id
stringlengths 3
7
| text
stringlengths 0
372k
| abstract
stringlengths 0
6.22k
| metadata
dict |
|---|---|---|---|
c-400
|
Gute Freunde kann niemand trennen ist ein vom deutschen Fußballspieler Franz Beckenbauer eingesungenes Lied. Es erschien am 7. Dezember 1966 als B-Seite der Single Du allein.
Entstehung und Artwork Geschrieben wurde Gute Freunde kann niemand trennen von Komponist Rolf Arland und Textdichter Kurt Hertha, die zur Veroffentlichungszeit zu den erfolgreichsten Liedautoren des deutschen Schlagers zahlten.
Das Frontcover der Single zeigt ein Portrat des lachelnden Franz Beckenbauers, der im orangeroten Hemd in die Kamera blickt und sich auf seine verschrankten Hande lehnt. Der Hintergrund ist grau und der Schriftzug „Franz Beckenbauer“ befindet sich links oben in Versalien; die Buchstaben sind weiß mit roter Umrandung. Der Liedtitel Du allein links unten ist orange; darunter befindet sich der Titel Gute Freunde kann niemand trennen in hellgruner Farbe. Rechts oben stehen das Logo des Musiklabels Polydor und die Katalognummer 52 747. Die Schallplatte erschien im selben Jahr mit leicht veranderter Schallplattenhulle; hier ist von Franz Beckenbauer nur der Bereich bis knapp unter dem Hals zu sehen. Die Schriftzuge „Franz Beckenbauer“ und „Du allein“ sind hier in roter Schrift zu lesen und „Gute Freunde kann niemand trennen“ in weißer Schrift mit hellgruner Umrandung. Beide Versionen tragen dieselbe Katalognummer.
Veroffentlichung und Promotion Die Erstveroffentlichung von Gute Freunde kann niemand trennen erfolgte als B-Seite der 7″-Single Du allein am 7. Dezember 1966. Sie erschien unter dem Musiklabel Polydor. Verlegt wurde das Lied durch die Riva Edition August Seith KG. Am 16. Juni 2024 erschien das Lied auf der EP Des Kaisers schonste Lieder, die im Musiklabel Polydor unter der Katalognummer 0602465126341 veroffentlicht wurde. Das Album war auf 1000 Exemplare limitiert und enthalt alle vier Lieder von Franz Beckenbauer – neben den beiden Stucken dieser Single noch Du bist das Gluck und 1:0 fur die Liebe.
Hintergrund Das Lied wurde Ende 1966 veroffentlicht, kurz nachdem Beckenbauer als Teil der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1966 den zweiten Platz erreicht hatte. Seine zweite Single Du bist das Gluck war kommerziell nicht mehr erfolgreich. Er selbst sagte zu seinen beiden Singleveroffentlichungen: „Zwei Schallplatten habe ich besungen. So schlecht, wie andere meinen, singe ich gar nicht.“
Inhalt Musikalisch ist das deutschsprachige Lied im Bereich des Schlagers zu verorten. Das Tempo betragt 115 Schlage pro Minute. Die Tonart ist F-Dur. Inhaltlich handelt das Lied von der Unzertrennlichkeit einer guten Freundschaft, in der man besonders in schlechten Zeiten fureinander da sei („Aber in schweren Tagen / Da brauchst du einen Freund“).
Aufgebaut ist das Lied aus einem Refrain, zwei Strophen und einem Outro. Das Lied beginnt mit der zweimaligen Wiederholung des vier Verse umfassenden Refrains, auf die die erste Strophe folgt, die ebenfalls aus vier Versen besteht. Auf die erste Strophe folgt erneut doppelt der Refrain sowie eine vierzeilige zweite Strophe. Nach dieser endet das Lied mit dem Outro, das aus der vierfachen Wiederholung von „Gute Freunde“ besteht.
Mitwirkende Rezeption Das deutschsprachige Internetportal schlagerprofis.de bezeichnete das Lied zu Beckenbauers Tod als einen „echten Evergreen“.
In der Bundesliga-Partie des FC Bayern Munchen gegen die TSG 1899 Hoffenheim (3:0), dem ersten Spiel nach dem Tod von Franz Beckenbauer, wurde das Lied als Einlaufmusik sowie Torhymne verwendet und mehrmals von den Fans angestimmt.
Chartplatzierungen Gute Freunde kann niemand trennen stieg am 15. Dezember 1966 auf Platz 32 in die deutschen Singlecharts ein und erreichte einen halben Monat spater mit Rang 31 seine beste Notierung. Das Stuck hielt sich insgesamt einen Monat in den Charts und war Beckenbauers einziger Charthit als Solokunstler. Im Jahr 1973 gelangte er als Teil der Nationalmannschaft mit Fußball ist unser Leben noch einmal in die deutsche Hitparade.
Weblinks Franz Beckenbauer – Du allein bei Discogs
Songtext mit Interpretationen auf genius.com
DAZN: Danke, Franz! Gansehaut – besondere Einlaufmusik & eine außergewohnliche Schweigeminute. auf YouTube, 12. Januar 2024.
Einzelnachweise
|
Gute Freunde kann niemand trennen ist ein vom deutschen Fußballspieler Franz Beckenbauer eingesungenes Lied. Es erschien am 7. Dezember 1966 als B-Seite der Single Du allein.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Gute_Freunde_kann_niemand_trennen"
}
|
c-401
|
Das intertemporale Recht bestimmt als Teil des Kollisionsrechts, welche Rechtsnormen auf Sachverhalte zu bestimmten Zeitraumen anwendbar sind.
Kollisionsregeln, die das intertemporale Recht im Fall von Gesetzesanderungen betreffen, werden als Ubergangsvorschriften bezeichnet.
Grundsatz: tempus regit actum Dem intertemporalen Recht liegt der Gedanke zu Grunde, dass fur einen Sachverhalt immer die zur (Orts-)Zeit seines Ablaufs geltende Norm Anwendung findet. Es spielt also zum Beispiel keine Rolle, dass eine Rechtsfrage erst zu einem spateren Zeitpunkt von einem Gericht entschieden wird, in dem die damalige Norm nicht mehr gilt.
Dieser Grundsatz wird mit der lateinischen Formel tempus regit actum beschrieben, die in der Literatur mit „Die Zeit regiert das Geschaft“ ubersetzt wird und besagt, dass sich das anwendbare Recht nach dem Zeitpunkt des fraglichen Geschehens bestimmt.
= Ausnahmen =
Ruckwirkung: Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellt die Ruckwirkung eines spater erlassenen Gesetzes dar. Es regelt einen bereits abgeschlossenen und insoweit zuruckliegenden Sachverhalt nachtraglich mit Wirkung fur die Vergangenheit.
Nichtigkeit: Wenn ein Gesetz nachtraglich fur nichtig erklart wird, kann es auch fur zuvor abgeschlossene Sachverhalte keine Wirkung entfalten. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn ein Gesetz gegen die Radbruchsche Formel verstoßt.
Intertemporales Offentliches Recht Das intertemporale offentliche Recht befasst sich insbesondere mit dem Vertrauensschutz des Burgers gegenuber dem Staat. In nachkolonialen Gesellschaften stellen sich haufig intertemporale Rechtsfragen, wenn Rechtsverletzungen gegen indigene, vormals rechtlose Bevolkerungsteile bewertet werden sollen.
= Intertemporales Volkerrecht =
Im Volkerrecht bestimmt das intertemporale Volkerrecht, dass innerhalb eines Territoriums die Normen desjenigen Staates gelten, zu dem das Territorium zu einem bestimmten Zeitpunkt gehort. Fur volkerrechtliche Vertrage ergibt sich dies aus Art. 28 der Wiener Vertragsrechtskonvention. Die Konvention selbst ist zwar gemaß Art. 4 zeitlich (ratione temporis) nur auf Vertrage anwendbar, welche nach ihrem Inkrafttreten (von dem jeweiligen Mitgliedsstaat) geschlossen wurden. Weil die wichtigsten Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention jedoch bereits davor gewohnheitsrechtlich anerkannt waren, konnen im Einzelfall auch altere Vertrage nach diesen Regeln behandelt werden.
Der Grundsatz der Intertemporalitat im Volkerrecht wird auf den Palmas-Fall zuruckgefuhrt, den der Richter Max Huber am Standigen Schiedshof 1928 entschied.
Intertemporales Privatrecht Das intertemporale Privatrecht regelt die Auswirkung von Rechtsanderungen auf fortbestehende Rechte und Rechtsverhaltnisse. Es ist in Deutschland im Wesentlichen durch Friedrich von Savigny gepragt worden.
Nach dem Grundsatz tempus regit actum sind Rechtsgeschafte und Prozesshandlungen nach der Rechtslage zu beurteilen, die im Augenblick ihrer Vornahme bestand.
Intertemporales Strafrecht Das intertemporale Strafrecht ist Teil des Strafanwendungsrechts. Hier ist insbesondere das strafrechtliche Ruckwirkungsverbot zu beachten.
Literatur = Offentliches Recht =
Matthias Kradolfer: Intertemporales offentliches Recht. Ein Beitrag zum zeitlichen Kollisionsrecht unter besonderer Berucksichtigung des schweizerischen Verwaltungs- und Verfassungsrechts. Dike, Zurich St. Gallen 2020, ISBN 978-3-03891-230-9 (Habilitationsschrift, Universitat Zurich, 2019).
Edward Martin: The application of the doctrine of intertemporality in contentious proceedings (= Schriften zum Volkerrecht. Nr. 245). Duncker & Humblot, Berlin 2021, ISBN 978-3-428-18186-5 (Dissertation, Universitat Hamburg, 2019).
= Privatrecht =
Martin Avenarius: Savignys Lehre vom intertemporalen Privatrecht (= Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte 3). Wallstein, Gottingen 1993, ISBN 3-89244-059-X.
Burkhard Hess: Intertemporales Privatrecht (= Jus Privatum. Nr. 26). Mohr Siebeck, Tubingen 1998, ISBN 978-3-16-146880-3 (Zugl.: Munchen, Univ., Habil.-Schr., 1995/96).
= Strafrecht =
Gerhard Dannecker: Das intertemporale Strafrecht. Mohr, Tubingen 1993, ISBN 978-3-16-146019-7 (Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Habil.-Schr., 1991/92).
Thomas Elsner: Das intertemporale Strafrecht und die deutsche Wiedervereinigung (= Berichte aus der Rechtswissenschaft). Shaker, Aachen 2000, ISBN 978-3-8265-5932-7 (Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 1999; als Manuskript gedruckt).
Weblinks NRW-Justiz: Recht von A–Z: Intertemporales Recht
European Center for Constitutional and Human Rights: Glossar: Prinzip der Intertemporalitat
Einzelnachweise
|
Das intertemporale Recht bestimmt als Teil des Kollisionsrechts, welche Rechtsnormen auf Sachverhalte zu bestimmten Zeitraumen anwendbar sind.
Kollisionsregeln, die das intertemporale Recht im Fall von Gesetzesanderungen betreffen, werden als Ubergangsvorschriften bezeichnet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Intertemporales_Recht"
}
|
c-402
|
Krao Farini (geboren ca. 1876 in Siam; gestorben am 16. April 1926 in New York City) wurde als Kind unter ungeklarten Bedingungen von ihrer Familie und Kultur getrennt und als Attraktion in europaischen und nordamerikanischen Vorstellungen gezeigt. Hier wurde das Madchen unter der wissenschaftlich falschen Bezeichnung The Missing Link prasentiert, als das angebliche „fehlende Bindeglied“ zwischen Affen und Menschen. Sie hatte eine angeborene Hypertrichose und daher einen stark vermehrten Haarwuchs. Sie verbrachte ihr Leben auch als Erwachsene als Freak-Schaustellerin und Attraktion auf europaischen und nordamerikanischen Jahrmarkten.
Herkunft = Legenden Farinis =
Die durchweg erfundenen Erzahlungen, wie William Leonard Hunt (der Große Farini, Guillermo Antonio Farini) in den Besitz des Madchens, das spater den Namen Krao Farini trug, gekommen sein will, variierten stark. Nach den Angaben Hunts, der ihre Auftritte zunachst managte und als ihr Adoptivvater galt, wurde sie in der damaligen siamesischen Provinz Laos geboren. Ihre Entdeckung und Entfuhrung aus der Heimat wurde den zwei Entdeckungsreisenden Carl Alfred Bock und George G. Shelly zugeschrieben, was aber fragwurdig ist. Folgende Formen der Legende ließ Farini zwischen 1882 und 1885 verbreiten:
Gefangennahme durch Bock und Shelley: Es lebe in einer abgelegenen laotischen Region ein Stamm Indigener, dessen Mitglieder alle die außerlichen Merkmale von Krao hatten. Sie wurden als Kraos oder Kraos-monink (d. h. „Affenmenschen“) bezeichnet, lebten nackt, feuer- und werkzeuglos in Baumen und ernahrten sich von Fruchten, Nussen und Fisch. Ein gewisser Edward T. Sachs in Farinis Auftrag habe sie entdeckt, aber aufgrund einer Krankheit habe er aufgeben mussen. Die Wissenschaftler Bock und Shell(e)y hatten Einheimische bestochen – entgegen einem Aberglauben, dass das Fangen von Kraos Ungluck brachte – eine Kraos-Familie auf der laotischen Insel Borneo gefangen zu nehmen, was im Januar 1881 gelungen sein soll. Allerdings sei der Familienvater an Cholera gestorben und die Mutter sei in Bangkok von ihrer Tochter getrennt worden. Shelly habe das Kind dann aus seiner Obhut in die von Farini ubergeben.
Gefangennahme durch eine siamesische Expedition: Bock (oder Sachs) sei bereits 1874 im Auftrag von Farini unterwegs gewesen, um ungewohnlich große Menschen aufzuspuren. Am Hafen der burmesischen Hauptstadt Mandalay oder abweichend am dortigen Konigshof habe er ungewohnlich behaarte Menschen bemerkt, die dem Konig von Burma als Kuriositat vom Konig von Laos geschenkt worden seien; ein Verkauf dieser Leute sei aber vom Konigshof abgelehnt worden. Daher seien Shelley und Bock erneut 1882 aufgebrochen, um diesen Volksstamm zu finden. Sie hatten vom siamesischen Konig (den Bock Jahre zuvor von einer Krankheit geheilt hatte) eine Expeditionseskorte in die laotische Stadt Kjang-Kjang erhalten, mit deren Hilfe in einem waldigen Sumpfland die Familie gefangen genommen worden sei. Die Kraos lebten dort zum Schutz vor Schlangen in Baumhutten und ernahrten sich von Fisch, Wildreis und Kokosnussrinden. Die Mutter des Kraos-Madchens habe dann ein laotischer Konig fur sich behalten wollen und ihr Vater sei an Cholera gestorben. So sei nur Krao selbst in die Zivilisation gebracht worden, mit einer Ankunft in Europa am 4. Oktober 1882.
Kauf beim Konig: Die von Farini selbst arrangierte Expedition Bocks in die laotischen Sumpfe (s. o.) habe das Kraos-Volk bloß gesichtet, aber niemanden fangen konnen. Nach einigen Verwicklungen hatten dann die Konige oder Prinzen von Burma und/oder Siam eingewilligt, ein am Hof geborenes Kraos-Kind aus Siam ausreisen zu lassen, unter der Bedingung, dass das Madchen von Farini adoptiert wurde.
1926 hieß es, dass „gemaß Zirkustradition“ „Professor“ Farini selbst sie in Laos gefunden habe.
= Zeitgenossische Ermittlungen zur Herkunft =
Diese Legenden wurden fruhzeitig als solche erkannt, hatten sich aber bereits so weit verbreitet, dass sich Richtigstellungen jenseits akademischer Kreise als vergeblich erwiesen. Bereits ab 1883 gab es Hinweise auf eine Herkunft aus Bangkok. 1884 ergaben Nachforschungen durch die Deutsche Gesellschaft fur Anthropologie, dass Krao das Kind siamesischer Eltern war, die beide (Stand 1885) weiterhin in Schuldsklaverei in Bangkok lebten und keine ungewohnliche Behaarung aufwiesen. Eine Haupteinnahmequelle der Mutter sei es gewesen, Krao gegen Bezahlung zu zeigen. Bock sei den Berichten uber das Kind gefolgt, habe Schulden der Familie abbezahlt (7,5 Ticals und 600 Katties, was 1800 Franc entsprach) und so dank seiner Kontakte zum Polizeiminister Salomon die Adoptionsrechte fur Krao arrangiert.
Ihr Name „Krao“ bzw. „Meh Kao“ ist wohl der ihr nach der Geburt von ihrer Mutter gegebene. Zeugnisse zur siamesischen Schreibweise existieren nicht. Naheres zu seiner Bedeutung ist nicht bekannt. Ein deutscher Linguist stellte 1885 in Bangkok fest, es gebe in keiner Schreibvariante einen Bedeutungszusammenhang mit Haaren oder Affen.
Zurschaustellung als Missing Link = 1883: Anthropologische Schauen in Großbritannien und Deutschland =
Auf der Uberfahrt nach Europa 1882 und wahrend ihres Aufenthalts lernte Krao Englisch und Deutsch. Dann wurde sie als ein Beweis fur Charles Darwins Evolutionstheorie und als bis dahin fehlendes Bindeglied („Missing Link“) zwischen Mensch und Affe in Europa zur Schau gestellt. Organisiert wurde dies durch William Leonard Hunt alias Guillermo Antonio Farini, der als Kraos Adoptivvater auftrat, und von ihr „Papa“ gerufen wurde. Nach Vorab-Begutachtungen durch die Presse im Dezember 1882 fand die erste bedeutende Zurschaustellung von Januar bis Juli 1883 im Royal Aquarium in Westminster statt, mit taglichen Auftritten nachmittags von insgesamt funf Stunden, bei einer Stunde Pause. Farini betrieb einen großen Aufwand, um seine Behauptungen uber das vermeintliche Dschungelkind mit Urwald-Kulissen zu untermauern und schreckte auch nicht davor zuruck, Krao in einem Kafig mit vier Menschenaffen zeigen zu wollen. Dieses Vorhaben wurde allerdings polizeilich unterbunden und die Affen wurden getrennt gezeigt. Insbesondere unterstrich Farini als Showmaster, dass Krao kein Freak sei, sondern eine typische Vertreterin ihrer Art: ein „Spezimen“. Der wissenschaftliche Streit uber diese Behauptungen fachte die Aufmerksamkeit, die Krao zuteilwurde, stark an. Werbe-Fotografien zu dieser Zurschaustellung zeigten Krao zum Teil nackt oder beinahe nackt; der Offentlichkeit wurde sie allerdings im Kleid vorgefuhrt, wobei Farini darauf achtete, Kraos behaarte Arme und Beine moglichst unbekleidet zu lassen.
Farini ließ Krao gerne von Experten begutachten und zitierte zudem bekannte Wissenschaftler wie Darwin oder Francis Buckland, die allerdings beide bereits verstorben waren. Zitate aus der Presse und Wissenschaft wurden von Farini stets so ausgewahlt, dass er Krao publikumswirksam als Zwischenstufe zwischen Affe und Mensch bewerben konnte und nicht als das Madchen, als welches sie von vielen erkannt wurde. Er soll auch Fotografien nachbearbeitet haben; ein noch lange nach Kraos Kindheit verwendeter Promo-Holzschnitt ubertreibt ihre Korperbehaarung stark. So vermutete etwa der irisch-indische Ethnologe Augustus Henry Keane bereits im Januar 1883 eine schlichte korperliche Anomalie. Als im Mai 1883 Berichte aus Bangkok die wahre Natur Kraos offenlegten, publizierte auch Keane diese. Dem Marketing rund um Krao tat dies keinen Abbruch mehr. Spottische Stimmen dagegen verglichen sie mit dem bartigen Farini und fragten, wer von den beiden wohl das Bindeglied zwischen Affe und Mensch sei.
Das Interesse an Krao war auch deswegen groß, weil sich an ihr der Einfluss des Britischen Weltreichs zeigte, welches immer neue Territorien erkundete und vereinnahmte und Indigene aus bislang unerforschten Erdteilen nach London zu bringen in der Lage war. 1886 wurde in einer Volkerschau auch die „Haarmenschen-Familie“ in London gezeigt, welche bis zur Absetzung von Thibaw Min am burmesischen Konigshof gelebt hatte, und die nun als Trophaen der britischen Eroberung galten. In diesem Zeitgeist entstanden auch die Urzeit- und Abenteuerromane H. Rider Haggards, in denen Missing-Link-Protagonisten verschiedene Rollen einnehmen. Im Falle Kraos wurde ferner publikumswirksam der zivilisatorische Einfluss des Britischen Reichs unterstrichen, da Krao nicht etwa im Lendenschurz, sondern in Madchenkleidern und mit Hut auftrat.
Krao selbst soll sich bereits fruh durchaus begeistert gezeigt haben, in der westlichen Welt Dinge zu erleben und zu besitzen, die ihr in der Heimat verwehrt gewesen waren, darunter eine Vielfalt an feinen Kleidern und Spielzeugen. Sie wird mit der Meinung zitiert, London sei Laos an Geschaften weit uberlegen. Ihre hofliche Art und rasche Anpassung an viktorianische Gepflogenheiten machte den Behorden schnell deutlich, dass die „junge Lady“ auch der Impf- und Schulpflicht unterlag. Fur 1883 wurden die wochentlichen Einnahmen, die Farini mit Krao erzielte, auf 700 US-Dollar geschatzt.
Nach London wurde Krao im August 1883 in Liverpool und dann im September in Dublin vorgefuhrt. In Dublin trat sie taglich vor Publikum in der Star of Erin-Music-Hall auf, erstmals auf einer Buhne. Das wissenschaftliche Fachpublikum konnte sie auch in Unterwasche begutachten. Ebenfalls 1883 trat Krao dann in Berlin auf, im damaligen Panoptikum. Weitere Stationen waren Leipzig, Halle, Wien und Frankfurt. Auch in Deutschland wurde sie eingehenden Untersuchungen unterzogen, wobei die deutschen Mediziner uberwiegend eine Hypertrichosis universalis diagnostizierten.
= Behauptungen zu abweichender Anatomie =
Zahlreiche Berichte von 1883 und 1884 konstatierten bei der sieben- und achtjahrigen Krao verschiedene anatomische Atavismen abseits der Korperbehaarung. Hierbei handelte es sich meist um ubertriebene, gefalschte oder oberflachliche Diagnosen, die G. A. Farini bewusst auswahlte und auch bei wissenschaftlichen Gegendarstellungen weiterhin verbreitete, um sie als „Missing Link“ einordnen zu konnen: „Backenbeutel“ zum Verstauen von Nahrung; „affische“ Ohren und eine flache Nase ohne Knorpelgewebe; ein kleiner Schadel mit einem „wilden“ Gesicht und buschigen Augenbrauen sowie eine 13. Rippe. Diese fruhen Beschreibungen betonten aber auch eine regulare menschliche Anatomie aller Gliedmaßen (jedoch mit ungewohnlich flexiblen Handen und Zehen), aufrechten Gang, Ablehnung von Nacktheit, raschen Spracherwerb und hohe Intelligenz, kindliche Lebhaftigkeit und Neugier sowie ein freundliches Lachen. Einige Rassenkundler, die sich mit dem Kind beschaftigten, kamen zu dem Schluss, das angebliche Volk der Krao sei eine menschliche Varietat ahnlich den Veddas oder Ainu.
Hypertrichose war im 19. Jahrhundert ein Thema, das medizinisch sehr stark untersucht wurde. Zeitgleich mit Krao waren auch der russische „Barenjunge“ Fedor Jeftichejew, der polnische „Lowenmensch“ Stephan Bibrowsky, die Amerikanerinnen Annie Jones und Alice Doherty sowie die burmesische Haarfamilie bekannt – letztere hatte ihre Hypertrichose uber vier Generationen vererbt. Es war dokumentiert, dass bei Hypertrichose meist auch angeborene schwere Defekte am Gebiss vorlagen, daher wurde auf Kraos Gebiss besonderes Augenmerk gerichtet. Nach Auskunft von G. A. Farini habe sie eine zweite Zahnreihe, die noch nicht voll ausgebildet sei, was aber nicht haltbar war. Umgekehrt vermuteten der deutsche Zahnmediziner Gustav Julius Parreidt (1849–1933) und andere Wissenschaftler, dass das Kind nicht unter Hypertrichosis universalis leide, weil es, anders als alle anderen bekannten Betroffenen, ein „untadelhaftest“ vollstandiges Gebiss habe. Dem widersprachen mit Maximilian Bartels und Rudolf Virchow zwei der angesehensten deutschen Mediziner und Anthropologen: Die Behaarung Kraos sei ein klarer Fall von Hypertrichose und ihr Gebiss sei lediglich viel weniger defekt als bei anderen bekannten Fallen. Auch bei ihr lage eine Zahnfleisch-Hypertrophie vor, was als atavistische zweite Zahnreihe fehlinterpretiert worden sei.
Auch als Siebzehnjahrige hatte Krao weiterhin besonders biegsame Hand- und Fußgelenke; sonstige anatomische Beschreibungen konzentrierten sich mittlerweile nur noch auf den Stand ihrer Behaarung. Bemerkt wurde, dass die bei Hypertrichose sonst ubliche Haarlocke am Nasenansatz fehlte, im Ubrigen war ihr Gesicht vollstandig behaart.
= 1884–1887: Weitere Auftritte in den USA und Europa =
Krao wurde dann von Farini in die Vereinigten Staaten gebracht, wo sie ab November 1884 zunachst im Chestnut Street Theater in Philadelphia auftrat. 1885 unternahm er eine Kalahari-Expedition; Krao wurde im Zirkus von John B. Doris gezeigt. Farini wandte sich im Lauf der folgenden Jahre immer mehr anderen Unternehmungen zu.
Die Darstellungen Kraos anderten sich, als sie alter wurde. Wegen der Besonderheit ihres Haarwuchses sollte dem zahlenden Publikum moglichst viel ihres Korpers dargeboten werden. Farini ließ sie in Fotografien fast unbekleidet posieren und warb gerne mit Illustrationen, die sie als nacktes Affenmadchen darstellen sollten. Die viktorianischen Sitten machten ein ebensolches Auftreten in Publikumsveranstaltungen allerdings schwierig und selbst die kurzen Kleider, die Kraos Arme und Beine frei ließen, gingen an die Anstandsgrenze. Kraos Haupthaar wurde nicht geschnitten, sodass sie als Jugendliche uber Kopfhaare verfugte, die bis zur Hufte und spater zum Boden reichten. Ihre Buhnenkleidung blieb weiter knapp und sie trug ihre Haare offen, was in ihrer Zeit als sexualisiertes Auftreten wahrgenommen wurde: Frauen zeigten ihre Korperbehaarung nicht. Ihr seit dem Teenageralter gepflegter Vollbart trug ebenfalls dazu bei, dass sie entweder als „primitiv“ oder als sexuell aggressiv verstanden wurde; sie wurde als Perversion wahrgenommen.
Im Juni 1886 fand die erste Zurschaustellung Kraos in Paris statt. Die franzosische Presse, die bereits 1883 uber ihren Aufenthalt in London berichtet hatte, war nur maßig an weiteren Berichten uber sie interessiert und betonte stattdessen, dass es sich bei ihr um einen Menschen handele und keinen „Missing Link“ wie von G. A. Farini weiterhin propagiert. Anstatt einer großen Buhne mietete Farini einen Privatraum im Etablissement Alcazar d'ete und arrangierte Besuchszeiten. Diana Snigurowicz vermutet, dass Krao und „revolutionare“ Theorien des Darwinismus im boulangistischen Frankreich behordlich unerwunscht waren, dagegen bezeichnet Nadja Durbach die Pressemeldungen und Karikaturen als starker sexuell aufgeladen als bei den fruheren Auftritten in England.
