
Die Nacht des Inferno (Originaltitel: Dante’s Inferno) ist ein US-amerikanischer Horror-Stummfilm aus dem Jahr 1924 von Henry Otto. Das Drehbuch basiert auf einer Geschichte von Cyrus Wood, die ihrerseits von Dante Alighieris epischem Gedicht Inferno, einem Teil der Gottlichen Komodie, inspiriert wurde. Handlung Die Taktiken des bosartigen und gierigen Geschaftsmanns Mortimer Judd bringen einen verzweifelten Mann namens Eugene Craig, den er in den Bankrott getrieben hat, schließlich an den Rand des Selbstmordes. Judd lehnt immer wieder Bitten um Wohltatigkeit ab und behandelt seine bettlagerige Frau schlecht. Dann erhalt er per Post ein Exemplar von Dantes Inferno und liest es. In diesem Gedicht erhebt ein schwebender Engel sein Schwert und teilt eine Legion von Damonen, um Dante passieren zu lassen. Nackte Sunder verbrennen in kochendem Teer und Selbstmorder werden in einem Wald in der Holle in lebende Baume verwandelt. Judd gerat in einen furchterregenden Traum, in dem er wegen Mordes angeklagt, hingerichtet und anschließend von Damonen in die Holle gebracht wird, wo er den Rest der Ewigkeit verbringen soll. Der Albtraum lehrt ihn Demut und die Bedeutung der Wohltatigkeit gegenuber denen, die weniger Gluck haben als er selbst. Er bekommt die Chance, sich zu rehabilitieren, indem er Eugene Craig vom Selbstmord abhalt. Hintergrund Am 23. Februar 1924 wurde berichtet, dass der Prasident der Fox Film Corporation, William Fox, beschlossen hatte, eine Adaption des Gedichts Inferno aus dem 14. Jahrhundert von Dante Alighieri zu produzieren. Das Projekt war die erste amerikanische Verfilmung von Dantes Werk, das in Italien und England bereits mehrere Male adaptiert worden war. Regieassistent war der spatere mehrfache Oscar-Gewinner Gordon Hollingshead. Ab dem 7. September 1924 wurde der Film in den US-Kinos gezeigt. 1935 produzierte 20th Century Fox mit Das Schiff des Satans eine weitere Adaption von Dantes Werk. Hier fand eine Traumsequenz aus dem ersten Film, die mit Toneffekten versehen wurde, erneut Verwendung. Die Nacht des Inferno wurde von Martin Scorseses The Film Foundation mit Unterstutzung des Museum of Modern Art restauriert. Kritiken Robert E. Sherwood schrieb im Magazin Life, das Werk, wie es auf der Leinwand zu sehen sei, sei ein wirkungsvoller Film. Es sei wahrscheinlich genau das, was Dante sich vorgestellt hatte, wenn er nach Hollywood statt in die Holle gegangen ware. Iris Barry vermerkte in der britischen Zeitschrift The Spectator, man konne nur Verstandnis fur den plumpen, wenn auch aufrichtigen Wunsch des US-Produzenten haben, den Kinos etwas Wurdevolleres zu bieten als ihre ubliche Kost. Man musse aber zugeben, dass er versagt habe. Offenbar sei viel Geld ausgegeben worden, um mit viel Material eine Holle zu erschaffen und sie mit nackten Mannern und Frauen zu bevolkern. Diese posierten in einer Reihe sanft animierter Tableau vivants, die beeindruckend sein sollten. Trotz ihrer Fulle gelinge es ihnen jedoch nur zweimal, dem Auge auch nur einen Moment Freude zu bereiten. Um Dante glaubwurdig zu machen, fungierten diese bemitleidenswerten Einblicke in die Holle als moralische Lehre, die in eine der ungeschicktesten Geschichten eingebettet seien, die je erdacht wurden. Weblinks Die Nacht des Inferno bei IMDb Die Nacht des Inferno in der Online-Filmdatenbank Einzelnachweise
Die Nacht des Inferno (Originaltitel: Dante’s Inferno) ist ein US-amerikanischer Horror-Stummfilm aus dem Jahr 1924 von Henry Otto. Das Drehbuch basiert auf einer Geschichte von Cyrus Wood, die ihrerseits von Dante Alighieris epischem Gedicht Inferno, einem Teil der Gottlichen Komodie, inspiriert wurde.
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c-984
Die Beziehungen zwischen dem Militarbundnis NATO und der Ukraine gehen auf das Jahr 1992 zuruck und zwei Jahre spater begann die Ukraine an der Partnerschaft fur den Frieden teilzunehmen. Ein vollstandiger NATO-Beitritt der Ukraine wurde erstmals von Leonid Kutschma in Erwagung gezogen, war zu dieser Zeit allerdings innenpolitisch hochumstritten. 1997 wurde in seiner Amtszeit eine gemeinsame NATO-Ukraine-Kommission ins Leben gerufen und Kutschma entsandte auch ukrainische Truppen in den Irakkrieg. Eine deutliche Annaherung an die NATO erfolgte in der Amtszeit von Wiktor Juschtschenko als ukrainischem Prasidenten (2005–2010) und auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wurde der Ukraine erstmals eine Mitgliedschaft in der NATO in Aussicht gestellt. Diese Annaherung wurde jedoch von seinem Nachfolger Wiktor Janukowytsch (2010–2014) großtenteils wieder ruckgangig gemacht. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Kriegs im Donbas gab die Ukraine ihre vormalige Neutralitat auf und begann eine vollstandige Westintegration einschließlich einer NATO-Mitgliedschaft anzustreben. Die Beziehungen zu den NATO-Staaten und der NATO selbst wurden in der Folgezeit deutlich gestarkt. Nach dem russischen Uberfall auf die Ukraine 2022 sprachen die NATO-Staaten ihre Solidaritat mit der Ukraine aus und leisteten der Ukraine militarische, wirtschaftliche und humanitare Hilfe, versuchten jedoch ein direktes Eingreifen in den Konflikt zu vermeiden. 2023 wurde die NATO-Ukraine-Kommission als Reaktion auf den russischen Angriff in einen NATO-Ukraine-Rat umgewandelt und der Ukraine ein beschleunigter Aufnahmeprozess gewahrt. Geschichte Im Jahr 1991 trat die Ukraine dem Nordatlantischen Kooperationsrat bei, einer von der NATO gegrundeten Institution zur Erleichterung der Konsultation und Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa in politischen und sicherheitspolitischen Fragen sowie zur Forderung der demokratischen Entwicklung in diesen Landern. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren deren Atomwaffen auf vier neue Staaten verteilt: Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan. Die NATO unterstutzte die Position der Vereinigten Staaten, die Atomwaffen der ehemaligen Sowjetunion der Kontrolle Russlands zu unterstellen und dass die Ukraine, Belarus und Kasachstan dem Atomwaffensperrvertrag, dem Vertrag zur Verringerung strategischer Waffen (englisch: Strategic Arms Reduction Treaty, abgekurzt START), dem Vertrag uber Konventionelle Streitkrafte in Europa und der Biowaffenkonvention beitreten sollen. Auf dem NATO-Gipfel in Rom am 8. November 1991 wurden diese Ziele in einer Erklarung bekraftigt. Am 23. Mai 1992 unterzeichneten die Ukraine, Belarus und Kasachstan das Lissabon-Protokoll, das die Verpflichtungen aus START auf alle atomaren Nachfolgestaaten der Sowjetunion ausweitete und in dem sie sich zum Beitritt zum Atomwaffensperrvertrag und zur Abschaffung ihrer Atomwaffen in einem festgelegten Zeitraum verpflichteten. Im Januar 1994 wurde wahrend des NATO-Gipfels in Brussel die Partnerschaft fur den Frieden (englisch: Partnership for Peace, abgekurzt PfP) ins Leben gerufen, um den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts eine schrittweise Annaherung an die NATO ohne Vollmitgliedschaft und Sicherheitsgarantien der Allianz nach Artikel 5 zu ermoglichen. Wahrend eines Zwischenaufenthalts in Kiew kundigte US-Prasident Bill Clinton am 12. Januar an, dass die Ukraine eingeladen wurde, der PfP beizutreten. Zwei Tage spater unterzeichneten Bill Clinton, der russische Prasident Boris Jelzin und der ukrainische Prasident Leonid Krawtschuk in Moskau das trilaterale Abkommen uber Atomwaffen. Die Ukraine trat der PfP formell am 8. Februar bei und war damit der erste GUS-Staat in der PfP. Im Juli 1994 wurde mit Leonid Kutschma ein neuer Prasident gewahlt. Im November trat die Ukraine dem Atomwaffensperrvertrag als nichtnuklearer Staat bei und im Dezember unterzeichneten die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Konigreich zusammen mit Russland auf dem Gipfeltreffen der Organisation fur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Budapest das Budapester Memorandum, das die Sicherheit der Ukraine und ihrer Grenzen garantierte. Dieses untersagte der Russischen Foderation, der Ukraine mit militarischer Gewalt oder wirtschaftlichem Zwang zu drohen oder diese anzuwenden, „außer zur Selbstverteidigung oder in anderer Weise in Ubereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen“. Das Vereinigte Konigreich und die Vereinigten Staaten fungierten als Garantiemachte. Im Gegenzug gab die Ukraine ihre Atomwaffen ab. Als die NATO ihre Partnerschaft fur den Frieden ankundigte, fielen die Reaktionen unterschiedlich aus. Lander wie die Tschechische Republik, Ungarn oder Polen, die auf einen raschen Beitritt zur NATO hofften, befurchteten, dass die PfP zu einer Warteschleife werden wurde, moglicherweise fur immer. Die Ukraine hingegen hatte keine Aussichten, dem Bundnis in absehbarer Zeit beizutreten, und befurchtete, dass die NATO-Erweiterung die Ukraine in einer Grauzone zwischen einer erweiterten NATO und Russland zurucklassen wurde. Der ukrainische Außenminister Anatolij Slenko erklarte: „Der Zerfall des Warschauer Blocks hinterließ in diesem Teil des Kontinents ein Sicherheitsvakuum, und praktisch alle neuen unabhangigen Staaten außerten den Wunsch zur Zusammenarbeit und schließlich der NATO und der Westeuropaischen Union (WEU) beizutreten, um ihre nationale Sicherheit zu gewahrleisten.“ Die Kutschma-Regierung verfolgte eine Politik des Ausgleichs zwischen Russland und dem Westen und sah die Kooperation mit der NATO als Gegengewicht zu Russland. Die Ukraine stellte 1995 ein Kontingent von 400 Mann fur den NATO-Einsatz im Bosnienkrieg ab. Die 1996 verabschiedete Verfassung der Ukraine, die sich auf die Unabhangigkeitserklarung vom 24. August 1991 stutzte, enthielt die Grundprinzipien der Blockfreiheit und der Neutralitat. Streitigkeiten mit Russland um die auf der Krim stationierte Schwarzmeerflotte und der damit verbundene russische Irredentismus begunstigten jedoch in den 1990er Jahren eine Annaherung der Ukraine an die NATO. Die NATO-Ukraine-Charta wurde auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 unterzeichnet, welche gemeinsame Ausbildung und Militarubungen und eine Teilnahme der Ukrainer an der Combined Joint Task Force festlegte. Fur die engere Kooperation wurde eine NATO-Ukraine-Kommission ins Leben gerufen. Die NATO eroffnete im selben Jahr ein Informationszentrum in Kiew und zwei Jahre spater ein Vertretungsburo. Im Jahr 2002 verschlechterten sich die Beziehungen der Regierungen der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Staaten zur Ukraine, nachdem der Kassettenskandal aufgedeckt hatte, dass die Ukraine angeblich ein hochentwickeltes ukrainisches Verteidigungssystem an den Irak von Saddam Hussein geliefert habe. Auch gab es im Westen weiterhin Bedenken hinsichtlich der Reaktion Russlands auf eine zu enge militarische Zusammenarbeit mit der Ukraine. Auf dem NATO-Erweiterungsgipfel im November 2002 verabschiedete die NATO-Ukraine-Kommission schließlich einen NATO-Ukraine-Aktionsplan. Die Erklarung von Prasident Kutschma, dass die Ukraine der NATO beitreten wolle (ebenfalls 2002), und die Entsendung ukrainischer Truppen in den Irak im Jahr 2003 folgten. Am 15. Juni 2004 erschien in der zweiten Ausgabe der Militardoktrin der Ukraine, die per Dekret von Kutschma verabschiedet wurde, eine Bestimmung uber die Umsetzung einer euro-atlantischen Integration der Ukraine, deren Endziel der Beitritt zur NATO war. Doch bereits am 15. Juli 2004 erließ Prasident Kutschma im Anschluss an eine Sitzung der Ukraine-NATO-Kommission ein Dekret, in dem er erklarte, dass der Beitritt zur NATO nicht mehr das Ziel des Landes sei, sondern lediglich „eine deutliche Vertiefung der Beziehungen zur NATO und zur Europaischen Union als Garanten fur Sicherheit und Stabilitat in Europa“. Nach der Orangenen Revolution im Jahr 2004 wurde Kutschma von Prasident Wiktor Juschtschenko abgelost, der ein großer Befurworter der NATO-Mitgliedschaft der Ukraine war. Bei einem Staatsbesuch von Juschtschenko in den USA im April 2005 sprach US-Prasident George W. Bush sich fur einen NATO-Beitritt der Ukraine aus. 2008 stellte die Ukraine einen Antrag auf einen Aktionsplan fur die Mitgliedschaft (Membership Action Plan) in der NATO. Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wurde der NATO-Beitritt der Ukraine diskutiert, wobei die USA die Ukraine unterstutzen, wahrend Deutschland und Frankreich bremsten. Ein Beitrittsplan wurde der Ukraine auf Druck Deutschlands und Frankreichs nicht gewahrt, in der Gipfelerklarung als Kompromiss jedoch verkundet, dass „die NATO die euro-atlantischen Bestrebungen der Ukraine und Georgiens begrußt. Wir kamen heute uberein, dass diese Lander NATO-Mitglieder werden.“ Diese Erklarung sorgte fur großen Unmut in Russland, ohne gleichzeitig die Ukraine konkret enger in die NATO zu integrieren oder einen Beitrittsprozess tatsachlich einzuleiten. In der Ukraine war die NATO-Annaherung umstritten. In einer Petition mit mehr als 2 Millionen Unterschriften wurde ein Referendum uber den Antrag der Ukraine auf Mitgliedschaft in der NATO gefordert. Im Februar 2008 sprachen sich 57,8 % der Ukrainer fur ein nationales Referendum uber den NATO-Beitritt aus, gegenuber 38,6 % im Februar 2007. Bei den Prasidentschaftswahl in der Ukraine 2010 wurde Wiktor Janukowytsch mit knapper Mehrheit zum Prasidenten gewahlt. In Bezug auf den NATO-Beitritt verfugte Janukowytsch im Mai 2010 die Schließung der Kommission, die sich mit der NATO-Bewerbung der Ukraine befasste, und bekraftigte seine seit langem vertretene Position, dass die Zusammenarbeit der Ukraine mit der NATO ausreichend sei und ein Beitrittsantrag nicht bevorstehe. Im Juni 2010 verabschiedete das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, ein Gesetz, das der Ukraine den Beitritt zu allen Militarblocken untersagte und schrieb damit die Neutralitat gesetzlich fest. Von 2009 bis 2014 spielte nach Angaben von Michael McFaul eine Erweiterung der NATO in Besprechungen zwischen US-Prasident Barack Obama und Dmitri Medwedew oder Wladimir Putin keine Rolle und NATO-Generalsekretar Anders Rasmussen erklarte im Oktober 2013, dass die Ukraine 2014 definitiv nicht der NATO beitreten werde. Wahrend des Euromaidan vom Februar 2014 stimmte das ukrainische Parlament fur die Absetzung Janukowitschs, aber die neue Regierung strebte zuerst keine Anderung des neutralen Status an. Russland besetzte und annektierte nach dem Sturz von Janukowitsch die Krim, und im August 2014 intervenierten regulare russische Armeeeinheiten im Donbass. Aus diesem Grund stimmte das ukrainische Parlament im Dezember 2014 dafur, den neutralen Status des Landes aufzugeben, und Prasident Petro Poroschenko verkundete, einen NATO-Beitritt anzustreben. Eine gemeinsame Litauisch-Polnisch-Ukrainische Brigade mit den NATO-Staaten Litauen und Polen wurde 2017 gebildet. Am 7. Februar 2019 stimmte das ukrainische Parlament dafur, das Ziel der NATO-Mitgliedschaft neben einem EU-Beitritt in der Verfassung als Staatsziel zu verankern. Zahlreiche NATO-Mitglieder blieben weiterhin zogerlich, wenn es um einen vollstandigen Beitritt der Ukraine ging. Im Marz 2016 erklarte der Prasident der Europaischen Kommission, Jean-Claude Juncker, dass es mindestens 20 bis 25 Jahre dauern wurde, bis die Ukraine der EU und der NATO beitreten konnte. Die militarischen Beziehungen der NATO zur Ukraine wurden allerdings deutlich vertieft und im Juli 2016 das Comprehensive Assistance Package for Ukraine zur Starkung der Kapazitaten der ukrainischen Streitkrafte verabschiedet. Unter Prasident Wolodymyr Selenskyj wurde die Ukraine am 12. Juni 2020 in das Enhanced Opportunities Program der NATO aufgenommen, wobei die Interoperabilitat der ukrainischen und der NATO-Streitkrafte gestarkt wurde und die Ukraine zu einem der engsten Partner der NATO aufstieg. 2021 wurde auf dem NATO-Gipfel in Brussel eine „Politik der offenen Tur“ fur die Ukraine und Georgien beschlossen. Nach dem Beginn des russischen Uberfalls auf die Ukraine 2022 unterstutzen die NATO-Mitgliedstaaten die Ukraine mit Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfen und verhinderten so eine schnelle Niederlage der Ukrainer. Die NATO-Staaten waren fur 99 Prozent der Unterstutzung fur die Ukraine verantwortlich. Einige NATO-Mitglieder wie Polen forderten auch ein direktes Eingreifen in den Konflikt. Am 30. September 2022 stellte die Ukraine offiziell einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO in einem verkurzten Prozess. Auf dem NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 wurde beschlossen, der Ukraine einen einstufigen beschleunigten Aufnahmeprozess ohne vorherigen Membership Action Plan zu gewahren. Dafur wurde die bestehende NATO-Ukraine-Kommission in den NATO-Ukraine-Rat umgewandelt. Eine Beitrittsperspektive wurde jedoch erst in Aussicht gestellt, wenn der bewaffnete Konflikt im Land beendet ist. Auf dem folgenden NATO-Gipfel in Washington im Juli 2024 wurde verkundet, dass die Ukraine sich auf einem „unumkehrbaren Weg zur vollstandigen Euro-Atlantischen Integration, einschließlich der NATO-Mitgliedschaft befindet“. Die NATO-Mitglieder verzichteten allerdings darauf, eine Einladung zum Beitritt der Ukraine zu verabschieden, auch da Deutschland und die USA sich dagegen ausgesprochen hatten. Diese werde erfolgen, „wenn die Verbundeten sich einig und Voraussetzungen erfullt sind“. Militarische Zusammenarbeit Seit 2014 wurde die militarische Zusammenarbeit zwischen beiden Seiten deutlich ausgebaut und die NATO fur die Ukraine zum wichtigsten Sicherheitspartner. So wurden die ukrainischen Streitkrafte mit Unterstutzung der NATO von sowjetischer Ausrustung und Militartaktiken mit dem 2016 eingefuhrten Comprehensive Assistance Package auf moderne westliche Standards gebracht und der NATO angeglichen, um eine volle Interoperabilitat mit dessen Streitkraften zu gewahrleisten. Seit 2014 wurden mehrere Treuhandfonds eingerichtet, die Mittel zur Unterstutzung der Entwicklung von Fahigkeiten und des nachhaltigen Aufbaus von Kapazitaten in Schlusselbereichen bereitstellen. Im Jahr 2021 hat die NATO alle bereits bestehenden Treuhandfonds zur Unterstutzung der Ukraine konsolidiert und in einen einzigen Treuhandfonds fur die Ukraine uberfuhrt. Nach dem Februar 2022 hat die NATO die Ukraine mit nicht-todlicher Ausrustung (non-lethal assistance) unterstutzt, darunter Rationen, Treibstoff und Schutzausrustung. Einzelne NATO-Staaten haben die Ukraine im Krieg mit Russland mit todlichen Waffen beliefert, ukrainische Truppen fur Kampfeinsatze ausgebildet und der Ukraine mit Geheimdienstinformationen geholfen. 