1887 wurde Krao erneut in London prasentiert und auch ein zweites Mal in Berlin; sie wurde dabei nochmals durch Rudolf Virchow untersucht. Auch ein drittes Gastspiel in Berlin Ende 1893 wurde wissenschaftlich begleitet und Portratfotos wurden angefertigt, 1894 gastierte sie ein zweites Mal im Frankfurter Zoo.
= Schaustellerin im Erwachsenenalter =
Uber vierzig Jahre lang tourte Krao Farini in verschiedenen Ensembles durch die Vereinigten Staaten und zeigte Schaulustigen ihren Bart und ihre besonders beweglichen Hande und Fuße. Die Art ihrer Inszenierung wechselte nach Laune der jeweiligen Impresarios, die sie vermarkteten. Sie bestand allerdings stolz auf der Bezeichnung „originaler missing link“, um zu betonen, dass verschiedene Nachahmer lediglich Trittbrettfahrer ihres Modells waren. Sie war nach Einschatzung einiger Autoren die wohl bekannteste „Dame mit Bart“ des Landes und laut ihrem Nachruf auch „der beliebteste Freak“. Unter Zirkusleuten wurden ihre Intelligenz, Liebenswurdigkeit und Kultiviertheit gepriesen.
Sie sprach als 17-Jahrige 1893 mindestens die vier Sprachen Englisch, Deutsch, Italienisch und Franzosisch. Sie befand sich in dieser Zeit meist mit einer aus England stammenden Gesellschafterin auf Reisen. Im spateren Leben soll Farini sechs oder sieben Sprachen fließend beherrscht haben und im Winterlager von Barnum & Bailey in Bridgeport diese Sprachen unterrichtet haben. Andere Aussagen sprechen ihr zu, funf Sprachen fließend beherrscht zu haben, sowie Pianospielerin gewesen zu sein. Sie entdeckte auch eine Leidenschaft fur das Stricken.
1899 bereiste sie erneut England und Schottland. Ihr knappes Kostum rief im Londoner Aquarium nun scharferen Protest hervor. Eine Zuschauerin unterstellte der 23-Jahrigen in einem Protestbrief zudem, durch die Behauptung ein Mischwesen zwischen Mensch und Affe zu sein, Zoophilie zu fordern. Eine daraufhin angestrengte Untersuchung des Londoner Stadtrats stellte klar, dass weder Kostum noch Auftritt etwas Unanstandiges an sich hatten.
1903 war sie beim Zirkus von Barnum & Bailey unter Vertrag, wo man sie erneut in Verbindung mit einem Gorilla ausstellte und ihr die gelehrige Schimpansin Johanna als Partnerin zuwies. Neue Legenden zu ihrer Herkunft wurden erfunden, nun etwa mit Julia Pastrana als ihrer angeblichen Mutter. Farini nahm das Image einer freigeistigen Junggesellin an, die zu unabhangig fur eine Heirat sei, und lehnte Heiratsantrage stets ab.
Im Ringling Brothers Circus war sie 1916 und 1917 als Sideshow-Attraktion mit einem Gehalt von 50 Dollar pro Woche unter Vertrag, was in ihrem Segment (Auftritte vor kleinem Publikum anstatt in der großen Manege) ein betrachtlicher Verdienst war, aber hinter dem von Artisten und Showgroßen deutlich zuruckblieb. Als bekannte Darstellerin genoss sie unter anderem auch Gepack-Privilegien.
Krao Farini erlag 1926 in ihrem Haus in Brooklyn einer Influenzainfektion. Im Bewusstsein, dass Anthropologen Korper wie den ihren fur Museen praparierten, hatte sie zuletzt verfugt, ohne Obduktion eingeaschert zu werden.
Neuere Rezeption In der Forschung zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von sogenannten „Freaks“ im 19. und fruhen 20. Jahrhundert wird auch untersucht, welche zusatzlichen Faktoren bei der Ausgrenzung aus der Gesellschaft eine Rolle spielten. Krao Farinis Leben und ihre Behandlung wurde aus vielen Blickwinkeln studiert, da sie (als dunkelhautige Frau aus Bangkok) sowohl dem Kolonialismus als auch Misogynie und Rassismus ausgesetzt war (Mehrfachdiskriminierung, Intersektionalitat).
Weblinks Einzelnachweise
|
Krao Farini (geboren ca. 1876 in Siam; gestorben am 16. April 1926 in New York City) wurde als Kind unter ungeklarten Bedingungen von ihrer Familie und Kultur getrennt und als Attraktion in europaischen und nordamerikanischen Vorstellungen gezeigt. Hier wurde das Madchen unter der wissenschaftlich falschen Bezeichnung The Missing Link prasentiert, als das angebliche „fehlende Bindeglied“ zwischen Affen und Menschen. Sie hatte eine angeborene Hypertrichose und daher einen stark vermehrten Haarwuchs. Sie verbrachte ihr Leben auch als Erwachsene als Freak-Schaustellerin und Attraktion auf europaischen und nordamerikanischen Jahrmarkten.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Krao_Farini"
}
|
c-403
|
Hajichi (okinawanisch / Amami-Sprache ハシチ, „Nadelstich“) waren traditionelle Tatowierungen an den Handen und Handgelenken von Frauen der Ryukyu-Inseln. Die Praxis wurde bereits in Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert erwahnt. Nachdem das ehemalige Konigreich Ryukyu unter die Herrschaft der japanischen Meiji-Regierung gefallen war, wurden Hajichi jedoch 1899 offiziell verboten. Bereits Tatowierte sahen sich Stigmatisierungen ausgesetzt und die Tradition verschwand mit der Zeit.
Bezeichnungen Da auf den Ryukyu-Inseln verschiedene Ryukyu-Sprachen existieren, variiert die Bezeichnung fur die traditionellen Tatowierungen je nach Inselgruppe:
Okinawa- und Amami-Inseln: hajichi (ハシチ), hajiki (ハシキ), fajichi (ファシチ), pajichi (ハシチ)
Miyako-Inseln: pizukki (ヒツッキ), pizuki (ヒツキ), paatsuku (ハーツク), parikku (ハリック), paitsuki (ハイツキ), haidzuchi (ハイツチ)
Yaeyama-Inseln: tiku (ティク), tishiki (ティシキ)
Yonaguni: hadichi (ハティチ)
Die japanische allgemeine Bezeichnung fur Tatowierungen ist Irezumi.
Tradition und Bedeutung Madchen auf den Ryukyu-Inseln wurden in der Regel im Alter von 12 oder 13 Jahren als Ritual zum Erwachsenwerden tatowiert. Das erste Tattoo bestand aus zwei simplen Punkten und deutete die Heiratsfahigkeit an. Weitere Tatowierungen waren zu besonderen Ereignissen im Leben der Frauen ublich, wie der Heirat, der Geburt des ersten Kindes oder zum sechzigsten Lebensjahr (59. nach westlicher Zahlung). Auf den Miyako-Inseln reprasentierten einige Tattoos auch besondere Aufgaben einer Ehefrau, ihre handwerklichen Fahigkeiten sowie ihre Charaktereigenschaften.
Die Tatowierungen sollten zudem als Schutz vor Entfuhrung, bosen Geistern und vor Bestrafung nach dem Tod dienen.
Nach altem Ryukyu-Glauben beherrschten Frauen die spirituellen Krafte und wurden Onarigami genannt, wahrend Manner als Herrscher des Weltlichen Umiki genannt wurden.
Nach in den 1980er bis 1990er Jahren durchgefuhrten Umfragen unter alteren Frauen der Okinawa-, Miyako- und Yaeyama-Inseln wurde als Begrundung fur das Tatowieren von Hajichi hauptsachlich angegeben:
34,1 %: Als Schutz vor der Entfuhrung in ein fremdes Land
21,3 %: Fur den Eintritt ins bzw. das Dasein im Jenseits
15,7 %: Aus Gefalligkeit, da sich gerade auch andere tatowieren ließen
Tatowiert wurden die Hajichi mit Nadeln und Tinte und in mehreren Sitzungen, bis die Tatowierung ausreichend dunkel ausgepragt war. Zu den Tatowierungszeremonien der Frauen wurde ein Festessen veranstaltet, zu dem nur ausgewahlte Personen eingeladen wurden.
Design Das Design der Tatowierungen variierte je nach Insel und zu einem gewissen Grad auch je nach Dorf, Familie und sozialer Stellung. Die Zahl der Tattoos nahm mit dem Alter zu. Die Tatowierungen bestanden unter anderem aus kreuzformigen Mustern und Punkten sowie aus blumen- und sternformigen Mustern. Auf den Miyako-Inseln gab es auch Motive wie Scheren, Spulen und andere Gegenstande der Haushaltsfuhrung. Andere Motive standen fur Charaktereigenschaften, beispielsweise bedeutete eine Tatowierung eines Tischchens, eine gute Ehefrau zu sein, und Bambusblatter standen fur einen aufrichtigen Charakter. Auf den Miyako- und Amami-Inseln waren die Hajichi deutlich individueller, wahrend sie auf den Okinawa-Inseln gleichformig waren und dort auch auf den kleineren Inseln dieselben Motive wie auf der Hauptinsel verwendet wurden.
Hajichi auf unterschiedlichen Ryukyu-Inseln
Ursprung Die Ryukyu-Volker sind mit etwa 2 Millionen Menschen die großte Minderheit Japans. Vom 15. bis 19. Jahrhundert gehorten die Inseln zum Konigreich Ryukyu. Dieses fuhrte Handel mit anderen pazifischen Inseln wie Taiwan, Samoa, Palau und den Philippinen, sodass es moglicherweise Verbindungen zu den dortigen Tatowierungen (zum Beispiel Peʻa auf Samoa, Tatauierung in Palau und Philippinische Stammestatowierung) gibt. Auch mit China gab es Handelsbeziehungen. Eine erste Erwahnung der Hajichi findet sich daher in dem Text eines chinesischen Geistlichen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Auch ein chinesischer Botschafter auf den Ryukyu-Inseln berichtete, dass die Frauen ihre Hande und Fuße mit Bildern von Vogeln, Fischen, Blumen und anderen Gegenstanden schmuckten. 1693 verbot Ryukyu-Konig Sho Tei die Hajichi, jedoch zeigte dies keine Wirkung.
Verbot durch die Meiji-Regierung 1872 (Meiji 5) wurde die Verwaltung der japanischen Prafekturen reformiert und Ryukyu in eine Provinz umgewandelt. Wahrend in Japan die Han abgeschafft wurden, wurde das Konigreich Ryukyu zu einem solchen ernannt und somit ein Schein an Unabhangigkeit bewahrt. Am 11. Marz 1879 (Meiji 12) wurde das Konigreich Ryukyu schließlich von der japanischen Meiji-Regierung abgeschafft und in die Prafektur Okinawa umgewandelt. Die Amami-Inseln wurden der Prafektur Kagoshima angeschlossen.
In Japan waren Tatowierungen jedoch stigmatisiert und sind es zum Großteil heute noch, da sie mit Kriminalitat (siehe Yakuza-Tatowierungen) in Verbindung gebracht werden. Bereits 1799, in der Edo-Zeit, wurde erstmals in Japan ein Tatowierungsverbot erlassen. In Hokkaido lebten damals vor allem Ainu, deren Frauen insbesondere in der Provinz Tokachi traditionell Anci-Piri genannte Tatowierungen im Gesicht und an den Armen trugen. In der Meiji-Zeit wurde die Insel jedoch zunehmend von Japanern besiedelt und 1871 wurde auch von der Entwicklungsagentur in Hokkaido ein Tatowierungsverbot erlassen mit der Begrundung, dass die Praxis „zu grausam“ sei. Auch im nach dem Vertrag von Shimonoseki vom 17. April 1895 ganz unter japanischer Herrschaft stehenden Taiwan gab es Tatowierungsverbote. Dort war es ebenfalls bei Frauen der indigenen Volker Atayal und Truku Tradition, insbesondere die Gesichter zu tatowieren.
Auf den Ryukyu-Inseln verbot die Meiji-Regierung 1899 offiziell die dort traditionellen Hajichi. Demnach konnten alle Personen, die andere tatowierten oder sich selbst tatowieren ließen, eine Geld- oder auch Freiheitsstrafe erhalten. Die Tatowierungen wurden von den Japanern als primitiv angesehen, doch die Ryukyu-Frauen versuchten zunachst, ihre Traditionen beizubehalten. Innerhalb der ersten funf Jahre wurden nach Statistiken der Prafekturpolizei Okinawa 682 Frauen und 10 Manner wegen der Tatowierung von Hajichi verhaftet:
1899 (Meiji 32): 223 Frauen und 10 Manner
1900 (Meiji 33): 164 Frauen
1901 (Meiji 34): 122 Frauen
1902 (Meiji 35): 92 Frauen
1903 (Meiji 36): 81 Frauen
Bis in die 1930er gab es noch neue Hajichi. Mit der Zeit wandelte sich die Wahrnehmung und die Frauen versuchten zunehmend, ihre Hajichi zu verstecken. Einige Frauen trugen aus Verlegenheit Handschuhe. Die Tatowierungen verschwanden nach und nach mit der alteren Generation. Viele Materialien im Zusammenhang mit Hajichi gingen zudem 1945 wahrend der Schlacht um Okinawa verloren. Tatowierungen waren in Japan bis 1948 gesetzlich verboten. Von 1981 bis Mitte der 1990er Jahre begann man in jeder Gemeinde auf den Okinawa-, Miyako- und Yaeyama-Inseln Erhebungen uber Hajichi durchzufuhren.
Hajichi im 21. Jahrhundert Hajichi sind heute eher im Verschwinden begriffen, wahrend die Tatowierungen der taiwanesischen Ureinwohner in verschiedenen Formen ein Comeback erleben.
In Okinawa und Tokio gibt es jedoch Versuche einer Handvoll Tatowierer, Hajichi wiederzubeleben. Diese erreichten auch Diaspora-Gemeinschaften in Brasilien und Hawaii. Einige betrachten das Wiederaufleben als eine Ruckbesinnung auf eine Zeit, in der okinawanische Frauen einflussreiche Positionen als religiose Fuhrerinnen und Ernahrerinnen innehatten. Fur sie ist es ein Symbol der Selbstbestimmung in der japanischen Gesellschaft, die in Bezug auf die Forderung von Frauen zu den Schlusslichtern unter den entwickelten Landern zahlt. Viele halt jedoch die Befurchtung beruflicher Nachteile von einer Tatowierung ab.
Im Juni 2019 veroffentlichte Lee Tonouchi, US-amerikanischer Schriftsteller okinawanischer Abstammung in vierter Generation, ein von Laura Kina illustriertes Bilderbuch mit dem Titel Okinawan Princess: Da Legend of Hajichi Tattoos. Vom 5. Oktober bis 4. November 2019 zeigte das Okinawa Prefectural Museum and Art Museum eine Ausstellung zu Hajichi und Tatowierungen indigener Volker Taiwans.
Literatur Valerie H. Barske: Visualizing Priestesses or Performing Prostitutes?: Ifa Fuyu’s Depictions of Okinawan Women, 1913–1943. (scholasticahq.com [PDF; 2,1 MB]).
Yutaka Yamada: 失われた沖縄の文化「ハシチ(針突)」記憶の継承 Inheriting the Lost Okinawan Culture of Hajichi (Hari-Tsuki). In: テシタルアーカイフ学会誌. Band 7, Nr. 3, 2023, S. 129–133, doi:10.24506/jsda.7.3_129 (japanisch).
Weblinks Hajichi: The Banned Traditional Tattoos of Okinawa. In: unseen-japan.com. Abgerufen am 8. Dezember 2023 Und als Video auf YouTube (21 min., englisch)
Einzelnachweise
|
Hajichi (okinawanisch / Amami-Sprache ハシチ, „Nadelstich“) waren traditionelle Tatowierungen an den Handen und Handgelenken von Frauen der Ryukyu-Inseln. Die Praxis wurde bereits in Dokumenten aus dem 16. Jahrhundert erwahnt. Nachdem das ehemalige Konigreich Ryukyu unter die Herrschaft der japanischen Meiji-Regierung gefallen war, wurden Hajichi jedoch 1899 offiziell verboten. Bereits Tatowierte sahen sich Stigmatisierungen ausgesetzt und die Tradition verschwand mit der Zeit.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hajichi"
}
|
c-404
|
Mandi Safar („Safar-Bad“) ist eine malaiische Badezeremonie, die am letzten Mittwoch des zweiten islamischen Monats Safar abgehalten wird, um Unheil abzuwenden. Am Morgen des betreffenden Tages baden die Menschen am Strand oder trinken Wasser, dem man eine segenbringende Wirkung zuschreibt. Dieses Wasser wird in der Weise hergestellt, dass man bestimmte Koranverse auf Papier oder eine kleine Tafel schreibt und die Schrift hinterher mit dem Wasser abwascht. Dieses Wasser wird dann als Safar-Wasser (air safar) bezeichnet. Der Brauch, der in manchen Gegenden den Charakter eines Volksfestes hat, ist auf der malaiischen Halbinsel, in Singapur sowie in der Provinz Jambi und auf den Riau-Inseln in Indonesien verbreitet. In Malaysia und Singapur wurde er allerdings 1963 zu einer unerlaubten Neuerung erklart. Am letzten Mittwoch des Monats Safar wurden bzw. werden in anderen Regionen der islamischen Welt ahnliche Feste gefeiert.
Beschreibungen des Festes = Von der malaiischen Halbinsel =
Auf der malaiischen Halbinsel wurde Mandi Safar in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts und daruber hinaus in vielen Gebieten begangen, darunter in Penang und Bagan Luar in Seberang Perai, im Bundesstaat Selangor, und Port Dickson im Bundesstaat Negeri Sembilan, doch wurde es mit besonderem Eifer und Aufwand in Tanjung Kling nordlich von Malakka und auf der Insel Pulau Besar sudlich dieser Stadt gefeiert. Tanjung Kling war auch im ganzen Land fur dieses Fest bekannt. Menschen kamen zu Tausenden aus Hunderten von Kilometern Entfernung, um alte Freunde zu treffen und an den frohlichen Brauchen teilzunehmen.
Nach Beschreibungen des Festes in Tanjung Kling aus den 1940er bis 1960er Jahren reisten die Menschen fur das Fest schon am Vortag in Gruppen mit traditionellen Malakka-Ochsenkarren, auf dem Fahrrad oder zu Fuß zu den Festplatzen an Flussufern und am Meer. Die Anreise mit den Ochsenkarren war dabei selbst schon ein Ereignis, weil diese sich durch eine besondere Farbenfrohheit und durch spezielle sattelgewolbte Dacher aus strohgedeckten Palmen auszeichneten. Diejenigen, die auf Ochsenkarren anreisten, nahmen Proviant, Kleidung, Leinwande fur Zelte und Musikinstrumente mit. Schon auf dem Weg zu den Gewassern wurde viel Musik gemacht. Die meisten erreichten ihr Ziel schon am Nachmittag des Vortags. Dort schlugen sie fur die Nacht und den folgenden Tag ihre Lager am Meeres- oder Flussufer auf. An dem Strand von Tanjung Kling wurden zum Anlass des Festes auch zahlreiche Buden und Stande aufgebaut. Die Nacht verbrachten die jungen Leute mit Musik und Ronggeng- und Joget-Tanzen. Bei den Joget-Tanzen begegneten sich die Paare im gemessenen Schritt mit ausgestreckten Handflachen und nach oben gerichteten Fingern in anmutigen Gesten, durften sich aber nicht beruhren. Oft wurden diese Tanze von improvisierten gesungenen Pantun-Gedichten begleitet, bei denen die Manner und Frauen sich gegenseitig mit komischen Versen zu uberbieten versuchten. Jede Strophe wurde dabei von einem Duett aus Trommeln und einer selbstgebauten Geige beantwortet. An manchen Orten gab es auch Kinovorfuhrungen. Dort, wo vielen Menschen zusammenkamen, drehten Straßenhandler die Runde und boten Eiswasser, Obst, Kuchen, Sate und Currys an. Die Menschen legten sich, wenn uberhaupt, erst am fruhen Morgen schlafen.
Der Tag des eigentlichen Festes begann nach der Beschreibung von Mrinal Paul damit, dass die alteren Frauen, wahrend die jungere Generation am Strand spielte und die Straßenhandler ihre Stande aufbauten, sich in aller Stille auf das Reinigungsbad vorbereiteten und sich in schlicht gemusterten Sarongs und Kebayas ihren Weg durch die Menge ins lauwarme Wasser bahnten. Nach anderen Beschreibungen nahmen auch die jungen Manner und Frauen selbst an dem zeremoniellen Bad im Wasser eines Flusses oder Meeres teil. Altere Leute tauchten außerdem ein Blatt Papier ins Wasser, auf das ein spezielles Gebet geschrieben war, bevor sie sich selbst ins Wasser begaben und davon tranken, in dem Glauben, dass dies eine segenbringende Wirkung hat. Diejenigen, die sich nicht selbst an ein Gewasser begeben konnten, sollten bei dem Fest wenigstens etwas davon trinken. Dem Wasser wurde dabei eine lauternde und gluckbringende Wirkung zugeschrieben. Am Nachmittag des Festtages packten die Menschen ihre Habseligkeiten wieder in die Ochsenkarren und reisten ab. Manche brauchten fur die Ruckreise zu ihren Heimatorten zwei Nachte.
Nach Mrinal Paul waren die Ochsenkarren eine Besonderheit des Festes in Tanjung Kling. Zu den anderen Badeorten weiter nordlich, Port Dickson, Morib und Bagan Luar in Penang, reisten die Menschen in den 1960er Jahren mit Autos und Bussen an, und die traditionelle Volksmusik war bereits tragbaren Grammophonen und Transistorradios gewichen.
Nach Singaravelu war Mandi Safar vor allem ein Fest fur junge Manner und Frauen, wobei die Frauen ublicherweise unter der wachsamen Aufsicht alterer Frauen standen. Fur malaiische Frauen und Madchen gab es zu keiner Zeit im Jahr so viel Freiheit zum Feiern wie bei Mandi Safar. Wahrend sie sonst in Abgeschiedenheit gehalten wurden, hatten sie bei Mandi Safar die Freiheit, ihre Reize zur Schau zu stellen, zu sehen und gesehen zu werden. Das Fest diente haufig auch der Eheanbahnung junger Manner und Frauen. Nach Pendeta Za'ba hatten die traditionellen Heiratsvermittler kurz nach dem Fest ublicherweise viel damit zu tun, mit den Eltern der Interessenten Heiratsantrage vorzubereiten.
= Aus Singapur =
Uber die Art, wie das Fest bis in die 1960er Jahre in Singapur gefeiert wurde, gibt ein Interview Aufschluss, das das National-Archiv von Singapur im Rahmen seines Oral-History-Projekts 1996 mit der indischstammigen muslimischen Frauenrechtlerin Khatijun Nissa Siraj fuhrte. Sie erzahlt darin, dass ihre Familie, die sehr wohlhabend war, ein Haus am Meer hatte, und sich zum Mandi-Safar-Fest zahlreiche Freundinnen und Verwandte dort einzufinden pflegten, um ein Bad zu nehmen und zu schwimmen. Es herrschte dabei eine sehr ausgelassene Atmosphare. Einige Freundinnen und Verwandte blieben mehrere Tage. Die Frauen nahten sich fur diesen Anlass Faschingskostume. An dem Fest nahmen nur Frauen und Kinder teil, wahrend die Manner arbeiteten.
Die Kinder trugen Badeanzuge, die Frauen und alteren Madchen Sarong und Kebaya. Damit gingen sie auch ins Wasser, weil es ein offentlicher Strand war und sie als Muslime keine Schwimmanzuge tragen durften. Der Strand war zu dieser Zeit gut besucht. Andere Familien, die kein Haus am Meer hatten, kamen mit ihren Autos und parkten am Meer. Sie brachten ihr Essen mit, hielten Picknicks ab und machten Musik, mit Kendang, Mandoline oder Radio. Uberall in Singapur begaben sich die Menschen ans Meer, um Unheil abzuwenden (buang sial). Aufgrund der Kritik der muslimischen Religionsgelehrten, die das Fest als Hindu-Brauch einordneten und fur haram erklarten, bekamen die Menschen jedoch Angst und feierten es ab den 1970er Jahren nicht mehr.
= Aus der indonesischen Provinz Jambi =
Die Art, wie das Fest heute in der indonesischen Provinz Jambi gefeiert wird, wird in einer Broschure des indonesischen Erziehungs- und Kultusministeriums von 2016 fur Grundschuler anhand des Beispiels des Dorfes Air Hitam Laut beschrieben. Eine Besonderheit ist hier, dass das Fest nicht am letzten Mittwoch, sondern in der dritten Woche des Monats Safar stattfindet. Die Vorbereitung fur das Fest findet im Hof eines Pesantren statt, wobei Santri-Schuler der Schule selbst mithelfen, indem sie Eierdekorationen und Papierblumen herstellen und Bilder malen. Die Eier werden bemalt und auf feine Bambusstabe gesteckt. Unterdessen werden am Strand Sonnensegel und Banner aufgestellt.
Zu den Vorbereitungen gehort auch, dass Kiais, also islamische Geistliche, sieben spezielle Koranverse auf Mangoblatter schreiben. Es handelt sich dabei um diejenigen sieben, in denen das Wort Salam vorkommt, namlich Sure 36:58, Sure 37:79, 109, 120, 130, Sure 39:73 und Sure 97:5. Die mit Koranversen beschriebenen Mangoblatter sind dafur bestimmt, spater in das Wasser getaucht zu werden, in dem man das rituelle Band nimmt. Menschen, die nicht schreiben konnen, erhalten die Blatter von einem Kiai. Den Blattern, die von einem Kiai beschrieben wurden, wird auch eine besonders große Wirkung zugeschrieben. Fur das Aufschreiben der Koranverse verwendet man eine Tinte, die sich gut in Wasser lost. Die Manggoblatter werden spater in weiße Tucher gewickelt, die Reinheit symbolisieren.
Am Mandi-Safar-Tag selbst begibt man sich zu einem Festplatz, auf dem Zelte und eine Buhne aufgebaut sind, wobei vor der Buhne ein mit Eierblumen geschmucktes Floß mit einem Minarett steht. Ublicherweise erscheinen zu der Zeremonie auch der stellvertretende Provinzgouverneur und der Chef des Regierungsbezirks und halten Ansprachen. Die Regionalregierung widmet dem Fest große Aufmerksamkeit. Nach den Ansprachen begibt sich die Menge in einer Prozession zum Strand, wobei die sieben Koranverse rezitiert werden. Die Prozession wird von einem Zeremonienmeister angefuhrt, der von einem gelben Schirm abgedeckt wird. Der Schirm soll die Loyalitat der Gesellschaft gegenuber ihren gerechten und klugen Anfuhrern zum Ausdruck bringen. Als Zeremonienmeister fungiert dabei der Kiai. Bei der Prozession wird auch das Floß mit dem Minarett mitgefuhrt. Dieses wird anschließend ins Wasser gesetzt. Der Kiai streut die Mangoblatter ins Wasser und taucht anschließend darin mehrfach langsam unter. Die Teilnehmer der Zeremonie tun es ihm gleich.
Nachdem alle Teilnehmer mit dem Baden fertig sind, besteigen Beamte und Gemeindevorsteher das Floß, nehmen die auf dem Floß geklebten Eierblumen und verteilen sie an die Teilnehmer der Zeremonie. Die Teilnehmer der Zeremonie versuchen sie zu erhaschen und planschen dabei im Meerwasser. Danach findet ein gemeinsames Mittagessen statt, wobei auf der Buhne Musik- und Tanzdarbietungen stattfinden. Am Nachmittag finden haufig Wettbewerbe statt, in welchen es darum geht, wer den schonsten Drachen gebaut oder sein Boot am schonsten dekoriert hat.
Beziehungen zu anderen Festen und religiose Begrundungen Am letzten Mittwoch des Monats Safar wurden und werden zum Teil noch immer in anderen Regionen der islamischen Welt ahnliche Feste gefeiert. In Indien heißt dieses Fest Achiri Tschaharschanba, in Aceh Rabu Abeh, in den malaiischen Gebieten Rabu penghabisan und auf Java Rebo Wekasan, was alles im Prinzip das Gleiche bedeutet, namlich „Letzter Mittwoch“ (siehe auch Der letzte Safar-Mittwoch). In Indien war es auch ublich, am fruhen Morgen dieses Tages die sieben koranischen Salam-Formeln aufzuschreiben, den beschriebenen Stoff hinterher abzuwaschen und das Wasser zu trinken.
Mrinal Kanti Paul vermutet beim Mandi-Safar-Fest hinduistische Ursprunge und verweist auf die heiligen Bader im Ganges bei Benares. Hierbei stellt sie besonders heraus, dass altere malaiische Frauen die Brandung, in die sie sich beim Mandi-Safar-Fest hineinbegeben, als Mittel zur Reinigung von ihren Sunden betrachten. Nach S. Singaravelu hat das Mandi-Safar-Fest hinsichtlich vieler Elemente Ahnlichkeiten mit einem Wasserfest der alten Tamilen, das in der Paripadal-Anthologie beschrieben wird. Auch bei diesem Fest erfolgt die Anreise zum Fluss oder ans Meer in Gruppen mit Ochsenkarren, es nehmen vor allem junge Manner und Frauen teil, die Frauen stehen dabei unter der Aufsicht alterer Frauen, und der Anlass ist gekennzeichnet durch Unterhaltung mit Musik, Liedern und Tanzen. Die jungen Manner und Frauen vergnugen sich im Flusswasser, wobei es einigen jungen Madchen gelingt, der Vormundschaft der alteren Frauen zu entkommen. Singaravelu vermutet deswegen, dass das Mandi-Safar-Fest ursprunglich ein weltliches Badefest war, das im Rahmen der malaiisch-tamilischen Kulturbeziehungen entstand, der Eheanbahnung diente und erst wahrend des Sultanats Malakka mit einer islamischen Bedeutung versehen wurde.
Das Mandi-Safar-Fest hat tatsachlich nur eine schwache religiose Grundlage im Islam. Zwar stellt es eine Art Ghusl dar, doch gibt es keinen Hadith, der fur den letzten Mittwoch eine solche Vollwaschung vorschreibt. Die ubliche Begrundung ist, dass Safar ein Unglucksmonat sei und man mit diesem Bad Unheil fur den Rest des Jahres abwenden konne. Nach dem Glauben der Menschen in Jambi lasst Gott im Monat Safar haufig Katastrophen wie Uberschwemmungen, Sturme, Brande geschehen oder Seuchen ausbrechen. Um sich vor diesen Katastrophen zu schutzen, fuhrt man diese Bader durch, die mit Duʿa'-Gebeten begleitet werden. Gleichzeitig bringt man seine Freude daruber zum Ausdruck, dass einem im vergangenen Jahr Sicherheit und Schutz vor Schadigungen, Unfallen und Unglucken gewahrt wurde. Die einzige religiose Begrundung, die fur den Brauch angefuhrt wird, ist eine Uberlieferung, wonach sich der Prophet Mohammed wahrend der Krankheit, die ihm den Tod brachte, am letzten Mittwoch des Monats besser gefuhlt und daraufhin seine letzte Vollwaschung vorgenommen haben soll, bevor er am 12. Tag des nachsten Monats starb.
Die Kritik der islamischen Gelehrten an der Zeremonie Da die Uberlieferung uber die islamischen Grundlagen des Mandi-Safar-Festes schwach sind, wurden die Mandi-Safar-Feiern schon in den 1930er Jahren von malaiischen Reformgelehrten wie Sayyid Shaykh al-Hadi kritisiert. Anfang der 1940er Jahre ubten die religiosen Fuhrer von British Malaya schon erheblichen Druck auf die Menschen aus, um sie dazu zu bringen, an den Feiern in Tanjung Kling nicht mehr teilzunehmen, doch zeigten diese Appelle nur wenig Wirkung, die Besucherzahlen blieben weiter hoch.
Dies anderte sich erst, als im Juli 1963 der amtierende Mufti von Johor, Datuk Abdul Jalil Hassan, in einer Fatwa erklarte, dass es eine Bidʿa und „reiner Unsinn“ (karut semata) sei, an diesem Tag ein Safar-Bad zu nehmen und Zauberwasser (air wafak) zu trinken, und funf hochrangige Gelehrte aus Singapur, darunter der Vorsitzende des Scharia-Gerichtshofs, diese Fatwa billigten und unterstutzten. Die Gelehrten riefen die Muslime dazu auf, die Mandi-Safar-Zeremonie nicht mehr zu vollziehen, um die „Reinheit des Islams“ zu bewahren. Der Mufti von Johor hatte seine Fatwa in Beantwortung einer Anfrage der Gesellschaft der sudindischen ʿUlama' von Singapur zur Legalitat der Mandi-Safar-Zeremonie erteilt. In seiner Fatwa begrundete er seine Ablehnung der Mandi-Safar-Zeremonie damit, dass es keinen religiosen Text gebe, der die Muslime dazu anhalte, diese Zeremonie zu vollziehen, weder einen Koranvers, noch einen Hadith oder einen Ausspruch der fruhen Muslime. Auch entspreche diese Zeremonie nicht der akzeptierten Praxis einer der vier sunnitischen Rechtsschulen. Zwar gebe es einen schwachen Hadith, wonach Gott am letzten Mittwoch des Safar Ungluck herabsende, doch sei dieser schwach, weil seine Uberlieferer bekannte Lugner seien. Die Herstellung des Safar-Wassers verurteilte der Mufti als eine verbotene magische Praktik, die sich auf solche Zauberbucher stutze wie Sams al-maʿarif al-kubra von Ahmad al-Buni (gest. 1225).
Literatur D. Vander Meulen: Safar ablutions in Malacca. In: The Muslim World. Band 33, Nr. 2, 1943, S. 140–142, doi:10.1111/j.1478-1913.1943.tb01292.x.
S. Singaravelu: The Malay-Tamil Cultural Contacts with Special Reference to the Festival of Mandi Safar. In: Asian folklore studies. Band 45, Nr. 1, 1986, S. 67–67, doi:10.2307/1177834, JSTOR:1177834.
Zainal Abidin Bin Ahmad: Malay Festivals: and some aspects of Malay Religious Life. In: Journal of the Malayan Branch of the Royal Asiatic Society. Band 22, Nr. 1, 1949, S. 94–106, hier S. 103 f., JSTOR:41560498.
Mrinal Kanti Paul: Mandi Safar in Malaysia. In: Hemisphere. Band 8, 1964, S. 26–29 (Digitalisat).
Weblinks Das Mandi-Safar-Fest im Jahre 1962, Filmdokumentation der Malayan Film Unit, englische Version des Videos, aber in schlechterer Bildqualitat
Ja'far Rassuh: Kemeriahan Mandi Safar, illustrierte Broschure des indonesischen Erziehungs- und Kultusministeriums von 2016 uber das Mandi-Safar-Fest in Jambi fur Grundschuler.
Belege
|
Mandi Safar („Safar-Bad“) ist eine malaiische Badezeremonie, die am letzten Mittwoch des zweiten islamischen Monats Safar abgehalten wird, um Unheil abzuwenden. Am Morgen des betreffenden Tages baden die Menschen am Strand oder trinken Wasser, dem man eine segenbringende Wirkung zuschreibt. Dieses Wasser wird in der Weise hergestellt, dass man bestimmte Koranverse auf Papier oder eine kleine Tafel schreibt und die Schrift hinterher mit dem Wasser abwascht. Dieses Wasser wird dann als Safar-Wasser (air safar) bezeichnet. Der Brauch, der in manchen Gegenden den Charakter eines Volksfestes hat, ist auf der malaiischen Halbinsel, in Singapur sowie in der Provinz Jambi und auf den Riau-Inseln in Indonesien verbreitet. In Malaysia und Singapur wurde er allerdings 1963 zu einer unerlaubten Neuerung erklart. Am letzten Mittwoch des Monats Safar wurden bzw. werden in anderen Regionen der islamischen Welt ahnliche Feste gefeiert.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mandi_Safar"
}
|
c-405
|
Der Rebellentaler, altere Schreibweise Rebellen-Thaler, war der erste Taler in einer Reihe von Spottmunzen, den Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbuttel (1589–1613), im Jahr 1595 als Propagandamittel pragen ließ. Im mehrfach ausbrechenden Streit, besonders mit den Geschlechtern Salder, Steinberg und Stockheim, wollte er mit dem Talerbild bei der Bevolkerung Sympathie fur seine Politik erlangen.
Munzgeschichte Nach Karl Christoph Schmieder ist der Rebellentaler eigentlich eine Stachelmunze auf einige Vasallen des Herzogs, die sich gegen ihn aufgelehnt und Unruhe im Land gestiftet hatten.
Die Geschlechter von Asseburg, von Stockheim und von Salder verklagten den Herzog wegen des Talers beim Reichskammergericht. Die Erklarung zu den einzelnen Details im Talerbild stammen aus den Gerichtsakten, die sonst, so Schmieder, „wo[h]l schwerlich moglich gewesen ware“. Der Herzog ging bei der Verspottung einiger seiner Vasallen weit unter die Gurtellinie.
Die hier nachfolgende Beschreibung und Erklarung des Talers stammt im Wesentlichen aus diesen Akten und ist deshalb auch Teil der Munzgeschichte.
= Beschreibung und Erklarung des Talers =
Der Rebellentaler ist ein im Reichsmunzfuß gepragter Reichstaler aus der Munzstatte Goslar. Der oben abgebildete silberne Taler hat einen Durchmesser von 39 mm und wiegt 28,32 g. Er wurde ohne Munzmeisterzeichen und Kunstlersignatur gepragt. Heinrich Julius ließ den Sinnbild- oder emblematischen Taler in großer Stuckzahl pragen, um ihn nicht nur im eigenen Land, sondern auch uber seine Landesgrenze moglichst weit hinaus als Propagandamittel wirken zu lassen.
Vorderseite Die Vorderseite zeigt den Wilden Mann mit einer brennenden Fackel in der Rechten. In der linken Hand halt er einen doppelspitzigen Pfeil, der unten einen Widerhaken auf beiden Seiten hat. Darunter ist ein wider den Stachel „lockender“ Hund zu sehen, aus dessen Unflat (Hundehaufen) ein Rosenstangel empor wachst. Die Jahreszahl 1595 ist zu beiden Seiten des „wilden Harzmannes“ geteilt.
Zwischen den Blattern des Rosenstengels sind die Buchstaben •N•M•T• angeordnet. Sie stehen fur „Noli me tangere“ (lat., Ruhr mich nicht an!). Neben dem Pfeil befinden sich die Abkurzungen •D•C•S•C•. Sie stehen fur „Durum contra stimulum calcitrare“ (lat., Es ist schwer, wider den Stachel zu locken). Die Abkurzungen unterstreichen die Absicht des Herzogs. Durch die Details im Munzbild, die den Zeitgenossen verstandlich waren, wird das noch verdeutlicht:
Die Familie Salder, die eine Rose im Wappen hat, wird durch eine aus dem Kot des Hundes wachsende Rose versinnbildlicht.
Der Rosenstock selbst zielt auf das Adelsgeschlecht von Stockheim.
Die Familie Asseburg, die einen Hund im Wappen fuhrt, wird als wider den Stachel leckenden Hund versinnbildlicht.
Die Umschrift lautet:
HENRI(cus) IVLI(us) D(ei) G(ratia) POST(ulatus) EPIS(copus) HAL(berstadensis) D(ux) BRVN(svicensis) E(t) LVN(eburgensis) P(ro) P(atria) C(onsumor)
Ubersetzung: Heinrich Julius von Gottes Gnaden, postulierter Bischof zu Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und Luneburg.
Sein Wahlspruch Pro Patria Consumor in der Umschrift lautet ubersetzt: Fur das Vaterland verzehre ich mich.
Ruckseite Oben im Wappenkranz befindet sich das in einer Krone stehende Helmkleinod, eine mit Pfauenfedern geschmuckte Saule mit dem springenden Ross zwischen zwei mit den Spitzen gegeneinander gekehlten Sicheln.
Innerhalb des Kranzes mit elf bekronten Wappen ist die Rotte Korach, eine Anspielung auf das horitisch-edomitische Geschlecht, zu sehen, das sich an Juda anschloss und versuchte, zu Priestern aufzusteigen, jedoch wegen dieses Vorhabens durch die machtausubenden Priester mit dem Strafgericht bedroht wurde (4. Mos. 31), im Abschnitt unten mit NUME•XVI (4. Mos. 16) angegeben.
Der liegende Tote im Bild, das die Rotte Korach zeigt, die von der Erde verschlungen wird, soll Burchard von Salder sein. Er war im Jahr 1595 gestorben.
Oben im Feld ist die strahlende Herrlichkeit Gottes dargestellt. Dabei stehen die Buchstaben N•R•M•A•D•I•E•S fur „Non rededecet malum a domo ingrati et seditiosi“ (lat., Nicht weichen wird das Leid vom Haus des Undankbaren und Aufsassigen).
Anmerkung: Die weiteren Sinnbild- oder emblematischen Taler des Herzogs in der Serie der Spottpragungen sind der Lugentaler von 1596 und 1597, der Wahrheitstaler von 1597 und 1598, der Muckentaler oder falschlich Wespentaler von 1599 und der Pelikantaler oder Patriotentaler von 1599, mit dem der Herzog seinen Einsatz fur das Land und die Untertanen symbolisieren wollte.
Siehe auch Brillenmunze oder Brillentaler aus der Munzstadte Goslar und Wolfenbuttel
Literatur Helmut Kahnt: Das große Munzlexikon von A bis Z, Regenstauf 2005.
Johann David Kohler: Munzbelustigung, 1744, Teil XVI, 21. Stuck S. 161: „Herzog Heinrich Julius zu Braunschweig-Wolfenbuttel, sogenannter Rebellen Thaler von A. 1595.“
Wolfgang Leschhorn: Braunschweigische Munzen und Medaillen. 1000 Jahre Munzkunst und Geldgeschichte in Stadt und Land Braunschweig (= Braunschweigisches Kunsthandwerk (BKH), Band 3). Appelhans, Braunschweig 2010, ISBN 978-3-941737-22-8, S. 148–149.
Karl Christoph Schmieder: Handworterbuch der gesammten Munzkunde, Halle und Berlin 1811.
Friedrich von Schrotter, N. Bauer, K. Regling, A. Suhle, R. Vasmer, J. Wilcke: Worterbuch der Munzkunde, Berlin 1970 (Nachdruck der Originalausgabe von 1930).
Heinz Fengler, Gerd Gierow, Willy Unger: transpress Lexikon Numismatik, Berlin 1976.
Deutsches Worterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm locken steht fur lecken.
Einzelnachweise
|
Der Rebellentaler, altere Schreibweise Rebellen-Thaler, war der erste Taler in einer Reihe von Spottmunzen, den Heinrich Julius, Herzog von Braunschweig-Wolfenbuttel (1589–1613), im Jahr 1595 als Propagandamittel pragen ließ. Im mehrfach ausbrechenden Streit, besonders mit den Geschlechtern Salder, Steinberg und Stockheim, wollte er mit dem Talerbild bei der Bevolkerung Sympathie fur seine Politik erlangen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Rebellentaler"
}
|
c-406
|
Chami (arabisch شامي, DMG Sami) ist eine Planstadt in der Region Dakhlet Nouadhibou in Mauretanien. Aufgrund des Goldabbaus in der Region wird die Stadt als „Goldhauptstadt“ Mauretaniens bezeichnet.
Lage und Klima Chami liegt im Nordwesten des Landes an der Fernstraße N2, die von Nouakchott im Suden nach Nouadhibou und zur Grenze zur Westsahara im Norden fuhrt. Die Entfernung zur Atlantikkuste betragt etwa 25 km. Durch die Lage im westlichen Teil der Sahara ist das Klima arid. Der Nationalpark Banc d’Arguin liegt direkt westlich von Chami.
Entwicklung Chami wurde im Jahr 2012 in einer vorher nahezu unbewohnten Gegend gegrundet, um dem Problem der „anarchischen Sesshaftwerdung“ – damit ist die Neubildung von Dorfern durch Sesshaftwerden von Nomaden ohne Kontrolle des Staates gemeint – etwas entgegenzusetzen. Der Ort wurde wegen der Lage an der Fernstraße N2 ausgewahlt, die an Bedeutung stark zunahm, nachdem sie asphaltiert worden war. Durch die Prasenz des Staates und die Grundung einer Siedlung sollte das Wustengebiet besser kontrolliert werden konnen und die oft in weit verstreuten Kleinstdorfern wohnende Bevolkerung an Stellen konzentriert werden, wo die staatliche Daseinsvorsorge (Wasserversorgung, Stromversorgung, Kommunikation, Gesundheit, Bildung, Transport) einfacher gewahrleistet werden kann.
Noch bevor es zur Ansiedlung kam, wurde eine Siedlungsinfrastruktur aufgebaut. Auf 600 Hektar Flache wurden 5680 Grundstucke zu Wohnzwecken, 805 gewerbliche Einheiten sowie Gemeinschafts- und Verwaltungsgebaude geplant. Gegen den allgegenwartigen Wind wurde um die Ortschaft ein Grungurtel mit knapp 50.000 Pflanzen (hauptsachlich Prosopis juliflora) gepflanzt. Nachdem mehrere offentliche Gebaude im Jahr 2013 fertiggestellt worden waren, wurde 2015 auch eine Moschee eingeweiht. Außerdem gibt es Solarstraßenlaternen, Stromversorgung und ein Wasserversorgungsnetz.
Bei der Volkszahlung von 2013 wurde eine Bevolkerungszahl von nur 51 Personen festgestellt, im Jahr 2015 wurde die Bevolkerung schon auf etwa 3000 geschatzt. Die Bevolkerung von Chami wuchs rasant an, nachdem Prasident Mohamed Ould Abdel Aziz 2016 den Goldrausch bestatigte und sagte, dass jeder Mauretanier dort sein Gluck versuchen konne. Es gab zusatzlich auch Zuzug von Migranten aus Mali, dem Sudan und anderen Landern.
Wirtschaft Chami ist ein Vorzeigeprojekt fur Modernisierungs-, Stadtentwicklungs- und Bevolkerungskontrollpolitik des mauretanischen Staates. Neben dem Aufbau des Ortes wurden auch einige Wirtschaftsbetriebe angesiedelt. Die Stadt besitzt eine Versorgungsfunktion fur die Goldabbaugebiete im Umland und fur die Reisenden auf der Fernstraße.
Da sich innerhalb von Chami Erzverarbeitungsgewerbe ansiedelte und es dadurch zu Larmbelastigung und Verschmutzung (u. a. mit Quecksilber) kam, wurde sudlich außerhalb des Ortes ein Gebiet ausgewiesen, in das diese Aktivitaten ausgelagert wurden.
Kritik Etwa 10 km sudlich von Chami gibt es eine Tankstelle an einem Ort, an dem die Wasserversorgung einfacher gewesen ware, da durch Bohrungen ein Grundwasserleiter erreicht werden kann. Der Eigentumer der Tankstelle gilt als Rivale des damaligen Prasidenten Abdel Aziz, weshalb davon ausgegangen wird, dass dieser die Stadt an einer anderen Stelle grunden ließ.
Entgegen den staatlichen Zielen siedelten sich kaum Nomaden aus der Umgebung in Chami an, da deren Einkommen nicht ausreichte, um sich Grundstucke in Chami zu kaufen.
Die Nachhaltigkeit der Stadtgrundung ist fraglich. Nachdem 2018 in der Region Tiris Zemmour Goldfunde gemacht worden waren, zogen mehrere Tausend Bewohner dorthin weiter, was zeigt, dass die Bevolkerungszahl von Chami unter Umstanden auch schnell wieder sinken konnte.
Die Bergbauaktivitat fuhrt zu einer starken Umweltbelastung, vor allem durch den ungeregelten Einsatz von Quecksilber. Es ist davon auszugehen, dass der vorherrschende Nordostwind Harmattan Quecksilberdampfe in den Nationalpark Banc d’Arguin, ein UNESCO-Weltnaturerbe, eintragt.
Weblinks Einzelnachweise
|
Chami (arabisch شامي, DMG Sami) ist eine Planstadt in der Region Dakhlet Nouadhibou in Mauretanien. Aufgrund des Goldabbaus in der Region wird die Stadt als „Goldhauptstadt“ Mauretaniens bezeichnet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Chami_(Mauretanien)"
}
|
c-407
|
Ambrosius Bogbinder († 1536) war ein Kopenhagener Burgermeister und Anhanger des 1523 abgesetzten Konigs Christian II. von Danemark, Norwegen und Schweden. Er gehorte 1529/30 zu den treibenden Kraften zur Durchsetzung der Reformation in der Stadt und war 1534 mitverantwortlich fur den Ausbruch der Grafenfehde.
Leben = Familie =
Ambrosius Bogbinder war ein Sohn des Kopenhagener Burgermeisters Hans Meissenheim Bogbinder († wohl 1515). Der Kaufmann Hans Meissenheim Bogbinder war vermutlich ein eingewanderter Deutscher. Wann er nach Danemark zog, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall heiratete er vor 1487 Birgitte († nach 1520), die Tochter eines angesehenen Kopenhagener Burgers. Ab 1487 ist nachgewiesen, dass Konig Johann regelmaßig in Bogbinders Badestube einkehrte und engen personlichen Kontekt mit dem Ehepaar pflegte. Konig Johanns Sohn, der spatere Konig Christian II., verbrachte in seiner Jugend einige Zeit als Hausgast bei der Familie Bogbinder, was eine enge Verbindung auch zu den Sohnen schuf und wohl auch die Grundlage dazu legte, dass Christian II. als Konig seine Macht mehr auf die Stadte stutzte als auf den Adel – was ihn letztlich den Thron kostete. Im Jahr 1499 wurde Hans Meissenheim Bogbinder Ratsherr und war 1509–1513 Burgermeister.
Ambrosius Bogbinders mit dem Vater gleichnamiger Bruder († um 1564) war ein humanistischer Gelehrter, der unter anderem mit Erasmus von Rotterdam und Johannes Oekolampad korrespondierte. Wie sein Vater und sein Bruder stand er in enger Bindung zu Konig Christian II., den er nach dessen Absetzung 1523 ins Exil begleitete, dem er als Sekretar diente und den er sogar nach seiner Gefangensetzung 1531 als Diplomat vertrat.
Ambrosius Bogbinders Geburtsdatum ist nicht bekannt. Vermutlich wurde er in den 1480er Jahren geboren und war damit etwas junger als der 1481 geborene Christian II. 1516 war er auf jeden Fall mundig und Nachfolger im Geschaft seines Vaters. Er war verheiratet, der Name und die Familie seiner Frau sind jedoch nicht bekannt.
= Reformation =
Ambrosius Bogbinder teilte mit Christian II. dessen Neigung zu Martin Luthers Theologie. 1526 reiste er zu Christian II. ins Exil in die Niederlande und brachte von dort reformatorische Schriften mit, die er in Kopenhagen in Umlauf brachte. Obwohl Konig Friedrich I. davon wusste, dass Bogbinder Anhanger der Reformation wie auch seines abgesetzten Vorgangers war, hinderte er ihn nicht. Im selben Jahr, vielleicht auch erst 1529, wurde er zu einem der vier Burgermeister gewahlt. Ebenfalls 1529 ernannte der Konig Hans Tausen als ersten lutherischen Prediger zum Pastor der St.-Nikolai-Kirche, zu deren Vorstehern Bogbinder wie bereits sein Vater vor ihm gehorte. Gemeinsam forderten Bogbinder und Tausen die Einfuhrung der Reformation in der Stadt. Schon Mitte 1530 waren drei der vier Stadtkirchen evangelisch. Am 27. Dezember 1530 fuhrte Bogbinder einen Mob radikaler Evangelischer bei einem Bildersturm in der Frauenkirche an, der einzigen Stadtkirche, in der noch katholische Gottesdienste gefeiert wurden. Die Priester wurden vertrieben, großere Zerstorungen konnte Tausen verhindern. In Folge dieser Ausschreitungen ließ der Konig die Frauenkirche und die Universitat zeitweise schließen. Ein Jahr spater wurde die Frauenkirche wieder geoffnet und blieb vorerst katholisch.
Als Christian II. 1531 versuchte, sein Reich zuruckzuerobern, wurde Bogbinder als sein Anhanger aus dem Rat ausgeschlossen. Sein Bruder Hans Bogbinder begleitete Christian II. als dessen Sekretar auf dem Feldzug nach Norwegen. Heimlich reiste er nach Schottland, um dort Kriegsschiffe und Mannschaften fur seinen Konig zu besorgen. Von Olav Engelbrektsson, dem Erzbischof von Trondheim, erwirkte er finanzielle Unterstutzung fur Christians Feldzug. Auch nach Christians Gefangennahme und Inhaftierung auf Schloss Sonderburg hielten die Bruder ihm die Treue. In Kopenhagen behielt Ambrosius Bogbinder trotz seiner Absetzung großen Einfluss unter dem evangelischen Teil der Bevolkerung.
= Grafenfehde =
Nach dem Tod von Konig Friedrich im April 1533 versammelte sich der danische Reichsrat, der sich großtenteils aus katholischen Adligen zusammensetzte, im Juni 1533 in Kopenhagen, um einen Nachfolger zu wahlen. Eine Mehrheit fur Friedrichs altesten Sohn Christian (III.), der bereits als Herzog im Amt Hadersleben die Haderslebener Artikel erlassen und damit die Reformation eingefuhrt hatte, kam nicht zustande. Die Wahl wurde auf das nachste Jahr verschoben. Auf derselben Versammlung verurteilten die Adligen Hans Tausen als Ketzer zum Tode, ein Urteil, das der Kopenhagener Rat sofort wieder aufhob.
In dieser Situation, als zu befurchten war, dass die Regierung die Reformation bekampfen wurde, knupfte Bogbinder heimlich Kontakte zu den zum Herrentag angereisten Burgermeistern von Lubeck, Jurgen Wullenwever, und Malmo, Jorgen Kock. Gemeinsam mit dem gleichfalls evangelischen Reichskanzler Mogens Gøye boten sie Herzog Christian an, als Minderheit seine Wahl durchzusetzen. Der Herzog lehnte jedoch ab, um sich nicht in Abhangigkeit von den Stadten zu begeben. Daraufhin beschlossen Kopenhagen und Malmo, sich als freie Reichsstadte der Hanse anzuschließen und sich so dem Einfluss des Adels zu entziehen. Gemeinsam wollte man Christian II. befreien, von dem sich die evangelischen Burger Unterstutzung erhofften. Als Unterhandler fur mogliche militarische Verbundete sandte Bogbinder heimlich seinen Bruder Hans nach Lubeck, wo dieser mit Graf Christoph von Oldenburg verhandelte.