2024 wurde das Nato Security Assistance and Training for Ukraine eingerichtet, welches von seinem Hauptsitz in Wiesbaden aus Waffenlieferungen an die Ukraine und die Ausbildung von ukrainischen Soldaten koordiniert. Fur die militarische Unterstutzung der Ukraine haben die NATO-Lander 2024 fur die folgenden Jahre eine jahrliche Mindestsumme von 40 Milliarden Euro vereinbart. Am 17. Februar 2025 wurde in Bydgoszcz in Polen das Joint Analysis Training and Education Centre (JATEC) eingeweiht. Im JATEC wollen die NATO-Bundnispartner gemeinsam mit der Ukraine die zivil-militarischen Erfahrungen aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine analysieren und diese Erfahrungen in die Strategie, Politik und Operationen der NATO und der Ukraine einfließen lassen. Damit sollen die eigenen Ziele besser erreicht werden konnen. Das Center wird eine gemeinsame NATO-Ukraine-Einheit darstellen, die direkt dem Supreme Allied Commander Transformation untersteht und von einem polnischen Brigadegeneral geleitet wird. Offentliche Meinung = Ukraine = Eine offentliche Meinungsumfrage in der Ukraine vom November 2000 ergab, dass 30 % fur einen NATO-Beitritt, 40 % dagegen und 30 % unentschlossen waren. Laut zahlreichen unabhangigen Umfragen, die zwischen 2002 und den Ereignissen von 2014 durchgefuhrt wurden, war die offentliche Meinung in der Ukraine in Bezug auf die NATO-Mitgliedschaft gespalten, wobei die Mehrheit der Befragten den Beitritt zum Militarbundnis ablehnte und viele ihn als Bedrohung ansahen. Eine im Oktober 2008 durchgefuhrte Gallup-Umfrage ergab, dass 43 % der Ukrainer die NATO als Bedrohung fur ihr Land ansahen, wahrend nur 15 % sie als Schutz betrachteten. Die meisten Befragten waren zu diesem Zeitpunkt auch gegen den prowestlichen Kurs von Prasident Juschtschenko. Noch 2012 waren 70 Prozent der Ukrainer gegen eine NATO-Mitgliedschaft. Nach der russischen Militarintervention von 2014, der Annexion der Krim und dem Beginn des Donbas-Krieges anderten viele Ukrainer ihre Ansichten uber die NATO: Umfragen von Mitte 2014 bis 2016 zeigten, dass die Mehrheit bzw. Pluralitat der Ukrainer nun die NATO-Mitgliedschaft unterstutzten, auch wenn die Mehrheiten knapp waren. Bei einer Umfrage im Januar 2022 unterstutzen 64 % der Ukrainer den Beitritt der Ukraine zur NATO, wahrend 17 % ihn nicht unterstutzen und 13 % keine eindeutige Meinung hatten. In der Westukraine (73 %), in der Stadt Kiew (71 %) und in der Sudukraine (59 %) gab es die meisten Befurworter eines NATO-Beitritts. In der Ostukraine fand die Idee mit 47 % der Befragten am wenigsten Unterstutzung. Nach dem russischen Angriff auf das Land sprachen sich im Jahr 2023 zwischen 80 und 92 % der Befragen fur einen NATO-Beitritt aus. = In NATO-Staaten = Ein NATO-Beitritt der Ukraine wurde 2022 in Deutschland von mehr Leuten abgelehnt (46 %) als unterstutzt (36 %). In Frankreich war die Meinung gespalten, wahrend in Polen eine Mehrheit von 62 % den Beitritt der Ukraine unterstutzte. Position Russlands zum NATO-Beitritt der Ukraine 1999 unterzeichnete Russland die Europaische Sicherheitscharta, in der das Recht jedes Staates bekraftigt wird, „seine Sicherheitsvereinbarungen selbst zu wahlen oder zu andern“ und Bundnissen beizutreten, wenn er dies wunscht. 2002 erhob der russische Prasident Wladimir Putin keine Einwande gegen die intensivierten Beziehungen der Ukraine zum NATO-Bundnis und erklarte, dies sei eine Angelegenheit der Ukraine und der NATO. Am 2. April 2004, drei Tage nach dem Beitritt der baltischen Staaten zur NATO, erklarte Putin im Beisein von Bundeskanzler Gerhard Schroder auf einer gemeinsamen Pressekonferenz: „Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Foderation“. 2005 sagte Putin, wenn die Ukraine der NATO beitreten wolle, „werden wir ihre Entscheidung respektieren, denn es ist ihr souveranes Recht, uber ihre eigene Verteidigungspolitik zu entscheiden, und dies wird die Beziehungen zwischen unseren Landern nicht verschlechtern“. Ab 2008 lehnte Russland den Beitritt der Ukraine zur NATO jedoch entschieden ab und begann ihn als Bedrohung fur die eigene Sicherheit zu bezeichnen. Auf dem Bukarester NATO-Gipfel im April 2008 drohte Putin Berichten zufolge damit, Teile der Ukraine zu annektieren, falls diese der NATO beitreten sollte. Er setzte diese Drohung 2014 in die Tat um, nachdem der prorussische ukrainische Prasident Wiktor Janukowytsch seine Macht verloren hatte. Gegen Ende des Jahres 2021 begann der russische Prasident Putin russische Truppen an der Grenze mit der Ukraine zu versammeln. Er verkundete, dass die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in der Ukraine durch die NATO eine „rote Linie“ fur Russland darstellen wurde. Im Dezember 2021 verlangte die russische Regierung unter anderem, dass die NATO alle Aktivitaten in ihren osteuropaischen Mitgliedstaaten einstellt und der Ukraine oder anderen ehemaligen Sowjetstaaten den Beitritt zur NATO untersagt. Im Februar des folgenden Jahres begann Russland einen großangelegten Angriff auf die Ukraine von mehreren Richtungen aus und versuchte die Hauptstadt Kiew einzunehmen, was scheiterte. Als eine Hauptbegrundung fur den Angriff wurde von den Russen eine NATO-Integration der Ukraine genannt, welche ein inakzeptables Risiko fur Russlands nationale Sicherheit darstellen wurde. Das US-amerikanische Institute for the Study of War sah diese Begrundung allerdings vorwiegend als einen Vorwand an, um die eigenen offensiven Intentionen zu verdecken. Dmitri Medwedew, Putins Stellvertreter im russischen Sicherheitsrat, sagte 2024: „Wir mussen alles tun, damit der ‚unumkehrbare Weg‘ der Ukraine zur NATO mit dem Verschwinden sowohl der Ukraine als auch der NATO endet“. Literatur Rebecca R. Moore: Ukraine’s Bid to Join NATO: Re-evaluating Enlargement in a New Strategic Context. In: James Goldgeier, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson (Hrsg.): Evaluating NATO Enlargement. From Cold War Victory to the Russia-Ukraine War. Palgrave Macmillan, Cham 2023, ISBN 978-3-03123364-7, S. 373–414, doi:10.1007/978-3-031-23364-7_12 (englisch). Weblinks Die Beziehungen der Ukraine zur EU und zur NATO. Landeszentrale fur politische Bildung Baden-Wurttemberg; abgerufen am 8. September 2024 Relations with Ukraine. NATO, 19. Juli 2024; abgerufen am 8. September 2024 (englisch). Cooperation with NATO. Außenministerium der Ukraine, 6. August 2021; abgerufen am 8. September 2024 (englisch). Einzelnachweise
Die Beziehungen zwischen dem Militarbundnis NATO und der Ukraine gehen auf das Jahr 1992 zuruck und zwei Jahre spater begann die Ukraine an der Partnerschaft fur den Frieden teilzunehmen. Ein vollstandiger NATO-Beitritt der Ukraine wurde erstmals von Leonid Kutschma in Erwagung gezogen, war zu dieser Zeit allerdings innenpolitisch hochumstritten. 1997 wurde in seiner Amtszeit eine gemeinsame NATO-Ukraine-Kommission ins Leben gerufen und Kutschma entsandte auch ukrainische Truppen in den Irakkrieg. Eine deutliche Annaherung an die NATO erfolgte in der Amtszeit von Wiktor Juschtschenko als ukrainischem Prasidenten (2005–2010) und auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 wurde der Ukraine erstmals eine Mitgliedschaft in der NATO in Aussicht gestellt. Diese Annaherung wurde jedoch von seinem Nachfolger Wiktor Janukowytsch (2010–2014) großtenteils wieder ruckgangig gemacht. Nach der russischen Annexion der Krim 2014 und dem Beginn des Kriegs im Donbas gab die Ukraine ihre vormalige Neutralitat auf und begann eine vollstandige Westintegration einschließlich einer NATO-Mitgliedschaft anzustreben. Die Beziehungen zu den NATO-Staaten und der NATO selbst wurden in der Folgezeit deutlich gestarkt. Nach dem russischen Uberfall auf die Ukraine 2022 sprachen die NATO-Staaten ihre Solidaritat mit der Ukraine aus und leisteten der Ukraine militarische, wirtschaftliche und humanitare Hilfe, versuchten jedoch ein direktes Eingreifen in den Konflikt zu vermeiden. 2023 wurde die NATO-Ukraine-Kommission als Reaktion auf den russischen Angriff in einen NATO-Ukraine-Rat umgewandelt und der Ukraine ein beschleunigter Aufnahmeprozess gewahrt.
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c-985
Der Knowsley Safari Park ist ein Safaripark in dem Dorf Knowsley bei Prescot im Metropolitan Borough of Knowsley in North West England. Die Großstadte Liverpool und Manchester liegen in Entfernungen von rund 12 Kilometern im Westen bzw. 40 Kilometern im Osten. Der Park ist bei der European Association of Zoos and Aquaria (EAZA) sowie der British and Irish Association of Zoos and Aquariums (BIAZA) akkreditiert. Geschichte Bereits Ende des 18. Jahrhunderts sammelte Edward Smith-Stanley, 13. Earl of Derby auf dem seinen Besitz Knowsley Hall umgebenden Parkgelande viele Vogel, Fische und Saugetiere, die in England vorher nie zu sehen waren. Als er starb, war sein Zoo mit einem Bestand von 756 Tieren der großte in Großbritannien. Den Gedanken, exotische Tiere auszustellen, griff Edward Stanley, 18. Earl of Derby (1918–1994) spater erneut auf und es begannen erste Planungen fur eine entsprechende Einrichtung. Im Jahr 1971 offnete Stanley einen kleinen Tierpark auf einem Teil des Grundbesitzes der Familie. Im Laufe der Jahre wurde der Tierpark erweitert und in den 1980er Jahren ein Safarigelande hinzugefugt, das es den Besuchern ermoglichte, den Park mit ihren eigenen Fahrzeugen zu erkunden. Der Erfolg der Safari fuhrte zur Erweiterung des Gelandes und der Anschaffung weiterer Tiere in den 1990er Jahren sowie zu umfangreichen Restaurierungsarbeiten in den 2000er Jahren. Seit 1994 befindet sich der Park im Besitz von Edward Stanley, 19. Earl of Derby. Der Olympische Fackellauf als Teil der olympischen Symbole im Rahmen der Olympischen Sommerspiele 2012 in London fuhrte auch durch den Knowsley Safari Park. Im Jahr 2013 war der Knowsley Safari Park Start- und Zielort eines Einzelzeitfahrens der dritten Etappe des Straßenradrennens Tour of Britain. 2024 betrug die Besucherzahl etwa 526.000 Personen. Anlagenkonzept und Tierbestand Der Knowley Safari Park beherbergt rund 700 Tiere in ca. 100 verschiedenen Arten. Das Gelande ist in Bereiche unterteilt, die mit Personenkraftwagen befahren oder zu Fuß begangen werden konnen. Einen Schwerpunkt bildet die Haltung von Antilopenarten. Der Park bietet große Busch- und Grasflachen mit viel Platz fur Tiere, die sich so bewegen konnen, wie sie sich in freier Wildbahn verhalten wurden. = Anlagenbereich fur Personenkraftwagen = Mit ihren privaten Personenkraftwagen fahren die Besucher auf einer kurvenreichen Straße durch elf verschiedene Zonen. Die darin lebenden Tiere sind uberwiegend nach geografischen Gesichtspunkten zusammengestellt. Die Fahrzeuge durfen im Gelande nicht verlassen werden, Fenster mussen stets geschlossen bleiben. Die Tiere durfen nicht gefuttert werden, wenngleich sie oftmals unmittelbar an die Fahrzeuge herankommen und um Futter betteln. = Anlagenbereich fur Fußganger = Ein Fußgangerrundweg fuhrt um einen kleinen See sowie entlang von Anlagen fur Haustiere, Lamas und Giraffen zu einer Amur Tiger Trail genannten Anlage, wo die Moglichkeit besteht, Tiger von außen oder von einer gesicherten inneren Aussichtsanlage zu beobachten. Im Fußgangerbereich befinden sich außerdem Becken fur Seelowen sowie ein kleines Stadion, in dem Vorfuhrungen mit Greifvogeln stattfinden. Der Park verfugt außerdem uber eine Schmalspureisenbahn und einen großen Kinderspielplatz. Forschungs- und Arterhaltungsprogramme Der Knowsley Safari Park beteiligt sich direkt oder finanziell an vielen nationalen und internationalen Forschungs- und Arterhaltungsprogrammen. Zu den nationalen Projekten zahlen beispielsweise die folgenden: Das Red Squirrel Recovery Network ist bestrebt, das Eurasische Eichhornchen (Sciurus vulgaris) in Schottland sowie im Nordwesten Englands zu erhalten. Durch das Vordringen des als Neozoon eingeburgerten nordamerikanischen Grauhornchens (Sciurus carolinensis) sind die Populationen des Eurasischen Eichhornchens auf den Britischen Inseln erheblich zuruckgegangen. Der Mersey Gateway Environmental Trust setzt sich fur die Erhaltung des Lebensraums einheimischer Arten im Mundungsgebiet des River Mersey ein. Das Projekt Native Species Surveying erfasst die Arten- und Individuenzahl der in der naheren Umgebung des Safariparks vorkommenden Fledermaus-, Vogel-, Amphibien-, Reptilien-, Kleinsauger- und Wirbellose-Arten. Außer der Fauna wird auch die Flora des Gebietes erfasst. Im Rahmen mehrerer internationaler Programme unterstutzt der Knowsley Safari Park beispielsweise die folgenden: Helping Rhino ist ein Projekt, das sich um verwaiste Nashorner kummert sowie mit Bildungsaktivitaten auf die Gefahrdung der Tiere hinweist. Die Wild Camel Protection Foundation unterstutzt das Management und die tierarztliche Behandlung von kritisch gefahrdeten Wildkamelen. Die Bear Conservation Society fordert die Erhaltung von Brillenbaren in ihren naturlichen Lebensraumen in Peru. Beim Projekt Western Derby Eland beteiligt sich der Safaripark finanziell an Aktionen zur Erhaltung der Lebensraume der Riesen-Elenantilope (Taurotragus derbianus). Galerie Die nachfolgende Bildauswahl zeigt einige Saugetiere aus dem Bestand des Knowsley Safari Park: Weblinks Visit Liverpool Einzelnachweise
Der Knowsley Safari Park ist ein Safaripark in dem Dorf Knowsley bei Prescot im Metropolitan Borough of Knowsley in North West England. Die Großstadte Liverpool und Manchester liegen in Entfernungen von rund 12 Kilometern im Westen bzw. 40 Kilometern im Osten. Der Park ist bei der European Association of Zoos and Aquaria (EAZA) sowie der British and Irish Association of Zoos and Aquariums (BIAZA) akkreditiert.
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c-986
Altamiro Aquino Carrilho (* 21. Dezember 1924 in Santo Antonio de Padua (Rio de Janeiro); † 15. August 2012 in Rio de Janeiro) war ein brasilianischer Komponist, Dirigent und Flotist. Er wurde 1998 mit dem Ordem do Merito Cultural da Presidencia da Republica in seinem Heimatland ausgezeichnet. Er gilt als Meister der von ihm bevorzugten Querflote und als Arrangeur des traditionellen Choros. Zu Lebzeiten war er in ganz Brasilien beruhmt und galt als „Legende des Choros“. Seine Tourneen fuhrten ihn in 48 Lander. Mehr als 100 Langspielplatten zeugen von diesem Erfolg. Familie Altamiro war Sohn des Zahnchirurgen Octacilio Goncalves („Sal“) Carrilho und dessen Frau Lyra Deimo de Aquino Carrilho, der gern auch Patienten nahm, die sozial benachteiligt waren und ihn nicht bezahlen konnten. Altamiro beschrieb seinen Vater als stark und charismatisch, der ohne jegliche physische Gewalt die Erziehung seiner Kinder vollzog. Seine Mutter beschrieb er als eine fursorgliche Person, die es schaffte, mit allen Widrigkeiten im Leben zurechtzukommen. Sie entstammte als erste Tochter einem musikalischen Elternhaus. Ihre Vornamen erhielt sie in Anlehnung an das Saiteninstrument, da ihr Vater Carlos Manso de Aquino ebenfalls eine große Leidenschaft fur Musik hatte und diese selbst praktizierte. Neben ihrer stundenlangen Arbeit in einer Apotheke ermunterte Altamiros Mutter Lyra ihren Sohn gegen Abend, Musik zu machen. Sie sang viel und besorgte ihm im Alter von funf Jahren eine Bambusflote. Er liebte das Instrument und verbrachte seine Kindheit damit, Karnevalsmelodien zu spielen. Altamiro hatte acht Bruder, von denen ein weiterer, Alvaro Carrilho (1930–2017), ebenfalls Flotist werden sollte. Karriere In den 1940er Jahren nahm er mit dieser Flote an einem Wettbewerb im Radio teil, bei dem er mit Pixinguinhas Ohrwurm Carinhoso den ersten Platz erzielte. Noch heute (2021) gilt dieser Song als meistgespielter Titel im brasilianischen Radio. Auch er arbeitete spater in der Apotheke, und sein Chef, der die Geldnote und das Talent des Jungen erkannt hatte, kaufte ihm auf Vorschuss zu seinem Lohn eine richtige Flote. Dessen Freund, der Musiker Joaquim Jose Fernandes, war ebenfalls von ihm uberzeugt und gab ihm zusammen mit seinem eigenen Sohn kostenlos Unterricht, um ihm ein Musikstudium zu ermoglichen. Bei einem Auftritt im Fernsehstudio mit Ari Barroso beeindruckte er das Publikum mit seiner versierten Spielweise, die er trotz eines Defekts an seinem Instrument bravouros meisterte. Dieser Fernsehauftritt machte sich fur Altamiro bezahlt. Direkt daran anknupfend wurde er von Mario Santiago (* 1928) angesprochen, der ihn einlud, in seiner Gruppe zu spielen. Dies hatte nicht nur erhebliche finanzielle Vorteile, sondern eroffnete auch die Moglichkeit, mit bekannten Musikern wie Rogerio Guimaraes und Benedito Lacerda zusammenzuarbeiten. Kurz darauf grundete Carrilho seine eigene Gruppe und ersetzte schließlich Benedito Lacerda bei verschiedenen Aufnahmen, als dieser erkrankte. Die Anekdote beleuchtet Carrilhos Erfahrungen und die Auswirkungen von Zufallsbegegnungen auf seine musikalische Karriere. In der Folge arbeitete Altamiro Carrilho tatsachlich mit namhaften brasilianischen Musikern des Choros zusammen, an erster Stelle mit Pixinguinha, dessen Hit sein erster offentlicher Schritt in die Musikkarriere gewesen war. Carrilho wurdigte diesen Ausnahmemusiker als einfachen und bescheidenen Menschen, den er bis zu seinem Lebensende musikalisch begleiten durfte. Als „launenhaftig“ beschrieb Carrilho seinen Freund und Musikerkollegen Luiz Americano, der Meister auf Klarinette und Saxophon sowie ein großartiger Komponist gewesen sei. Auch sein Bruder Alvaro Carrilho sowie dessen Sohn Mauricio Carrilho (* 1957) waren bekannte Popularmusiker Brasiliens. Noites Cariocas von 1980, eines der besten Choro-Alben mit Altamiro Carrilho, Flote, Chiquinho, Akkordeon, Joel Nascimento, Mandoline, Paulinho da Viola, Cavaquinho, Paulo Moura, Klarinette, Paulo Sorgio Santos, Klarinette und Saxophon, enthielt 17 Standards, die teilweise in den 1980er und 1990er Jahren gecovert wurden von Laurindo Almeida, Charlie Byrd, Paulo Moura, Raphael Rabello (1962–1995), Richard Stoltzman und anderen. Einzelnachweise
Altamiro Aquino Carrilho (* 21. Dezember 1924 in Santo Antonio de Padua (Rio de Janeiro); † 15. August 2012 in Rio de Janeiro) war ein brasilianischer Komponist, Dirigent und Flotist. Er wurde 1998 mit dem Ordem do Merito Cultural da Presidencia da Republica in seinem Heimatland ausgezeichnet. Er gilt als Meister der von ihm bevorzugten Querflote und als Arrangeur des traditionellen Choros. Zu Lebzeiten war er in ganz Brasilien beruhmt und galt als „Legende des Choros“. Seine Tourneen fuhrten ihn in 48 Lander. Mehr als 100 Langspielplatten zeugen von diesem Erfolg.