Im Mai begann die Grafenfehde mit dem Lubecker Angriff auf das Holsteiner Umland. Ende Juni 1534 erreichten der Oldenburger Graf und seine Soldnertruppe mit der Lubecker Flotte Kopenhagen. Bogbinder nahm sofort Kontakt zu ihm auf und ubergab ihm die Stadt. Der Graf setzte den Rat ab und neue Burgermeister, darunter Bogbinder, ein. In dieser Funktion hatte Bogbinder eine Schlusselrolle in der Grafenfehde inne und unterstutzte auch den Bauernaufstand auf Jutland unter Skipper Clement. Doch nachdem der Oldenburger Graf schnell Seeland und Funen erobert hatte, wendete sich das Blatt: Der Reichsrat akzeptierte nun doch Herzog Christian als Konig Christian III. Nach der Niederschlagung des Bauernaufstandes und der Vernichtung der Lubecker Flotte im Juni 1535 begann die Belagerung Kopenhagens durch die koniglichen Truppen. Bogbinder hielt ein strenges Regiment. So wurde der alte Ratsherr Jens Kammersvend, der bereits Mitglied der Rentekammer von Konig Johann gewesen war, im September 1535 hingerichtet, weil er Bogbinders Politik und den zunehmenden Einfluss der deutschen Truppenfuhrer in der Stadt missbilligt hatte. Zudem beschuldigte man ihn, Verbindung mit dem Feind aufgenommen zu haben.
Aus der belagerten Stadt sandte Bogbinder seinen Bruder zu den Friedensverhandlungen beim Hansetag in Hamburg. Im Winter 1535/36, als Wullenwever in Lubeck bereits abgesetzt und gefangen genommen war, gelang es ihm, selbst uber Lubeck in die Niederlande zu reisen, wo er Kaiser Karl V. um Hilfe bat. Als neuen Verbundeten hatte er ausgerechnet den katholischen Pfalzgrafen Friedrich II. ausersehen, der im September 1535 Dorothea, die Tochter von Christian II., geheiratet hatte und damit theoretisch als Thronanwarter in Frage kam. Tatsachlich konnte Bogbinder mit Geld und Hilfeversprechen von Maria von Ungarn und vom Kaiser selbst nach Kopenhagen zuruckkehren.
Auch nachdem die Lubecker im Februar 1536 mit einem Separatfrieden aus der Grafenfehde ausgeschieden waren, harrte Bogbinder in Erwartung der Unterstutzung aus den Niederlanden in seiner belagerten Stadt weiter aus. Als sich unter den hungernden Einwohnern Unzufriedenheit breit machte, ließen Bogbinder und der zweite Burgermeister Hans Bøsse die Landsknechte am 13. Juni 1536 den Aufstand niederschlagen. Dabei kamen etwa 150 Burger um.
Die erwartete niederlandische Flotte blieb aus. Am 27. Juli 1536 kapitulierte Kopenhagen. Bogbinder verlor sein Amt, fiel jedoch auch unter die von Konig Christian III. erlassene Amnestie. Als ihn Jens Kammersvends Witwe vor dem Rat anklagte, ihren Mann ermordet zu haben, beging er vor Prozessbeginn Selbstmord. Seinen Besitz, das halbe Haus seines Vaters, zog der Konig ein. Im selben Jahr eroffnete dort eine Apotheke. Sein Bruder blieb im Dienst des Pfalzgrafen, der ihn wiederholt auf geheime Missionen schickte.
Literatur Astrid Friis: Ambrosius Bogbinder. In: biografiskleksikon.lex.dk. Abgerufen am 18. Dezember 2023 (danisch).
A. Heise: Bogbinder, Ambrosius. In: Dansk biografisk Lexikon. Band 2, S. 464 f. (danisch, runeberg.org).
Bjørn Poulsen: Ambrosius Bogbinder. In: denstoredanske.lex.dk. Abgerufen am 18. Dezember 2023 (danisch).
Einzelnachweise
|
Ambrosius Bogbinder († 1536) war ein Kopenhagener Burgermeister und Anhanger des 1523 abgesetzten Konigs Christian II. von Danemark, Norwegen und Schweden. Er gehorte 1529/30 zu den treibenden Kraften zur Durchsetzung der Reformation in der Stadt und war 1534 mitverantwortlich fur den Ausbruch der Grafenfehde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ambrosius_Bogbinder"
}
|
c-408
|
Loppa vom Spiegel (* vor 1315; † um 1360), latinisiert Loppa de Speculo, war eine Nonne des Klarissenordens, Schreiberin von mittelalterlichen Texten und Musikhandschriften sowie Buchmalerin in Koln.
Leben Loppas Vater war vermutlich der Kolner Ratsherr und Schoffe Heinrich van me Spegel, der ab 1332 auch Burgermeister der Stadt war. Erstmals wird Loppas Name 1315 in Quellen genannt, die ihren Eintritt ins Kolner Klarissenkloster St. Klara dokumentieren. Die Nonne erlebte die große Pestwelle um 1350 und starb etwa zehn Jahre spater.
Wirken Folgende Codices wurden ganz oder teilweise von Loppa vom Spiegel angefertigt:
Missale (um 1350)
Winterteil (Brussel, Bibliotheque royale de Belgique, Ms. 212)
Sommerteil (Brussel, Bibliotheque royale de Belgique, Ms. 209)
Antiphonar (um 1350)
Winterteil (Stockholm, Konigliche Bibliothek, Cod. Holm. A 172)
Sommerteil, in 3 Einzelblattern erhalten
Koln, Wallraf-Richartz-Museum M 65
Koln, Wallraf-Richartz-Museum M 66: A-Initiale mit der Auferstehung Christi fur die Ostermatutin („Angelus Domini“)
London, Victoria and Albert Museum MS 8997 I: D-Initiale mit Pfingstwunder („Dum complerentur“), links daneben die betende Abtissin Heylwigis von Beechoven (amt. 1342–1355)
Codex fur den Domdechanten Konrad von Rennenberg (vor 1357, Koln, Erzbischofliche Diozesan- und Dombibliothek, Cod. 149, Digitalisat)
Graduale, zweibandig, in 15 Einzelblattern erhalten (um 1360, Koln, Wallraf-Richartz-Museum M 7, 18, 20, 23 und 72)
Der Stockholmer Codex enthalt ein Kolophon, das Loppa vom Spiegel als Verantwortliche aller Arbeitsschritte – Schreiben, Linieren, Notation und Buchmalerei – ausweist: (Et) Soror Loppa de Spec(u)lo p(er)fecit. sc(ri)be(n)do. liniando. nota(n)do. ill(um)inando. q(uam) n(on) excludatis ex cordib(us) v(est)ris devotis. Anno d(omi)ni m.ccc.l maxi(m)a pestilentia v(idelicet) existe(n)te. Dass Loppa nicht nur als Illuminatorin tatig war, bestatigt auch die rote Beischrift neben zwei Adoranten, einer Klarissin und einem Franziskanermonch, auf einem Blatt des Graduales (WRM M 23): Soror Loppa de Spec(u)lo q(uae) scripsit (et) notavit hu(n)c libru(m). orate p(ro) me.
Die Autorschaft Loppas ist durch drei Aspekte gesichert. Erstens und vor allem kann der Stil der gesicherten Miniaturen mit unbezeichneten Malereien verglichen werden. Loppas Illuminationen heben sich auch durch ihre malerische Qualitat von denen ihrer Mitschwestern ab. Gleichzeitig zeigt die Verwendung ahnlicher Bildformulare die gemeinsame Urheberschaft Loppas, wie es an den Kanonbildern des Rennenberg-Codexes und den beiden entsprechenden Miniaturen des Missales in Brussel nachvollzogen werden kann. Zweitens hat Loppa eine personliche Handschrift bei der Abfassung der Texte entwickelt: „Ihr Schriftbild ist sehr gleichmaßig und ausgewogen, die Buchstaben dabei leicht nach links geneigt. Kennzeichnend sind zudem etwa feine, schrage Striche uber dem i und das Auslaufen der Buchstaben in nach rechts aufsteigenden zarten Strichen, sogenannten Haarstrichen.“ Drittens ermoglichen Kryptosignaturen die Zuordnung. Das sind „kleine rote Scheiben, die mit weißen Punkten, Kreisen und Zeichen in T-Form differenziert gestaltet sind.“
Der kunstlerische Ausdruck der Handschriften, die Loppa und ihre Mitschwestern im Klarissenkonvent fur den Eigengebrauch oder als Auftragsarbeiten herstellten, steht in der Nachfolge der Kolner Handschriften der Franziskaner und insbesondere des Johannes von Valkenburg, der aus dem Maasland stammte und im Kolner Minoritenkonvent 1299 ein Graduale (Diozesan Hs. 1001b) anfertigte, das zusammen mit anderen Handschriften die Kolner Buchmalerei des 14. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste. Das Kolner Klarissenkloster war seit seiner Grundung 1304 in den Minoritenkonvent inkorporiert; eine „Vermittlung von Vorlagen vom Minoriten- in das Klarissenskriptorium“ ist wahrscheinlich.
Literatur Eberhard Galley: Miniaturen aus dem Kolner Klarissenkloster. Ein Kapitel rheinischer Buchmalerei des 14. Jahrhunderts. In: Kurt Ohly u. a. (Hrsg.): Aus der Welt des Bibliothekars. Festschrift fur Rudolf Juchhoff zum 65. Geburtstag. Koln 1961, S. 20–26.
Gisela Plotzek-Wederhake: Zur Buchmalerei. In: Rolf Wallrath (Bearb.): Vor Stefan Lochner. Die Kolner Malerei von 1300 bis 1430. Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz-Museum. Koln 1974, S. 59–63.
Rolf Wallrath (Bearb.): Vor Stefan Lochner. Die Kolner Malerei von 1300 bis 1430. Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz-Museum. Koln 1974, S. 136, Kat. Nr. 79 (Gisela Plotzek-Wederhake).
Walter Schulten: Der Kolner Domschatz. Koln 1980, S. 105 f., Nr. 41.
Renate Mattick: Choralbuchfragmente aus dem Kolner Kloster St. Klara. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 45 (1984), S. 291–303.
Sabine Benecke: Randgestaltung und Religiositat. Die Handschriften aus dem Kolner Kloster St. Klara. Ammersbeck bei Hamburg 1995.
Renate Mattick: Drei Chorbucher aus dem Besitz von Sulpiz Boisseree. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 59 (1998), S. 59–101, hier S. 59–83 (Digitalisat).
Joachim M. Plotzek u. a. (Hrsg.): Glaube und Wissen im Mittelalter. Die Kolner Dombibliothek. Ausstellungskatalog Erzbischofliches Diozesanmuseum. Koln 1998, S. 464–468, Kat. Nr. 93 (Andreas Odenthal, Johanna Christina Gummlich).
Renate Mattick: Frauengestalten im Kolner Klarenkloster des 14. Jahrhunderts. In: Robert Jauch (Hrsg.): Franziskanische Frauengestalten (= Veroffentlichungen der Johannes-Duns-Skotus-Akademie, Bd. 5). Kevelaer 2001, S. 92–107.
Johanna Christina Gummlich: Bildproduktion und Kontemplation. Ein Uberblick uber die Kolner Buchmalerei in der Gotik unter besonderer Berucksichtigung der Kreuzigungsdarstellungen. Weimar 2003.
Jutta Frings (Red.): Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklostern. Ausstellungskatalog Ruhrlandmuseum Essen und Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland Bonn. Munchen 2005, S. 506–508, Kat. Nr. 455–457 (Johanna Gummlich-Wagner).
Dieter Siebert-Gasper: Der Rennenberg-Codex. Der Codex 149 der Kolner Dombibliothek und die Edelherren von Rennenberg im Kolner Domkapitel des 14. Jahrhunderts (= Libelli Rhenani, Bd. 23). Koln 2008.
Dieter Siebert-Gasper: Neue Forschungsergebnisse zum „Rennenberg-Codex“ (Hs. 149 der Kolner Dombibliothek). In: Heinz Finger (Hrsg.): Mittelalterliche Handschriften der Kolner Dombibliothek. Drittes Symposion der Diozesan- und Dombibliothek Koln zu den Dom-Manuskripten (= Libelli Rhenani, Bd. 34). Koln 2010, S. 242–297.
Johanna Christina Gummlich-Wagner: Stilpragende Skriptorien in der gotischen Kolner Buchmalerei des 14. Jahrhunderts. In: Dagmar Taube, Miriam Verena Fleck (Hrsg.): Glanz und Große des Mittelalters. Kolner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt. Ausstellungskatalog Museum Schnutgen Koln. Munchen 2011, S. 50–61, hier S. 58 und 60 f.
Dagmar Taube, Miriam Verena Fleck (Hrsg.): Glanz und Große des Mittelalters. Kolner Meisterwerke aus den großen Sammlungen der Welt. Ausstellungskatalog Museum Schnutgen Koln. Munchen 2011, S. 316f., Kat. Nr. 68 (Thomas Hensolt).
Harald Horst, Karen Straub (Hrsg.): Von Frauenhand. Mittelalterliche Handschriften aus Kolner Sammlungen. Ausstellungskatalog Museum Schnutgen Koln. Munchen 2021, S. 76–78 und S. 169 f., Nr. 15–21.
Weblinks Einzelnachweise
|
Loppa vom Spiegel (* vor 1315; † um 1360), latinisiert Loppa de Speculo, war eine Nonne des Klarissenordens, Schreiberin von mittelalterlichen Texten und Musikhandschriften sowie Buchmalerin in Koln.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Loppa_vom_Spiegel"
}
|
c-409
|
Brother, Can You Spare a Dime? („Bruder, kannst du einen Dime entbehren?“) ist ein US-amerikanischer Song aus dem Jahr 1932. Er thematisiert die Zeit der Great Depression aus der Sicht eines bettelnden Mannes. Das Stuck wurde in Versionen von Bing Crosby und Rudy Vallee sehr popular und wurde auch in spateren Zeiten immer wieder von Musikern neu interpretiert. Der Liedtext stammt von Yip Harburg, die Musik von Jay Gorney nach einem russisch-judischen Wiegenlied.
Hintergrund, Entstehung Die Große Depression in den Vereinigten Staaten, die mit dem Zusammenbruch der Wall Street 1929 begann, hatte schwerwiegende Auswirkungen auf das Land. Im Jahr 1932 waren 25 % aller US-Amerikaner arbeitslos, die Durchschnittslohne fielen um 60 %. Auch die Haushaltsgeratefirma von Yip Harburg musste Konkurs anmelden. Er wechselte ins Musikgeschaft und arbeitete als Texter.
Harburg war ebenso wie Gorney Sozialist. Er erarbeitete mehrere Entwurfe des Liedtextes, darunter eine satirische Version, die John D. Rockefeller und andere Tycoons angriff. In der Strophe zu den Weltkriegsveteranen ließ er die Bonus-Army-Proteste des Jahres anklingen.
Der 1906 in die Vereinigten Staaten ausgewanderte Komponist Jay Gorney griff fur die Melodie auf ein judisches Wiegenlied zuruck, das er aus seiner russischen Heimat kannte. Das von Harburg und Gorney geschriebene Stuck wurde Teil des Broadway-Musicals Americana.
Text und Musik Der Liedtext erzahlt aus der Perspektive eines bettelnden Mannes. In den ersten beiden Strophen weist er darauf hin, dass er nun betteln muss, obwohl er wie viele andere an dem „Traum von Frieden und Ruhm“ engagiert mitgearbeitet hatte. Die dritte, vierte und funfte Strophe gestalten das Thema weiter aus: der Mann als einfacher Bauarbeiter im Eisenbahnbau und im Hochhausbau sowie als Soldat im Ersten Weltkrieg („Eine halbe Million Stiefel ackerten sich durch die Holle“). Die sechste Strophe steigert den Appell: „Wieso kennst du mich nicht mehr? Ich bin dein Kumpel.“ Die Strophen 3, 4 und 6 schließen mit der Aufforderung „Brother, can you spare a dime?“.
Im Gegensatz zu anderen popularen Liedern dieser Zeit, die eher frohlich waren, druckt Brother Can You Spare a Dime? Angst, Trauer und auch Wut aus. Es ist uberwiegend in Moll gehalten und hat fur einen Broadway-Song der damaligen Zeit eine ungewohnliche Struktur.
Veroffentlichung Das Lied wurde erstmals von dem Vaudeville-Sanger Rex Weber im Rahmen des Musicals Americana aufgefuhrt, das von Oktober bis Dezember 1932 lief und kein Erfolg war. Drei Wochen nach der Premiere spielte es Bing Crosby fur Brunswick Records ein; kurz darauf wurde es auch von Rudy Vallee fur Columbia Records aufgenommen. Brother, Can You Spare a Dime? wurde durch diese beiden Versionen popular, die haufig im Radio gespielt wurden. Es war 1932 eines der zwanzig beliebtesten Lieder der Vereinigten Staaten. Ende des Jahres coverte es Al Jolson in seiner Radiosendung bei NBC.
Einflussreiche Unternehmer versuchten, das Lied aus dem Radio verbannen zu lassen, da sie es als „gefahrlichen Angriff auf das amerikanische Wirtschaftssystem“ ansahen. Wegen dessen Popularitat hatten sie aber keinen Erfolg.
Zeitgenossische Rezeption In den Rezensionen von Musicals wurde den Texten und der Melodie einzelner Lieder nur selten Platz eingeraumt. In den Kritiken zu Americana fand jedoch Brother Can You Spare a Dime? besondere Erwahnung. In der New York Times schrieb Brooks Atkinson: „Mr. Gorney hat die Stimmung der Zeit mit herzzerreißenderen Qualen ausgedruckt als irgendeiner der prosaischen Barden des Tages.“ Gilbert Gabriel außerte sich im New York American ebenfalls positiv uber das Stuck. In der Rezension von Theater Arts Monthly hieß es, dass das Lied „dem fortwahrenden Bombast unseres politischen Alptraums mit großer Wirkung die Luft ab[lasse].“
Spatere Coverversionen Das Stuck wurde in spateren Jahrzehnten von zahlreichen Musikern und Bands gecovert, erstmals 1933 in Großbritannien von Harry Roy, danach etwa von Dave Brubeck Quartett (1955), The Weavers (1962), Tom Jones (1969), Judy Collins (1975), Abbey Lincoln (1991), George Michael (1999), Tom Waits (2001) und Asaf Avidan (2012).
Einige der Interpreten lassen ihre Version mit der dritten Strophe beginnen („Once I built a railroad…“)
Bedeutung Das Lied war in seiner Zeit eines der ersten Stucke, das den Erfahrungen der Great Depression Ausdruck verlieh. Nach heutiger Einschatzung hat „kein anderes populares Lied den Geist seiner Zeit mit solcher Eindringlichkeit eingefangen.“ Es bestehe „als Hymne fur die Unterdruckten und Vergessenen fort“ und „[schwebe] immer noch im nationalen Gedachtnis“, man hore „sein geisterhaftes Echo in den Gesangen der Occupy-Wall-Street-Demonstranten“; es sei „die Hymne der Großen Depression“.
Das Stuck in der Version von Bing Crosby wurde 2005 in die Grammy Hall of Fame aufgenommen. 2013 wurde es in den Versionen von Crosby und Vallee Teil des National Recording Registry.
Sonstiges In dem Stuck Lucretia My Reflection (1987) zitieren The Sisters of Mercy eine der Liedzeilen: „Once a railroad / Now it's done“.
Weblinks Originalhandschrift des Liedes
Einzelnachweise Anmerkungen
|
Brother, Can You Spare a Dime? („Bruder, kannst du einen Dime entbehren?“) ist ein US-amerikanischer Song aus dem Jahr 1932. Er thematisiert die Zeit der Great Depression aus der Sicht eines bettelnden Mannes. Das Stuck wurde in Versionen von Bing Crosby und Rudy Vallee sehr popular und wurde auch in spateren Zeiten immer wieder von Musikern neu interpretiert. Der Liedtext stammt von Yip Harburg, die Musik von Jay Gorney nach einem russisch-judischen Wiegenlied.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Brother,_Can_You_Spare_a_Dime?"
}
|
c-410
|
Mahnaz Afkhami (persisch مهناز افخمی, DMG Mahnaz Afhami, geboren am 14. Januar 1941 als Mahnaz Ebrahimi in Kerman) ist eine iranisch-US-amerikanische Frauenrechtsaktivistin, die 1976 bis 1978 als Frauenministerin des Iran unter dem Schah amtierte. Seit ihrer Emigration 1979 setzt sie sich aus dem US-Exil fur die Forderung von Iranistik und den Frauenrechten im Iran ein und verfasste zahlreiche Schriften und Bucher zu den Themenkomplexen Frauenrechte, muslimische Frauen und der iranischen Frauenbewegung.
Leben Mahnaz Ebrahimi wurde als alteste von drei Tochtern in ihre Familie geboren. Gemeinsam mit ihrer Mutter Ferdows Naficy und ihrer Schwester Farah emigrierte sie 1952 in die USA und genoss dort ihre Ausbildung an den Universitaten von San Francisco und Boulder. Von 1965 bis 1967 unterrichtete sie erst in Boulder und dann 1967 bis 1970 an der Nationaluniversitat des Iran das Fach Englisch. Von 1971 bis 1979 war sie Generalsekretarin der erst 1966 gegrundeten Iranischen Frauenorganisation (Women’s Organization of Iran, WOI). Zum 31. Dezember 1976 wurde sie vom Schah als Ministerin fur Frauenangelegenheiten berufen. Dieses Amt bekleidete sie als Ministerin ohne Geschaftsbereich bis zum 27. August 1978, ohne dass eine Nachfolgerin ernannt wurde. Erst 1991 wurde in der Islamischen Republik wieder ein entsprechendes Amt gegrundet. Die Vorsteherin des „Zentrums fur Belange von Frauen und Familie“ hat zwar seit 2013 den Rang einer iranischen Vizeprasidentin und damit Kabinettsrang, leitet aber kein Ministerium.
Die Islamische Revolution uberraschte Afkhami wahrend eines Arbeitseinsatzes bei den Vereinten Nationen in New York, bei dem das Internationale Forschungs- und Ausbildungsinstitut zur Forderung der Frau auf den Weg gebracht wurde. Aufgrund gegen sie erhobener Anklagen durch das neue Regime, die mit „Korruption auf Erden“ und „Feindschaft zu Gott“ begrundet wurden, blieb sie von nun an dauerhaft in den USA. Sie bekraftigte stets ihren Wunsch, nach dem Sturz der Islamischen Republik zum Wiederaufbau des Irans beitragen zu wollen.
Im Exil lebt Afkhami gemeinsam mit ihrem Mann Gholam-Reza Afkhami in Bethesda in der Agglomeration von Washington, D.C.; sie hat einen Sohn. Sie engagiert sich vielfaltig im akademischen und politischen Milieu. Sie grundete 1981 die Foundation for Iranian Studies (FIS-Iran) und hatte den Exekutiven Vorsitz dieser Stiftung noch 2022 inne. 2000 begrundete sie die Women’s Learning Partnership for Rights, Development, and Peace (WLP). Sie war von 1989 bis 1999 in fuhrenden Rollen im von ihr mitbegrundeten Sisterhood Is Global Institute (SIGI) tatig, die letzten drei Jahre als Prasidentin.
Veroffentlichungen Mahnaz Afkhami verfasste zahlreiche Schriften, Bucher und Beitrage zu Buchern, auch in deutschen Publikationen veroffentlichte sie Beitrage. Die folgende Liste beschrankt sich auf Buchpublikationen.
1978: Notes on the Curriculum and Materials for a Women’s Studies Program for Iranian University Women (Teil des iranischen nationalen Aktionsplans zur Integration der Frau)
1992: Iran: A PreCollegiate Handbook (Co-Autorin mit Charlotte Albright, FIS-Iran)
1994: In the Eye of the Storm: Women in Postrevolutionary Iran (Syracuse University Press, New York -> im Folgenden: SUP)
1994: Women in Exile (University Press of Virginia)
1994: Women and the Law in Iran (1967–1978) (Frauenzentrum des FIS-Iran)
1995: Faith and Freedom: Women’s Human Rights in the Muslim World (SUP)
1996: Claiming Our Rights: A Manual for Women’s Human Rights Education in Muslim Societies (Co-Autorin mit Haleh Vaziri, SIGI, Bethesda)
1997: Muslim Women and The Politics of Participation (Co-Autorin mit Erika Friedl, SUP)
1998: Safe and Secure: Eliminating Violence Against Women in Muslim Societies (Co-Autorin, SIGI, Bethesda)
2001: Leading to Choices: A Leadership Training Handbook for Women (WLP; Bethesda)
2002: Toward a Compassionate Society (WLP, Bethesda)
2010: Leading to Action: A Political Participation Handbook for Women (WLP, Bethesda)
2012: Victories Over Violence: Ensuring Safety for Women and Girls (WLP, Bethesda)
2015: Beyond Equality: A Manual for Human Rights Defenders (WLP, Bethesda)
2022: The Other Side of Silence: A Memoir of Exile, Iran, and the Global Women’s Movement. (University of North Carolina Press)
Literatur Mahnaz Afkhami: Women In Exile. The University Press of Virginia, 1994, ISBN 0-8139-1543-0 (englisch, Enthalt eine Autobiografie).
Weblinks Webauftritt: Mahnazafkhami.com
Einzelnachweise
|
Mahnaz Afkhami (persisch مهناز افخمی, DMG Mahnaz Afhami, geboren am 14. Januar 1941 als Mahnaz Ebrahimi in Kerman) ist eine iranisch-US-amerikanische Frauenrechtsaktivistin, die 1976 bis 1978 als Frauenministerin des Iran unter dem Schah amtierte. Seit ihrer Emigration 1979 setzt sie sich aus dem US-Exil fur die Forderung von Iranistik und den Frauenrechten im Iran ein und verfasste zahlreiche Schriften und Bucher zu den Themenkomplexen Frauenrechte, muslimische Frauen und der iranischen Frauenbewegung.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mahnaz_Afkhami"
}
|
c-411
|
Die Grune Hoyerswerder ist eine alte sachsische Birnensorte. Die Landesgruppe Sachsen des Pomologen-Vereins kurte die Grune Hoyerswerder zur sachsischen Obstsorte des Jahres 2023.
Geschichte Als Entdecker der ursprunglich regionalen sachsischen Birnensorte gilt der Pastor Johann Friedrich Benade, der sie um 1790 in einer Baumschule in Hoyerswerda fand. In den folgenden Jahren verbreitete sich die Sorte schnell weiter. Der Obstbauexperte Johann Ludwig Christ beschrieb die Birne im Jahr 1797 als „die grune Sommerzukkerbirne von Hoyerswerda“. Benade beschrieb sie in einem Werk von 1803 als „die Hoyerswerdsche Sommer-Zuckerbirne“. Auch die Bezeichnung „Benadine“ zu Ehren des Entdeckers ist uberliefert, konnte sich jedoch nicht etablieren.
Im 19. Jahrhundert war die Birne in Deutschland als „Grune Hoyerswerder“ verbreitet. Auch international wurde die Sorte kultiviert. So wurde bereits um 1830 die Grune Hoyerswerder auch in Osterreich-Ungarn angebaut. Sie wurde als eine Birnengattung angesehen, die sich nicht nur „fur mildere Gegenden“, sondern – als eine von nur neun Sorten – auch „fur die rauheren Gegenden in Nieder-Oesterreich“ eignete. Als herausragende Eigenschaften wurden ihr „eine gute, schmelzende Frucht“ zugeschrieben sowie „[t]ragt sehr gut, halt 9–10 Tage“.
Der Pomologe Adrian Diel beurteilte sie als Frucht „von allererstem Rang“, die es „verdient[,] allgemein verpflanzt zu werden.“ In Frankreich war sie als „Sucre-Vert d’Hoyerswerda“ bekannt. Unter dem Namen „Sugar of Hoyerswerda“ wurde sie bis in die Vereinigten Staaten verbreitet, 1845 beschrieb sie der US-amerikanische Landschaftsgestalter und Schriftsteller Andrew Jackson Downing in seinem Werk Fruits and Fruit Trees of America als „angenehme deutsche Birne“. Noch 1890 wurde sie als Tafelbirne in der Taborer Gegend in Bohmen geschatzt.
In Sachsen wurde der Anbau der Sorte noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs empfohlen. Danach wurde die Birne immer mehr durch andere, vor allem langer haltbare Kulturbirnen verdrangt, bis sie schließlich als verschollen galt.
Die Lausitzer Rundschau initiierte 2011 eine Suche nach der Grunen Hoyerswerder. In der Prufstelle Wurzen des Bundessortenamts wurden daraufhin 2012 die mutmaßlich letzten Exemplare der Sorte entdeckt. Die Oberlausitz-Stiftung, die sich dem Erhalt historischer Obstsorten verschrieben hat, begann 2013 mit der Veredelung und damit der Sicherung des Fortbestands der Grunen Hoyerswerder.
Im sachsischen Radebeul wurde 2023 in einem Privatgarten ein Altbaum der Grunen Hoyerswerder entdeckt, nachdem in der Presse von der Ernennung zur sachsischen Obstsorte des Jahres berichtet worden war. Dieser wahrscheinlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gepflanzte Baum gilt als einzig erhaltener Altbaum der Sorte in der Region.
Beschreibung = Frucht =
Die kleine bis mittelgroße, kreiselformige Birne hat eine glatte, grasgrune, stark gepunktete Schale, die sich wahrend der Reifung ins Gelbliche farbt. Das Fruchtfleisch ist weißlich bis gelblich, der Geschmack aromatisch-suß. Die Reifezeit ist von Mitte bis Ende August, die Grune Hoyerswerder ist nur kurz haltbar und daher kaum lagerfahig. Die Frucht kann sowohl frisch verzehrt als auch weiterverarbeitet werden.
= Baum =
Die Grune Hoyerswerder wird als „robust und […] in einem breiten Spektrum in Bezug auf Boden und Klima anbaufahig“ beschrieben. Der Austrieb erfolgt Anfang April, die Baumkrone ist pyramidenformig ausgebildet.
Synonyme Benadine, Grune Hoyerswerda, Hoyerswerdaer Grune, Grune Hoyerswerder Zucker-Birne, Grune Sommerzuckerbirne von Hoyerswerda, Incommunicable, Souveraine d’Ete, Sucre-Vert d’Hoyerswerda, Sucree d’Hoyerswerda, Sugar of Hoyerswerda, Sucre Noir d’Ete
Sachsische Obstsorte des Jahres Durch die Auszeichnung zur sachsischen Obstsorte des Jahres macht die Landesgruppe Sachsen des Pomologen-Vereins auf gefahrdete historische Obstsorten aufmerksam. Diese werden im Zuge der Ernennung in mehreren sachsischen Baumschulen kultiviert, um eine neuerliche Verbreitung anzuregen.
Weblinks Einzelnachweise
|
Die Grune Hoyerswerder ist eine alte sachsische Birnensorte. Die Landesgruppe Sachsen des Pomologen-Vereins kurte die Grune Hoyerswerder zur sachsischen Obstsorte des Jahres 2023.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Grüne_Hoyerswerder"
}
|
c-412
|
Jkvr. Cecile Wilhelmina Elisabeth Jeanne Petronella de Jong van Beek en Donk (* 19. Mai 1866 in Alkmaar; † 5. Juni 1944 in Mereville (Essonne)) war eine niederlandische Schriftstellerin und Feministin.
Privates Cecile de Jong wurde 1866 als zweites von drei Kindern des Anwalts Johan Jan Francois de Jong van Beek en Donk und Anna Cecile Wilhelmine Jeanne Jacqueline Nahuys geboren. Die Familie gehorte dem untitulierten Adel an. Am 25. August 1890 heiratete sie Adriaan Eliza Goekoop. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1899 wieder geschieden, was zu einem Bruch mit ihrer Familie fuhrte.
1900 wanderte sie nach Frankreich aus. In Paris heiratete sie 1904 Michel Frenkel, 1905 kam ihr Sohn Pierre-Michel zur Welt. Sie starb wahrend der Befreiung Frankreichs zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter ungeklarten Umstanden 1944 in Mereville im Departement Essonne, ohne dass davon in ihrer Heimat Notiz genommen worden ware.
Aktivismus Seit den 1890er Jahren engagierte sich Cecile de Jong als Tierschutzerin, nachdem sie in den USA gesehen hatte, wie Strauße wegen ihrer Federn geschlachtet wurden. Zusammen mit mehreren anderen adligen Damen kampfte sie als Mitglied der Association for Combating Horrible Fashion gegen die Verwendung von Vogelfedern zur Verzierung von Huten und Kleidern. Dieser Verein und sie selbst waren 1899 stark an der Grundung des noch heute bestehenden Vogelbescherming Nederland beteiligt, zu dessen Ehrenprasidentin sie nach der Grundung ernannt wurde.
Auch im sozialen Bereich war de Jong tatig. Sie organisierte die Nationale Tentoonstelling van Vrouwenarbeid (Nationale Ausstellung fur Frauenarbeit), die sich mit der Situation in Niederlandisch-Ostindien (dem heutigen Indonesien) auseinandersetzte. Ihr erster Ehemann Adriaan Goekoop unterstutzte 1898 Cecile bei ihrer Arbeit als Prasidentin der Ausstellung, indem er die Finanzierung absicherte und das Gelande zur Verfugung stellte, auf dem die Ausstellung stattfand. Die Organisation der Ausstellung stellte jedoch eine gewaltige Belastung ihrer Ehe dar.
Schriftstellertatigkeit De Jongs Karriere als Schriftstellerin begann 1897 mit der Veroffentlichung von An de vrouwen van Nederlandsch Oost-Indie, in dem sie ihre Eindrucke und Ansichten darstellte. Die Resonanz war eher gering. Das anderte sich mit ihrem nachsten Buch Hilda van Suylenburg (1897), das in den Niederlanden und im Ausland sehr erfolgreich war. Dieser Roman loste aber auch viele Kontroversen aus. Der Roman erzahlt die Geschichte der ersten (fiktiven) Anwaltin in den Niederlanden und handelt davon, wie Frauen ein unabhangiges, sinnvolles Leben aufbauen konnen, ohne auf andere angewiesen zu sein. Außerdem pladierte der Roman fur Ehen nur dann, wenn sie auf Gleichheit und Liebe grunden.
Ihr zweiter Roman Lilia (1907) handelt von einer unverheirateten Frau, die schwanger wird. Auch wenn es positive Kritiken gab, reichte der Erfolg damit und auch mit den folgenden Buchern nicht an Hilda heran.
Rezeption Cecile de Jong zahlt zu den bekanntesten und einflussreichsten feministischen Autorinnen in den Niederlanden um 1900.
Uber die beiden beruhmtesten Werke de Jongs, Hilda van Suylenberg und Lilia, ist viel geschrieben worden. Die Meinungen uber Hilda sind geteilt. Der Roman wird als Tendenzroman beschrieben, in dem alle feministischen Ideen des Fin de Siecle diskutiert werden. Durch dieses Pamphlet in Romanform gelangte das Buch an das gewunschte Publikum, namlich Frauen aus dem Burgertum, wofur der Roman jedoch auch kritisiert wurde, weil er den Frauen aus der Unterschicht keine Stimme gebe.
Der Roman wurde dafur gelobt, dass mit Hilda ein Vorbild fur Frauen geschaffen wurde, das als moglich darstellte, eine Karriere als Anwaltin mit einer guten Ehe und Mutterschaft zu verbinden, und zeigte, wie ein sinnerfullter Lebensweg fur Madchen aussehen konne. Margaretha Meijboom (1856–1927) druckte ihre Begeisterung so aus: „Jetzt gab es Worte und Formen – kraftvoll und eindrucksvoll! – fur das, was unbewusst in den Herzen so vieler Frauen lebte und zu kampfen hatte“. Und sie nannte es „den Funken im Schießpulver“. Der Roman gilt als meistgelesener und meistbesprochener niederlandischer Roman des Fin de Siecle.
Der Literaturkritiker Henri Smissaert (1908) warf de Jongs zweitem Roman Lilia vor, zu viel unmoralisches Verhalten darzustellen und keine Gegenperspektive zu diesem Verhalten anzubieten. Außerdem beklagte er, dass die Protagonistin sich nicht fur ihr unmoralisches Verhalten und ihr uneheliches Kind schame. Lilias freie Liebe musse als Untergang der Moral angesehen werden. Die Autorin Anna de Savornin Lohman argumentierte 1907, dass es schlecht sei, freie Liebe auszuleben, weil eine Veranderung der Moral nicht zur Befreiung der Frauen fuhren wurde. Lilia verhalte sich egoistisch, weil sie nur an sich selbst und nicht an ihr Kind denke, das mit der Belastung leben musse, die Lilia ihm als Ausgestoßenem hinterlassen habe.
Veroffentlichungen (Auswahl) Aan de vrouwen van Nederlandsch Oost-Indie, Vereeniging Nationale Tentoonstelling van Vrouwenarbeid, Groningen (1897)
Hilda van Suylenberg, Scheltema & Holkema, Amsterdam (1897)
Lilia, Scheltema & Holkema, Amsterdam (1907)
De geschiedenis eener bom, Maatschappij voor Goede en Goedkoope Lectuur, Amsterdam (1912)
La Marchande de cierges (1929); Bij de waskaarsen, Uitgeverij Paul Brand, Hilversum, (1930)
Literatur F. Dieteren: Jong van Beek en Donk, jkvr. Cecile Wilhelmina Elisabeth Jeanne Petronella de (1866–1944). In: Biografisch Woordenboek van Nederland. Band 5, 2002, ISBN 90-5216-122-4.
B. S. Dijk, M. Braun: De prijs van de liefde. De eerste feministische golf, het huwelijksrecht en de vaderlandse geschiedenis.BMGN. In: Low Countries Historical review. Band 110, Nr. 125, 1992, S. 126–136.
E. Leijnse: Cecile en Elsa, strijdbare freules. Een biografie. De Geus, Breda 2015, ISBN 978-90-445-3482-5.
J. Meerkerk: Hilda van Suylenburg, "na haar succes": open brief aan de schrijfster van Hilda van Suylenburg. Van Hulst, Kampen 1898.
H. C. Voorhoeve: Een beschouwing over Hilda van Suylenburg van mevrouw Goekoop-de Jong van Beek en Donk. P.J. Milborn, Nijmegen 1898.
Weblinks Literatur von und uber Cecile de Jong im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Einzelnachweise
|
Jkvr. Cecile Wilhelmina Elisabeth Jeanne Petronella de Jong van Beek en Donk (* 19. Mai 1866 in Alkmaar; † 5. Juni 1944 in Mereville (Essonne)) war eine niederlandische Schriftstellerin und Feministin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Cécile_de_Jong"
}
|
c-413
|
Derrick Clifton Harriott, OD (* 6. Februar 1939 in Kingston) ist ein jamaikanischer Sanger und Musikproduzent. Seine Karriere umfasste die Entwicklung der Musikstile Ska, Rocksteady, Reggae und Dub. Seine bedeutendste Produktion ist das Reggae-Instrumental-Album The Undertaker.
Leben & Wirken Derrick Harriott wurde am 6. Februar 1939 als funftes Kind von Victoria Powell und Rupert Harriott in Kingston geboren. Durch das Radio der alteren Bruder horte er viel US-amerikanische Musik, wie Billy Eckstine, Nat King Cole, Ella Fitzgerald, Louis Jordan und Louis Prima. Noch wahrend der Schulzeit an der Excelsior High School grundete Derrick Harriott mit seinem Schulfreund Claude Sang Junior ein Gesangsduo. Als Sang & Harriott gewannen sie mit dem Lied Lollipop Girl die Vere Johns Opportunity Hour, einen Talentwettbewerb, bei dem das Publikum anhand der Lautstarke des Applauses den Sieger bestimmte. Im Jahr 1958 nahm Claude einen Job in Barbados auf und Harriott grundete mit dessen jungerem Bruder Herman sowie den Sangern Eugene Dwyer und Maurice Winter die Jiving Juniors. Das Quartett arbeitete nacheinander mit den Musikproduzenten Duke Reid und Coxsone Dodd zusammen und hatte dabei Hits mit Lollipop Girl und Over the River.
Nach der Trennung der Jiving Juniors 1962 grundete Harriott mit Crystal Records sein eigenes Plattenlabel, auf dem er auch andere Kunstler wie The Ethiopians, The Kingstonians oder Keith & Tex veroffentlichte. Er hatte Hits mit What Can I Do, Fistful of Dollars und The Loser. Seine Hausband bei Crystal Records nannte er The Crystalites. Die Studioband hatte standig wechselnde Mitglieder, zu denen zeitweise Lynn Taitt, Gladstone Anderson und Karl „Cannonball“ Bryan gehorten. Mit den Crystalites veroffentlichte Harriott 1970 das Album Psychedelic Train sowie das Reggae-Instrumental-Album The Undertaker, das den Dub-Alben von Lee Perry & The Upsetters den Weg ebnete. Diesen Ansatz verfolgte er auf den Alben Scrub-A-Dub Reggae (1974) und More Scrubbing the Dub (1975) mit der Unterstutzung von King Tubby weiter. Mitte der Siebzigerjahre produzierte er die LP Pick Hits to Click, das Debutalbum von Winston McAnuff, das aus zuvor veroffentlichten Singles zusammengestellt wurde.
Harriott war sowohl Kunstler als auch Geschaftsmann. Als Produzent hatte er fruhzeitig musikalische Trends wie Rocksteady oder Dub erkannt und auch zeitgenossische Hits wie You’ve Really Got a Hold on Me, Reach Out I’ll Be There, Lady Madonna, Shaft und Fly, Robin, Fly gecovert. Mit seinem Plattenlabel Crystal konnte er als Sanger, Komponist und Entrepreneur eigenstandig agieren. Ab 1973 fuhrte Harriott in Kingston einen Plattenladen, in dem er seine selbst produzierten Schallplatten verkaufte. Anfangs befand sich das Geschaft unter der Adresse Derrick’s One Stop Record Village, 86 King Street, Kingston, spater dann im Twin Gates Plaza in Half-Way Tree.
Auszeichnungen Im Jahr 2009 bekam Harriott vom jamaikanischen Staat den Ehrenorden Officer of the Order of Distinction verliehen. Eine Dekade spater erhielt er den Lifetime Achievement Award in Music der Jamaica Reggae Industry Association (JaRIA).
Diskografie (Auswahl) = Eigene Aufnahmen =
Singles
1961: Derrick Harriott: I’ll Go / Answer Me (Coxsone)
1964: Derrick Harriott: Monkey Ska / Derrick (Crystal Records)
1967: Derrick Harriott: My Last Letter / Reach Out I’ll Be There (Crystal)
1970: Derrick Harriott & The Chosen Few: Psychedelic Train / Derrick Harriott & The Crystalites: Psychedelic Train (Part 2) (Crystal)
1970: Derrick Harriott: Message From a Black Man / The Crystalites: Message From a Black Man (Part 2) (Crystal)
1972: The Preacher (Derrick Harriott): Black Moses (Shaft) / The Crystalites: Moses Version (Crystal)
1973: Derrick Harriott: Some Guys Have All the Luck / Version (Crystal)
Alben
The Best of Derrick Harriott (1965, Island Records)
Rock Steady Party (1967, Crystal/Island)
The Best of Derrick Harriott Vol. 2 (1968, Crystal/Island)
The Sensational Derrick Harriott Sings Jamaica Reggae (1969, Crystal/Pama)
Derrick Harriott & The Crystalites: The Undertaker (1970, Trojan Records)
Derrick Harriott & The Crystalites: Psychedelic Train (1970, Crystal/Trojan)
Derrick Harriott Presents Scrub-A-Dub Reggae (1974, Crystal)
More Scrubbing the Dub (1975, Crystal)
Reggae Disco Rockers (1975, Wild Flower/Charmers Records)
Derrick Harriott and The Revolutionaries: Reggae Chart Busters Seventies Style (1977, Crystal)
= Produktionen =
1967: Stop That Train von Keith & Tex (Crystal Records)
1971: Concentration von Dennis Brown (Move & Groove)
1972: Draw Your Brakes von Scotty (Crystal)
1972: Cool Breeze von Big Youth (Crystal)
1972: Do Your Thing von The Chosen Few (Crystal / Song Bird)
1973: Tougher Than Tough von I-Roy (Crystal)
1975: Penny For Your Dub von U-Roy (Crystal)
1978: Electric Dread – Pick Hits to Click von Winston McAnuff (Crystal)
Weblinks Derrick Harriott bei 45cat.com (englisch)
Derrick Harriott bei Discogs
Derrick Harriott bei IMDb
Derrick Harriott Rock Steady 1966–1969 bei Bandcamp
Derrick Harriott Reggae, Funk & Soul 1969–1975 bei Bandcamp
Interview: Derrick Harriott (Part 1) (englisch)
Interview: Derrick Harriott (Part 2) (englisch)
Musikbeispiele
Derrick Harriott & The Crystalites: The Undertaker auf YouTube
Derrick Harriott & The Crystalites: Message from a Black Man auf YouTube
Derrick Harriott & The Chosen Few: Psychedelic Train (Pt. 1) auf YouTube
Derrick Harriott & The Chosen Few: Shaft auf YouTube
Einzelnachweise
|
Derrick Clifton Harriott, OD (* 6. Februar 1939 in Kingston) ist ein jamaikanischer Sanger und Musikproduzent. Seine Karriere umfasste die Entwicklung der Musikstile Ska, Rocksteady, Reggae und Dub. Seine bedeutendste Produktion ist das Reggae-Instrumental-Album The Undertaker.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Derrick_Harriott"
}
|
c-414
|
Die Alte Reichsburg Schweinfurt ist eine abgegangene Reichsburg und Hohenburg am ostlichen Rand Schweinfurts. Die Burg wurde 1258 erstmals urkundlich erwahnt, ist wohl knapp zweihundert Jahre alter und wurde spatestens 1371 oder 1437 abgebrochen.
Lage Die Alte Reichsburg lag oberhalb des Mains, auf der Peterstirn, einem sudwestlichen Auslaufer des Hainbergs, im Gebiet des heutigen Nordostlichen Stadtteils. Am Fuß des Burgbergs verlauft die historische Mainleitenstraße von Schweinfurt nach Mainberg, die Richtung Bamberg fuhrt (heute Staatsstraße 2447) und die Bahnstrecke Bamberg–Schweinfurt.
Auf obigem Foto sind Gelandewellen unterhalb der abgegangenen Reichsburg erkennbar (bitte vergroßern) die auch die Darstellung von 1852 zeigt (vgl. auch Foto von 1932 im Artikel: Markgrafenburg Schweinfurt).
Geschichte Nach Friedrich Stein befand sich die Reichsburg „außerhalb der ummauerten Reichsstadt auf dem Hainberge oberhalb der fruher markgraflichen ... Peterstirn.“ Im fruhen 14. Jahrhundert wurde die Reichsburg vom Hainberg herunter in die Reichsstadt Schweinfurt, in den Stadtteil Zurch verlegt:
„In den Kontext der Befestigungswerke von Schweinfurt gehort die endgultige Verlegung der Reichsburg von der Anhohe der Peterstirn herunter in die Reichsstadt im 14. Jahrhundert. Unklar ist, ob es in der Stadt bereits vor dem 2. Drittel des 13. Jahrhunderts eine Reichsburg gegeben hat [...] Tatsachlich erteilte Konig Heinrich VII. dem Grafen Berthold VII. von Henneberg-Schleusingen [...] 1310 die Erlaubnis, innerhalb der Stadt eine neue Reichsburg zu erbauen, die die alte Burg auf dem Hainberge ersetzen sollte.“
Nach Friedrich Stein verlief nach der Verlegung der Reichsburg der Wertegang der alten Burg wie folgt:
Sie wurde in Urkunden von 1330 das „alte Haus“ bzw. die „Alte Burg bei Schweinfurt“ genannt. Die unbewohnte Burg war wohl bald darauf verfallen und wurde 1371 als „Steingrube, genannt die Altenburg bei dem Deutschhause gelegen“ bezeichnet. Kaiser Karl IV. gestattete den Schweinfurtern, von dort fur die Stadtbefestigung Steine zu brechen. Burggut und Burglehen besaßen bis ins 15. Jahrhundert die Ritter von Wenkheim. 1445 erwarb die Reichsstadt Schweinfurt die Burg von Ritter Hans von Wenkheim.
Nach Erich Schneider kann die Datierung 1437 fur den Abbruch der Reichsburg nicht ausgeschlossen werden. Diese gibt Schneider aber nur fur die Sprengung der Klosterburg an, die er im Gegensatz zu anderen Historikern jedoch nicht in einer gemeinsamen Anlage mit der Reichsburg sieht (siehe: Benediktinerkloster Schweinfurt, Geschichte und Markgrafenburg Schweinfurt, Eine Burg oder zwei Burgen?).
Heutige Situation Heute sind noch einige Bereiche der Burganlage erkennbar. Der noch teilweise erhaltene Halsgraben mit einem Teich beim Beerhuterturm riegelte die Reichsburg auf dem Spornauslaufer gegen Osten ab. Am Graben wurden burgeinwarts an der hochsten Stelle durch archaologische Ausgrabungen eine reichhaltige Abfolge von teilweise verwirrenden Baukonstruktionen freigelegt, mit einer Außenmauer der Befestigung und einem Eckturm.
Das Bayerische Landesamt fur Denkmalpflege fuhrt die gesamte Peterstirn als gemeinsames Bodendenkmal („Burgstall und Klosterwustung“), ohne die Reichsburg namentlich zu nennen (siehe auch Plan: Markgrafenburg Schweinfurt, Eine Burg oder zwei Burgen?).
Beerhuterturm Der sogenannte Beerhuterturm diente in der Zeit vor und wahrend der Weinernte den Beerhutern als Aussichtspunkt und Unterkunft. Von dort aus sollten sie durch Larmen und personliches Einschreiten die Weinernte gegen zweiflugelige und zweibeinige Diebe und Rauber beschutzen.
Siehe auch: Schweinfurt, Weinbau
Siehe auch Schloss Mainberg
Schweinfurter Stadtbefestigung und Ringanlagen
Literatur Beitrage / Vierteljahres-Hefte des Historischen Vereins Schweinfurt e. V.: Schweinfurter Mainleite. Besonders der Jahre 2003–2007.
Friedrich Stein: Geschichte der Reichsstadt Schweinfurt. 2 Bande. Verlag E. Stoer, Schweinfurt 1900.
Friedrich Stein (Hrsg.): Monumenta Suinfurtensia historica inde ab anno DCCXCI usque ad annum MDC. Denkmaler der Schweinfurter Geschichte bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts (MSh). 2 Bande. Schweinfurt 1875.
Weblinks Lexikon der Burgenkunde
Einzelnachweise und Bemerkungen
|
Die Alte Reichsburg Schweinfurt ist eine abgegangene Reichsburg und Hohenburg am ostlichen Rand Schweinfurts. Die Burg wurde 1258 erstmals urkundlich erwahnt, ist wohl knapp zweihundert Jahre alter und wurde spatestens 1371 oder 1437 abgebrochen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Alte_Reichsburg_Schweinfurt"
}
|
c-415
|
Die Hennebergische Reichsburg Schweinfurt ist eine abgegangene Reichsburg in der Altstadt von Schweinfurt, im Altstadtviertel Zurch, worauf die dortigen Namen Burggasse und Rittergasse hinweisen. Die Burg war zeitweise nicht ausschließlich Reichsburg, wurde spatestens 1310 erbaut und ab 1427 abgebrochen. An ihrer Stelle wurden Burgerhauser errichtet.
Lage Die Stadtburg war in die Stadtmauer eingebunden und „durfte sich im Sudosten der Stadt etwa in dem von Unterem Wall und Zwinger sowie dem ostlichen Teil der Rittergasse und dem Zurch umschlossenen Gelande befunden haben. Als Zugang ist die Burggasse anzunehmen.“ Das Burgareal liegt auf einem Plateau von geringer Hohe, das nur zum Main im Suden und zum Tal des Marienbachs im Osten abfallt, wahrend der Anschluss zur Altstadt nach Westen und Norden ebenerdig verlauft. Das Plateau liegt auf 220 m u. NN, 12 m uber dem heute angestauten Main, weshalb der Hohenunterschied zur Zeit der Reichsburg großer war. Die Lage der Burg ahnelt der einer Spornburg, jedoch mit wesentlich geringeren Hohenunterschieden. Im Norden des Burgareals liegt die Salvatorkirche.
Geschichte Konig Heinrich VII. erteilte dem Grafen Berthold VII. von Henneberg-Schleusingen, dem er 1309 die Stadt Schweinfurt verpfandet hatte, urkundlich 1310 die Erlaubnis, innerhalb der Stadt eine neue Reichsburg zu bauen. Sie sollte die Alte Reichsburg auf dem Hainberg ersetzen und Heinrich versprach die Baukosten von Reichs wegen zu verguten. Unklar bleibt, ob es in der Stadt bereits eine Reichsburg gab. Die Alte Chronik der Stadt Schweinfurt berichtet, dass dort 1310 „ein altes Schloß verbessert“ wurde.
Vermutlich wurde die neue Reichsburg, wie auch die Reichsstadt, auf Reichsgut errichtet. Die Burg diente der Aufnahme von Burgmannen zur Verteidigung der Reichsstadt. Die Henneberger nahmen in der Reichsburg, als vom Kaiser eingesetzte Pfandherren, dessen Rechte in der Stadt Schweinfurt wahr. Zeitweise waren die Henneberger nicht nur Reichsvogte, sondern aufgrund einer Verpfandung durch den Konig auch Herren der Schweinfurter; die Burg war zu dieser Zeit nicht mehr ausschließlich eine Reichsburg. Mitte des 14. Jahrhunderts begann eine erste Krise der Henneberger und es kam zur Aufteilung der Schweinfurter Pfandschaft auf zwei Erben. 1361 und 1383 konnte sich Schweinfurt mit der Ruckzahlung der Pfandungssumme von der Pfandschaft losen, die Stadt wurde wieder reichsunmittelbar.