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c-987
Der Seoul Forest (koreanisch 서울숲, Seoulsup) ist ein im Jahr 2005 eroffneter bewaldeter Park im Herzen der Stadt Seoul (서울) in Sudkorea. Geographie Der Seoul Forest befindet sich im Stadtteil Seongsu-dong (성수동), rund 7 km ostlich des Stadtzentrums von Seoul sowie an dem Ort, wo der Nebenfluss Jungnangcheon (중랑천) in den Hangang (한강) mundet. Die Anlage umfasst eine Flache von 116 ha und erstreckt sich mit Unterbrechungen uber eine Lange von rund 1,165 km in Sudwest-Nordost-Richtung, von rund 1,25 km in Westnordwest-Ostsudost-Richtung und von rund 1,26 km in Nord-Sud-Richtung. Der Park wird neben den Straßen Gangbyeonbuk-ro (강변북로) und Dongbuganseondo-ro (동부간선도로), die uferseitig zwischen den Flussen und dem Areal des Parks verlaufen, von zwei Straßen durchkreuzt. Die Seoul Metropolitan City Route 30, auch Ttukseom-ro (뚝섬로) genannt, die in Ost-West-Richtung verlauft, und die Seoul Metropolitan City Route 51, auch Gosanja-ro (고산자로) genannt, die eine Nord-Sud-Richtung vornimmt, teilen das Areal des Parks in drei Teile. Geschichte Das Gelande des heutigen Parks wurde wahrend der Joseon-Dynastie (1392–1910) als konigliches Jagdrevier genutzt. Im Jahr 1908 wurde in einem Teil des Gelandes eine Wasseraufbereitungsanlage installiert, die Teile von Seoul mit Trinkwasser versorgen sollte. Auch wurde das Gebiet als Golfplatz, als Sportpark und zum Teil als Galopprennbahn fur den Pferdesport genutzt. Es war unter dem Namen Ttukseom Resort (뚝섬유원지) bekannt, wo in den 1960er und 1970er Jahren Kinder spielen und man mit Booten auf den Seen fahren konnte. In den 1990er Jahren plante man dann, in dem Areal ein Wohn- und Geschaftszentrum einzurichten. Doch in Ermangelung an Parks in dem Bereich von Seoul entschied man sich schließlich fur die Entwicklung eines Parks. Im Jahr 2003 fand fur die Realisierung des Projektes eine Ausschreibung statt, die das Unternehmen Dongsimwon Landscape Design & Construction gewann und mit der Realisierung begann. Im Juni 2005 wurde dann der Park feierlich eroffnet und den Burgern zuganglich gemacht. Das Projekt kostete die Stadt Seoul seinerzeit insgesamt 235,2 Mrd. KRW, was nach damaligem Umrechnungskurs 167,76 Mio. Euro entsprach. Die Stadtregierung von Seoul sagte damals, dass sie den Seoul Forest zu einem Park machen wolle, der mit dem Central Park in New York City und dem Hyde Park in London vergleichbar ist. Konzept Der Park ist in vier Themenbereiche untergliedert, in den Kultur- und Kunstpark, den Erlebnislernpark, den Okowald und den Sumpfokogarten. In dem Teil, der der Kultur und der Kunst vorbehalten ist, befindet sich eine Buhne fur Konzerte und Veranstaltungen und sind verschiedene Skulpturen zu finden. Dieser Teil, der sich in der Mitte des Gelandes befindet, ladt auch zum Picknick und fur Kinder zum Spielen ein. Der als Erlebnislernpark bezeichnete Teil entstand durch den Umbau der ehemaligen Wasseraufbereitungsanlage. Er ladt zum Lernen uber das Thema Okologie ein. Der Okowald ist der am dichtesten bewaldete Teil des Parks und wurde mit in der Gegend um Seoul heimischen Baumarten bepflanzt. Die Attraktion in diesem Teil stellen die Sikahirsche dar, die in einem abgesperrten Bereich leben und fur Besucher von einer Fußgangerbrucke aus, die uber das Areal verlauft, gut zu betrachten sind. Auch die vielen Kirschbaume im Okowald stellen in ihrer Blutezeit im Fruhling eine Attraktion dar. Der Sumpfokogarten ist aus einem bestehenden Stausee entstanden, der fruher bei Hochwasser das Wasser aufnahm. Der See, der sich im nordlichen Teil der Anlage befindet, ladt zur Vogelbeobachtung und zum Betrachten der Pflanzen im Feuchtgebiet ein. Hierzu wurden Holzstege zum Begehen des Gebietes errichtet. Burgerbeteiligung Im Planungsprozess wurden Meinungen und Anregungen der Burger in Workshops und offentlichen Anhorungen zusammengetragen. Im Gestaltungsprozess trugen Burger dann Spendengelder zusammen und halfen als Beispiel mit, zehntausende Baume zu pflanzen. Der im Jahr 2003 gegrundete Seoul Green Trust ubernahm seit der Eroffnung des Seoul Forest zusammen mit Burgern die Ausgestaltung verschiedener Programme und in den Jahren 2016 bis 2021 die Verwaltung des Parks. Der Park ist der erste seiner Art in Sudkorea, bei dem sich die Burger von Seoul am gesamten Prozess, angefangen von der Planung, uber die Gestaltung und die Verwaltung bis hin zum Betrieb des Seoul Forest beteiligen konnten. Literatur Kim Mo A: Die grune Lunge von Seoul. In: Koreana. Jahrgang 19, Nr. 2. The Korea Foundation, 2024, ISSN 1975-0617, S. 30–33 (deutschsprachige Ausgabe). Weblinks Einzelnachweise
Der Seoul Forest (koreanisch 서울숲, Seoulsup) ist ein im Jahr 2005 eroffneter bewaldeter Park im Herzen der Stadt Seoul (서울) in Sudkorea.
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c-988
Jonathan Jacob Meijer (geboren 1981 oder 1982) ist ein Samenspender, der in den Niederlanden geboren wurde. Im April 2023 schatzte ein niederlandisches Gericht, dass mit Meijers Ejakulat zwischen 500 und 600 Kinder gezeugt worden seien, moglicherweise sogar bis zu 3000 Kinder auf mehreren Kontinenten. Biografischer Hintergrund Meijer wurde 1981 oder 1982 in eine Familie mit sieben weiteren Geschwistern geboren. Er studierte Sozialkunde auf Lehramt und arbeitete bis 2010 als Lehrer. Beschaftigungen als Postbote und Berater fur Kryptowahrungen folgten. 2023 gab er Musiker als Beruf an. Illegale Samenspenden und Gefahr ungewollten Inzests Meijer begann im Jahr 2007 mit Samenspenden. Im Jahr 2017 wurde Meijer die Samenspende fur niederlandische Kliniken untersagt, nachdem die niederlandische Gesellschaft fur Geburtshilfe und Gynakologie festgestellt hatte, dass er der Vater von uber 100 Kindern war, die in elf verschiedenen Kliniken durch kunstliche Befruchtungen gezeugt wurden. In den Niederlanden verpflichtet sich ein Samenspender per Gesetz einer einzigen Samenbank und diese darf maximal 25 Portionen des Ejakulats fur kunstliche Befruchtungen zur Verfugung stellen. Die Dutch Donor Child Foundation stellte fest, dass zusatzlich zu den 102 in Kliniken in-vitro-gezeugten Kindern mindestens 80 weitere Kinder in den Niederlanden durch private Vereinbarungen gezeugt wurden. Die Spermien von Meijer sollen so weit verbreitet sein, dass in Almere drei seiner Kinder in derselben Nachbarschaft gewohnt und sogar gemeinsam dieselbe Kindertagesstatte besucht haben sollen. Nach seinem Spenderverbot in den Niederlanden spendete Meijer weiterhin fur internationale Kliniken wie Cryos International sowie fur private Websites. Meijer hat auch in der Ukraine gespendet, und angesichts seiner zahlreichen Reisen u. a. nach Mexiko ist es nicht ausgeschlossen, dass auch hier gespendet wurde. Meijers Nachkommen leben auch in Spanien, Deutschland, Italien, Belgien, Australien und Argentinien. Gerichtsverfahren Im Jahr 2023 reichte die Donorkind-Stiftung eine Zivilklage gegen Meijer ein, in der sie gerichtliche Schritte beantragte, da sie einen ungewollten Inzest unter den Kindern befurchtete und die niederlandische Hochstzahl von 25 Spenderkindern uberschritten wurde. Meijer verteidigte sich damit, dass er lediglich Eltern helfen wollte, die nicht schwanger werden konnten, und dass eine Entscheidung gegen ihn einer juristischen Kastration gleichkame. Meijer erklarte dem Gericht, dass er derzeit nur an Eltern spendet, die bereits ein Kind mit ihm gezeugt haben. Im April 2023 ordnete ein niederlandisches Gericht an, dass Meijer kein Sperma mehr spenden darf, und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 100.000 Euro fur jeden weiteren Verstoß. Außerdem wurde Meijer vom Gericht angewiesen, die Vernichtung seines in Kliniken gelagerten Samens zu beantragen, es sei denn, er wird als Reserve fur Eltern von Kindern gehalten, die mit seinem Samen gezeugt wurden. Das Gericht stellte fest, dass Meijer die Empfanger von Samenspenden uber die Zahl der von ihm gezeugten Kinder „absichtlich falsch informiert“ hat. Das Gericht stellte fest, dass dadurch ein „riesiges Verwandtschaftsnetz mit Hunderten von Halbgeschwistern“ entsteht und dass es „hinreichend plausibel“ ist, dass die Kinder dadurch negative psychosoziale Folgen erleiden konnten. Selbsteinschatzung Wahrend des Prozesses wurde Meijer mit dem Vorwurf des Klageranwalts konfrontiert, dass die Kinder emotionale Probleme hatten, unter anderem weil sie nicht all ihre Halbgeschwister kennenlernen konnten. Auf die Frage des Richters, wie er sich eine Familie mit 550 Kindern vorstelle, antwortete Meijer, dass es sich dabei um ein „neues Konzept“ handele, und bemerkte: „Es liegt an uns, das zu gestalten. Die Frage ist auch: Ist es notwendig, mit all den anderen Kindern eine Beziehung einzugehen?“ Diese Bemerkung kam bei den Empfangereltern nicht gut an, deren Anwaltin erklarte, dass sie das Gefuhl hatten, in ein „seltsames soziales Experiment“ geraten zu sein. Meijer bezeichnete sich selbst als „bekannter Spender plus“ und war der Meinung, sich stark fur die Kinder einzusetzen, die er gezeugt habe. Sein Anwalt sagte: „Am Vatertag bekommt er Dutzende von Paketen mit netten Basteleien zugeschickt. Er hat jeden Tag mit den Kindern und ihren Eltern zu tun.“ Netflix-Dokumentation Im Juli 2024 veroffentlichte Netflix eine Dokumentation uber Meijer, die den Namen Der Mann mit 1000 Kindern tragt. In der Dokumentation werden die durch Meijer gezeugten Kinder auf zwischen 500 und 3000 geschatzt. Im September 2024 gab Meijer bekannt, dass er gegen die Ausstrahlung der Serie Klage eingereicht habe, da die Zahlen uber seine Vaterschaften in der Serie nicht wahrheitsgemaß dargestellt worden seien. Einzelnachweise
Jonathan Jacob Meijer (geboren 1981 oder 1982) ist ein Samenspender, der in den Niederlanden geboren wurde. Im April 2023 schatzte ein niederlandisches Gericht, dass mit Meijers Ejakulat zwischen 500 und 600 Kinder gezeugt worden seien, moglicherweise sogar bis zu 3000 Kinder auf mehreren Kontinenten.
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c-989
Josef Kleefisch (auch Joseph) (* 13. Juli 1861 in Koln; † 4. Marz 1931 ebenda) war ein deutscher Goldschmied. Zusammen mit seinem Schwiegervater Gabriel Hermeling gehorte Kleefisch Ende des 19. Jahrhunderts „zu den gefragtesten Kunsthandwerkern, wenn es um Silber- und Emailarbeiten im karolingischen und gotischen Stil ging“. Werdegang Kleefisch trat 1888 zunachst als Teilhaber in das Kolner Goldschmiedeatelier von Gabriel Hermeling (1833–1904) ein. Er war ab 1899 alleiniger Eigentumer des Ateliers, nachdem sich Hermeling, sein Schwiegervater, wegen schwerer Krankheit hatte zuruckziehen mussen. Zu Kleefischs Freundeskreis gehorte der bedeutende Kunstsammler und uber weitreichende Beziehungen verfugende Kolner Domherr Alexander Schnutgen, der ihm Ausstellungen und den Kontakt zu wichtigen Auftraggebern ermoglichte. Ausstellungen, Preise, Ehrungen Kleefisch konnte ab 1901 jahrlich im Kolner Diozesanmuseum und 1903 und 1904 mit Einzelausstellungen im Kolner Kunstgewerbemuseum ausstellen. 1904 stellte er seine Arbeit auf der Weltausstellung in St. Louis vor und wurde dort mit einem „Grand Prix“ ausgezeichnet. Seine Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden der 1908 gegrundeten „Meister-Gerhard-Gilde“ zeigte seine gute Vernetzung und Achtung unter Kolner Kunstlern. Privatleben Kleefisch war mit einer Tochter Gabriel Hermelings verheiratet. Werke Die Werkzuschreibung erscheint heute nicht immer einfach, da er zunachst mit dem Namen seines Schwiegervaters signierte und die Mitwirkung von Mitarbeitern des Ateliers nicht immer geklart ist. Zugeordnet wird ihm heute eine doppelflugelige Tabernakeltur (inzwischen Kolnisches Stadtmuseum), um 1905 entstanden. Der heutige Agilolphusschrein im Kolner Dom wurde von Josef Kleefisch 1914 gearbeitet. In der Kirche St. Hildegard in Eibingen erstellte er 1929 zum 750. Todestag von Hildegard von Bingen den Hildegardisschrein nach Entwurfen des Monches Radbod Commandeur. Nach der Teilnahme an der Weltausstellung in St. Louis widmete er sich verstarkt auch profanen Metallarbeiten, die er erstmalig auf der 7. Jahresausstellung der „Vereinigung Kolner Kunstler“ im Kunstgewerbemuseum vorstellte. Fur das Kolner Ratssilber fertigte er 1904 den Tafelaufsatz Die Industrie und fuhrte auch die von Ernst Riegel entworfenen Fruchtschalen aus. Einzelnachweise
Josef Kleefisch (auch Joseph) (* 13. Juli 1861 in Koln; † 4. Marz 1931 ebenda) war ein deutscher Goldschmied. Zusammen mit seinem Schwiegervater Gabriel Hermeling gehorte Kleefisch Ende des 19. Jahrhunderts „zu den gefragtesten Kunsthandwerkern, wenn es um Silber- und Emailarbeiten im karolingischen und gotischen Stil ging“.
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c-990
Pack die Badehose ein ist ein deutscher Schlager aus dem Jahr 1951, der die sommerlichen Badefreuden Berliner Kinder im Strandbad Wannsee aufgreift. Der Text stammt von dem damals 32-jahrigen Architekten und Horzu-Karikaturisten Hans Bradtke, der ihn in gerade einmal einer Viertelstunde niedergeschrieben haben soll. Die in C-Dur und im Vier-Viertel-Takt gehaltene Melodie komponierte Gerhard Froboess fur Knabenchor und Orchester. Das Lied wurde ursprunglich fur die Schoneberger Sangerknaben geschrieben. Bekannt wurde es durch eine Aufnahme, in der sie es mit Froboess’ Tochter Cornelia als Solistin singen, die dadurch uber Nacht zum Kinderstar wurde. Geschichte Das Lied wurde zunachst 1951 von den Schoneberger Sangerknaben, begleitet vom Tanzorchester Kurt Drabek, eingespielt (Katalognummer: Electrola EG 7582). Durch einen Zufall sang die damals siebenjahrige Cornelia Froboess, die Tochter des Komponisten, dem Studioleiter des RIAS Hans Carste das Lied vor, der ihr daraufhin im Mai 1951 einen Auftritt in der Radioshow Mach mit mit Ivo Veit ermoglichte. Aufgrund des Erfolgs dieses Auftritts wurde das Lied am 26. Juni 1951 mit der „kleinen Cornelia“, wie die Kindersangerin genannt wurde, mit Begleitung der Combo von Heinrich Riethmuller in einer West-Berliner Kirche erneut aufgenommen, die Schoneberger Sangerknaben waren als Begleitchor ebenfalls beteiligt (Katalognummer: Electrola EG 7610). Im Kollektivgedachtnis der Bundesrepublik verankerte sich Cornelia Froboess damit als lockere spontane Berliner Gore. Berichte, wonach Froboess das Lied 1951 anlasslich der ersten Berlinale im Titania-Palast vor Publikum gesungen habe, sind nicht belegbar und wurden von der Kunstlerin selbst in einem Interview in Zweifel gezogen. Im folgenden Jahr schaffte es Froboess auf die Titelseite des Spiegel. In dem Spielfilm Laß die Sonne wieder scheinen von 1955 sang Cornelia Froboess das Lied ebenfalls. Rezeption Pack die Badehose ein fand großen Anklang und wurde zu einem Hit der Saison. Mitgespielt haben durfte, dass sich das Publikum nach der NS-Zeit mit ihrer Marschmusik und den Blut-und-Boden-Volksliedern nach heiter beschwingten Melodien sehnte. In der DDR war das Lied dagegen zeitweise regional verboten, weil man darin – auch wegen der Erwahnung von Tom Mix – eine Huldigung an das amerikanische Lebensgefuhl sah. Auch sah man es kritisch, dass es Werbung fur den im Westteil Berlins liegenden Wannsee machte. 1951 erschien eine DDR-Version des Schlagers mit Erna Haffner und dem Tanzorchester des Senders Leipzig unter der Leitung von Kurt Henkels ohne die Westbezuge. Dort ist der Text an mehreren Stellen geandert: aus dem „Wannsee“ wurde „Strandbad“, aus dem „Grunewald“ „grune[r] Wald“, und aus „Tom Mix anseh’n“ wurde „einen Film anseh’n“. Ein Vorfall vom 5. August 1952, als ein Madchen im Strandbad Wannsee durch einen amerikanischen Querschlager verletzt wurde, inspirierte die ostdeutsche Kabarettistin Gina Presgott zu einer Satireversion mit dem Text „Schließ’ die Badehose ein, lass’ das Baden lieber sein, denn der Ami schießt am Wannsee“. Weitere Coverversionen Bislang erschienen ca. 20 deutsche Coverversionen von Pack die Badehose ein, darunter von Frank Zander (1988), den Lollipops (2000) und Gotthilf Fischer (2013). Interpreten von außerhalb des Berliner Raums ersetzen – wie zuvor schon in der DDR-Version von Erna Haffner – das Wort „Wannsee“ mitunter durch „Strandbad“ und den „Grunewald“ durch „den grunen Wald“. Leoni Kristin ersetzt in ihrer Version von 1995 Tom Mix durch den zeitgenossischeren Tom Hanks. Hinzu kommen etliche instrumentale Fassungen. Niederlandische Versionen erschienen unter dem Titel Naar de speeltuin mit Heleentje van Cappelle (einer Verwandten von Wilma Landkroon), englische unter The Hookey Song und The Never-Never-Land. Daneben gibt es eine schwedische Version Den glada karusellen. Weblinks Text auf songtexte.com Berliner (Schoneberger) Sangerknaben – Pack die Badehose ein (1951) auf YouTube Die kleine Cornelia (Cornelia Froboess) – Pack die Badehose ein (1951) auf YouTube Heleentje Van Capelle – Naar De Speeltuin auf YouTube Erna Haffner und das Tanzorchester des Senders Leipzig unter der Leitung von Kurt Henkels: Pack’ die Badehose ein (Amiga 1330 A) auf YouTube Einzelnachweise
Pack die Badehose ein ist ein deutscher Schlager aus dem Jahr 1951, der die sommerlichen Badefreuden Berliner Kinder im Strandbad Wannsee aufgreift. Der Text stammt von dem damals 32-jahrigen Architekten und Horzu-Karikaturisten Hans Bradtke, der ihn in gerade einmal einer Viertelstunde niedergeschrieben haben soll. Die in C-Dur und im Vier-Viertel-Takt gehaltene Melodie komponierte Gerhard Froboess fur Knabenchor und Orchester. Das Lied wurde ursprunglich fur die Schoneberger Sangerknaben geschrieben. Bekannt wurde es durch eine Aufnahme, in der sie es mit Froboess’ Tochter Cornelia als Solistin singen, die dadurch uber Nacht zum Kinderstar wurde.
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c-991
Die KGB-Residentur Dresden (russisch резидентура КГБ в Дрездене) war eine regionale Außenstelle des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sie befand sich in der Angelikastraße 4 in Dresden. In der Residentur wurde den ublichen auslandsgeheimdienstlichen Tatigkeiten nachgegangen, besonders jedoch den Problemen der sowjetischen Streitkrafte im Bezirk Dresden (1. Gardepanzerarmee). Dafur bestand ein enges Arbeitsverhaltnis mit der Bezirksverwaltung fur Staatssicherheit Dresden. Außenstellen der Residentur waren das Haus der DSF in Dresden und weitere Einrichtungen mit sowjetischem Bezug wie die dortige Sowjetische Handelsvertretung. Mit dem Abzug der sowjetischen Streitkrafte vom Gebiet der ehemaligen DDR wurden auch die KGB-Residenturen aufgegeben. Besondere Bedeutung erlangt diese Residentur, weil hier von 1985 bis Februar 1990 Wladimir Wladimirowitsch Putin stationiert war und seitdem mit Nikolai Tokarew (seit 2007 Transneft-Chef) und Sergei Tschemesow (seit 2013 Rostec-Chef) zusammenarbeitet. Hier begann auch Putins Kontakt zu Matthias Warnig (zwischenzeitlich Leiter von Nordstream). Aktuell (2024) wird das Gebaude als „Rudolf-Steiner-Haus“ der Anthroposophischen Gesellschaft genutzt. Standort und Struktur Die Villa Angelikastraße 4 lag gleich um die Ecke der Bezirksverwaltung fur Staatssicherheit in Dresden. In dem Gebaude sollen sechs bis acht sowjetische Offiziere nachrichtendienstlichen Tatigkeiten nachgegangen sein. Als bauliche Besonderheit wird immer wieder auf eine Sauna im Keller hingewiesen. Die KGB-Residentur Dresden verfugte – wie alle Residenturen in den Bezirksstadten – uber ein „Inneres Gefangnis“. Solche „Inneren Gefangnisse“ wurden dazu genutzt, Festgenommene zu sammeln, sie in Untersuchungs- oder Vorbeugehaft zu nehmen und sie auf spezielle Lager zu verteilen oder in Haftstatten in der Sowjetunion zu deportieren. Die aus dem 19. Jahrhundert stammende Papier- und Kartonagenfabrik in der Bautzner Straße wurde 1932 zum Mietshaus (Heidehof) umgebaut. Nach Kriegsende nutzte die sowjetische Besatzungsmacht die Keller des Hauptgebaudes sowie jene der umliegenden Villen, um sowjetische Geheimdienst-Haftzellen einzurichten. Dort begann meist der Weg in sowjetische Lager. Verstorbene aus dem Dresdener Tatigkeitsbereich des KGB wurden auf dem Sowjetischen Garnisonfriedhof Dresden bestattet, anders als in der KGB-Residentur Magdeburg, wo sie direkt auf dem Gelande verscharrt wurden. Geschichtlicher Zusammenhang = Geschichte des Hauses = Die Villa wurde 1908/1909 im Auftrag von Major Oskar Ehlert nach Planen des Architekten Martin Pietzsch erbaut. In den 1930er Jahren gehorte das Haus dem Dirigenten Karl Bohm (1894–1981). Mit dem Einmarsch der Sowjetarmee am Ende des Zweiten Weltkrieges besetzte diese die Villa. Unklar ist, ab wann genau, nach 1945, das Gebaude vom KGB genutzt wurde. = Putin in Dresden = Ab 1985 arbeitete Wladimir Putin in der Angelikastraße 4. Zur gleichen Zeit haben auch Jewgeni Schkolow, der zeitweise mit Putin in einem Buro gesessen haben soll, Nikolai Petrowitsch Tokarew (seit 2007 Chef von Transneft) und Sergei Wiktorowitsch Tschemesow (seit 2013 Chef von Rostec) in der KGB-Residentur gearbeitet. Ob auch der 1948 in der Weißrussischen SSR geborene Wladimir Usolzew, der eine KGB-eigene Hochschule absolviert hatte, ab Mitte der 1980er Jahre sich mit Wladimir Putin das Dienstzimmer teilte, ist umstritten. Allerdings wird angenommen, dass er mit Wladimir Gortanow identisch ist, der von 1982 bis 1987 auch unter dem Alias „Wladimir Nikolajewitsch Agartanow“ in Dresden stationiert war. Putin selbst sagte spater uber seine Arbeit in Dresden, sie habe in ganz „normaler“ Aufklarungstatigkeit bestanden: „Anwerben von Informationsquellen, Erhalt, Bearbeitung und Weiterleitung von Informationen an die Zentrale … Alles Routinearbeit.“ Zu seinen Aufgaben sollen die Ausforschung des DDR-Kombinats Robotron gehort haben und der Aufbau eines Moskau-treuen Agentennetzes. Noch 2019 wollten sich Nachbarn erinnern konnen, dass Putin einmal den Schlussel zur Dresdener KGB-Residentur verloren haben soll. Zwar gibt es Publikationen, nach denen Putin den Stasi-Agenten Klaus Zuchold fur den KGB angeworben haben soll, ebenso soll er den Neonazi Rainer Sonntag (1955–1991) fur den KGB gefuhrt haben. Dies wird aber von Hubertus Knabe als „reines Phantasieprodukt“ eingestuft. Ab wann Matthias Warnig, der zuletzt mit der Leitung der deutsch-russischen Gaspipeline Nordstream betraut war, Kontakt zu Putin hatte, ist umstritten. Sie begegneten sich spatestens im Januar 1989, als sie gemeinsam an Feierlichkeiten zum 71. Jahrestag der Tscheka teilnahmen. Er war Teil einer von Putin gegrundeten KGB-Zelle in Dresden. Als es am 5. Dezember 1989 zur Besetzung der Bezirksverwaltung fur Staatssicherheit Dresden durch etwa 5000 Demonstranten kam, zogen im Anschluss zahlreiche Demonstranten weiter zur benachbarten KGB-Residentur, um diese ebenfalls zu besetzen. Dies gelang jedoch nicht, wobei sich die Erinnerungen an den genauen Hergang dieses Ereignisses voneinander unterscheiden. Eine Darstellung besagt, Putin habe sich am Eingang allein den Demonstranten entgegengestellt. Er konnte sich aufgrund seiner Deutschkenntnisse als Dolmetscher ausgegeben und habe den Demonstranten mitgeteilt, die Sowjetsoldaten hatten Befehl, zu schießen. „[D]erweil lud ein Soldat seine Kalaschnikow durch. Das wirkte, die Menge zog ab.“ „Die KGB-Vertretung wurde von den Demonstranten letztlich nicht besetzt. Doch Putin und die anderen Mitarbeiter sind gezwungen, Akten zu vernichten. Muhsam gesammelte Informationen gehen in Flammen auf.“ Selbst habe er mehrfach telefonisch vergeblich versucht, weitere Einheiten aus den benachbarten Militarstutzpunkten anzufordern. Dagegen wird seit einiger Zeit folgende Version als wahrscheinlicher angesehen: „Der Versuch einiger Burger, dieses Gebaude ebenfalls zu betreten, wird durch Sowjetsoldaten, bewaffnet mit der Kalaschnikow, energisch unterbunden. Die sich bis heute haltende Behauptung, Wladimir Putin sei dabei gewesen, kann von niemandem wirklich bestatigt werden. Ein Mitglied des Neuen Forums sieht stattdessen einen sowjetischen Offizier die ganze Zeit auf dem Hof der Bezirksverwaltung stehen, der die Besetzung beobachtet, aber keinerlei Reaktion zeigt.“ Gemein ist den Darstellungen, dass Putin mit der sowjetischen Fuhrung unzufrieden war. Von den zahlreichen Akten des KGB in Dresden existieren nur noch wenige, da Putins damaliger Chef Wladimir Schirokow Ende 1989 zwolf Lastwagenladungen mit Dokumenten ins Hauptquartier der 1. Gardepanzerarmee bringen ließ, „wo sie verbrannt wurden.“ Im Februar 1990 wurde Putin zuruck in die UdSSR beordert. Uber die Grunde seiner Zuruckbeorderung existieren verschiedene Versionen. Putin selbst behauptet, dies sei freiwillig geschehen. Die andere Version lautet, dass Putin zuruckbeordert wurde, da er keine gute Arbeit in Dresden lieferte. Laut dem letzten Leiter der Hauptverwaltung A des Ministeriums fur Staatssicherheit Werner Großmann zeigte sich dies bei einem Vorfall im Jahre 1990, bei dem Putin versuchte, eine bereits enttarnte Quelle an das KGB zu vermitteln. Diese versuchte Anwerbung deckte der ehemalige Doppelagent Klaus Kuron auf, so dass Großmann das KGB in Moskau warnen konnte. Nach Großmann konnte dieser durch Kuron aufgedeckte Vorfall eine Rolle bei Putins Zuruckbeorderung gespielt haben. In Russland wurde Putin bald zu einem Vizeburgermeister von Sankt Petersburg ernannt. Sein Sekretar wurde der KGB-Mitarbeiter Igor Setschin, der seit 2012 Vorstandsvorsitzender von Rosneft ist. Die Auflosung der KGB-Residentur erfolgte zwischen Februar 1990 und 15. August 1994, dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen aus dem Militarstadtchen Nr. 7. Ehemalige Leiter der Residentur 1975–1982: Generalmajor Pjotr Wladimirowitsch Tschwertko (1915–2000, Петр Владимирович Чвертко) 1982–1988: Generalmajor Lasar Lasarewitsch Matwejew (* 1927, Лазарь Лазаревич Матвеев) 1988–1990: Wladimir Alexandrowitsch Schirokow (1933–2007, Владимир Александрович Широков) Rezeption Als in den 1990er Jahren das ZDF-Magazin Kennzeichen D versuchte, nachzuforschen, wie Putin in Dresden war, stellte der Moskau-Korrespondent Dietmar Schumann fest: „Ich traf in Dresden ehemalige SED-Parteifunktionare und Offiziere der Bezirksverwaltung des MfS. Keiner sagte mir auch nur ein einziges Wort uber Putin. Aber ich erfuhr: Abgesandte des FSB (KGB-Nachfolger) waren in Dresden aufgetaucht und hatten allen, die Putin kannten, bei Strafe verboten, sich uber ihn offentlich zu außern.“ In dem 2021 entstandenen Dokumentarfilm Ein Palast fur Putin von Alexei Nawalny wird auf Putins Tatigkeit in der Angelikastraße 4 eingegangen. Der Kunstler Markus Draper hat im April 2023 die Ausstellung „Haus in der Nahe eines großen Waldes“ im Kunstlerhaus Bethanien in Berlin gestaltet, deren Vorlage Putins Zeit als KGB-Agent in der DDR war. Akten und Literatur = Akten = Die Karteikarten von KGB-Agenten in Dresden tragen allesamt die Registriernummer XII 2135/74. = Literatur = Douglas Selvage, Georg Herbstritt (Hrsg.): Der »große Bruder«. Studien zum Verhaltnis von KGB und MfS 1958 bis 1989. Vandenhoeck & Ruprecht, Gottingen 2022, ISBN 978-3-525-31733-4 doi:10.13109/9783666317330 Hubertus Knabe: Putins Lehrjahre in Dresden vom 5. November 2022 Jorg R. Mettke, Fritjof Meyer und Andreas Wassermann: Die Last des Eisernen, in: Spiegel vom 9. Januar 2000 Wladimir Usolzew: Mein Kollege Putin: Als KGB-Agent in Dresden 1985 - 1990. Edition Berolina 2014. ISBN 978-3-86789-829-4 Sven Robel und Wolfgang Tietze: Putin, die RAF und der Dietmar aus Dillingen. In: Spiegel vom 2. Juni 2023 Weblinks Putins Dresdner Seilschaften auf YouTube, MDR investigativ, 36:36 Minuten „Der hat immer Bier getrunken, nie Schnaps“—Auf Putins Spuren in Dresden – Vice Putin und seine Rolle als KGB-Mann in Dresden, in: mdr.de vom 24. Februar 2022. Einzelnachweise
Die KGB-Residentur Dresden (russisch резидентура КГБ в Дрездене) war eine regionale Außenstelle des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes KGB in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sie befand sich in der Angelikastraße 4 in Dresden. In der Residentur wurde den ublichen auslandsgeheimdienstlichen Tatigkeiten nachgegangen, besonders jedoch den Problemen der sowjetischen Streitkrafte im Bezirk Dresden (1. Gardepanzerarmee). Dafur bestand ein enges Arbeitsverhaltnis mit der Bezirksverwaltung fur Staatssicherheit Dresden. Außenstellen der Residentur waren das Haus der DSF in Dresden und weitere Einrichtungen mit sowjetischem Bezug wie die dortige Sowjetische Handelsvertretung. Mit dem Abzug der sowjetischen Streitkrafte vom Gebiet der ehemaligen DDR wurden auch die KGB-Residenturen aufgegeben. Besondere Bedeutung erlangt diese Residentur, weil hier von 1985 bis Februar 1990 Wladimir Wladimirowitsch Putin stationiert war und seitdem mit Nikolai Tokarew (seit 2007 Transneft-Chef) und Sergei Tschemesow (seit 2013 Rostec-Chef) zusammenarbeitet. Hier begann auch Putins Kontakt zu Matthias Warnig (zwischenzeitlich Leiter von Nordstream). Aktuell (2024) wird das Gebaude als „Rudolf-Steiner-Haus“ der Anthroposophischen Gesellschaft genutzt.