Die Burg = Beschreibung =
Zu Lebzeiten des Reichsvogtes Paul Rosa befand sich:
„hinten in der Ecken der ringmawer gegen Sennfelt uber den Majn heruber in der Statt ... Bey meinen gedencken noch ohngefehr Ao. 1536 oder 38 einen zimblich großen, weiten plaz von Vnßer lieben frawen ... gegen den Majn an der Mawern herumb biß schier an den Ebracher Munchshoff, welches man den Zurch nennet biß vf den heutigen Tag vnd auch zu meiner zeit Bey der Burgk oder auch vf dem Burggraben vor dem krige ist genennt worden. Ist hie zu mercken, das es Bey meiner Jugent einen zimblich tieffen graben gegen den mawern vnd dem Majn zu hatte, darinnen sich auch winters vnd anderen nassen zeiten zimblich daß wasser samblet, aber durch die Mawer gegen den Majn hinauß verfluße, auch viel gemewer, rudera vnd anderes aldo gesehen wurden etc. daraus wol abzunehmen, dass vor zeiten ein gewaltig Hauß, die Burgk genant, deß orts gestanden ... Dieser Plaz ist in meiner Jugent noch ledig gestanden ... biß in ao. 1536 oder 38 ohngefehr man den graben mit erden gefullt vndt ... mit Burgerheußlein zu verbauen ... erlaubt hatt.“
= Abbruch =
Schweinfurt erhielt 1409 durch Konig Ruprecht eine Teilerlaubnis und 1427 durch Konig Sigismund die komplette Erlaubnis zum Abbruch der Burg, zur Bedingung, dass die Steine zur Verstarkung der Stadtbefestigung verwendet wurden. Einige Reste uberstanden jedoch die Ereignisse von 1553/54 und wurden erst im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Stadt endgultig beseitigt. So wurde 1570 eine rund 50 Meter lange und 2 Meter dicke Burgmauer abgebrochen und deren Steine fur den Bau des Schweinfurter Rathauses verwendet. Weitere Mauerreste, „die vom Zurch her uber die Breite der Frauengasse nach dem Wall zu... verliefen“, konnte Friedrich Beyschlag bei Pflaster und Kanalisierungsarbeite noch in den 1880er Jahren konstatieren.
Erhaltene Reste der Reichsburg
= Burgareal heute =
Die ehemalige gotische Burgkapelle, Liebfrauenkirche genannt, heute der Chor der Salvatorkirche, ist der einzige geschlossene noch existierende Baurest der Reichsburg. Ansonsten gibt es nur geringe Mauerreste. Das Areal ist Teil des Sanierungsgebietes Altstadt 2/Zurch, in dem in den 1980er Jahren umfassende Maßnahmen zur Restaurierung durchgefuhrt wurden. Trotz des Abbruchs der Reichsburg hat das Altstadtquartier Zurch, mit der Stadtmauer an zwei Seiten, noch den Charakter eines Burgenviertels.
Burgareal heute
Siehe auch Schweinfurter Stadtbefestigung und Ringanlagen
Liste der Baudenkmaler in Schweinfurt
Literatur Friedrich Stein (Hrsg.): Monumenta Suinfurtensia historica inde ab anno DCCXCI usque ad annum MDC. Denkmaler der Schweinfurter Geschichte bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts, 2 Bande. Schweinfurt 1875
Friedrich Stein: Geschichte der Reichsstadt Schweinfurt, 2 Bande. Verlag E. Stoer, Schweinfurt 1900
Friedrich Beyschlag: Die Geschichte der Reichsburg im Zurch, in: Schweinfurter Heimatblatter 1925
Uwe Muller: Reichsstadt Schweinfurt, in: Peter Kolb, Ernst-Gunther Krenig (Hrsg.): Unterfrankische Geschichte. Vom hohen Mittelalter bis zum Beginn des konfessionellen Zeitalters, Band 2, S. 169–194. Echter Verlag, Wurzburg 1992, ISBN 3-429-01459-X
Schweinfurter Mainleite. Vierteljahres-Hefte des Historischen Vereins Schweinfurt, Aufsatze besonders der Jahre 2003–2007
Weblinks Lexikon der Burgenkunde
Einzelnachweise / Bemerkungen
|
Die Hennebergische Reichsburg Schweinfurt ist eine abgegangene Reichsburg in der Altstadt von Schweinfurt, im Altstadtviertel Zurch, worauf die dortigen Namen Burggasse und Rittergasse hinweisen. Die Burg war zeitweise nicht ausschließlich Reichsburg, wurde spatestens 1310 erbaut und ab 1427 abgebrochen. An ihrer Stelle wurden Burgerhauser errichtet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hennebergische_Reichsburg_Schweinfurt"
}
|
c-416
|
June Edith Shannon (* 10. August 1979 in McIntyre, Georgia) ist eine US-amerikanische Reality-TV-Darstellerin. Als Familienoberhaupt Mama June in der Trash-TV-Sendung Hier kommt Honey Boo Boo wurde sie Anfang der 2010er Jahre international bekannt und zu einem Inbegriff des White Trash.
Leben Shannon wurde in McIntyre, Georgia geboren; ihre Eltern ließen sich scheiden, als sie zwei Jahre alt war. Aufgrund einer nicht behandelten Katarakt ist sie seit ihrer Kindheit sehbehindert. Wenige Tage nach ihrem 15. Geburtstag brachte Shannon ihre erste Tochter Anna (1994–2023) zur Welt. Aus einer weiteren Beziehung gebar sie die Tochter Jessica (* 1996) und Lauryn (* 2000); aus einer dritten ging Alana (* 28. August 2005) hervor. Deren Vater, Mike Thompson, heiratete Shannon 2012; 2016 erfolgte die Scheidung. 2014 geriet Shannon in die Kritik, weil sie Kontakt zu einem wegen sexuellen Missbrauchs Minderjahriger verurteilten Straftater gepflegt haben soll, der in der Vergangenheit bereits ihre alteste Tochter Anna sexuell belastigt hatte.
2016 unterzog sich Shannon, die zeitweise 210 kg wog, einer Magenbandoperation und reduzierte ihr Gewicht um 140 kg.
2019 wurde sie mit ihrem damaligen Lebensgefahrten wegen Drogenkonsums inhaftiert. Im Marz 2022 heiratete sie ihren Lebensgefahrten Justin Stroud.
Karriere im Reality- und Trash-TV Medial trat Shannon erstmals in Erscheinung, als sie 2011 ihre damals 5-jahrige Tochter Alana in der von TLC produzierten Kindermodel-Show Toddlers & Tiaras auftreten ließ. Die beiden erregten genug Aufmerksamkeit, um von TLC fur die Doku-Soap Hier kommt Honey Boo Boo unter Vertrag genommen zu werden, in der zwar die inzwischen 6-jahrige Alana alias Honey Boo Boo im Mittelpunkt stand, aber auch das Leben der gesamten Familie Shannon um Mama June, ihre drei alteren Tochter und Alanas Vater gezeigt wurde. Die Sendung wurde zwischen August 2012 und Juni 2014 in vier Staffeln in den Vereinigten Staaten und ab April 2014 auf TLC Deutschland ausgestrahlt und machte die Mitwirkenden zumindest in den Vereinigten Staaten einem breiten Publikum bekannt. Mit Bekanntwerden der Vorwurfe, dass June Shannon einen wegen Missbrauchs Verurteilten treffen wurde, wurde die Sendung von TLC abgesetzt.
Nach dem Ende der Serie blieb June Shannon mit Auftritten in US-Formaten wie Dr. Phil (2014) und The Doctors (2015) medial prasent. In dem Film Dumm und Dummehr (2014) spielte sie eine kleine Nebenrolle. 2016 nahm sie mit ihrem Ehemann Mike Thompson an der sechsten Staffel der Reality-TV-Show Marriage Boot Camp teil, kurz vor der Trennung des Paares.
2017 erhielt sie auf We TV mit Mama June: From Not to Hot ihre eigene TV-Show, die ihre Bemuhungen, ihr Ubergewicht zu reduzieren und ihr außeres Erscheinungsbild zu verbessern, zum Inhalt hatte.
2021 war June Shannon mit ihrer Tochter Alana in der sechsten Staffel der US-Ausgabe von The Masked Singer zu sehen. Maskiert in einem uberdimensionalen Strandball belegten sie den 9. Platz der Staffel.
Filmografie 2011: Toddlers & Tiaras (Reality-TV)
2012–14: Hier kommt Honey Boo Boo (Reality-TV)
2014: Dr. Phil (Reality-TV, Gastauftritt)
2014: Dumm und Dummehr (Kinofilm)
2015: The Doctors (Reality-TV, Gastauftritt)
2016: Marriage Boot Camp (Reality-TV, 6. Staffel)
2017: Here Comes Honey Boo Boo: The Lost Episodes (Reality-TV)
2017–20: Mama June: From Not to Hot (Reality-TV)
2021: The Masked Singer (Staffel 6, 1 Folge)
2022: #THEDISH
Weblinks June Shannon bei IMDb
Einzelnachweise
|
June Edith Shannon (* 10. August 1979 in McIntyre, Georgia) ist eine US-amerikanische Reality-TV-Darstellerin. Als Familienoberhaupt Mama June in der Trash-TV-Sendung Hier kommt Honey Boo Boo wurde sie Anfang der 2010er Jahre international bekannt und zu einem Inbegriff des White Trash.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/June_Shannon"
}
|
c-417
|
Das Damesleesmuseum (DLM) („Damenlesemuseum“) ist eine 1894 gegrundete Spezialbibliothek, ein Lesezirkel mit eigenen Raumlichkeiten und eigener Sammlung in Den Haag und eine der großten Privatbibliotheken in den Niederlanden, deren Mitgliedschaft lange Zeit auf Frauen beschrankt war.
Geschichte Anfang 1893 schlug Anna Bienfait, die durch ihre Nichte Betsy Bienfait das seit 1877 bestehende Amsterdamer Leesmuseum voor Vrouwen kannte, die Grundung eines Lesemuseums fur Frauen auch in Den Haag vor. Auf Grund des geringen Interesses bildete sich im Mai 1893 zunachst nur der Lesezirkel „Mei 1893“ aus einer Gruppe von zwolf Frauen aus der oberen Mittelschicht. Am 15. Mai 1894 wurde das Damesleesmuseum in der Noordeinde in einem angemieteten Raum uber dem Kurzwarengeschaft „De Katoenbaal“ als Bibliothek fur Frauen offiziell gegrundet. Es folgte damit einer Entwicklung innerhalb der ersten Welle des Feminismus, wahrend der sich Lesegesellschaften und Studienklubs speziell fur Frauen als Teil von vielen neuen Frauenorganisationen in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika bildeten. Damit schufen die Frauen eigene Orte fur „sinnvolle Erholung“ und Bildung, da die meisten bestehenden Lesegesellschaften, Lesemuseen und Lesezirkel ausschließlich Mannern vorbehalten waren und die Bucherauswahl in den gewerblichen Leihbibliotheken in den Niederlanden sehr beschrankt war. Viele Mitglieder und Frauen des Vorstands, unter anderem Margaretha Meyboom, Anna Bienfait, Marie Jungius, Cecile de Jong und Margaretha Galle, waren in der Organisation der 1898 in Den Haag stattfindenden „Nationale Tentoonstelling van Vrouwenarbeid“ (Nationale Ausstellung der Frauenarbeit) engagiert, die als einer der Hohepunkte der ersten feministischen Welle in den Niederlanden galt. Das Leesmuseum als Organisation war ebenfalls Teil der Ausstellung. Die Mitgliedschaft im Damesleesmuseum war auf Frauen beschrankt.
In den 1920er Jahren zog das Damesleesmuseum wegen Platzmangel in ein Gebaude an der Lange Voorhout 48 um. Das Damesleesmuseum ermoglichte seinen Mitgliedern die Lekture aktueller Zeitschriften, Broschuren und Bucher. Es begann 1894 mit 140 Mitgliedern, hatte 1904 516 Mitglieder und zahlte 1929 bereits 1478 Mitglieder. Zu dieser Zeit fungierte es auch als Frauenclub mit vielfaltigen Angeboten, der neben der umfangreichen Bucher- und Zeitschriftensammlung die Moglichkeit bot, literarische Vortrage und Kurse zu besuchen, Bridge zu spielen und das Mittagessen einzunehmen. Daruber hinaus war die Schilderessenvereniging ODIS, eine Vereinigung von Malerinnen, Mitglied des Damesleesmuseums und es wurden Tagungsraume an verschiedene Frauenvereine vermietet, darunter auch an die Vereniging voor Vrouwenkiesrecht (Verein fur Frauenwahlrecht).
1941 sank die Mitgliederzahl auf 1062. Wahrend des Zweiten Weltkriegs wurde die Bibliothek von den deutschen Besatzern geschlossen, die Sammlung beschlagnahmt und großtenteils als Bibliothek fur den Nationalen Rundfunk in Hilversum genutzt.
Nach dem Krieg wurde das Damesleesmuseum wieder aufgebaut, nachdem die meisten Bucher wieder zuruckgegeben worden waren, und nahm mit 350 Mitgliedern erneut seine Tatigkeit auf. Es fand 1950 seinen endgultigen Platz in zwei Etagen am Nassauplein, einem ehemaligen Wohnhaus, das vom Architekt L.C.J. de Zwaan entworfen und von 1879 bis 1880 errichtet wurde. Das Gebaude ist als Gemeentelijk monument in der Liste der Gemeindedenkmale in Den Haag verzeichnet. Die Mitgliederzahl stieg bis 1952 auf 1125. Bis 1985 war die Mitgliederzahl auf etwa 300 abgesunken, erholte sich aber in den 1990er Jahren auf etwa 600, darunter 60 mannliche Mitglieder, denen ab 1974 der Beitritt gestattet wurde. 2023 belief sich die Mitgliederzahl auf etwa 400.
Sammlung Uber die Aufnahme eines Buches entschied und entscheidet immer noch eine aus etwa 15 Mitgliedern bestehende „Lesekommission“, von denen je zwei Ausschussmitglieder ein Buch pruften. Bei Uneinigkeit las eine dritte Person das Buch und entschied uber den Kauf. Die Mitglieder hatten ein Mitspracherecht beim Kauf von Buchern und Zeitschriften, indem sie ihre Praferenzen in einer Wunschliste angaben. Die Sammlung war thematisch breit gefachert und unabhangig von der aktuellen Literaturkritik ausgewahlt. Die wenigen Beschwerden bezogen sich auf die politische Ausrichtung eines Buches oder auf zu erotische Passagen.
Neben kanonischen Buchern, wie den Werken von Dickens, Shakespeare, Eliot oder den Bronte-Schwestern, umfasste die Sammlung auch „leichte Lekture“, wie etwa Romane von Mrs. Oliphant, Anna Sewell und Marie Corelli, Rhoda Broughton, Wilkie Collins, Thomas Hardy sowie Sachbucher zu gesellschaftlichen Fragen, Frauenarbeit oder der Stellung der Frau. Seit seiner Grundung kaufte das Damesleesmuseum auch Bucher von Autorinnen, die nicht unbedingt offentlich positiv besprochen worden waren und deren Protagonistinnen den Typus der Neuen Frau verkorperten. Die Popularitat dieser Romane im Damesleesmuseum grundete auf der Darstellung von Eigenschaften und Idealen, die von den Mitgliedern geteilt wurden. „Annahmen uber angemessenes weibliches Verhalten wurden sowohl durch die Grundung einer Frauenbibliothek als auch durch die Auswahl einer eigenen Literatur dekonstruiert“. Großtenteils handelte es sich um Bucher auf Englisch, wie etwa von Grant Allen, Mona Caird, George Egerton, Sara Grand, Beatrice Harraden, Olive Schreiner und Humphry Ward. Die Zeitschriften befassten sich mit Literatur, Politik, Kunst und Feminismus.
Neben Buchern auf Niederlandisch waren auch fremdsprachige Werke auf Englisch, Franzosisch und Deutsch verfugbar. Noch bis 1964 erwarb die Bibliothek auch Bucher auf Italienisch und in skandinavischen Sprachen. Dies grundete einerseits auf dem Gedanken, dass ein Buch moglichst in der Originalsprache gelesen werden sollte, und andererseits darauf, dass die Leserinnen so ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern konnten. Zur Auswahl standen realistische und naturalistische Werke, unter anderem von Louis Couperus, Frederik van Eeden, Lodewijk van Deyssel, Emile Zola, Leo Tolstoi und Henrik Ibsen. Zwischen 1894 und 1900 wurden 455 Bucher in niederlandischer, 350 in englischer, 206 in franzosischer, 139 in deutscher und 12 in italienischer Sprache angeschafft.
2009 umfasste der Bibliotheksbestand rund 40.000 Bande und halt 2023 3000 deutschsprachige Bucher vor. Die Sammlung wird jeden Monat durch eine Auswahl neu erschienener Bucher erweitert. Zudem stehen niederlandische und auslandische Zeitschriften zur Verfugung. Da das Damesleesmuseum im Unterschied zu anderen Bibliotheken kaum Bucher entsorgt hat, sind in der Sammlung viele Alt- und Erstausgaben erhalten.
Literatur Lizet Duyvendak: English Reading in a Dutch Library for Women (1894–1900). In: Tom Toremans, Walter Verschueren (Hrsg.): Crossing Cultures: Nineteenth-Century Anglophone Literature in the Low Countries. Leuven University Press, Leuven 2009, ISBN 978-90-5867-733-4, S. 177–188 (englisch).
Weblinks Website des Damesleesmuseum
Einzelnachweise
|
Das Damesleesmuseum (DLM) („Damenlesemuseum“) ist eine 1894 gegrundete Spezialbibliothek, ein Lesezirkel mit eigenen Raumlichkeiten und eigener Sammlung in Den Haag und eine der großten Privatbibliotheken in den Niederlanden, deren Mitgliedschaft lange Zeit auf Frauen beschrankt war.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Damesleesmuseum"
}
|
c-418
|
Wilfried Nancy (* 9. April 1977 in Le Havre) ist ein ehemaliger franzosischer Fußballspieler und heutiger -trainer. Aktuell ist er Trainer der Columbus Crew in der Major League Soccer, mit der er im Dezember 2023 die Meisterschaft gewinnen konnte. Er hat neben der franzosischen auch die kanadische Staatsburgerschaft.
Karriere als Spieler Ab 1991 spielte Nancy in der Jugend des SC Toulon, fur den er am 16. April 1997 im Spiel gegen den FC Martigues auch zu seinem ersten Profieinsatz in der Ligue 2 kam. Bis zum Ende der Saison 1997/98 kamen acht weitere Zweitligaeinsatze hinzu, jedoch stieg Toulon dann in die Division 3 ab. Anschließend spielte Nancy in verschiedenen unterklassigen Klubs in Frankreich. 2005 zog es ihn nach Kanada, wo er einen Englischkurs an der Universite du Quebec a Montreal belegte und eine Saison fur die Universitatsmannschaft Les Citadins spielte, welches seine letzte Station als Fußballspieler blieb.
Karriere als Trainer Schon ab 2002 war Nancy neben dem aktiven Sport auch als Jugendtrainer tatig, was 2006, nach dem Ende seiner Spielerkarriere, seine Haupttatigkeit wurde. Nach Engagements bei verschiedenen Schulmannschaften und Regionalauswahlen im Großraum Montreal war er ab 2011 mit wechselnden Zustandigkeiten als Trainer im neu gegrundeten Nachwuchsbereich von Montreal Impact tatig. Von 2016 bis Anfang 2021 war Nancy unter wechselnden Cheftrainern, unter anderem Remi Garde und Thierry Henry, Cotrainer des Profiteams in der MLS. Nachdem Henry Ende Februar 2021 aus personlichen Grunden zurucktrat, wurde Nancy Cheftrainer in Montreal. Zur gleichen Zeit anderte das Franchise seinen Namen von Montreal Impact zu Club de Foot Montreal, kurz CF Montreal. Gleich im ersten Jahr als Cheftrainer konnte Nancy die kanadische Meisterschaft mit Montreal feiern, in der MLS verpasste die Mannschaft allerdings die Play-offs. Im sehr erfolgreichen zweiten Jahr wurde in der Regular Season der zweite Platz in der Eastern Conference und in den Play-offs die Runde der letzten acht erreicht. Anschließend wechselte Nancy ligaintern zur Columbus Crew. In seiner ersten Saison dort erreichte Nancys Team in der Regular Season einen guten dritten Platz in der Eastern Conference. In den anschließenden Play-offs gelang es der Mannschaft nach Siegen uber Atlanta United, Orlando City SC und den FC Cincinnati ins Finale einzuziehen, wo der Titelverteidiger Los Angeles FC mit 2:1 bezwungen werden konnte. Mit dem Gewinn des MLS Cup 2023 wurde Nancy zum ersten Schwarzen Meistertrainer der MLS. Auch im Jahr 2024 spielte die Crew unter Nancy sehr erfolgreichen Fußball. Die Finals um den CONCACAF Champions Cup und den Campeones Cup wurden knapp gegen die mexikanischen Spitzenteams CF Pachuca und Club America verloren, im Leagues Cup allerdings gelang es durch einen 3:1-Finalsieg gegen den Los Angeles FC auch 2024 einen Titel zu gewinnen. In der MLS beendete Nancy's Team die Regular Season auf einem guten zweiten Platz hinter Inter Miami. In den Play-offs schied das Team aber uberraschend gegen die New York Red Bulls aus. Im November 2024 wurde Nancy mit dem Coach of the Year Award der MLS ausgezeichnet.
Titel und Auszeichnungen = Als Trainer =
Canadian Championship
2021
MLS Cup
2023
Leagues Cup
2024
= Individuell =
MLS Sigi Schmid Coach of the Year Award
2024
Privatleben Wilfried Nancy wurde in Le Havre geboren. Sein Vater kam aus Guadeloupe, seine Mutter hat Vorfahren im Senegal und auf den Kapverden. Er ist mit einer Kanadierin haitianischer Herkunft verheiratet, mit der er zwei gemeinsame Kinder hat.
Weblinks Wilfried Nancy in der Datenbank von weltfussball.de
Wilfried Nancy in der Datenbank von transfermarkt.de
Einzelnachweise
|
Wilfried Nancy (* 9. April 1977 in Le Havre) ist ein ehemaliger franzosischer Fußballspieler und heutiger -trainer. Aktuell ist er Trainer der Columbus Crew in der Major League Soccer, mit der er im Dezember 2023 die Meisterschaft gewinnen konnte. Er hat neben der franzosischen auch die kanadische Staatsburgerschaft.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_Nancy"
}
|
c-419
|
Das Orca-Becken, ein im nordlichen Golf von Mexiko liegendes Tiefseebecken, ist das großte bekannte Meeresboden-Solebecken der Welt.
Geographie und Entdeckung Das Orca-Becken ist ein mittelsteil abfallendes und geschichtetes Tiefseebecken, das etwa 300 km sudwestlich der Mundung des Mississippi am Kontinentalhang von Louisiana liegt.
Das in den fruhen 1960er Jahren von Shell entdeckte und 1973 sowie im November 1975 auf Expeditionen des Forschungsschiffs R. V. Gyre erstmals erforschte Becken ist einzigartig in diesem Gebiet, da es ein großes Unterwasser-Solebecken mit einer anoxischen Salzsole enthalt. Das Becken ist (ellen-)bogenformig, etwa 25 km lang und 6 km breit und besteht aus zwei Teilbecken, getrennt durch einen dazwischenliegenden Sattel. Es hat eine Flache von ca. 123 km2, liegt 2.400 m unter der Meeresoberflache und ist selbst bis zu 220 m tief. Es hat ein Volumen von 13,3 km3 und ist somit das großte bekannte Meeresboden-Solebecken der Welt (Stand Februar 2016).
Salzgehalt Der hohe Salzgehalt im Wasser des Orca-Beckens ist das Ergebnis einer Auflosung von etwa 3,62 Milliarden Tonnen des darunter liegenden Louann-Salzes aus dem Jura. Das Becken verdankt seine Form der fortschreitenden Salztektonik (Halokinese) und ist von Salzdiapiren umgeben.
Gashydrat In einer Reihe von Bohrkernen wurden Gashydrate (Methanclathrat) nachgewiesen, die wahrend des Tiefseebohrprogramms (englisch Deep Sea Drilling Project, DSDP) im Orca-Becken gesammelt wurden. Die Bohrkerne wurden aus einer Wassertiefe von 2412 m von den Bohrlochern 618 und 618A geborgen, wobei der erste Nachweis von Gashydrat in Bohrloch 618 erfolgte. Hydrate wurden auch im oberen Abschnitt von Bohrkern 618-4 im Bereich von 26 m unter dem Meeresboden in grauem Schlamm beobachtet und bestanden aus weißen Kristallen mit einem Durchmesser von einigen Millimetern. In Bohrloch 618A wurden Gashydrate sowohl in den Kernen 618A-2 als auch 618-3 im Bereich von 19-37 m unter dem Meeresboden beobachtet, wobei die Hydrate bei 618A-3 im gesamten Kern verteilt waren. Die Hydrate hatten einen Durchmesser von einigen bis moglicherweise zehn Millimetern und waren weiß.
Die vorgefundenen geringen δ13C-Werte deuten auf einen biogenen Ursprung der Hydrate hin. Es wurde auch festgestellt, dass einige der Hydrate offenbar in den Sandschichten der Bohrkerne vorkamen. Im Gegensatz zu anderen Gashydratvorkommen im Golf von Mexiko wurde das Gashydrat innerhalb des Beckens und nicht an seinem zerklufteten und verformten Rand gefunden. Außerdem wurde festgestellt, dass die Tiefe des Gashydratvorkommens mit dem Vorhandensein von schwarzem organischem und/oder pyrithaltigem Schlamm ubereinstimmt.
Bedeutung des Orca-Beckens als Studienstandort Das Orca-Becken ist wichtig fur das Verstandnis der glazialen und deglazialen Veranderungen, einschließlich der Geschichte der Schmelzwasserstrome des Laurentidischen Eisschilds, die sich auf Nordamerika und den Golf von Mexiko ausgewirkt haben.
Die Sedimente, die das Orca-Becken fullen, enthalten eine wichtige Aufzeichnung der Palaoumwelt und der Palao-Ozeanologie des Kontinentalhangs von Louisiana sudlich des Mississippi-Deltas fur mindestens die letzten 25.000 Jahre. Aufgrund der Lage des Beckens wurden im Sediment auch die Auswirkungen und die Chronologie der Schmelzwasserfluten aufgezeichnet, die wahrend des letzten Deglazials den Mississippi hinunter in den Golf von Mexiko flossen; darunter planktonische Foraminiferen, stabile Isotopenverhaltnisse, Veranderungen der Sedimenttextur (Korngroße) und Veranderungen bei den Nannofossilien.
Daruber hinaus gab es die einzige dokumentierte Gashydratgewinnung im Golf von Mexiko aus einer Tiefe von mehr als 20 m unter dem Meeresboden im Orca-Becken an der DSDP-Stelle 618.
Die Gewinnung von biogenem Methanhydrat aus dem Orca-Becken ist auch wegen des hohen Salzgehalts von Bedeutung, der an der Sediment-Wasser-Grenzflache fast funfmal so hoch ist wie im Roten Meer (mit Salzgehalten von 240–260 PSU). Die gefundenen Werte nahmen mit zunehmender Tiefe rasch ab, bis sie ab etwa 30 m unter dem Meeresboden konstant wurden (dann 48–56 PSU).
Die an beiden Stellen des Orca-Beckens gefundenen Hydrate lagen in Tiefen von 26–37 m unter dem Meeresboden und gelten als physikalischer Beweis fur den gesunkenen Salzgehalt.
Das Orca-Becken bietet ein ideales Umfeld, um den Verbleib von organischen Stoffen, Nahrstoffen und Metallen zu untersuchen.
Die Analyse des Verbrauchs oder der Produktion von gelosten Stoffen gibt Aufschluss daruber, wie sich diese Stoffe mit dem Meerwasser vermischen.
In einer Tiefe von 2.220 m bis 2.245 m spiegelt die Verteilung von Ammonium die konservative Vermischung dieses Stoffes mit dem Meerwasser wider. In einer Tiefe von 2200 m ist die Denitrifikation stark eingeschrankt, da es am dafur notigen Nitrat fehlt. Umgekehrt sind dort Mangan- und Eisenoxide starker vorhanden, was zu einer starkeren Prasenz von eisen- und manganreduzierenden Bakterien fuhrt.
Ganz allgemein bedingt die unterschiedliche Prasenz von Stoffen in den verschiedenen Tiefen des Orca-Beckens, welche heterotrophen Populationen jeweils vorhanden sind.
Unterhalb einer Tiefe von 2.225 Metern ist vermehrt gelostes Sulfid nachweisbar, was darauf hindeutet, dass dort die bakterielle Sulfatreduktion die wichtigste Methode zum Abbau organischer Stoffe ist.
Siehe auch Meromiktisches Gewasser (Gewasser ohne vertikale Wasserzirkulation)
Weblinks Carney, Bob, Lakes Within Oceans, Ocean Explorer
Deep Sea Drilling Program Reports and Publications – Volume 96
Joye Research Group (joyelab.org):
The Orca Basin. 20. November 2010 (englisch).
Treasured moments. 19. April 2014 (englisch).
teskelab: November 18, Into Orca Basin: Dive 4647. Mit Tiefsee-U-Boot Alvin. Blog auf deepseedrilling.org vom 19. November 2010.
Sample records for orca basin brine. Auf: science.gov – Your Gateway to U.S. Federal Science.
R. E. Tompkins, L. E. Shephard: Orca Basin: Depositional processes, geotechnical properties and clay mineralogy of Holocene sediments within an anoxic hypersaline basin, northwest Gulf of Mexico. In: Marine Geology, Band 33, Nr. 3–4, November 1979, S. 221–238; doi:10.1016/0025-3227(79)90082-3 (englisch).
Sunit Kumar Addy, E. William Behrens: Time of accumulation of hypersaline anoxic brine in Orca basin (Gulf of Mexico). In: Marine Geology, Band 37, Nr. 3–4, September 1980, S. 241–252; doi:10.1016/0025-3227(80)90104-8 (englisch).
Nicolas Tribovillard, Viviane Bout-Roumazeilles, Thomas Algeo, Timothy W. Lyons, Thomas Sionneau, Jean Carlos Montero-Serrano, Armelle Riboulleau, Francois Baudin: Paleodepositional conditions in the Orca Basin as inferred from organic matter and trace metal contents. In: Marine Geology, Band 254, Nr. 1–2, 21. August 2008, S. 62–72; doi:10.1016/j.margeo.2008.04.016 (englisch).
Anmerkungen Einzelnachweise
|
Das Orca-Becken, ein im nordlichen Golf von Mexiko liegendes Tiefseebecken, ist das großte bekannte Meeresboden-Solebecken der Welt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Orca-Becken"
}
|
c-420
|
Miranda Clare Wilson (* 1979 in Wellington, Neuseeland) ist eine neuseelandisch-US-amerikanische Cellistin und Musikpadagogin. Sie lehrt und forscht seit 2010 als Professorin fur Cello an der Universitat Idaho.
Familie und Ausbildung Miranda Wilson wuchs auf in Wellington, Neuseeland. Bereits ihre Eltern waren als Musiker tatig; die Mutter als Pianistin und der Vater als Opernsanger. Wilson erhielt ihren ersten Cellounterricht bei Judy Hyatt in Wellington; ihr Studium und die weitere musikalische Ausbildung fuhrten sie u. a. nach London und in die USA. Zu ihren spateren Lehrerinnen und Lehrern zahlten Rolf Gjelsten und die Mitglieder des New Zealand String Quartet, Natalia Pavlutskaya, Alexander Ivashkin, Phyllis Young, Andras Fejer und die Mitglieder des Takacs-Quartetts sowie Judith Glyde.
Sie erlangte einen Bachelor of Music von der University of Canterbury in Neuseeland (1999), einen Master of Music vom Goldsmiths College der University of London (2000) und den Doctor of Musical Arts der University of Texas at Austin mit einer Arbeit uber die Cellosonate von Dmitri Schostakowitsch und deren Bezuge zum sozialistischen Realismus (2005). In ihrer Ausbildung wurde sie u. a. als Stipendiatin im Fulbright-Programm, von der New Zealand Federation of Graduate Women, und mit einem British-Airways-Reisestipendium gefordert.
Wilson lebt heute in Moscow, Idaho, und ist mit dem Trompeter Sean Butterfield verheiratet. Das Paar hat eine gemeinsame Tochter.
Musikalischer und beruflicher Werdegang Mit 16 Jahren debutierte sie als Solistin mit dem Elgar-Cellokonzert, begleitet vom Orchester Wellington. Als Cellistin war sie aber uberwiegend kammermusikalisch aktiv und war 2006 Grundungsmitglied des Tasman String Quartet. Das neuseelandische Streichquartett hatte weltweite Auftritte und gewann Preise und Auszeichnungen bei mehreren Kammermusikwettbewerben. Wilson und ihr Quartett wurden als Artists in Residence u. a. beim Aspen Music Festival and School, der Auburn University in Alabama und der University of Colorado Boulder gefordert und studierten beim Takacs-Quartett.
2010 verließ Wilson das Quartett, um eine Professur an der Lionel Hampton School of Music der Universitat Idaho zu ubernehmen. Wilson unterrichtet dort Cellospiel, Kammermusik und Musiktheorie. Sie forscht und publiziert insbesondere zu praktischen Fragen und zum Repertoire des Cellospiels sowie zur Padagogik der Streichinstrumentenunterrichts. Sie ist außerdem Grunderin und Direktorin der University of Idaho Music Preparatory Division und kunstlerische Leiterin des von der Universitat Idaho ausgerichteten Idaho Bach Festivals.
Wilson spielt neben einem „klassischen“ Cello aus Holz auch zwei Celli aus Carbonfasern, eines davon ist ein Violoncello piccolo mit funf Saiten, d. h. einer zusatzlichen e-Saite, welches fur die 6. Solo-Suite fur Violoncello von Johann Sebastian Bach benotigt wird und das speziell fur Wilson angefertigt wurde. Von ihrem Projekt, alle sechs Solo-Suiten von Johann Sebastian Bach neu zu erarbeiten und hintereinander in einem Konzert aufzufuhren, berichtet sie in ihrem 2022 erschienenen, viel beachteten Buch The Well-Tempered Cello: Life with Bach’s Cello Suites.
Aufnahmen Sofia Gubaidulina, “Quaternion” for four Cellos. Alexander Ivashkin, Natalia Pavlutskaya, Rachel Johnston, Miranda Wilson, auf Gubaidulina: Works for Cello, Colchester, Essex, United Kingdom: Chandos Records, CHAN 9958, 2001.
Wondrous Love: Works for Solo Cello: Ernest Bloch, Suites No. 1, 2 & 3; Daniel Bukvich, Variations on “What Wondrous Love is This?” and Phantasy on a Theme of Purcell. Albany, New York: Albany Records, TROY 1534, 2014.
Edouard Lalo, Cellosonate in a-Moll, Miranda Wilson (Cello) & Rachel Thomson (Piano), Aufnahme vom 15. Juli 2018, Radio New Zealand.
Frederic Chopin, Cellosonate in g-Moll, op. 65, Miranda Wilson (Cello) & Rachel Thomson (Piano), Aufnahme vom 15. Juli 2018, Radio New Zealand.
Louise Farrenc, Cellosonate in B-Dur, op. 46, Miranda Wilson (Cello) & Rachel Thomson (Piano), Aufnahme vom 15. Juli 2018, Radio New Zealand.
Publikationen Shostakovich's Cello sonata: its genesis related to socialist realism, Treatise for the Degree of Doctor of Musical Arts, The University of Texas at Austin ProQuest Dissertations Publishing, 2005.
Cello Practice, Cello Performance, Lanham: Rowman & Littlefield Publishers, 2015, ISBN 978-1-4422-4676-8.
The Well-Tempered Cello: Life with Bach’s Cello Suites, Austin: Fairhaven Press, 2022, ISBN 978-1-62992-046-7.
(mit Dijana Ihas und Gaelen McCormick) Teaching Violin, Viola, Cello, and Double Bass Historical and Modern Pedagogical Practices, New York: Routledge, 2023, ISBN 978-0-367-72475-7.
Notes for Cellists: A Guide to the Repertoire, Oxford: Oxford University Press, 2024, ISBN 9780197623732.
Weblinks Informationen zu Miranda Wilson bei der Universitat Idaho
Private Homepage von Miranda Wilson
Miranda Wilson bei AllMusic (englisch)
Miranda Wilson bei Discogs
Einzelnachweise
|
Miranda Clare Wilson (* 1979 in Wellington, Neuseeland) ist eine neuseelandisch-US-amerikanische Cellistin und Musikpadagogin. Sie lehrt und forscht seit 2010 als Professorin fur Cello an der Universitat Idaho.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Miranda_Wilson_(Cellistin)"
}
|
c-421
|
Das Radio Neutrino Observatory Greenland (RNO-G) ist ein Neutrinoobservatorium fur extrem energiereiche kosmische Neutrinos (im Bereich 1016 bis 1020 eV), das Radioantennen zum Nachweis nutzt. Es wird seit 2021 auf dem Gronlandischen Eisschild bei der Summit Station aufgebaut. Von insgesamt 35 geplanten Antennenstationen sind seit 2022 sieben in Betrieb und liefern erste Messungen. Die Fertigstellung ist bis 2026 geplant.
Zielsetzung Neutrinos sind Elementarteilchen, die lediglich der schwachen Wechselwirkung unterliegen und daher weite Strecken unbeeinflusst zurucklegen konnen, weil sie nicht auf elektromagnetische Felder reagieren und auch mit Materieansammlungen nur selten reagieren. Deshalb benotigt man extrem große Detektionsvolumina, um uberhaupt Reaktionen beobachten zu konnen. Andererseits sind Neutrinos wegen ihrer geringen Wechselwirkung mit anderen Teilchen geeignet, um Orte und Vorgange im All zu beobachten, die anders nicht oder schwer zuganglich sind – zum Beispiel das Innere von Sternexplosionen, aktiven galaktischen Kernen, Blazaren und Gammablitzen.
RNO-G verwendet, wie das etwas altere, in der Antarktis befindliche Neutrinoobservatorium IceCube, ein großes Detektorvolumen im Eis, um durch Neutrinos ausgeloste Reaktionen zu beobachten. Wenn die Neutrinos mit dem Eis wechselwirken, entstehen Partikelkaskaden, die Lichtblitze und Radioimpulse auslosen. Wahrend IceCube mit optischen Sensoren die Lichtblitze auffangt, beobachtet RNO-G die Radioimpulse. Diese entstehen durch den Askaryan-Effekt. RNO-G zielt auf den Nachweis von extrem energiereichen kosmischen Neutrinos mit Energien oberhalb von 1015 eV. Damit sollen Erkenntnisse uber bisher noch unbekannte Quellen der kosmischen Strahlung und Vorgange bei der Ausbreitung dieser Teilchen gewonnen werden. Das RNO-G erganzt damit die Multimessenger-Astronomie um einen Kanal im hochenergetischen Bereich. Nach der erfolgreichen optischen Detektion kosmischer Neutrinos im Energiebereich bis 1015 eV durch IceCube besteht wissenschaftliches Interesse am Nachweis der noch hoheren Energiebereiche, oberhalb von 1016 eV. Da solche extrem energiereichen Neutrinos sehr selten sind, benotigt man dafur ein noch großeres Detektorvolumen. Dies ware mit den in IceCube verwendeten Photosensoren zu aufwandig und teuer. Stattdessen werden daher Radioantennen eingesetzt. Da die durch Neutrinos erzeugten Radiosignale im Eis eine Reichweite von deutlich mehr als 500 Metern haben, konnen relativ wenige, in großen Abstanden gesetzte Detektoren genutzt werden und so ein großes Volumen mit wenigen Sensoren abgedeckt werden.
Diese Messmethode wurde bisher in Designstudien und Vorversuchen und kleinen Arrays namens ARA, ARIANNA, ANITA und RICE erprobt und erwies sich als machbar. RNO-G ist die erste große, produktive Implementierung und dient sowohl fur Messungen als auch zur weiteren Erprobung und Entwicklung der Methodik, die spater beim Ausbau von IceCube zu IceCube-Gen2 (Generation 2) eingesetzt werden soll.
Technik RNO-G wird im Endausbau aus einem Messfeld von 35 Radioantennen-Stationen im Abstand von je 1,25 km bestehen. Die Sensorik reicht bis in 100 m Tiefe. Die Stationen werden in mehreren Chargen jeweils im arktischen Sommer aufgebaut. Die ersten drei wurden 2021 errichtet und sind mit den gronlandischsprachigen Wortern fur arktische Tiere benannt: Die erste Station heißt Amaroq (Polarwolf), die folgenden Nanoq (Eisbar) und Avinngaq (Lemming). 2022 wurden vier weitere Stationen errichtet: Terianniaq (Polarfuchs), Ukaleq (Polarhase), Ukaliatsiaq (Hermelin) und Qappik (Vielfraß).
Alle Stationen operieren autark und sind mittels LTE vernetzt. Ihre Energieversorgung erfolgt uber Solarpaneele und teilweise uber speziell entwickelte Windturbinen. Messungen erfolgen in einem Sommermodus und einem energiesparenden Wintermodus, wobei dann die nur mit Solarpaneelen ausgestatteten Stationen einige Monate keine Messungen durchfuhren konnen.
Jede der Stationen besteht aus drei im Eis verlegten Strangen mit mehreren Detektoren und einer Oberflachenkomponente. Die verschiedenen Strange sind auf die horizontale und vertikale Polarisationskomponente des Signals empfindlich. Mithilfe der Oberflachenkomponente konnen Signale identifiziert werden, die kunstlich erzeugt (zum Beispiel durch Schneemobile) oder durch Luftschauer induziert sind. Sie mussen von den im Eis durch Neutrinoreaktionen ausgelosten Signalen unterschieden werden. Zusammen mit Computersimulationen konnen dann aus den Signalen Informationen zur ursprunglichen Richtung und Energie der Neutrinos gewonnen werden.
Kooperation RNO-G wird von einer internationalen Kooperation europaischer und US-amerikanischer Universitaten und Forschungsinstitute betrieben. Aufbau und Betrieb werden von Anna Nelles (DESY), Nick van Eijndhoven (Vrije Universiteit Brussel) und Abigail Vieregg (University of Chicago) geleitet. Weitere beteiligte Institutionen der RNO-G Collaboration sind unter anderem Universite libre de Bruxelles, Inter-University Institute For High Energies (Brussel), Universitat Gent, University of Kansas, Ohio State University, Penn State University und University of Wisconsin-Madison.
Das DESY tragt zur Software-Entwicklung, der Kalibration und der Datenanalyse fur RNO-G bei. Es hostet das Daten- und Simulationszentrum und stellt Instrumentenhardware her und testet sie. An der Friedrich-Alexander-Universitat Erlangen-Nurnberg wird ebenfalls seit 2020 Antennenhardware entwickelt.
Weblinks Offizielle Website RNO-G.org, englisch
RNO-G bei inspireHEP (High Energy Physics): Kurzbeschreibung und Liste verbundener Publikationen, englisch
Seite am DESY, englisch
Einzelnachweise
|
Das Radio Neutrino Observatory Greenland (RNO-G) ist ein Neutrinoobservatorium fur extrem energiereiche kosmische Neutrinos (im Bereich 1016 bis 1020 eV), das Radioantennen zum Nachweis nutzt. Es wird seit 2021 auf dem Gronlandischen Eisschild bei der Summit Station aufgebaut. Von insgesamt 35 geplanten Antennenstationen sind seit 2022 sieben in Betrieb und liefern erste Messungen. Die Fertigstellung ist bis 2026 geplant.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Radio_Neutrino_Observatory_Greenland"
}
|
c-422
|
Thomas Matthew McCook (* 3. Marz 1927 in Havanna; † 5. Mai 1998 in Atlanta) war ein jamaikanischer Tenorsaxophonist des First-Wave Ska, Rocksteady, Early Reggae und des Dub. McCook wurde als Mitbegrunder, Namensgeber und Leiter der Skatalites bekannt. Nach deren Auflosung 1965 grundete er mit Tommy McCook & The Supersonics seine eigene Band und wirkte als Sessionmusiker fur Duke Reid und spater Bunny Lee an unzahligen Schallplatten mit.
Leben & Wirken Thomas Matthew McCook war das dritte Kind von Alfred Alexander McCook, einem ehemaligen Polizisten, und Ivy Ann Hutchinson McCook († 8. Oktober 1965), verheiratet seit dem 30. Juni 1921. Die Familie lebte auf Kuba, kehrte aber im Februar 1931 nach Jamaika zuruck.
Tommy McCook wurde wie auch seine Kollegen Rolando Alphonso und Rico Rodriguez in der kubanischen Hauptstadt Havanna geboren und war daher von Kindheit an mit karibischen Rhythmen vertraut.
Sowohl Tommy als auch sein alterer Bruder Frank McCook besuchten die Alpha Boys Catholic School in Kingston, die viel Wert auf musikalische Fruherziehung legte. Mit elf Jahren lernte Tommy das Saxophon im Rahmen eines Schulorchesters spielen und Noten lesen. Die Kinder spielten hauptsachlich klassische Musik und Marsche, wurden aber auch dazu ermutigt, zeitgenossische Stucke aus dem Radio nachzuspielen. Tommy begeisterte sich fur Jazz und vor allem fur Coleman Hawkins, Lester Young und Ben Webster. Zu McCooks Schulkameraden gehorten mit Johnny „Dizzy“ Moore, Lester Sterling und Don Drummond bereits vier spatere Mitglieder der Skatalites.
Nach der Schule schloss er sich Eric Deans’ Orchester, der Band eines Musiklehrers, an, dem zeitweise auch Baba Brooks, Don Drummond, Ernest Ranglin und Roland Alphonso angehorten. Zusammen absolvierte man Auftritte vor gehobenem Publikum. Im Jahr 1954 verließ McCook Jamaika und nahm ein Engagement im Zanzibar Club in Nassau auf den Bahamas an. Er kehrte erst 1962 nach Jamaika zuruck, wo sich der Trend inzwischen vom Jazz zum aufkommenden Ska verschoben hatte.
Auf Initiative von Schlagzeuger Lloyd Knibb grundete Tommy McCook seine eigene Gruppe, die zuerst als Studioband tatig war. Erst als man sich als feste Gruppe etabliert hatte, brauchte man einen originellen Namen. Man nannte sich zuerst „The Satellites“, und auf McCooks Idee hin dann „The Skatalites“. Inspiration hierfur war das Space Race, das mit den Starts der Satelliten Sputnik 1 (1957) und Explorer 1 (1958) begonnen hatte. Ihren ersten offentlichen Auftritt hatten die Skatalites am 16. Mai 1964 im Hit-Hat-Club in der Hannah Street in Rae Town (Kingston). Die Skatalites spielten als Sessionband sowohl fur Coxsone Dodd (Studio One Records) als auch fur dessen Konkurrenten Duke Reid (Treasure Isle Records) und wirkten unter anderem an der Single Simmer Down von The Wailers mit. Fur den Musikproduzenten Randy Chin nahmen McCook & The Skatalites mit Collie Bud 1964 einen der fruhesten Titel auf, der den Marihuana-Konsum auf Jamaika benannte.
Mitte 1965, als Posaunist Don Drummond wegen Mordes im Gefangnis einsaß, warb Coxsone Teile der Skatalites ab, die daraufhin als Roland Alphonso & The Soul Brothers auftraten. McCook wechselte zu Treasure und grundete Tommy McCook & The Supersonics. Mitglieder der Band waren zeitweise Lynn Taitt, Ernest Brown, Hugh Malcolm, Hux Brown, Jackie Jackson, Winston Wright und Gladstone Anderson. Unter anderem begleiteten sie den Sanger Alton Ellis bei seinem Hit (Get Ready) Rock Steady und waren auch an der Transformation vom Ska zum Rocksteady beteiligt. In den Siebzigerjahren veroffentlichte McCook einige Dub-Stucke.
Tommy McCook starb im Mai 1998 im Alter von 71 Jahren an einer Lungenentzundung. Er hinterließ seine Ehefrau Iris, funf Tochter, drei Sohne und einen Stiefsohn. Die Beerdigung fand in der National-Arena in Kingston mit hunderten Trauergasten statt.
Auszeichnungen Am 20. Oktober 1975 erhielt Tommy McCook den Order of Distinction, einen jamaikanischen Ehrenorden.
Diskografie (Auswahl) = Singles =
1963: Tommy McCook: Peanut Vendor / Shenley Duffas: People’s Business
1964: Roland Alphonso & The Ska-ta-Lites: Well Charge / Tommy McCook & The Ska-Ta-Lites: Sauvitt (Muzik City)
1964: Lee „King“ Perry: Help The Weak / Tommy McCook: Exodus (Studio 1)
1964: Tommy McCook & His Skatalites: Silver Dollar / My Business (Treasure Isle)
1965: Tommy McCook & The Super Sonics: Ska-Jam / Smooth Sailing
1966: Alton Ellis & The Flames: Rock Steady / Tommy McCook & The Supersonics Band: Wall Street Shuffle (Trojan Records)
1966: Alton Ellis & The Flames: I Have Got a Date / Lynn Taitt mit Tommy McCook & The Supersonics: Yellow Basket
1969: Derrick Morgan: Come What May / Tommy McCook: Tommy’s Hide Away
1971: Alton Ellis: Black Man’s Word / Tommy McCook & The Soul Syndicate: Black Man’s Version
1972: Tommy McCook: Cool Stick / Cannon Ball: Diversion (Wind Records)
1974: Tommy McCook: Tribute to Muhammad Ali / Muhammed Ali (Micron)
= Alben =
1974: The Sannic Sounds of Tommy McCook
1976: Reggae in Jazz (Eve Music)
1998: The Authentic Ska Sound of Tommy McCook (Moon Ska)
2003: Blazing Horns / Tenor In Roots (Blood & Fire)
Mit The Skatalites
1969: The Skatalite! (Treasure Isle)
1999: Tribute to Tommy: The Best of Tommy McCook and The Skatalites (Heartbeat Records)
Mit Herbie Mann
1973: Reggae (Atlantic Records, 1973)
1973: Reggae II (Atlantic, 1976)
Mit Alton Ellis
1974: Mr Soul of Jamaica (Treasure Isle)
Mit The Aggrovators
1975: Brass Rockers: Bunny Lee & King Tubby Present Tommy McCook and The Aggrovators (Striker Lee)
1975: Cookin’ (Horse/Trojan)
1975: King Tubby Meets The Aggrovators at Dub Station (Live and Love)
1975: Show Case (Culture Press)
1977: Disco Rockers (aka Hot Lava) (Dynamic Sound)
1992: Instrumental Reggae (RAS)
Filmografie Rockers, Regie: Ted Bafaloukos, Jamaika 1978. (Tommy McCook spielt sich selbst.)
Literatur Heather Augustyn, Adam Reeves: Alpha Boys’ School: Cradle of Jamaican Music. Half Pint Press, 2017, ISBN 978-0692980736, S. 87 ff.
Kevin O’Brien Chang, Wayne Chen: Reggae Routes. The Story of Jamaican Music. Temple University Press, 1998.
Weblinks Tommy McCook bei 45cat.com (englisch)
Tommy McCook bei AllMusic (englisch)
Tommy McCook bei Discogs, abgerufen am 16. Dezember 2023.
Tommy McCook bei IMDb
Tommy McCook bei Bandcamp
Musikbeispiele
Tommy McCook & The Skatalites: Collie Bud auf YouTube
Winston Wright mit Tommy McCook & The Supersonics: Psychedelic Reggae auf YouTube
Tommy McCook & The Upsetters: Cloak & Dagger + Sharp Razor (10″) auf YouTube
Tommy McCook: Determination Skank auf YouTube
Einzelnachweise
|
Thomas Matthew McCook (* 3. Marz 1927 in Havanna; † 5. Mai 1998 in Atlanta) war ein jamaikanischer Tenorsaxophonist des First-Wave Ska, Rocksteady, Early Reggae und des Dub. McCook wurde als Mitbegrunder, Namensgeber und Leiter der Skatalites bekannt. Nach deren Auflosung 1965 grundete er mit Tommy McCook & The Supersonics seine eigene Band und wirkte als Sessionmusiker fur Duke Reid und spater Bunny Lee an unzahligen Schallplatten mit.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Tommy_McCook"
}
|
c-423
|
Die Justitia des Kunstlers Bodo Kampmann ist eine aus Kupfer getriebene, uberlebensgroße Statue, die dieser 1956 im Auftrag von Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt, schuf. Die allegorische Darstellung der Gottin der Gerechtigkeit wurde am 8. Marz 1956 an einer Außenwand des Neubaus des Landgerichts Braunschweig angebracht.
Beschreibung Die – typisch fur Kampmanns Arbeiten – in Form und Ausdruck stark reduzierte Statue ist 3 m hoch, maximal 1,70 m breit und wurde in mehreren Teilen aus 1,5 mm Kupferblech getrieben und anschließend zusammengefugt. Das der Witterung ausgesetzte Kupfer hat eine ungleichmaßige Patina.
Ungewohnlich an seiner Interpretation der Justitia ist, dass er seine Justitia, anders als seit der Antike, vor allem aber seit dem Mittelalter ublich, ohne ihre klassischen Attribute Augenbinde, Waage und Richtschwert darstellt. Stattdessen blickt die Figur den Betrachter ausdruckslos an, wobei sie zwei kleine, aufrecht stehende Menschen – gleich einer Waage – in den Handen ihrer nach beiden Seiten abgewinkelten Arme halt. Auch die Menschenabbilder, von denen eines die Arme am Korper hangen lasst, wahrend das andere, vom Betrachter aus links stehend, einen Arm hinter dem Korper verschrankt, sind stark stilisiert, augen- und ausdrucklos. Kampmann stellt seine Justitia als die das Geschick des Menschen Abwagende dar.
Im Gegensatz zur ublichen Bildsprache, die Augenbinde zur Verdeutlichung, Recht ohne Ansehen der Person, also unparteiisch zu sprechen, die Waage als Symbol sorgfaltiger Abwagung der Sachlage und schließlich das (Richt-)Schwert fur die notige Harte und Durchsetzungskraft des Rechts, hatte Kampmann auf all dies verzichtet und seine Justitia als empathische, schlichtende Institution interpretiert.
In einem Artikel, den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1957, also relativ bald nach der Fertigstellung des Kampmannschen Kunstwerks, in einer Zeitschrift veroffentlichte, beschrieb er die Skulptur folgendermaßen:
Geschichte Fritz Bauer war seit 1949 in Braunschweig zunachst Landgerichtsdirektor des Landgerichts Braunschweig und seit 1950 Generalstaatsanwalt am Oberlandesgericht Braunschweig. Bauer wurde innerhalb weniger Jahre zunachst in Deutschland, dann weltweit als Strafanklager und brillanter Jurist bekannt. 1952 vertrat er die Anklage im Remer-Prozess, der in Braunschweig stattfand. Weltweit bekannt wurde er einige Jahre spater als Anklagevertreter in den Auschwitzprozessen und als eine der wichtigsten Personen bei der weltweiten Suche nach SS-Obersturmbannfuhrer Adolf Eichmann, Leiter des Eichmann- oder Judenreferats.