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c-992
Der Kaien ist sowohl ein Berg als auch eine Siedlungslandschaft und ein Passubergang im Appenzeller Vorderland in der Schweiz. Der Berggipfel (1122 m u. M.), der Kaienspitz und lokal Stobetebuel genannt wird, ist die am weitesten im Norden liegende Erhebung mit einer Hohe von uber 1000 Metern in den Appenzeller Alpen. Name Der seit dem 17. Jahrhundert in den Quellen bezeugte Siedlungs- und Bergname Kaien ist vom mittelhochdeutschen Wort Ghei mit der Bedeutung «Gehege, eingehegter Wald» abgeleitet. Er war somit ursprunglich ein Flurname in der im Spatmittelalter urbarisierten Zone. Der Name wird im Appenzeller Dialekt noch fast unverandert als Gheie ausgesprochen. In der Region hat der Rastplatz auf dem Kaienspitz den Namen Stobetebuel erhalten. Das schweizerdeutsche Wort Stubete bezeichnet einen Besuch bei befreundeten Personen und als Stobete im Appenzeller Brauchtum eine traditionelle Zusammenkunft, die oft mit Verpflegung und musikalischer Unterhaltung verbunden ist, und Buel, von althochdeutsch buhil, ist ein Flurname, der markante Hugel oder Berge bezeichnet. Geographie Die Bergkuppe des Kaienspitz bildet die hochste Stelle im Gebiet der Gemeinde Rehetobel und liegt zwei Kilometer ostlich des Dorfes. Der 400 Meter nordostlich gelegene Nebengipfel (1115 m u. M.) befindet sich in der Gemeinde Grub. Der nachstgelegene hohere Berg Sitz 3,1 Kilometer sudlich des Kaien gehort schon zur sudostlichen Bergkette der Appenzeller Alpen hoch uber dem St. Galler Rheintal. Das sechs Kilometer lange und etwa zwei Kilometer breite Bergmassiv des Kaien erstreckt sich von der Schlucht der Goldach im Westen in ostnordostlicher Richtung bis zum Tal des Gstaldenbachs, der seine Quelle am Kaien hat, in der Gemeinde Heiden. Auf der Nordseite begrenzen die Taler des Landgrabens, der ein Zufluss der Goldach ist, im Westen und des Mattenbachs im Osten den Berg. Sudlich von Rehetobel liegt der Graben des Moosbachs, der am Sudhang des Kaien und sudwestlich des gleichnamigen Passubergangs entspringt. Die steilen, zumeist bewaldeten Berghange werden von kleinen Bachen entwassert, die in tiefen Runsen zu den Talbachen abfliessen. Im Tobel bei Gstalden tritt eine mineralhaltige Quelle zu Tage, die im Appenzeller Heilbad von Rechstein genutzt wird und fruher auch zur Herstellung von Getranken der Marke Unterrechsteiner Mineralwasser diente. Das bewaldete Areal Gupfloch am Graben des Kaienbachs (im Oberlauf auch Gigerenbach genannt) nordwestlich des Kaienspitz ist als kantonales Naturwaldreservat ausgewiesen. Siedlungslandschaft An den Bergflanken liegen zwischen den Waldern in Rodungsgebieten Weideflachen und Einzelhofe, die beim Landesausbau seit dem spaten Mittelalter entstanden. Die hochste Bergweide erreicht von Westen den Gipfel des Kaienspitz, auf dessen Nordseite ein Waldstuck erst im 20. Jahrhundert abgeholzt wurde. Das Grunland am Kaien wird fur die intensive Viehwirtschaft mit Milch- und Fleischproduktion genutzt. Die Landwirtschaftsbetriebe in den hoheren Zonen von Rehetobel und Grub sind gemass dem schweizerischen Produktionskataster dem Gebietstyp «Bergzone II» zugeordnet, wo die gegenuber den Betrieben im Flachland erschwerten Produktionsbedingungen durch Direktzahlungen und andere Beitrage ausgeglichen werden. Die Streusiedlungen tragen unter anderem Namen wie Kaien, Oberkaien, Ausserkaien, Roterkaien, Gigeren, Gupf, Oberrechstein, Hochi und Oberhochi. Die Bauernhauser am Kaien entsprechen einem Bautyp der traditionellen Appenzeller Architektur. Das Kreuzfirsthaus besteht aus einem giebelstandigen Wohnhaus, dessen Fassade durch Fensterbander gegliedert ist, und einem quer dazu angebauten Stall. Einige ehemalige Weideflachen, vor allem im Gebiet Gigeren, sind nach der Aufgabe der Bewirtschaftung durch Vergandung wieder zugewachsen und erneut zu Wald geworden. Geologie Im geologischen Aufbau besteht der Berg aus machtigen Sandstein- und vereinzelten Nagelfluhschichten der Unteren Susswassermolasse, die bei der Gebirgsbildung der Alpen zu schrag aufragenden Schuppen verschoben wurden. In den bei Rehetobel aufgeschlossenen Sandsteinbanken wurden fossile Pflanzenreste gefunden. Auf den Berghangen liegen Moranen aus verschiedenen Epochen des Eiszeitalters und an einigen Stellen, vor allem in bewaldeten Bachrunsen und bis fast zur Gipfelhohe des Kaien, sind Findlinge aus den Alpen verstreut. Wahrend der Berg in der Risseiszeit wohl vom Eisstrom des Rheingletschers fur eine lange Zeit zugedeckt war, wobei er seine abgerundete Gestalt erhielt, ragte er in mehreren Phasen der letzten Eiszeit als ausserster Vorsprung der Appenzeller Voralpen uber die Eisoberflache hinaus. Das Tobel des Kaienbachs entstand eiszeitlich aus einer Karmulde. Verkehr Der Bergsattel Kaien (966 m u. M.) bildet einen Knotenpunkt im Strassennetz des Kantons Appenzell Ausserrhoden. Mehrere Strassen laufen von verschiedenen Seiten zur Passhohe, die auch Scheidweg genannt wird: Die Hauptstrasse 463 verbindet den Westen des Kantons Appenzell Ausserrhoden uber den Pass mit den ostlichen Ortschaften des Bezirks Vorderland und mit Rheineck im Kanton St. Gallen. Die Kantonsstrasse 35 fuhrt vom Kaien aus gegen Westen nach Rehetobel und in die Goldachschlucht und die Kantonsstrasse 50 gegen Osten nach Oberegg und an die Hauptstrasse 445, die von St. Gallen nach Diepoldsau im St. Galler Rheintal verlauft. Der hohe Bergsattel, wo es offentliche Parkplatze und Gasthauser gibt, ist ein Ausgangspunkt fur Bergwanderungen. Von 1876 bis 1987 bestand das Postburo Kaien, eine der kleinsten Poststellen der Schweiz. Auf dem Platz finden manchmal am Ende der Sommerungszeit auf den hoheren Bergweiden nach dem Alpabzug Viehschauen statt. Tourismus Der Kaien bietet als hochster Aussichtspunkt in der Nahe des Bodensees eine gute Sicht auf die umliegende Landschaft. Nur die Blickrichtung gegen Sudosten ist durch den Wald auf dieser Seite der Bergkuppe etwas eingeschrankt. In der Nahe sind das Appenzeller Land, die Berggruppe des Alpstein und der nur funf Kilometer entfernte Bodensee und daruber hinaus Gebiete des Thurgau, des Hegau in Baden-Wurttemberg, der Aussichtsberg Pfander bei Bregenz und die Allgauer Alpen zu sehen. Im Suden geht der Blick zum Ratikon und im Westen zum Santis und zahlreichen anderen Bergen bis zum Pilatus in der Zentralschweiz. 1863 bestieg Julius Scholz aus Berlin, der spater als Professor und Alpinist und einer der Grunder des Deutschen Alpenvereins bekannt wurde, auf einer Alpenreise auch den Kaien. Etwas unterhalb des Berggipfels befindet sich das 1952 gebaute Kaienhaus der Naturfreunde der Region Rorschach. Zwischen Rehetobel und dem Kaienspitz steht an aussichtsreicher Lage das Gasthaus zum Gupf (Gourmetrestaurant). Der Nordhang des Kaien wurde im 20. Jahrhundert als Skigebiet bekannt. In schneereichen Wintern waren fruher lange Abfahrten im freien Gelande, mit einer Gegensteigung bei Grub, bis zum Bodensee hinunter moglich. Von der Hauptstrasse 445 zwischen Grub und Halten (845 m u. M.) aus erschliesst ein Skilift das offene Gebiet bei der Siedlung Kaien an der Gemeindegrenze zu Rehetobel (1065 m u. M.), einen halben Kilometer vom Berggipfel entfernt. Die Skipisten liegen am Schattenhang auf den Weideflachen von Grub. Von allen Seiten fuhren Wanderwege auf den Kaien. Die nationale Wanderroute Nr. 3 «Alpenpanorama-Weg», die regionale Wanderroute Nr. 22 «Kulturspur Appenzellerland» und eine Mountainbike-Route uberqueren den Bergrucken. Die Ortschaften in der Umgebung des Berges sind mit offentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Von St. Gallen aus besteht eine Postautoverbindung nach Rehetobel und zum Parkplatz auf dem Passubergang Kaien, eine andere Buslinie aus St. Gallen bedient Haltestellen in Grub und bei der Talstation des Skilifts, und von Rorschach aus fuhrt die Rorschach-Heiden-Bergbahn bis in die Ortschaft am Bergfuss im Osten. Literatur Raphaela Moczynski: Kompass Wanderfuhrer Bodensee. Dumont Reiseverlag, 2017, ISBN 978-3-99044-192-3, S. 204 (books.google.de). Weblinks Topografische Karte des Gebiets map.schweizmobil.ch Einzelnachweise
Der Kaien ist sowohl ein Berg als auch eine Siedlungslandschaft und ein Passubergang im Appenzeller Vorderland in der Schweiz. Der Berggipfel (1122 m u. M.), der Kaienspitz und lokal Stobetebuel genannt wird, ist die am weitesten im Norden liegende Erhebung mit einer Hohe von uber 1000 Metern in den Appenzeller Alpen.
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c-993
Hagenbecks Volkerschau der „Lapplander“ 1875 war eine Volkerschau (im heutigen Sprachgebrauch auch Menschenzoo), bei der sechs Samen (damals meist noch „Lapplander“ genannt) zusammen mit 31 Rentieren zwischen dem 12. September und dem 21. November 1875 zuerst im damaligen Tierpark Hagenbeck am Neuen Pferdemarkt in Hamburg St. Pauli und anschließend auf der Hasenheide in Berlin-Neukolln sowie im Pfaffendorfer Hof in Leipzig zur Schau gestellt wurden. Zur Gruppe der Samen zahlten ein Ehepaar mit einem Kleinkind und einem Saugling sowie ein Vater mit seinem Sohn. Veranstalter dieser Volkerschau war Carl Hagenbeck (1844–1913) aus Hamburg, der bis zu seinem Tod uber 50 solcher „Volkerausstellungen“ veranstaltete und hunderttausende zahlende Besucher anlockte. Den Menschenzoos wird in der Forschung eine hohe Wirksamkeit bezuglich der Wahrnehmung der vermeintlich „Wilden“ und der Auspragung rassistischer Denkmuster zugeschrieben. Die Volkerschau der „Lapplander“ 1875 war Hagenbecks erste Volkerschau, die in der Forschung deshalb haufig als Initialzundung zur Etablierung des Ausstellungstyps der Volkerschauen gilt – so wie es Hagenbeck und Heinrich Leutemann in ihren Memoiren selbst behaupteten. Erst in jungeren Forschungen zur Volkerschau der „Lapplander“ 1875 gibt es an dieser Darstellung Zweifel, weil es bereits seit 1872 eine von der Schaustellerin Emma Willardt veranstaltete langjahrige Tournee von „Lapplandern“ mit ihren Rentieren gab, die sich nur geringfugig von der Hagenbecks unterschied. Vorgeschichte = Die „Lapplander“-Schau von Emma Willardt ab November 1872 = Die Wiener Schaustellerin Emma Willardt ließ im November 1872 eine vierkopfige samische Familie namens Loky nach Wien bringen und stellte sie dort zuerst in einer Schaubude am Kolowratring (heute Schottenring), ab Fruhjahr 1873 dann am Prater zur Schau, wo noch vier weitere Samen (drei Manner und eine Frau) zur Gruppe hinzustießen. Die Schau fand wahrend der Weltausstellung 1873 zahlreiche Besucher. Die Samen fuhrten „Alltagsszenen vor, manchmal Tanze und Gebete, hatten aber auch Neues im Programm, einen Eisbarenkampf etwa oder Fahrten mit dem Hundeschlitten“. Außerdem fuhrte die Gruppe einige Rentiere mit sich. Im Juli starb eine der beiden Frauen in Wien, weil sie die Hitze nicht vertragen hatte. Ab September 1873 startete Emma Willardt eine Tournee des „reisenden Nordpoltheaters“ mit einer inzwischen wieder auf vier Personen verkleinerte Gruppe von Samen zuerst durch Osterreich. Die zeitweilig in Kooperation mit dem Schaustellerehepaar Albert und Henriette Bohle durchgefuhrte Tournee fuhrte anschließend durch hunderte Stadte der Schweiz, das Deutsche und das Russische Reich, und dauerte bis 1878. Willardt legte von Beginn der Volkerschau großen Wert auf Nachweise uber die „Echtheit der Gruppe“, die sie anhand verschiedener Dokumente zu bezeugen versuchte. Die Wissenschaftler Josef Budenz und Heinrich Frauberger bestatigten, dass es sich bei der Gruppe um „authentische Lapplander“ handelte. Bei ihrem Aufenthalt Anfang 1875 in Berlin wurde die Gruppe von Rudolf Virchow untersucht. Auch er stellte der Gruppe ein „Zeugniss“ uber die „Zuverlassigkeit der Leute“ aus. Willardts Zurschaustellung stand dennoch mehrfach in der Kritik. Wahrend des Aufenthaltes in Brunn im Marz 1874 kursierten in der Presse erstmals Vorwurfe, die Gruppe sei nicht echt und „die mannlichen Gruppenmitglieder seien in Wirklichkeit braun angemalte Strizzi“. Seither wurden immer wieder Zweifel an der Echtheit der Gruppe geaußert. Und auch der Leipziger Tiermaler und auch als Journalist tatige Heinrich Leutemann verfasste im Herbst 1875 mehrfach Artikel, in denen er die „Lapplander“-Schau von Emma Willardt scharf kritisierte, so beispielsweise in einem Artikel der Gartenlaube: Leutemanns Kritik steht auch in Zusammenhang mit der von Carl Hagenbeck und ihm selbst im Laufe des Jahres 1875 geplanten eigenen Zurschaustellung von Samen mit ihren Rentieren. Stefanie Wolter bemerkte in ihrer Publikation „Vermarktung des Fremden“ von 2005 zu diesem Zitat: „Ob Leutemann hier aus Geschaftskalkul […] oder ehrlicher Uberzeugung urteilt, ist kaum festzustellen“. = Vorbereitung der „Lapplander“-Schau Hagenbecks = Der Tierhandler Carl Hagenbeck hatte im Marz 1874 seinen ersten Tierpark auf St. Pauli eroffnet und berichtete im Vorfeld der ersten Menschenausstellung uber den stagnierenden Tierhandel und finanzielle Schwierigkeiten auch infolge der Grunderkrise. In seinen Memoiren von 1887 behauptete Leutemann, dass er die Idee zur ersten „Volkerausstellung“ (wie Hagenbeck seine Volkerschauen damals selbst bezeichnete) hatte: Leutemann hatte bereits Anfang 1875 die Gruppe der „Lapplander“ von Emma Willardt in Berlin gesehen und das Format lediglich kopiert. Auch die in seinen Memoiren verfassten Schilderungen sind zeitlich nicht ganz plausibel, denn bereits am 5. Januar 1875 hatte das Leipziger Tageblatt und Anzeiger berichtet, dass er bereits im Fruhjahr eine „Heerde Rennthiere“ sowie „4 echte Lappen als Begleiter“ erwarte. Offenbar hat sich dann die Vorbereitung der Menschenschau aber noch uber mehrere Monate hingezogen. Uber die Umstande der Anwerbung der Gruppe, die im September 1875 in Hamburg eintraf, ist wenig bekannt. Der Agent, der die Gruppe in Nordschweden angeworben hatte, war laut Leutemann der norwegische Fotograf und Handler Johan Erik Wickstrom aus Tromsø, der norwegisch und samisch sprach und somit als Dolmetscher auftrat. Hagenbeck berichtete in seinen Memoiren Von Tieren und Menschen von 1908 von seiner ersten Begegnung mit der Gruppe: = Die Gruppe der Samen = Die sechs Samen waren Ella Maria Josefsdatter Nutti (1841–1930), ihr Ehemann Nils Rasmus Persson Eira (1841–1930), die dreijahrige Tochter Kristina und der Saugling Per Bernhard, wobei die Familie in den deutschsprachigen Uberlieferung oft Rasti (eine samische Form von Rasmus) genannt wurde. Die zwei weiteren Manner waren Lars Nilsson Hotti und sein Sohn Jacob Larsson Hotti (im September 1875 waren sie 45 und 21 Jahre alt). Die Gruppe stammte aus Karesuando, einer kleinen Ortschaft in der heutigen nordschwedischen Provinz Norrbottens lan und der historischen Provinz Lappland. Die Samen (Plural auch Sami, veraltet Lappen oder Lapplander) sind ein indigenes Volk, das im nordlichen Skandinavien, Finnland und auf der Kola-Halbinsel in Russland lebt. Es gibt nur wenige Uberlieferungen zu den Samen und auch nur ein Foto, auf dem nur einer der drei Manner und eine weitere Person im Hintergrund zu sehen sind. Verlauf Die Volkerschau begann in Hamburg am 12. September 1875. Am Vortag, dem 11. September nachmittags, wurden die Rentiere vom Hafen zum Neuen Pferdemarkt auf St. Pauli gefuhrt, was sich laut den Schilderungen von Leutemann in seinem Artikel in Die Gartenlaube von Anfang November 1875 als schwierig herausstellte: Allerdings trug dieses Spektakel auch dazu bei, dass den Samen in Hamburg große Aufmerksamkeit zuteilwurde. Hagenbeck berichtete in der zweiten Auflage seiner Memoiren Von Tieren und Menschen von 1909 uber den fur ihn uberraschenden Erfolg der Schau: Die Volkerschau fand im hinteren Teil des Tierparks Hagenbeck statt. Laut Pressemitteilungen sollen am Sonntag, dem 19. September, als Polizeikrafte einschreiten mussten, „5490 Erwachsene und 1150 Kinder Entree gezahlt“ haben. Ab Anfang Oktober wurde sie dann auf der Hasenheide in Berlin-Neukolln platziert. Doch hier blieb der Erfolg aus, auch weil Hagenbeck keine Kontakte zur Berliner Presse und nur wenige Anzeigen in der Zeitung geschaltet hatte. Außerdem war hier nur wenige Monate zuvor die Schau der „Lapplander“ von Emma Willardt uber mehrere Wochen aufgetreten. Der Anatom und Anthropologe Rudolf Virchow nahm in Berlin Untersuchungen an den Samen vor und prasentierte seine Ergebnisse in der Sitzung der Berliner Gesellschaft fur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 16. Oktober. Die gesamte Gruppe war dabei anwesend. Letzte und dritte Station der Volkerschau war Leipzig. Ab dem 2. November 1875 wurde die Gruppe im Innenhof des Pfaffendorfer Hofs (wo 1878 der Zoologische Garten Leipzig eroffnet wurde) zur Schau gestellt. Aufgrund der zahlreichen Presseberichte Leutemanns war die Schau in Leipzig wieder erfolgreich. Die Inszenierung der Schau beschrankte sich hauptsachlich auf das Alltagsleben, insbesondere das Huten und die Versorgung der Rentiere und das Leben in den mitgebrachten Zelten. Im Programmablauf gab es „etliche Ubereinstimmungen“ zur Schau von Emma Willardt. Leutemann verfasste im November 1875 einige Artikel fur das Leipziger Tageblatt und Anzeiger, in denen er die Volkerschau zu bewerben versuchte: Heinrich Leutemann schildert zum Ende der Tournee am 21. November 1875 aber auch, dass vor allem „Frau Rasti mit ihren beiden Kleinen das meiste Interesse erregt“ und auch Geschenke von den Besuchern erhalten habe. Anders als beispielsweise wahrend der spateren Volkerschau der „Feuerlander“, bei der die Presse stark abschatzig uber die Kawesqar als vermeintliche Kannibalen berichtete, war die Berichterstattung gegenuber den Samen eher wohlwollend. Die damals so bezeichneten „Menschen aus dem hohen Norden“ wurden zeitgenossisch einer hohen Kulturstufe zugeordnet. Viele Fragen bezuglich der Gruppe der Samen, ihrer Unterbringung und Verpflegung, der Bezahlung und Ruckkehr nach Schweden sind nur ansatzweise uberliefert. Leutemann berichtete am 21. November uber die Heimreise der Gruppe und „große Sehnsucht nach ihrer Heimath“, die von der Gruppe vorgetragen wurde. Die Rentier-Herde verblieb in Deutschland und wurde verkauft. Hagenbeck vermachte dem Leipziger Museum fur Volkerkunde zahlreiche Ausrustungsgegenstande der Samen. Hagenbeck veranstaltete 1878/79, 1893/94, 1910/11 und 1926 noch vier weitere Samen-Volkerschauen. Rezeption = „Erfindung“ der Volkerschau? = Hagenbeck hat sich in seinen Memoiren unter Bezugnahme auf diese „Lapplander“-Schau von 1875 selbst zum „Erfinder“ der Volkerschauen stilisiert: In ihrem posthum 2023 veroffentlichten Band „Wilde, die sich hier sehen lassen“. Jahrmarkt, fruhe Volkerschauen und Schaustellerei beschreibt Rea Brandle eingehend die „Lapplander“-Schauen erstens von Willardt und Bohle und zweitens von Hagenbeck. Sie betont, dass es viele Gemeinsamkeiten der beiden Zurschaustellungen und Inszenierungen der „Lapplander“ gab, etwa in Zusammensetzung und Große der Gruppe oder im Programmablauf. Beide Schauen stellten die Rentiere und Schlitten sowie weitere Gebrauchsgegenstande in den Mittelpunkt, es wurden Werkzeuge und handwerkliche Fahigkeiten vorgefuhrt, Alltagsszenen sowie gelegentlich auch Tanze inszeniert. Laut Brandle unterschieden sich die beiden Schauen darin, dass die Samen bei Hagenbeck erstens nicht „ihre Hautfarbe ubermalten“ und es ihm zweitens deutlich besser gelang, seine „Lapplander“-Schau in der lokalen Presse anzukundigen und zu vermarkten. Rea Brandle wendet dennoch kritisch ein: In den meisten Veroffentlichungen zur Geschichte der Volkerschauen wird diese Interpretation eines vermeintlichen „Quantensprungs“ von Emma Willardt zu Carl Hagenbecks Zurschaustellung der „Lapplander“ meist mit Hinweis auf entsprechende Zitate von Heinrich Leutemann allerdings geteilt, so beispielsweise bei Anne Dreesbach, Nigel Rothfels oder Stefanie Wolter. Hagenbeck habe demnach die zur Schau gestellten Menschen moglichst authentisch gezeigt, was seine Schauen besonders erfolgreich gemacht habe. Hagenbecks erste Volkerschau gelte zudem insofern als fortschrittlich, dass er „die ‚Wilden‘ aus den Jahrmarktsbuden in die wissenschaftlichen Institutionen ‚Zoologische Garten‘“ holte. Damit einhergehend standen die ersten Volkerschauen Hagenbecks zunachst immer in Zusammenhang mit der Anlieferung „sehr vieler Tiere“. = Datierung der ersten Volkerschau = Haufig wird die erste Volkerschau Hagenbecks auf das Jahr 1874 datiert. So erschienen im Marz 2024 Zeitungsberichte, in denen an den vermeintlichen 150. Jahrestag des Beginns der Volkerschauen erinnert wurde. Auch in der Forschungsliteratur findet sich meist die Jahresangabe 1874. So schrieben beispielsweise Nicolas Bancel, Pascal Blanchard und Sandrine Lemaire in ihrem Standardwerk MenschenZoos. Schaufenster der Unmenschlichkeit in deutscher Ubersetzung von 2012: „Die erste Truppe dieser Art wurde von Carl Hagenbeck im Jahr 1874 in Hamburg gezeigt, also genau in jenem Jahr, in dem Barnum nach Europa kam. Das Jahr 1874 stellte daher einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung von Menschenausstellungen dar.“ Die Jahreszahl 1874 fur die erste Hagenbecksch’sche Volkerschau der „Lapplander“ findet sich auch in den Standardwerken von Anne Dreesbach und Stefanie Wolter (beide von 2005) sowie mit der Angabe „1874/75“ bei Hilke Thode-Arora in Fur funfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Volkerschauen von 1989. In einem Aufsatz von 2021 schreibt Thode-Arora dann aber, Hagenbeck habe „1875 seine erste Volkerschau: Sami aus Finnland“ veranstaltet. Die Datierung 1874 grundet sich vor allem auf die Memoirenliteratur Hagenbecks, der in Von Tieren und Menschen von 1908 schrieb: „Gegen Mitte September des Jahres 1874 traf die kleine Expedition mit dreißig Rentieren, gefuhrt von einem Deutsch sprechenden Norweger, in Hamburg ein.“ In seiner bereits 1887 erschienenen Publikation Lebensbeschreibung des Thierhandlers Carl Hagenbeck nennt Heinrich Leutemann hingegen in den bis ins Detail sehr ahnlichen Schilderungen den September 1875 als Zeitpunkt der ersten „Lapplander“-Volkerschau. In den bisher umfassendsten Darstellungen uber die von Carl Hagenbeck veranstalteten Sami-Volkerschau von 1875 von Rea Brandle und Cathrine Baglo (beide aus dem Jahr 2023) wird der September 1875 als Beginn der ersten Volkerschau zutreffend angegeben, außerdem auch im Standardwerk Savages and Beasts von Nigel Rothfels. Alle zeitgenossischen Berichte – etwa uber die Ankunft in Hamburg am 11. September 1875, bei der die Rentiere durch die Stadt getrieben wurden, Zeitungsinserate, die zahlreichen Artikel Leutemanns wie etwa der lange Artikel in Die Gartenlaube von Anfang November 1875, im Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 30. Oktober 1875 „Ueber die ankommenden Lapplander“ oder vom 21. November 1875 uber „Die Heimkehr der Lapplander“ sowie auch die Prasentation der sechskopfigen Gruppe der Samen von Rudolf Virchow vor der Berliner Gesellschaft fur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte am 16. Oktober 1875 und der Bericht hieruber in der Kolnischen Zeitung – sprechen fur den 12. September als Beginn der ersten Volkerschau Carl Hagenbecks; der 150. Jahrestag ist dann der 12. September 2025. Forschungsstand Carl Hagenbeck und Heinrich Leutemann berichteten in ihrer Memoiren-Literatur ausfuhrlich uber die Volkerschau der Samen von 1875, die sie als selbst als Initialzundung fur die Etablierung der Volkerschauen bewerteten. Grundlegend haben sich vor allem Rea Brandle und Cathrine Baglo kritisch mit diesem Narrativ auseinandergesetzt. Ansonsten finden sich in der ubrigen Volkerschau-Literatur meist nur punktuelle Hinweise auf die Zurschaustellungen der Samen der 1870er Jahre. Literatur Cathrine Baglo: Samische Perspektiven auf Carl Hagenbecks „anthropologisch-zoologische Ausstellungen“. In: Anna Sophie Laug (Hg.): Das Land spricht. Sami Horizonte. Museum am Rothenbaum – Kulturen und Kunste der Welt, Hamburg 2023, ISBN 978-3-944193-24-3, S. 54–93. Rea Brandle: „Wilde, die sich hier sehen lassen“. Jahrmarkt, fruhe Volkerschauen und Schaustellerei. Verlag Chronos, Zurich 2023, ISBN 978-3-0340-1707-7. Anne Dreesbach: Gezahmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870–1940. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37732-2. Haug von Kuenheim: Carl Hagenbeck. Ellert & Richter, Hamburg 2007, ISBN 978-3-8319-0182-1. Clemens Maier-Wolthausen, Franziska Jahn: Die Zurschaustellung von Menschen im Zoo Hannover 1878–1932. Ein Forschungsbericht im Spiegel zeitgenossischer Quellen. Broschure des Zoo Hannover, Hannover 2024. Nigel Rothfels: Savages and Beasts. The Birth of modern Zoo. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2025 (Revised Edition), ISBN 978-1-4214-5088-9. Hilke Thode-Arora: Fur funfzig Pfennig um die Welt. Die Hagenbeckschen Volkerschauen. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-593-34071-2. Hilke Thode-Arora: Herbeigeholte Ferne: Volkerschauen in Deutschland – eine Einfuhrung. In: Lars Fruhsorge, Sonja Riehn, Michael Schutte (Hg.): Volkerschau-Objekte. Lubeck 2021, S. 3–20, ISBN 978-3-942310-34-5. Stefanie Wolter: Die Vermarktung des Fremden. Exotismus und die Anfangen des Massenkonsums. Campus-Verlag, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-593-37850-3. = Zeitgenossische Literatur = Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen. Vita deutsches Verlagshaus, Berlin, 1. Auflage 1908, 2. Auflage 1909. Heinrich Leutemann: Lebensbeschreibung des Thierhandlers Carl Hagenbeck. Selbstverlag Carl Hagenbeck, Hamburg 1887. Rudolf Virchow: Herr Bohle stellte wiederum vier neue eingetroffene Lappen vor. (Sitzung vom 20. Februar 1875). In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft fur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Jg. 1875, S. 28–39. Rudolf Virchow: Vorstellung der von Hrn. Hagenbeck nach Berlin gebrachten Lappen. (Sitzung vom 16. Oktober 1875). In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft fur Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Jg. 1875, S. 225–228. = Weblinks = Einzelnachweise
Hagenbecks Volkerschau der „Lapplander“ 1875 war eine Volkerschau (im heutigen Sprachgebrauch auch Menschenzoo), bei der sechs Samen (damals meist noch „Lapplander“ genannt) zusammen mit 31 Rentieren zwischen dem 12. September und dem 21. November 1875 zuerst im damaligen Tierpark Hagenbeck am Neuen Pferdemarkt in Hamburg St. Pauli und anschließend auf der Hasenheide in Berlin-Neukolln sowie im Pfaffendorfer Hof in Leipzig zur Schau gestellt wurden. Zur Gruppe der Samen zahlten ein Ehepaar mit einem Kleinkind und einem Saugling sowie ein Vater mit seinem Sohn. Veranstalter dieser Volkerschau war Carl Hagenbeck (1844–1913) aus Hamburg, der bis zu seinem Tod uber 50 solcher „Volkerausstellungen“ veranstaltete und hunderttausende zahlende Besucher anlockte. Den Menschenzoos wird in der Forschung eine hohe Wirksamkeit bezuglich der Wahrnehmung der vermeintlich „Wilden“ und der Auspragung rassistischer Denkmuster zugeschrieben. Die Volkerschau der „Lapplander“ 1875 war Hagenbecks erste Volkerschau, die in der Forschung deshalb haufig als Initialzundung zur Etablierung des Ausstellungstyps der Volkerschauen gilt – so wie es Hagenbeck und Heinrich Leutemann in ihren Memoiren selbst behaupteten. Erst in jungeren Forschungen zur Volkerschau der „Lapplander“ 1875 gibt es an dieser Darstellung Zweifel, weil es bereits seit 1872 eine von der Schaustellerin Emma Willardt veranstaltete langjahrige Tournee von „Lapplandern“ mit ihren Rentieren gab, die sich nur geringfugig von der Hagenbecks unterschied.
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Peter Max Ferdinand Sichel (* 12. September 1922 in Mainz; † 24. Februar 2025 in New York City) war ein deutsch-amerikanischer Weinhandler und vorheriger US-Geheimagent. Bekannt wurde er durch die Weinmarke Blue Nun, die die Weißweincuvee Liebfraumilch in den USA bekannt machte, sowie als Chef der CIA-Niederlassung in West-Berlin in den 1950er Jahren. Sichel war zum Ende seines Lebens der letzte Uberlebende des judischen Weinhandels in Deutschland aus der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Werdegang = Jugend = Peter Sichel wurde als Sohn einer Familie judischer Weinhandler, H. Sichel Sohne (HSS), in Mainz geboren. Das elterliche Unternehmen hatte Niederlassungen in London und Bordeaux (wo es noch heute aktiv ist). Peter Sichel besuchte zu Beginn der 1930er-Jahre die Stowe School in England und begann danach eine Ausbildung im Familienbetrieb in Bordeaux. Dort wurde er wahrend des Zweiten Weltkriegs als sogenannter „feindlicher Auslander“ interniert. Uber Spanien und Portugal gelang ihm 1941 die Flucht in die USA, wo er sich freiwillig zum Armeedienst meldete. = Geheimagent = Ab 1943 arbeitete Sichel fur den US-Auslandsgeheimdienst OSS sowie dessen Nachfolgeorganisation, die CIA. Als Soldat kam er 1945 nach Deutschland zuruck, wo er bis 1952 die Vertretung der CIA in West-Berlin leitete. Als Berliner CIA-Chef pflegte er informelle Gesprachskontakte zu Willy Brandt, dem spateren SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, zu Kurt Schumacher, Jakob Kaiser, Ernst Lemmer und Hermann Ehlers. Bis 1959 war er fur die CIA u. a. in Algier, Washington und Hongkong tatig. = Weinhandler = Nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst ubernahm Peter Sichel 1959 die Leitung des Weinimports seiner Familie in New York. Im Gegensatz zu anderen judischen Weinhandlern hatte der Vater den Familienbetrieb wahrend der Nazi-Zeit nicht verkauft; stattdessen wurde er enteignet, bekam aber die Weinguter nach dem Krieg zuruck. In den 1950er Jahren erwarb ein Konsortium mehrerer Familien das bekannte Weingut Chateau Palmer. In der neuen Funktion als Weinhandler machte Sichel ab den 1970er Jahren die Marke Blue Nun in den USA zu einem bekannten, erfolgreichen Wein – nicht zuletzt durch eine ausgefeilte Werbekampagne. Sichels Vater hatte die Marke entworfen, um nach dem Krieg auf den englischen Markten wieder Fuß zu fassen. Der „Liebfraumilch“ genannte Verschnitt von Blue Nun bestand aus deutschen Weinen, und zwar aus Muller-Thurgau, Silvaner und Gewurztraminer. Blue Nun verkaufte jahrlich etwa dreißig Millionen Flaschen in aller Welt, neben den USA auch in Australien, Japan und Skandinavien. Sichel lebte bis zu seinem Tod in Manhattan. Seine Autobiografie hat den Titel Die Geheimnisse meiner drei Leben: Fluchtling, Geheimagent, Weinhandler. Popkulturelle Rezeption Die Beastie Boys verewigten Peter Sichel 1992 auf ihrem Album Check Your Head. In dem knapp 30-sekundigen Skit The Blue Nun sampelte das New Yorker Trio einen von Sichel verfassten Horspiel-Dialog und unterlegte ihn mit einem Hip-Hop-Beat („Our evening began in Peter Sichel’s comfortable study in his New York townhouse…“). Sichels Dialog war ursprunglich auf der nur zu Werbezwecken veroffentlichten Sprechplatte On Wine: How to Select & Serve von 1964 erschienen. Adam Yauch (MCA) von den Beastie Boys war mit Peters Tochter Sylvia Sichel befreundet und hatte dadurch von der Aufnahme gehort. Die Beatles wiederum haben den Klang einer leeren Flasche „Blue Nun“ in dem Song Long, Long, Long verewigt. George Harrison erklarte den Klangeffekt in seiner Autobiografie I, Me, Mine: Im Juni 2025 erschien der Dokumentarfilm The Last Spy, in dem Sichel uber sein Leben erzahlt. Hierbei fuhrte Katharina Otto-Bernstein Regie und der Film feierte seine Premiere beim Filmfest Munchen. Auszeichnungen Fur seine Dienste in der Central Intelligence Agency (CIA) wurde Sichel mit der Distinguished Intelligence Medal ausgezeichnet. Er war außerdem Mitglied des Culinary Institute of America (CIA). Schriften Zusammen mit Judy Ley: Which Wine: The Wine Drinker's Buying Guide, 1975, ISBN 0-06-013867-X. The Wines of Germany, 1980, ISBN 0-8038-8100-2. Die Geheimnisse meiner drei Leben. Fluchtling, Geheimagent, Weinhandler. Axel Dielmann-Verlag. Frankfurt/Main 2019. ISBN 978-3-86638-263-3. Diskografie Peter M. F. Sichel: On Wine: How to Select & Serve, Produzent: Sondra Bianca, Columbia Special Products (CSP 151), 1964. Weblinks Literatur von und uber Peter Sichel im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek Peter Sichel bei Discogs Jancis Robinson: Peter M F Sichel – from CIA to Blue Nun, Langversion eines ursprunglich in der Financial Times erschienenen Artikels vom 27. Februar 2016 (englisch) Manfred Klimek (Interview): Peter Sichel: „Ich bin der letzte Uberlebende des judischen Weinhandels“ bei Die Welt vom 23. Marz 2019. Nachruf Sofia Dreisbach: Peter Sichel mit 102 Jahren gestorben In: Faz.net vom 5. Marz 2025. Mitch Frank: Peter Sichel, Acclaimed Vintner, Spy and Wine Spectator Distinguished Service Award Winner, Dies at 102 In: Wine Spectator vom 28. Februar 2025. Musikbelege Peter M. F. Sichel: On Wine: How to Select & Serve auf YouTube Beastie Boys: The Blue Nun auf YouTube The Wine Reporter: Beastie Boys Blue Nun Revisited auf YouTube Einzelnachweise
Peter Max Ferdinand Sichel (* 12. September 1922 in Mainz; † 24. Februar 2025 in New York City) war ein deutsch-amerikanischer Weinhandler und vorheriger US-Geheimagent. Bekannt wurde er durch die Weinmarke Blue Nun, die die Weißweincuvee Liebfraumilch in den USA bekannt machte, sowie als Chef der CIA-Niederlassung in West-Berlin in den 1950er Jahren. Sichel war zum Ende seines Lebens der letzte Uberlebende des judischen Weinhandels in Deutschland aus der Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933.
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c-995
Pola Elster (Tarnname Ewa Goldman, geboren am 28. November 1911 in Warschau; gestorben am 27. September 1944 ebenda) war eine fuhrende judische Untergrundaktivistin und Widerstandskampferin gegen die deutsche Besetzung Polens. Sie kampfte 1943 beim judischen Aufstand im Warschauer Ghetto und war Abgeordnete des polnischen Untergrundparlaments. 1944 fiel sie beim Warschauer Aufstand im Kampf gegen die NS-Truppen. Kindheit und Jugend Uber Pola Elsters Kindheit und ihre polnische judische Familie gibt es nur wenige Dokumente. Bekannt ist, dass sie vier Geschwister hatte und als Naherin arbeitete. Zuvor hatte sie das Gymnasium bis zur Mittleren Reife besucht. Vor dem deutschen Uberfall auf Polen engagierte sie sich in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung Hashomer Hatzair (Junger Wachter), die sich an den Idealen der Pfadfinder orientierte. Madchen genossen in diesen Jugendbewegungen weitgehend Gleichberechtigung. Gemeinsam bereiteten die Jugendlichen sich auf eine Auswanderung nach Palastina vor, um dort landwirtschaftliche Gemeinschaften zu grunden und eine neue egalitare Gesellschaft aufzubauen. Politische Arbeit in der Vorkriegszeit Als sie alter wurde, trat Pola Elster der internationalen Bewegung Poale-Zion-Linke (Arbeiter Zions) bei. Dieser radikalere Flugel hatte sich aufgrund seiner linkssozialistischen Ziele von der gemaßigt-zionistischen Mutterpartei Poale Zion abgespalten. In der Folge wurde sie mehrfach inhaftiert. Erstmals wurde sie am 20. April 1929 festgenommen, weil sie verbotene Schriften verteilte. Ein Warschauer Bezirksgericht verurteilte sie zu sechs Monaten Gefangnis und einer Bewahrungsstrafe von drei Jahren. Nach ihrer Entlassung aus dem Pawiak-Gefangnis setzte sie ihre politische Arbeit jedoch fort. 1933 wurde sie erneut verhaftet, als die Polizei bei einer Durchsuchung ihrer Wohnung ‚kommunistische Notizen‘ fand. Obwohl das Gericht sie diesmal freiließ, stand sie fortan unter polizeilicher Beobachtung. Untergrundarbeit im Zweiten Weltkrieg Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 kummerte Elster sich um die soziale Unterstutzung der judischen Bevolkerung, die im Warschauer Ghetto unter menschenunwurdigen Umstanden zusammengepfercht lebte. Die SS hatte alle Juden Warschaus zwangsweise in das uberfullte judische Ghetto umgesiedelt, zu Zwangsarbeit verpflichtet und ihnen lebensnotwendige Guter wie Lebensmittel, Medizin und Heizmaterialien entzogen. Die Bewohner litten unter Hunger, Krankheiten und Seuchen, manche fielen auf der Straße tot um. Im Auftrag der Poale Zion-Linke richtete Pola Elster mehrere Suppenkuchen fur Bedurftige ein und leitete selbst eine Kuche in der Elektoralna-Straße. Gleichzeitig nahm Elster als Fuhrungsmitglied ihrer Partei zentrale Funktionen in der Organisation des judischen politischen Widerstands wahr. Sie ubersetzte Flugschriften und Veroffentlichungen ins Polnische und war als Kontakt- und Verbindungsperson (Kurierin) zwischen verschiedenen Stadten und Gruppen tatig. Trotz eines von den Deutschen verhangten strikten Reiseverbots fur Juden reiste sie – mit falschen Papieren als christliche Polin namens „Ewa Goldman“ getarnt – durch das besetzte Land, um gefalschte Passe, Medikamente, Lebensmittel und Untergrundzeitungen in die Ghettos zu schmuggeln. Bei einer dieser Aktionen wurde sie von den Deutschen gefasst, von Widerstandskampfern aber wieder befreit. Danach tauchte sie auf der „arischen“ Seite Warschaus erneut unter. Im Marz 1942 beteiligte sich Pola Elster an der Grundung der Antifaschistischen Front gegen die Verbrechen der Besatzer und gegen die Besetzung Polens durch die deutschen Truppen, zu der sich judische Widerstandsgruppen wie die Poale Zion-Linke, judische Jugendbewegungen wie Hatzomer Hashair und andere mit der nichtjudischen Polnischen Arbeiterpartei (PPR) zusammengeschlossen hatten. Im Auftrag der Front reiste sie durch Polen, um uber die drohende Vernichtung der Juden aufzuklaren und fur einen internationalen Kampf gegen den Faschismus zu werben. Doch die Idee einer großeren uberparteilichen polnisch-judischen Widerstandsfront schien zum Scheitern verurteilt. Zu tief waren die Graben zwischen den konkurrierenden Parteien und Bewegungen Polens, als dass man sich auf ein gemeinsames Kampfziel hatte einigen konnen. Ein Hindernis war auch der Antisemitismus im uberwiegend christlichen Polen. Erschwerend kam dazu, dass die SS die Todesstrafe verhangt hatte, wenn Polen judischen Mitburgern halfen, statt sie zu denunzieren und auszuliefern. Bei einer Untergrundkonferenz mit der kommunistischen Partei Polska Partia Robotnicza (PPR) und dem judischen Jugendbund Hashomer Hatzair 1942 setzte Elster sich daher eindringlich dafur ein, dass polnische Partisanengruppen auch judische Widerstandskampfende in ihren Reihen aufnehmen, denn das war nicht selbstverstandlich. Bewaffneter Widerstand gegen die deutschen Besatzer Pola Elster gehorte zu den Grundungspersonen der Judischen Kampforganisation (ZOB), die sich im Jahr 1942 formierte und zur wichtigsten Kraft im judischen Widerstand wurde. In der ZOB hatten sich verschiedene Organisationen wie die Poale Zion-Linke und die judischen Jugendbewegungen Hashomer Hatzair (Junger Wachter), Habonim Dror (Freiheit), Gordonia und Akiva zusammengeschlossen. Im Gegensatz zu der hungernden, stark geschwachten Zivilbevolkerung in den Ghettos verfugten die zumeist jungen Menschen noch uber die Kraft, den Deportationen, Massentotungen und der geplanten Ausloschung des Judentums den Versuch des bewaffneten Widerstands entgegenzusetzen. Durch ihre jahrelange Untergrundarbeit hatten sie einen engen Zusammenhalt, vertrauten einander und waren erfahren darin, sich wirksam zu unterstutzen. Im April 1943 nahm Pola Elster als Teil einer ZOB-Kampfeinheit am judischen Aufstand im Warschauer Ghetto teil, bei dem die Eingeschlossenen sich verzweifelt und mit allen Mitteln, zum Teil mit selbstgebastelten Waffen, gegen ihre Deportation und Vernichtung durch die SS-Truppen zur Wehr setzten. Fast alle der Aufstandischen kamen bei diesen Kampfen um oder starben in den von der SS entfachten Feuersturmen. Elster gehorte zu den wenigen, die dem Tod entkamen, wurde aber in das SS-Zwangsarbeitslager Poniatowa nahe Lublin deportiert. Dank der Hilfe von Teodor Pajewski, einem Mitkampfer aus der Poale Zion, konnte sie dem Lager entfliehen und nach Warschau zuruckkehren.In Warschau setzte Elster den Kampf fort. Als Abgeordnete der Poale Zion-Linke wahlte man sie in das polnische Untergrundparlament (Landes-Nationalrat), das die polnische Exilregierung legitimierte und unterstutzte. Am 31. Dezember 1943 leistete sie dort den Amtseid. Im Marz 1944 ubernahm sie die Leitung des (vom Untergrundparlament eingesetzten) „Komitees fur judische Angelegenheiten“, zusammen mit dem Politiker Adolf Berman. Die Einrichtung des Komitees zeigte, dass der polnische Widerstand eine gewisse Mitverantwortung fur den judischen Bevolkerungsteil empfand. Als sich im Jahr 1944 schließlich die polnische Bevolkerung Warschaus gegen die deutschen Besatzer erhob und damit der Warschauer Aufstand ausbrach, kampfte Elster erneut mit der Waffe in den Reihen der Aufstandischen. Sie diente in einer Einheit der polnischen Untergrundarmee Armia Ludova. Am 27. September 1944 fiel Pola Elster bei den Kampfen im Warschauer Vorort Zoliborz. Mit ihr starben zwei Kampfgefahrten aus der Poale Zion: Hersz Berlinski und Eliahu Erlich. Gedenken Im Januar 1945, nach der Befreiung Warschaus, fand Elsters Schwester Wanda in einem Bunker in der Suwalska-Straße handschriftliche Texte von Pola, darunter ihre Erinnerungen an die Liquidierung des Warschauer Ghettos, Memoiren nach ihrer Entlassung aus dem Lager Poniatowa sowie einige Notizbucher. Einige der angesengten Seiten aus Elsters Notizbuchs („Nasze Słowo“, Nr. 7/8) wurden 1949 der Offentlichkeit zuganglich gemacht. Auszuge ihres Tagebuchs wurden 1966 auf Jiddisch in einem Buch „Dray“ (Drei) zum Gedenken an Pola Elster, Hersz Berlinski und Eliahu Erlich veroffentlicht. Im April 1945 bestattete man Pola Elster in einem Doppelgrab, zusammen mit ihrem Mitkampfer Eliahu Erlich. Das Grab liegt in der Hauptallee des Judischen Friedhofs in der Okopowa-Straße in Warschau (Grabstelle 39). Ursprunglich war es ein Dreiergrab, in dem auch ihr gemeinsamer Kampfgefahrte Hersz Berlinski lag. Dieser wurde jedoch kurze Zeit spater in eine eigene Grabstatte umgebettet. Postum ehrte das Oberkommando der polnischen Armee am 27. Juni 1947 Pola Elster mit dem Tapferkeitskreuz (Krzyz Walecznych) und mit dem Orden des Grunwald-Kreuzes zweiter Klasse. Literatur Hersz Berlinski: Three: Pola Elster, Hersh Berlinkski, Eliyahuh Erlikh. Ringelblum-Institut, Tel Aviv 1966. Yisrael Gutman: The Jews of Warsaw, 1939–1943: Ghetto, Underground, Revolt. Indiana University Press, Bloomington 1982, ISBN 0-253-33174-9. Zivia Lubetkin: In the Days of Destruction and Revolt. Israel, Beit Lohamei Hagetaot, 1981. (Neuausgabe: Edith Laudowicz, Zivia Lubetkin: Die letzten Tage des Warschauer Ghettos. Verlag Autonomie und Chaos, Berlin 2019.) Einzelnachweise
Pola Elster (Tarnname Ewa Goldman, geboren am 28. November 1911 in Warschau; gestorben am 27. September 1944 ebenda) war eine fuhrende judische Untergrundaktivistin und Widerstandskampferin gegen die deutsche Besetzung Polens. Sie kampfte 1943 beim judischen Aufstand im Warschauer Ghetto und war Abgeordnete des polnischen Untergrundparlaments. 1944 fiel sie beim Warschauer Aufstand im Kampf gegen die NS-Truppen.
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c-996
Die Quittung vom Salisberg ist das Fragment einer Quittung aus romischer Zeit. Sie wurde am 5. April des Jahres 130 n. Chr. ausgestellt und gilt als das alteste taggenau datierte und erhaltene Schriftstuck in Deutschland. Beschreibung = Schrifttrager = Der Text der Urkunde steht auf einem holzernen Fragment des Rahmens einer Wachstafel. Das Rahmenfragment misst 10 × 3,9 cm, was etwa ein Drittel der ursprunglichen Große der Tafel darstellt, und besteht aus dem Holz der Weißtanne (Abies alba). Es lassen sich mehrere Stufen der Verwendung des Tafelchens erschließen: Ursprunglich diente das Holzstuck als Wachstafel: Der erhohte Rand deutet darauf hin, dass die Tafel ursprunglich mit einem Wachsbett ausgefullt war. Dieses konnte als Schrifttrager dienen, indem mit einem Griffel (Stilus) in das weiche Wachs geritzt wurde. Texte aus dieser Erstverwendung sind nicht erhalten. Bei den beiden nachsten Verwendungen der Tafel war das Wachs nicht mehr vorhanden. In zweiter Verwendung diente das Tafelchen vermutlich dazu, als Anhanger einen Warenbehalter zu beschriften. Dazu wurde mit einem Brandstempel der Buchstabe „M […]“ eingebrannt, der den Eigentumer der Ware kennzeichnete, also wohl ein Name, vermutet wird Marcus. In der nachsten Verwendung diente die Tafel wieder als Schrifttrager fur den Text einer Quittung. Hierfur wurde aber nun kein Wachs aufgetragen, sondern die Buchstaben wurden mit Tinte direkt auf das Holz geschrieben. Etwa 20 Jahre spater war die Tafel nur noch Abfall und wurde in dem aufgelassenen Brunnenschacht entsorgt, in dem sie 1997 entdeckt wurde. = Text = Der Text wurde – wahrscheinlich mit Eisengallustinte – in Kursive direkt auf das Holz des Tafelchens geschrieben. Der erhaltene Text lautet: MOGONTIACI A(?) V(?) AKIPPI * (denarios) DUCENTOS ++(?) NONIS APRILIBUS CATULL- INO ET APRO CO(n)S(ulibus) Ubersetzung: In Mainz, in A[.] V[.], habe ich erhalten 200 [?] Denare an den Nonendes April als Catullinus und Aper Konsuln waren (= 5. April 130 n. Chr.) In der funften Zeile sind zu Beginn noch Buchstabenreste zu erkennen, danach bricht der Text ab. Nach dieser Stelle fehlen mindestens noch die Namen der an dem Geschaftsvorgang Beteiligten und wahrscheinlich der Geschaftsgegenstand. Die Quittung ist eines der wenigen bekannten romischen Schreibtafelchen an Mittel- und Niederrhein, die keinen offensichtlichen militarischen Zusammenhang erkennen lassen. Das Verb des Satzes ist das einzige Wort des Textes, das vom klassischen Latein abweicht. Danach hatte hier „accepi“ stehen mussen, geschrieben wurde jedoch „akippi“. Eine solche orthografische Variante war in den nordlichen Randbereichen des Romischen Reiches nicht ungewohnlich. Eine Summe von 200 Denaren (oder etwas mehr) stellte 130 n. Chr. einen ganz erheblichen Wert dar. Der Jahressold eines Soldaten in den Auxiliartruppen betrug damals 225 Denare. Fundumstande Die Tafel kam am Grund eines 6 m tiefen Brunnenschachtes bei einer archaologischen Ausgrabung des Hanauer Geschichtsvereins, einer Notgrabung vor einer anstehenden Baumaßnahme, im April 1997 zu Tage. Gefunden hat sie Peter Jungling. Die Fundstelle liegt im Hanauer Stadtteil Kesselstadt in der Gemarkung Salisberg im ehemaligen romischen Vicus, der Zivilsiedlung, die sich rund um das Kastell Salisberg erstreckte. Der Brunnenschacht, in dem die Quittung zutage trat, liegt unmittelbar sudlich des Kastells Salisberg. Der Brunnenschacht wurde um 90 n. Chr. angelegt und am Ende des zweiten Viertels des 2. Jahrhunderts planmaßig verfullt, nachdem er etwa 50 Jahre genutzt worden war. In der Nahe fließt die Kinzig, so dass im unteren Teil des Brunnenschachtes Feuchtbodenerhaltung vorlag und in großerem Umfang Holz erhalten blieb, darunter auch die Bruchstucke von mindestens zwei romischen Schreibtafeln. Die Reste einer Beschriftung mit Tinte wurden schnell erkannt, und Infrarot-Aufnahmen des Hessischen Landeskriminalamtes machten den Text weitgehend lesbar. So konnte der außergewohnliche Fund schon nach etwa 18 Monaten erstmals publiziert und damit der Offentlichkeit vorgestellt werden. Verbleib Die Schreibtafel mit der Quittung ist im Museum Schloss Steinheim ausgestellt. Sie gehort dem Hanauer Geschichtsverein. Literatur Peter Jungling: Romische Inschriften aus Kesselstadt – oder was uns ein altes Stuck Holz verrat. In: Stadtzeit. Kesselstadt. Schlaglichter auf zwei Jahrtausende. 950 Jahre Ersterwahnung Kesselstadt. CoCon, Hanau 2009, ISBN 978-3-937774-73-2, S. 34–41. Marcus Reuter: Ein seltener Fund aus einem romischen Brunnen: Vorbericht uber das holzerne Schreibtafelchen mit Quittung vom 5. April 130 n. Chr. aus Hanau-Salisberg. In: Neues Magazin fur Hanauische Geschichte (Mitteilungen des Hanauer Geschichtsvereins) 1998/1, S. 11–20. Marcus Reuter: Ein holzernes Schreibtafelchen mit Quittung vom 5. April 130 n. Chr. aus dem vicus von Hanau-Salisberg. In: Germania 77 (1999), S. 283–293, DOI:10.11588/ger.1999.50114 (Open Access). Marcus Reuter und Markus Scholz: Alles geritzt: Botschaften aus der Antike. [Katalog zur] Ausstellung der Archaologischen Staatssammlung Munchen vom 21. Oktober 2005 bis 17. April 2006. Archaologische Staatssammlung, Munchen 2005, ISBN 3-927806-34-X, S. 23. Weblinks AE 1999, 1169 (Eintrag zur Inschrift in der Epigraphik-Datenbank Clauss-Slaby) Eintrag zur Inschrift in der Epigraphischen Datenbank Heidelberg Anmerkungen Einzelnachweise
Die Quittung vom Salisberg ist das Fragment einer Quittung aus romischer Zeit. Sie wurde am 5. April des Jahres 130 n. Chr. ausgestellt und gilt als das alteste taggenau datierte und erhaltene Schriftstuck in Deutschland.
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c-997
Die Straßenbahn Morchingen war eine meterspurige Dampfstraßenbahn, die ab 1911 in der lothringischen Kleinstadt Morchingen (franzosisch Morhange) den Bahnhof mit der Stadtmitte verband. Sie wurde bereits 1918 eingestellt. Vorgeschichte Das lothringische Stadtchen Morchingen gehorte seit 1871 im annektierten Reichsland Elsaß-Lothringen zum Deutschen Reich. Es erhielt beim Bau der Bahnstrecke von Remilly nach Reding durch die Reichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen 1877 einen Bahnhof. Dieser lag jedoch rund zweieinhalb Kilometer nordostlich des Stadtzentrums auf freiem Felde, da der Ort im Norden von einem Hohenzug uberragt wurde und die Strecke daher aus topographischen Grunden nicht naher an die Stadt herangefuhrt werden konnte. Fur den landwirtschaftlich gepragten Ort mit seinen etwa tausend Einwohnern war diese Verkehrsanbindung ausreichend. 1890 wurde beschlossen, den Ort als Garnison auszubauen. Binnen funf Jahren entstanden mehrere Kasernenkomplexe fur Infanterie, Feldartillerie und Ulanen, dazu Wohnquartiere fur Offiziere und weitere militarische Bauten. Die Zahl der stationierten Soldaten betrug knapp 5.000, außerdem waren weitere Zivilisten zugezogen. Bei der Volkszahlung 1895 wurden 7.603 Einwohner gezahlt. Bau Der erste Vorstoß zur Errichtung einer Straßenbahn kam im Jahr 1898 von dem Bremer Unternehmer Carl Francke. Er beabsichtigte, sudlich der Altstadt ein Gaswerk zu errichten, das mit einem Gasmotor auch Strom fur eine elektrische Straßenbahn zwischen Bahnhof, Altstadt und jenem Werk hatte liefern konnen. Die Bahn sollte neben Personen auch Guter und Post befordern. Da die Straße zwischen Altstadt und Bahnhof schmal, unbefestigt und insbesondere durch Fuhrwerke und das Militar stark belastet war, erhielt Francke die Auflage, diese Straße beim Bau der Bahn gleichzeitig zu pflastern. Da ihm das zu teuer war, verzichtete Francke 1901, obwohl bereits mehrere Vertrage unterzeichnet und der Konzessionsvertrag uber 50 Jahre unterschriftsreif vorlag, auf den Bau der Bahn und errichtete lediglich das vorgesehene Gaswerk. Gleichwohl verfolgte die Gemeinde die Idee einer Bahn in den folgenden Jahren weiter. Dem Antrag zum Bau einer gleislosen Bahn durch Schiemann & Co. verweigerte das zustandige Ministerium 1907 seine Zustimmung, ein gemeinsames Angebot von Felten & Guillaume und Lahmeyer scheiterte 1909 an den zu hohen Kosten fur die Gemeinde. Diese entschloss sich daraufhin, anstelle eines elektrischen Betriebes den Bau einer Dampfstraßenbahn anzustreben. Das gunstigste von funf Angeboten war das des Oberingenieurs Schulze aus Dusseldorf. Er erhielt den Bauauftrag und begann im Fruhjahr 1911 mit den Arbeiten. Um die Kosten moglichst niedrig zu halten, wurde das Depot auf dem Gelande des Gaswerks errichtet, das Eigentum an der Bahn sowie die Betriebsfuhrung ubernahm die Stadt. Die Einweihung erfolgte am 20. Dezember 1911 mit einem Festakt, der Betrieb wurde am 24. Dezember aufgenommen. Der ursprunglich geplante Posttransport per Straßenbahn kam nicht zustande. Es wurde zwar der Bau einer Weiche und eines Ladegleises vor der Post sowie die Beschaffung eines Postbeiwagens geplant, doch verzogerte sich beides durch die bald nach Inbetriebnahme auftretenden Probleme. Ende 1912 wurde der Bau fur das Fruhjahr 1913 angekundigt und der Umbau eines der Beiwagen fur die Zwecke der Postbeforderungen. Beides wurde nicht umgesetzt. Betrieb Von Beginn an bot die Straßenbahn taglich 16 Fahrten je Richtung zwischen Marktplatz und Bahnhof. Die Fahrzeit betrug 12 Minuten, der Fahrpreis 20 Pfennig (entspricht heute ca. 1 EUR), auf Kurzstrecken die Halfte. Zwischen den Endpunkten bestanden zwolf Haltestellen. Sechs Beamte sowie ein Arbeiter wurden beschaftigt; die Betriebsaufsicht lag bei der Kreisdirektion in Forbach. Bereits nach sieben Monaten gab es erste ernste technische Probleme. Durch das harte Morchinger Wasser waren Bauteile der Lokomotiven verkalkt und diese nicht mehr einsetzbar. Wahrend der mehrwochigen Reparatur ruhte der Gesamtbetrieb. Als Konsequenz musste die Gemeinde die Betriebsfuhrung an die Leitung des Gas- und Wasserwerks abtreten und fur 3.000 Mark (heute etwa 20.000 EUR) eine Wasservorreinigungsanlage installieren. Die monatliche Wartung der Lokomotiven ubernahmen ab dann Techniker der Reichseisenbahn. Noch im gleichen Jahr stellte sich heraus, dass der gunstige Preis des Dusseldorfer Ingenieurs durch mangelhafte Bauausfuhrung teuer erkauft worden war. Teilweise waren unter den Gleisen keine Packlagen vorhanden, was dazu fuhrte, dass die Gleise ihre Lage anderten. Betriebsstorungen hauften sich, ab November 1912 musste der kleine Packwagen dauerhaft abgestellt werden, weil er haufig entgleiste. Das erste Geschaftsjahr 1912/13 schloss die Bahn mit einem Verlust von 13.000 Mark (heute ca. 80.000 EUR) bei einem Kostendeckungsgrad von 50 % ab. Dies war eine schwere finanzielle Last fur die Gemeinde. Stilllegung Zu Beginn des Ersten Weltkrieges Anfang August 1914 wurde der Straßenbahnbetrieb zunachst vorubergehend eingestellt. Dabei blieb es auch, obwohl sich nach dem Ende der Grenzschlachten im Raume Morchingen die Lage wieder beruhigt hatte und Ort und Bahn nur geringe Schaden davongetragen hatten. In der Folgezeit entwickelte sich ein Ringen zwischen der Verwaltung des Militars, die die Bahn gern wieder in Betrieb gesehen hatte, und der Gemeinde, der das zu teuer war. Eine Vereinbarung von Mai 1916, wonach die Militarkommandantur die Bahn als Ganzes angemietet hatte, wurde nicht verwirklicht. Da aber eine Beschlagnahme durch das Militar zu befurchten war, beschloss der Gemeinderat im Mai 1917, alle Fahrzeuge mit Ausnahme des Personenwagens zu verkaufen. Interessenten waren bald gefunden, die vereinbarten Erlose uberstiegen sogar den ursprunglichen Einkaufspreis. Ende 1917 wurde die Morchinger Bahn dann doch vom Militar ubernommen und wieder in Betrieb genommen. Aufgrund der kriegsbedingt gestiegenen Knappheit an Pferden und Wagen wurde die Bahn nun primar fur den Transport von Gutern eingesetzt. Die drei taglichen Personenzuge waren reserviert fur Militarpersonal, Beamte der Stadtverwaltung und Eisenbahner. Zu einer ursprunglich vorgesehenen Offnung auch fur Zivilpersonen kam es nicht mehr. Nachdem die Truppen im November 1918 abgezogen waren, wurde der Betrieb der Bahn umgehend wieder eingestellt. Das Rollmaterial wurde noch im selben Monat von der Gemeinde im Wesentlichen an die ursprunglich vorgesehenen Kaufer veraußert. Lediglich der Personenbeiwagen verblieb in Morchingen, da er ohne großere Kosten in einen elektrischen Triebwagen hatte umgebaut werden konnen. Morchingen war 1914 an das Uberlandstromnetz angeschlossen worden und die Gemeinde wollte sich die Moglichkeit der Einrichtung einer elektrisch betriebenen Bahn erhalten. Das Thema Dampfstraßenbahn hingegen erklarte der Gemeinderat in seiner Sitzung am 13. Dezember 1918 endgultig fur erledigt. In der Folgezeit fand zunachst kein offentlicher Verkehr zwischen Bahnhof und Stadtmitte statt. Verschiedene Projekte, darunter die Elektrifizierung der Bahn durch Thomson-Houston sowie der Umbau des Beiwagens auf Benzolantrieb scheiterten an den Kosten. Schließlich wurde am 1. Oktober 1921 probeweise ein Omnibusbetrieb auf der Strecke eingerichtet. Da er sich bewahrte, kam das endgultige Aus fur die Bahn. Der Beiwagen wurde im Fruhjahr 1923 an die Straßenbahn Sankt Avold verkauft, der Großteil der Gleise und sonstigen Einrichtungen der Bahn im Herbst des gleichen Jahres veraußert. Strecke Beginn der Strecke war der Vorplatz des Bahnhofs. Von hier aus ging es nach Westen. Nach 400 Metern kam die Strecke an eine Kreuzung. Hier bog sie nach Sudwesten ab und erreichte nach 900 Metern den Ortsrand, zugleich Beginn der Kasernenkomplexe. Sie folgte der Kapellenstraße (heute Rue du President Poincare) uber 1.100 Meter, bog am Beginn der Altstadt links fur 100 Meter in die Lohrmannstraße (heute Rue de l’hopital) ab, dann nach rechts in die Bergstraße (heute Rue du General Passaga). Nach 160 Metern war der Marktplatz (Place de la republique) erreicht, zugleich die Endstelle fur den Personenverkehr. Hier gab es eine Ausweiche, an der die Wagen abgekuppelt wurden. Die Lokomotive fuhr weiter nach Suden uber eine 400 Meter lange Betriebsstrecke durch die heutige Rue du General Castelnau vorbei am Rathaus bis zum Depot am Gasbehalter, wo sie wenden konnte. Am Marktplatz wurden die Wagen fur die Ruckfahrt wieder angehangt. Fahrzeuge Als Zugmaschinen schaffte die Stadt zwei neue, von Hanomag unter den Fabriknummern 6228 und 6229 hergestellte B-gekuppelte kleine Dampflokomotiven an. Ihr Leergewicht lag bei 14,6 Tonnen, das Dienstgewicht bei 18,8 Tonnen, die Hochstgeschwindigkeit bei 30 km/h. Der Wagenpark umfasste sechs Waggons, die alle, ebenso als Neufahrzeuge, bei De Dietrich erworben wurden. Dem Personentransport diente ein geschlossener Straßenbahnwagen mit der Wagennummer 1 mit 18 Quersitzen und 14 Stehplatzen. Fur die Gepackbeforderung war Wagen 2 vorgesehen, ein kleiner Packwagen mit einem Ladegewicht von 3 Tonnen bei einer Bodenflache von 5 Quadratmetern. Großere Frachtstucke und Stuckgut wurden mit Wagen 3 transportiert, einem gedeckten Guterwagen mit 12 m² Bodenflache und einem Ladegewicht von 10 Tonnen. Fur Kohlentransporte zum Gaswerk wurden zwei offene Guterwagen (Nr. 4 und 5) mit einem Ladegewicht von ebenfalls jeweils 10 Tonnen eingesetzt. Wagen 6 schließlich war ein Bahnmeisterwagen. Die Lokomotiven, die beiden offenen Guterwagen, der Packwagen sowie der Bahnmeisterwagen kamen 1918 zur Bergischen Kleinbahn (BK), die sie auf ihrer Strecke Heiligenhaus–Hosel einsetzte. Nach deren Stilllegung setzte die BK die Wagen auf ihrem ubrigen Meterspurnetz ein, der Verbleib der Lokomotiven ist unbekannt. Der gedeckte Guterwagen wurde an die Straßenbahn Idar-Oberstein veraußert, die ihren Guterverkehr aber bereits 1924 einstellte. 1928 war der Wagen dort schon nicht mehr aufgelistet. Der Personenwagen wurde 1923 an die Straßenbahn in Sankt Avold verkauft. Nach deren Stilllegung kam er zur Saarbrucker Straßenbahn, die ihn unter der Wagennummer 273 bis 1958 einsetzte. Im darauffolgenden Jahr wurde er verschrottet. Literatur Richard Lutz: Die Dampfstraßenbahn von Morchingen (Lothringen). In: Straßenbahn Magazin. Band 73, 1989, S. 238–245. Weblinks Einzelnachweise
Die Straßenbahn Morchingen war eine meterspurige Dampfstraßenbahn, die ab 1911 in der lothringischen Kleinstadt Morchingen (franzosisch Morhange) den Bahnhof mit der Stadtmitte verband. Sie wurde bereits 1918 eingestellt.
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Cho Myeong-cheol (koreanisch 조명철; in englischsprachigen Quellen transkribiert als Cho Myung-chul, geb. 2. April 1959, Pjongjang, Nordkorea) ist ein sudkoreanischer Politiker. Seit dem 15. Juli 2022 ist er nominell Gouverneur der Provinz Sud-Pyeongan (평안남도, 平安南道). Als nordkoreanischer Uberlaufer (탈북자, 탈북민, 脫北者) und ehemaliger Professor an der Kim-Il-sung-Universitat hatte er in Sudkorea mehrere politische Amter im Zusammenhang mit der koreanischen Wiedervereinigung und dem innerkoreanischen Dialog inne. 2012 wurde er als erster nordkoreanischer Uberlaufer in die sudkoreanische Nationalversammlung gewahlt. Bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2016 war er Vertreter des Verhaltniswahlkreises (비례대표) der Saenuri-Partei (spater Jayu-hanguk-Partei). Leben in Nordkorea und China Cho Myung-chul wurde am 2. April 1959 in Pjongjang geboren. Er war der zweite von drei Brudern. Sein Vater war ein Politiker, der unter anderem als Bauminister diente, und seine Mutter war Professorin an der Volksuniversitat fur Wirtschaft (인민경제대학). Cho studierte an der Kim-Il-Sung-Universitat von September 1983 bis Oktober 1987 und schloss sein Studium mit dem Grad eines Associate Doctor ab. Unmittelbar nach seinem Abschluss wurde er zum Dozenten an der Wirtschaftsfakultat der Universitat ernannt. Im August 1992 bekam Cho die Moglichkeit, im Rahmen eines zweijahrigen Austauschprogramms an der Nankai-Universitat in Tianjin, China, zu lehren. Spater beschrieb er seine Erfahrungen in China als „positiv“ im Vergleich zu seinem „negativen“ Leben in Nordkorea, und dieser Kontrast fuhrte letztlich zu seinem Entschluss uberzulaufen, als das Ende des Austauschs naher ruckte. Am 18. Juli 1994 lief Cho mit einem Flug von Hongkong uber nach Sudkorea. Cho behauptet, die Reaktion der nordkoreanischen Regierung auf seine Flucht sei „gedampft“ gewesen und es habe nur geringfugige Versuche gegeben, es so aussehen zu lassen, als sei Cho nach Nordkorea zuruckgekehrt. Laut Cho wurde nach seiner Flucht ein Artikel unter seinem Namen veroffentlicht und es wurden Geruchte verbreitet, er sei wahrend seiner Lehrtatigkeit in China in einen Verkehrsunfall verwickelt gewesen. Leben in Sudkorea = Akademische Karriere = Cho wurde kurz nach seiner Ankunft in Sudkorea Research Fellow am Korea Institute for International Economic Policy. Spater war er Direktor des International Development Cooperation Center am selben Institut. Von Juni 2011 bis Marz 2012 diente er als der 21. Direktor des Unification Education Institute des Ministeriums fur Vereinigung. Kontroversen entstanden um Chos Bildungsnachweise, da Nordkorea und Sudkorea unterschiedliche postsekundare Bildungssysteme haben. In Nordkorea erhalten Postgraduierte nach einem zusatzlichen zweijahrigen Programm einen Associate Doctoral Degree und nach einem zusatzlichen dreijahrigen Programm einen Doctoral Degree. Ersterer ist einzigartig in Nordkorea, und so gab es unter Chos Arbeitgebern Diskussionen daruber, ob sein Associate Doctoral Degree als gleichwertig mit einem Doctoral Degree in Sudkorea anerkannt werden sollte. Die sudkoreanische Regierung erkannte Cho schließlich als Inhaber eines von der Kim Il Sung University erworbenen Abschlusses an, der einem sudkoreanischen Doctoral Degree entspricht. = Politische Karriere = Cho wurde bei den Parlamentswahlen 2012 als Vertreter des Verhaltniswahlkreises in die sudkoreanische Nationalversammlung gewahlt. Er war Mitglied der damaligen Saenuri-Partei. Dies war das erste Mal, dass ein nordkoreanischer Uberlaufer in die Legislative gewahlt wurde. Wahrend seiner Amtszeit konzentrierte sich Cho darauf, das Leben nordkoreanischer Uberlaufer in Sudkorea zu verbessern und die koreanische Wiedervereinigung zu fordern. Er kritisierte außerdem scharf die Herrschaft des nordkoreanischen Obersten Fuhrers Kim Jong-un. Cho kandidierte nicht fur eine Wiederwahl und gab seinen Sitz nach der Auflosung der Nationalversammlung am 29. Mai 2016 auf. Der sudkoreanische Prasident Yoon Suk-yeol ernannte Cho am 15. Juli 2022 zum nominellen Gouverneur der Provinz Sud-Pyeongan. Die Position ist hauptsachlich zeremonieller Natur, da die Provinz de facto unter der Kontrolle Nordkoreas steht. Einzelnachweise
Cho Myeong-cheol (koreanisch 조명철; in englischsprachigen Quellen transkribiert als Cho Myung-chul, geb. 2. April 1959, Pjongjang, Nordkorea) ist ein sudkoreanischer Politiker. Seit dem 15. Juli 2022 ist er nominell Gouverneur der Provinz Sud-Pyeongan (평안남도, 平安南道). Als nordkoreanischer Uberlaufer (탈북자, 탈북민, 脫北者) und ehemaliger Professor an der Kim-Il-sung-Universitat hatte er in Sudkorea mehrere politische Amter im Zusammenhang mit der koreanischen Wiedervereinigung und dem innerkoreanischen Dialog inne. 2012 wurde er als erster nordkoreanischer Uberlaufer in die sudkoreanische Nationalversammlung gewahlt. Bis zum Ende seiner Amtszeit im Jahr 2016 war er Vertreter des Verhaltniswahlkreises (비례대표) der Saenuri-Partei (spater Jayu-hanguk-Partei).
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c-999
Liber studiorum (deutsch Ubungsblatter oder auch Studienbuch) ist der Name fur die Sammlung von Druckgrafiken des Malers William Turner, die zwischen 1807 und 1819 entstanden sind. Einhundert Blatter waren geplant, 71 wurden vom Kunstler ausgefuhrt. Nach Werner Busch veroffentlichte Turner nur 70 Blatter. Turner war anerkannt als ein unvergleichlicher Landschaftsmaler und mit seiner starken Farbgebung als ein großer Meister der Aquarellmalerei. Liber studiorum gilt als zur damaligen Zeit hochststehendes Kunsterzeugnis und wurde zu einem Referenzwerk fur die nachfolgenden Generationen. Gestochen und gedruckt wurde sowohl beim Schwarzschnittgraveur Charles Turner, der nicht mit William verwandt war, als auch im Laufe der Jahre bei W. Annis, George Clint (1770–1854), Henry Dawe (1790–1848), Robert Dunkarton, J.C. Easling (1788–1815), Thomas Hodgetts (1780–1846), F.C. Lewis (1779–1856), Thomas Lupton (1791–1873), S.W. Reynolds (1773–1835) und William Say (1768–1834). Nach Ansicht heutiger Kunstsachverstandiger zeugen diese Radierungen vom Ubergang zum Impressionismus, den die an diesem Werk beteiligten Kunstler, die noch dem Stil der Englischen Romantik (British Romanticism) unterlagen, durch ihre Suche gefordert haben. Ihre zur Abstraktion neigende Ausdrucksweise wirkt zeitweise experimentell. Die Werke gelten in ihrer Eindringlichkeit bis heute als technisch unerreicht. Entstehung Der Maler William Turner stand mit 33 Lebensjahren in der Mitte seiner Schaffenskraft, als er mit dieser Arbeit begann. Er hatte sich dann 12 Jahre lang mit diesen 71 Blattern beschaftigt. Es gilt als nachgewiesen, dass sie in unmittelbarer Nachfolge zu Claude Lorrains (Claudes) Liber-veritatis-Blattersammlung standen, welche zu Beginn der Arbeit beim gleichen Verleger bereits 30 Jahre vorlagen. Unmittelbar zuvor war jenes Werk ein drittes Mal bei Richard Earlom aufgelegt worden. In dem von Matthew Pilkington (1701–1774) wenige Jahre zuvor herausgegebenen Pilkington’s Dictionary war davon die Rede, Claudes Bilder hatten „no price, however great, was thought to be superior to their merit“ (kein Preis, wie hoch er auch sei, wurde als hoher angesehen als ihr Wert). Bedenkt man, dass Turner aufgrund seines vorausschauenden Denkens testamentarisch festhielt, welche Kultureinrichtungen sein Erbe verwalten durften, und dass seine Bilder bitte auch neben die von Claude zu hangen waren, darf man davon ausgehen, dass er diesen als sein Vorbild betrachtete. Liber studiorum stand also auch im Denken Turners ganz in der Konkurrenz zu Liber veritatis. Diese Denkweise ist aber nicht gerecht, weil die Voraussetzungen beider Arbeiten grundsatzlich unterschiedlich waren. Liber veritatis war nie fur die Offentlichkeit bestimmt, erst nachtraglich von Claude als Sammlung zusammengestellt worden – und zudem erst 100 Jahre nach seinem Ableben an die Offentlichkeit gelangt, wahrend Turner von Anfang an die Absicht hatte, ein Sammelwerk zu erstellen und dieses zu veroffentlichen. Zudem achtete letzterer mit der Auswahl der Objekte und Themen darauf, die ganze Bandbreite seiner Schaffenskraft zu prasentieren. Fast alle Blatter Turners sind das Werk seiner eigenen Hande, oder er uberließ sie unter strenger Aufsicht den besten Kupferstechern seiner Zeit. Zu Recht gelten sie als „part of his strongest and soberest, though not his most imaginative, work“ (ein Teil seiner starksten und nuchternsten, wenn auch nicht seiner fantasievollsten Arbeit). Die eigengewahlte Bezeichnung studiorum fur dieses Œuvre darf also getrost als britisches Understatement gelten. Die Farben variieren von Bild zu Bild erheblich. Meist wirken sie durch ihren naturlichen, kuhlen und angenehmen Braunton neutral. Bei einigen ist sehr viel Bister enthalten, der die Bilder sehr dunkel werden lasst, andere wirken durch Zugabe von zu viel Umbra rot-stichig bis fuchsfarbig. Rawlinson vermutet dahinter eine Absicht, erhalten ein paar Bilder dadurch den Effekt regelrechter Chrominanz. Nachgewiesen ist in einem Fall seine Anweisung: „Das ist die Farbe, die ich mir wunsche – aber es muss beachtet werden, dass nicht dieselbe Tinte auf allen Platten den gleichen Effekt erzeugt – daher mussen zwei oder mehr Farben verwendet werden, damit alle Drucke den gleichen Farbton aufweisen. Wenn der Drucker gut eingestellt ist, lassen Sie es mich bitte wissen. Die drei Drucke, die ich geschickt habe, sind eher in der Farbe Bister als in Ihrer, und eine feine, satte Bisterfarbe ist der Farbton, den ich mochte.“ Genre Von Anfang an war beabsichtigt, die Bildtafeln in großer Auflage herauszugeben, sprachen sie doch den naturalistischen Zeitgeschmack vieler Kunstliebhaber an. Die Themen gliederten sich nach Rawlinson in Marinemalerei (11 Werke, Ma), Gebirge (12, M), Pastorale (14, P), Erhabene Pastorale (14, EP), Heroische Landschaft (8, H) und Architekturbilder (11, A). William George Rawlinson zahlt die 70 Bildtafeln ohne das Frontispiz – fur das keine Zuordnung moglich sei und auch nicht sinnvoll erscheine – etwas anders zusammen als die Tate-Gallery. Gekennzeichnet wurden die Blatter am oberen Rand mit den jeweiligen Anfangsbuchstaben. Dies geschah allerdings recht inkonsistent, wenn Turner den Buchstaben M sowohl fur das Genre der Marinemalerei als auch der Bergwelt (Mountain) verwendete. Tatsachlich ist die Anzahl der nach Tate kategorisierten Bildtafeln dieser beiden Genres etwas unterschiedlich gemaß der Tabelle. Bei den Blattern mit Epischen Landschaften hatte Turner „offensichtlich an die mythologisch oder biblisch nobilierten Pastorallandschaften Claude Lorrains gedacht“. Die Bilder stehen in der Tradition des Renaissance-Humanismus, der zu Beginn der Neuzeit von Mittelitalien aus ganz Europa beeinflusste und pragte. Ihr Anliegen war es, einen direkten Zugang zur humanistischen Lehre in ihrer ursprunglichen, unverfalschten Gestalt zu erlangen. Wie schon zu Zeiten Petrarcas, in der romische und griechische Bodenfunde die Beschaftigung mit antikem Denken anregten, so war in der Entstehungszeit des Liber Studiorum der „ursprungliche“ und als „naturnah“ empfundene Neuagyptische Stil en vogue, der durch die Entzifferung der Hieroglyphen seine Manifestation gefunden hatte. Provenienz 51 seiner Grafiken, die zunachst in South Kensington ausgestellt wurden und dann in die National Gallery wechselten, vermachte Turner der Nation. Rawlinson bedauerte den teils schlechten Zustand dieser Blatter, die auch von Studenten zu Lehrzwecken ausgeliehen und abgezeichnet wurden. Die Drucke wurden versteigert. Diese erzielten teils Preise von bis zu 125.000 Francs. Die Original-Druckplatten fanden um die Wende ins 20. Jahrhundert eine weitere Verwendung: Dem britischen Kunstler Sir Frank Short (1857–1945) gelang es, Nachdrucke zu fertigen, teils von veroffentlichten, teils von unveroffentlichten Druckgrafiken, die allerdings nicht an die Detailgenauigkeit der Originale heranreichten. Die Drucke finden sich heute in verschiedenen Museen. Ein Museum, das Turner Center for the Arts in Sarasota, hat sich ganz diesen Arbeiten verschrieben, bedeutende weitere Hauser sind die Tate Gallery, das Metropolitan Museum of Art und das Art Institute of Chicago. Drucke Weblinks Einzelnachweise
Liber studiorum (deutsch Ubungsblatter oder auch Studienbuch) ist der Name fur die Sammlung von Druckgrafiken des Malers William Turner, die zwischen 1807 und 1819 entstanden sind. Einhundert Blatter waren geplant, 71 wurden vom Kunstler ausgefuhrt. Nach Werner Busch veroffentlichte Turner nur 70 Blatter. Turner war anerkannt als ein unvergleichlicher Landschaftsmaler und mit seiner starken Farbgebung als ein großer Meister der Aquarellmalerei. Liber studiorum gilt als zur damaligen Zeit hochststehendes Kunsterzeugnis und wurde zu einem Referenzwerk fur die nachfolgenden Generationen. Gestochen und gedruckt wurde sowohl beim Schwarzschnittgraveur Charles Turner, der nicht mit William verwandt war, als auch im Laufe der Jahre bei W. Annis, George Clint (1770–1854), Henry Dawe (1790–1848), Robert Dunkarton, J.C. Easling (1788–1815), Thomas Hodgetts (1780–1846), F.C. Lewis (1779–1856), Thomas Lupton (1791–1873), S.W. Reynolds (1773–1835) und William Say (1768–1834). Nach Ansicht heutiger Kunstsachverstandiger zeugen diese Radierungen vom Ubergang zum Impressionismus, den die an diesem Werk beteiligten Kunstler, die noch dem Stil der Englischen Romantik (British Romanticism) unterlagen, durch ihre Suche gefordert haben. Ihre zur Abstraktion neigende Ausdrucksweise wirkt zeitweise experimentell. Die Werke gelten in ihrer Eindringlichkeit bis heute als technisch unerreicht.
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