Anfang der 1950er Jahre entstand in der Braunschweiger Innenstadt, nur wenige Meter gegenuber dem Dom auf dessen Sudseite, der Neubau fur die Generalstaatsanwaltschaft.
Bodo Kampmann war 1954 einem Ruf der Werkkunstschule Braunschweig (die spatere Hochschule fur Bildende Kunste) gefolgt und hatte die Professur fur Metallplastik und Design angenommen.
Kampmann arbeitete zusammen mit seinem Assistenten Burchard Warnecke an der Statue. Sowohl Justitia als auch die beiden Menschen sind hohl und deshalb innen mit Versteifungen versehen, um ihnen Stabilitat zu geben. Wahrend der Arbeiten kam Fritz Bauer gelegentlich ins Atelier, um mit Kampmann uber die kunstlerische Ausgestaltung zu diskutieren.
= Rezeption =
Unmittelbar nach der Anbringung der Kampmann-Justitia gab es vehemente Emporung, die sich vor allem in Leserbriefen an die Braunschweiger Zeitung entlud. Darin außerten Kritiker in erster Linie Unverstandnis angesichts der „modernen“ und „unweiblichen“ Darstellung.
= Umsetzung =
Kampmanns Skulptur wurde am 8. Marz 1956 in 10–12 m Hohe ursprunglich an der Westseite des neuen Landesgerichts montiert. Aufgrund der hohen Anbringung war sie in der Regel außerhalb des Sichtfeldes der Passanten und fand dadurch geringe Beachtung, was bereits damals in der Braunschweiger Zeitung bemangelt wurde.
Uber 50 Jahre spater wurde in Braunschweig intensiv daruber diskutiert, Leben und Wirken Fritz Bauers in der Stadt fur die Offentlichkeit deutlicher darzustellen. So entstand u. a. die Idee, die Plastik an anderer Stelle und in geringerer Hohe zu platzieren, damit sie besser sichtbar werde. Anfang November 2013 wurde Justitia schließlich von der West- auf die Nordseite und in geringer Hohe umgesetzt.
Die Wurde des Menschen ist unantastbar … Auf Initiative Fritz Bauers wurde wahrend seiner Amtszeit in Braunschweig auch am Eingang zum Landgericht der 1. Satz des 1. Absatzes von Artikel 1 des Grundgesetzes fur die Bundesrepublik Deutschland in leicht abgewandelter Form angebracht. Die Inschrift lautet:
Das Original aus Art. 1 Abs. 1 GG lautet geringfugig anders:
Literatur Fritz Bauer: Bodo Kampmanns Justitia. In: braunschweig. Berichte aus dem kulturellen Leben. Nr. 1/1957, Westermann, Braunschweig 1957, S. 28.
Gerd Biegel: Fritz Bauer und die „Justitia“ von Bodo Kampmann. In: Braunschweigische Heimat. 2014, Braunschweig, S. 23–25.
Regina Blume: Bodo Kampmann. In: Reinhard Bein, Arbeitskreis Andere Geschichte (Hrsg.): Braunschweiger Personlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Aus der Stadt Braunschweig und den ehemaligen braunschweigischen Landkreisen Blankenburg, Braunschweig, Gandersheim, Goslar, Helmstedt, Holzminden und Wolfenbuttel. Band 2, Doring, Braunschweig 2014, ISBN 978-3-925268-49-6, S. 120–125.
Heinz Gunter Halbeisen: Fritz Bauer. In: Reinhard Bein, Arbeitskreis Andere Geschichte (Hrsg.): Braunschweiger Personlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Aus der Stadt Braunschweig und den ehemaligen braunschweigischen Landkreisen Blankenburg, Braunschweig, Gandersheim, Goslar, Helmstedt, Holzminden und Wolfenbuttel. Band 2, Doring, Braunschweig 2014, ISBN 978-3-925268-49-6, S. 12–17.
Peter Lufft: Braunschweigs Plastiken im Stadtbild seit 1945. In: Kulturberichte. Nr. 6, Kulturamt der Stadt Braunschweig, Braunschweig 1989, S. 64–65.
Weblinks Gerd Biegel: „Demokratie braucht Demokraten – daher bin ich zuruckgekehrt“ auf der-loewe.info
Anmerkungen Einzelnachweise
|
Die Justitia des Kunstlers Bodo Kampmann ist eine aus Kupfer getriebene, uberlebensgroße Statue, die dieser 1956 im Auftrag von Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt, schuf. Die allegorische Darstellung der Gottin der Gerechtigkeit wurde am 8. Marz 1956 an einer Außenwand des Neubaus des Landgerichts Braunschweig angebracht.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Justitia_(Kampmann)"
}
|
c-424
|
Karl „Cannonball“ Bryan (eigentlich Karl Altamont Bryan; * 3. April 1937 in Kingston) ist ein jamaikanischer Saxophonist des First-Wave Ska, Rocksteady und des Early Reggae. Karl Bryan wirkte als Studiomusiker an unzahligen Aufnahmen mit und war auch Mitglied der wieder gegrundeten Skatalites. Sein Spitzname „Cannon“ ist eine Hommage an den Saxophonisten Cannonball Adderley.
Leben und Wirken Bereits in jungen Jahren interessierte sich Bryan fur Musik und begeisterte sich fur die Jazz-Saxophonisten Charlie Parker und John Coltrane. Die Familie war sehr arm, der Vater starb fruh. Das berechtigte ihn ab 1949 zum Besuch der Alpha Boys School, wo er unter der Leitung von Reuben Delgado das Spiel der Klarinette erlernte. Nach Abschluss der Schule 1953 spielte Bryan zunachst in den Marschkapellen von Polizei und Militar, gab diese Engagements jedoch zugunsten besser bezahlter Tanzmusik auf und wechselte von der Klarinette zum Saxophon. Im Jahr 1954 spielte er Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxophon im Stanley Headlam Orchestra.
Ab 1955 trat er fur sieben Jahre in verschiedenen Hotels auf und spielte Jazzstandards fur Touristen. Im Jahr 1962 war er an der Benefit Jazz Show im Regal Theater beteiligt, wo er mit den zukunftigen Skatalites Don Drummond, Roland Alphonso, Tommy McCook und Ernest Ranglin auftrat.
Ab Mitte der Sechzigerjahre spielte er als Sessionmusiker auf Aufnahmen von Tommy McCook & The Supersonics, The Soul Vendors, Derrick Harriott & The Crystalites und anderen. Als Studiomusiker nannte er sich wahlweise Carl Bryan, Cannon Ball oder King Cannon.
In den 1970er Jahren gehorte er mit Reuben Alexander und Billy Cooke zum Jamaica Workshop von Cecil Lloyd. Von 2004 bis 2007 tourte er als Mitglied der Skatalites.
Im Lauf seiner Karriere spielte Karl „Cannonball“ Bryan unter anderen mit Zoot Sims, Patti Labelle, Ben E. King, Sammy Davis Jr., Jackie Wilson, Johnny Nash und Bob Marley. Er machte Aufnahmen fur die Musikproduzenten Coxsone Dodd, Duke Reid, Derrick Harriott, Bunny Lee und weitere.
Diskografie (Auswahl) = Singles =
1965: Karl Bryan: Ska Is Here to Stay / Ezekiel Brown: Top of the World (7-inch-Vinyl, SEP Records)
1968: Jackie Mittoo: Napoleon Solo / Cannon Ball & The Soul Vendors: You Are My Everything (7-inch-Vinyl, Coxsone Records, CS 7050)
1969: Scorchers: Hold on Tight / Cannon Ball & Johnny Melody: Dildo Macka (7-inch-Promo, Matador)
1969: Karl Bryan & The Crystalites: Slippery / The Crystalites: Tonight (7-inch-Vinyl, Chrystal Records)
1970: Alton Ellis: Christmas Coming / Karl Bryan: Sunday Version (7-inch-Vinyl, Studio 1)
1971: Karl Bryan: LSD / Randy’s All Stars: LSD Version (7-inch-Promo, Randy’s)
1972: The Burning Spears: New Civilization / Karl Bryan & The Affrokats: Money Generator (7-inch-Vinyl, Iron Side)
1975: Cannonball: Square From Cuba (Reggae) / Square From Cuba Version (7-inch-Vinyl, Wild Flower)
1977: Karl Bryan: A House Is Not a Home / Soul Vendors: House Is Not a Dub (7-inch-Vinyl, Studio 1)
= Alben =
Reggae Girl (Big Shot, 1968)
A Cannonball Christmas (Melody Sweet Music, 2006)
Literatur Heather Augustyn, Adam Reeves: Alpha Boys’ School: Cradle of Jamaican Music. Half Pint Press, 2017, ISBN 978-0-692-98073-6, S. 193 ff.
Weblinks Carl Bryan bei 45cat.com (englisch)
Karl Bryan bei 45cat.com (englisch)
Karl Bryan bei Discogs
Karl Bryan & The Crystalites bei Bandcamp
Karl “Cannonball” Bryan: The Joy of Sax In: CaribbeanBeat, Ausgabe 126 vom Marz/April 2014 (englisch)
Musikbeispiele
Karl Bryan: Ska Is Here to Stay auf YouTube
Karl Bryan: Parapinto auf YouTube
Karl Bryan & The Crystalites: Slippery auf YouTube
Cannon & The Soul Vendors: Bad Treatment auf YouTube
Einzelnachweise
|
Karl „Cannonball“ Bryan (eigentlich Karl Altamont Bryan; * 3. April 1937 in Kingston) ist ein jamaikanischer Saxophonist des First-Wave Ska, Rocksteady und des Early Reggae. Karl Bryan wirkte als Studiomusiker an unzahligen Aufnahmen mit und war auch Mitglied der wieder gegrundeten Skatalites. Sein Spitzname „Cannon“ ist eine Hommage an den Saxophonisten Cannonball Adderley.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Bryan"
}
|
c-425
|
Karl Lauritz Bergendahl (* 30. Januar 1887 in Sørkedalen, Vestre Aker; † 15. April 1965 in Nittedal, Akershus) war ein norwegischer Skisportler. Von 1910 bis 1915 siegte er beim Holmenkollen-Skifestival jeweils funfmal im Skilanglaufrennen uber 50 Kilometer und in der Nordischen Kombination. Er wurde sowohl im Skilanglauf als auch in der Kombination zweimal norwegischer Meister. Mit seiner systematischen Herangehensweise an das Skitraining trug Bergendahl maßgeblich zur Entwicklung des modernen nordischen Skisports bei.
Werdegang Lauritz Bergendahl war der Sohn eines Landwirts und stammte aus dem Sørkedal unweit des Holmenkollens im Nordwesten der norwegischen Hauptstadt Oslo (damals Kristiania). 1904 und 1905 belegte er als Jugendlicher beim Skispringen im Rahmen des Holmenkollen-Skifestivals in seiner Altersklasse den dritten beziehungsweise den zweiten Platz. In den folgenden vier Jahren verzichtete er aus religioser Uberzeugung – vor allem wegen der Ablehnung von Sportwettkampfen an Sonntagen – auf Wettbewerbsteilnahmen. Erst im Januar 1909 ließ er sich von Holzfallerkollegen von einer Teilnahme am Nydalsrennen uberzeugen, bei dem er in seiner Startklasse der schnellste Langlaufer war und in der Kombinationswertung aus Langlauf und Skisprung ein besseres Ergebnis erzielte als Knut Holst, der spater im Jahr erster norwegischer Meister in der Kombination wurde. Bergendahl nahm ebenfalls an den ersten vom Norwegischen Skiverband organisierten nationalen Titelkampfen teil und gewann das 30-Kilometer-Langlaufrennen mit einem Vorsprung von fast funf Minuten.
In der ersten Halfte der 1910er-Jahre war Bergendahl einer der fuhrenden nordischen Skisportler in Norwegen und trug den Beinamen „Skikonig“ (norwegisch: „skikongen“). Von 1910 bis 1915 gewann er beim Holmenkollen-Skifestival jeweils funfmal – 1910, 1912, 1913, 1914 und 1915 – das 50-Kilometer-Rennen und den Kombinationswettkampf. (Im Winter 1911 war er zum Militardienst verpflichtet und konnte deswegen nicht an Skiwettbewerben teilnehmen.) Sein Vorsprung im Langlaufrennen uber 50 Kilometer betrug mehrmals uber zehn Minuten; 1914 war er mehr als 22 Minuten schneller als der Zweitplatzierte. Im Jahr seiner beiden ersten Siege 1910 wurde er mit der Holmenkollen-Medaille ausgezeichnet. Neben seinen Erfolgen am Holmenkollen wurde Bergendahl 1910 und 1912 norwegischer Meister in der Nordischen Kombination sowie 1912 ein zweites Mal (nach 1909) norwegischer Meister im Skilanglauf uber 30 Kilometer. Wenngleich sich der norwegische Skisport zu seiner aktiven Zeit weitgehend auf die nationalen Wettkampfe konzentrierte, startete Bergendahl auch in anderen Landern: 1912 gewann er den Titel des osterreichischen Ski-Meisters in Bodele mit ersten Platzen im Skispringen, im Skilanglauf und in der Kombinationswertung. Ein Jahr spater siegte er bei der deutschen Meisterschaft in der Nordischen Kombination. Ebenfalls 1913 nahm er als Teil einer norwegischen Delegation an den Nordischen Spielen in Schweden teil und erreichte dort vordere Platzierungen.
Mit 28 Jahren beendete Bergendahl 1915 seine aktive Skikarriere (Ende der 1920er-Jahre nahm er aber noch viermal am Holmenkollen-Festival in der Klasse der uber 32-Jahrigen teil und belegte dabei mehrmals den dritten Rang). Er arbeitete anschließend als Forster auf dem Gut Løvenskiold in der Nordmarka und zog nach Sandermosen in der Gemeinde Nittedal. Ab 1914 war er mit Thea Sævland (1887–1948) verheiratet. Sein Neffe Lars Bergendahl wurde 1937 sowie 1939 Skilanglaufweltmeister. 1957 ging Lauritz Bergendahl mit 70 Jahren in den Ruhestand. Er starb im April 1965 im Alter von 78 Jahren, nachdem er drei Wochen zuvor von einem Auto angefahren worden war.
Wurdigung Der britische Historiker Roland Huntford bezeichnete Lauritz Bergendahl in einem 2008 veroffentlichten Buch uber die Geschichte des Skisports als den ersten Star der Sportart. In Norwegen – das erst 1905 seine Unabhangigkeit von Schweden erlangt hatte – sei er vor allem in Ermangelung echter Nationalhelden zu einem Sportidol geworden. Huntford sah in Bergendahl außerdem den Begrunder des modernen nordischen Skilaufs und der analytischen Herangehensweise an das Training: Bergendahl gilt als der erste Skisportler, der systematisch Schnelligkeit und Ausdauer trainierte. Wahrend seiner aktiven Laufbahn arbeitete er als Bauer und Holzfaller, dabei hatte er Zeit, um im Training verschiedene Techniken (Doppelstock sowie Diagonalschritt) auszuprobieren. Er war ein Pionier bei der taktischen Anpassung des Laufstils an das Gelande und experimentierte zudem mit Skiwachs. Als sehniger Athlet mit einer Korpergroße von 1,84 Meter und einer großen Lungenkapazitat hatte er ausgesprochen gute korperliche Voraussetzungen fur die Ausdauersportart Skilanglauf.
Bergendahl fuhr seine Erfolge im Skisport zur gleichen Zeit ein wie sein Landsmann Oscar Mathisen im Eisschnelllauf, der sich ahnlicher Beliebtheit beim Publikum erfreute wie Bergendahl. Der norwegische Autor und Historiker Jakob Vaage fuhrte in seiner 1975 erschienenen Bergendahl-Biographie ein Zitat aus dem Norsk idrætsblad aus den fruhen 1910er-Jahren an:
Die 1913 von Olaf Selmer entwickelte Skibindung, bei der erstmals nur die Schuhspitze am Ski befestigt war, wahrend die Ferse frei blieb, wurde als Bergendahl-Bindung bekannt. Sie war das erste Teil einer Skiausrustung, das den Namen eines Athleten trug. Bei der Eroffnungsfeier der Olympischen Winterspiele 1952 in Oslo war Bergendahl der vorletzte Laufer des olympischen Fackellaufs. Er trug die Fackel auf Skiern in das Bislett-Stadion und ubergab sie dort an Eigil Nansen (den Enkel des Entdeckers Fridtjof Nansen). 1977 enthullte der norwegische Konig Olav V. in der Schule in Sørkedalen ein von Nic Schiøll gestaltetes Denkmal fur Bergendahl.
Weblinks Literatur Roland Huntford: Two Planks and a Passion: The Dramatic History of Skiing. Continuum International Publishing, London 2008, ISBN 978-1-4411-3401-1.
Jakob Vaage: Skikongen Lauritz Bergendahl : kort beretning om hans prestasjoner. Jørgensens Trykkeri – Horten, Oslo 1975. Online verfugbar uber die Nasjonalbiblioteket.
Einzelnachweise
|
Karl Lauritz Bergendahl (* 30. Januar 1887 in Sørkedalen, Vestre Aker; † 15. April 1965 in Nittedal, Akershus) war ein norwegischer Skisportler. Von 1910 bis 1915 siegte er beim Holmenkollen-Skifestival jeweils funfmal im Skilanglaufrennen uber 50 Kilometer und in der Nordischen Kombination. Er wurde sowohl im Skilanglauf als auch in der Kombination zweimal norwegischer Meister. Mit seiner systematischen Herangehensweise an das Skitraining trug Bergendahl maßgeblich zur Entwicklung des modernen nordischen Skisports bei.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Lauritz_Bergendahl"
}
|
c-426
|
Der Stuhl der zehn Lanzentrager oder Kleines Komitat (lateinisch Sedes X (decem) lanceatorum, auch Sedes superior = „Oberster Stuhl“ oder Parvus comitatus = „Kleines Komitat“/„Kleine Gespanschaft“; slowakisch Stolica X (desat) spisskych kopijnikov = „Stuhl der X (zehn) Zipser Lanzentrager“, Mala zupa = „Kleine Gespanschaft“; ungarisch Tizlandzsas szek = „Zehnlanzentrager-Stuhl“, auch Szepessegi szekek = „Zipser Stuhl“, Kisvarmegye = „Kleines Komitat“, seltener Felszek = „Hoher Stuhl“, Hegyszek = „Oberer Stuhl“ oder Kozepsoszek = „Mittlerer Stuhl“) war eine sehr kleine separate Grafschaft (Komitat/Gespanschaft) des Konigreichs Ungarn in der historischen Region Zips im Gebiet der heutigen Slowakei. Der Stuhl der zehn Lanzentrager ist erstmals in einer Privilegienurkunde 1243 nachweisbar und bestand nach seiner 1802 beschlossenen Auflosung bis zum Jahr 1803.
In den mehr als 550 Jahren seines Bestehens war er eine aus dem Komitat Zips administrativ ausgegliederte Sonderprovinz mit eigenem, durch konigliche Privilegien zugesichertem autonomen Rechtssystem und Heeresfolgepflicht und Abgabenpflicht ausschließlich fur den ungarischen Konig. Er ist die kleinste von mehreren regionalen Autonomien eigenen Rechts, die im Konigreich Ungarn vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert bestanden.
Name und autonome Rechte Der Begriff „Stuhl“ (ungarisch szek, lateinisch sedes, slowakisch stolica) bezeichnet im mittelalterlichen ungarischen Gewohnheitsrecht den Sitz eines Gerichtes und auch den damit verbundenen Gerichtsbezirk. Besonders haufig wird er bis heute fur die Gerichtsbezirke und Gerichtssitze von Gemeinschaften mit autonomem Sonderrecht verwendet.
Der Stuhl der zehn Lanzentrager war eine interne Selbstverwaltung einiger vorwiegend slowakisch bewohnter Dorfer der Zips, die im Gegenzug fur ihre Privilegien zehn Ritter, spater Ulanen fur das koniglich-ungarische Heeresaufgebot zu stellen hatten. Er wurde 1243 erstmals in einer koniglichen Privilegienurkunde von Bela IV. erwahnt, die ausdrucklich wesentlich altere Vorrechte bestatigt. In ihr werden ihren Adelsgeschlechtern interne rechtliche und politische Autonomie und Privilegien, wie die Freiheit von Abgaben an den (ubrigen) ungarischen Adel und einige Sonderregeln im Gewohnheits- und Erbrecht gegen Heeresfolgepflicht zugesichert. Das Komitat war damit nur dem Konig unmittelbar untergeordnet und abgabepflichtig, nicht den hochadligen Magnaten, die im ubrigen Ungarn politisch dominierten. Dieser Urkunde folgten viele konigliche Bestatigungen und Erweiterungen der autonomen Sonderrechte in spateren Privilegienurkunden, wie 1314 von Karl I. Robert von Anjou, in der zweiten Halfte des 14. Jahrhunderts von Konigin Maria, 1511 von Ladislaus II. dem Jagiellonen von Bohmen und Ungarn, von Ferdinand I. von Habsburg usw. Die koniglichen Privilegien und das Recht des Stuhls der zehn Lanzentrager waren von Anfang an sehr auf den „Lanzenadel“ (nobilitas lanceatorum), der diese zehn Lanzentrager stellte, zugeschnitten, aber die internen Rechts- und Machtverhaltnisse anderten sich im Laufe der Entwicklung. Vom 13. Jahrhundert bis 16. Jahrhundert war er noch eine Selbstverwaltung meist slowakischsprachiger freier Bauern mit dem Lanzenadel an der Spitze, im 18. Jahrhundert dagegen eine kollektive Selbstverwaltung des Lanzenadels, der auch von unfreien, leibeigenen Bauern lebte, daneben gab es weniger freie Bauern. Zumindest zu einem Teil wurden die Leibeigenen im 17. und 18. Jahrhundert aus anderen Gebieten ins Komitat geholt, um die Bevolkerungsverluste der Zeit zu ersetzen.
Ursprungshypothesen Der Ursprung des autonomen Stuhls und der mit ihm verbundenen gesonderten, rechtlich autonomen Provinz (Komitat) ist unbekannt, reicht moglicherweise bis ins 12. oder sogar bis ins 9.–11. Jahrhundert (vor der Zeit ungarischer Herrschaft uber die Region) zuruck.
Der Zipser Historiker Jozef Hradsky (ungarisch Jozsef Hradszky) vermutete 1895, dass die Privilegien ehemalige ungarische Grenzwachen aus dem 11./12. Jahrhundert, als die ungarische Nordgrenze noch durch diese Region verlief, auszeichneten, nachdem die Grenze nach Norden verschoben worden war. Diese Hypothese vertrat 1934 auch der tschechische Historiker Vladimir Smilauer.
Der ungarische Historiker Antal Fekete Nagy vermutete 1934, dass der Lanzenadel ehemalige Szekler (ungarischsprachige Grenzsiedler), moglicherweise aus der Region Gemer oder mit petschenegischen und kumanischen Ursprungen, sind. Die Hypothese der Herkunft der Szekler von nach Ungarn gefluchteten nomadischen Kumanen und Petschenegen war bis uber die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus historisch weit verbreitet, gilt aber heute als nicht ausreichend bewiesen, wurde auch von Fekete Nagy nicht als einzige Moglichkeit vertreten.
Der slowakische Historiker Ivan Chalupecky schlussfolgert aus den allein slawischen Namen der fruhen Vertreter in der Urkunde 1243 und aus der Tatsache, dass sie dort als „Gesamtadel der Zips“ (universis nobilibus de Scepus) bezeichnet werden, dass es sich ursprunglich um altslawischen Stammesadel der Region handeln konnte, moglicherweise aus der im 10. Jahrhundert verlassenen fruhstadtischen Siedlung mit slawischem Burgwall Mysia Horka, nahe Spissky Stvrtok (deutsch Donnersmark(t)), um die herum sich die meisten Landereien gruppierten, und aus einigen weiteren alten Siedlungshugeln im Gebiet. Im Mittelalter fanden die Versammlungen des Lanzenadels immer in Donnersmark statt, das nie nachweisbar zum Territorium des Stuhls gehorte, was ebenfalls ein Argument fur Chalupeckys Hypothese eines Zusammenhangs zum historischen Siedlungshugel Mysia Horka am Ortsrand ist. Chalupecky raumt auch ein, dass die ungewohnliche Erbregelung, nach der Geschlechtername und Besitz eines ohne mannliche Nachkommen verstorbenen Lanzenadeligen von dessen Witwe oder Erbtochter auch ihrem spateren Ehemann vererbt werden kann, eher aus dem Erbrecht der Szekler und turksprachiger Nomaden bekannt ist, es konnten auch mehrere Traditionen zusammengeflossen sein, womoglich administrativ abgetrennt von den andersartigen autonomen Privilegien der Zipser Sachsen (basierend auf dem Zipser Freibrief), die besonders im 12./13. Jahrhundert bis 15. Jahrhundert die umgebende Zips pragten, spater pragte zipser-sachsisches autonomes Sonderrecht (die Zipser Willkur) andere aus der Zips herausgeloste Sonderprovinzen.
Zuletzt sichtete der ungarische Historiker Peter Galambosi 2022 lokale Ubertragungs- und Stiftungsurkunden aus den Anfangsjahrzehnten etwa von der ersten Privilegienurkunde 1243 bis in den Jahren nach der zweiten Privilegienurkunde von 1314. Dabei kam er zu dem Schluss, mit Ausnahme der Behauptung in der Urkunde 1243 seien keine Hinweise in alteren Quellen zu finden, dass schon vor 1243 ein rechtlich autonomer, politisch organisierter Stuhl existierte. Auch danach findet er in den uberlieferten Personennamen des Lanzenadels (Familien- und Geschlechternamen waren in der Zeit noch nicht ublich) deutliche Hinweise, dass sie keine alte, ethnisch homogene Gruppe waren, wie die Szekler im benachbarten Komitat Gemer, sondern heterogener, multiethnischer Herkunft. Es gibt Namen, die auf ungarischsprachige oder szeklerische Herkunft schließen lassen, neben slawischen, deutschsprachigen und sogar wallonisch-franzosischsprachigen Personen- und Herkunftsnamen (z. B. Gallicus=der Gallier, aus Gallien). Daraus kommt er zu der These, dass der Stuhl vor 1243 nicht existierte, sondern mit der ersten Urkunde als Antwort auf die große mongolische Invasion in Ungarn 1241–42, die auch die Zips als eine ihrer Einfallstore schwer zerstorte, gebildet wurde, um den uberlebenden, teilweise neu angesiedelten Kleinadel steuerlich zu begunstigen und die Kleinadeligen zum Grenzschutz und fur das konigliche Heeresaufgebot wehrfahiger zu organisieren. Auch nach 1243 war er anfangs womoglich noch kein organisierter Rechtsbezirk mit eigenem Gericht („Stuhl“) und auch noch kein politisch abgegrenztes Sonderkomitat, denn die Urkunden erwahnen noch immer einzelne Kleinadlige als Handelnde, nie die Gruppe des gesamten Lanzenadels. Beides bildete sich nach Galambosi wahrscheinlich erst in den folgenden Jahrzehnten bis spatestens zur gesicherten Quellenerwahnung 1397, auch als Schutz gegen die Expansion der gleichzeitig koniglich privilegierten, aber hier mit Freiheit von Abgaben an den Adel, auch den Lanzenadel begunstigten Zipser Sachsen. Spatestens mit der Herauslosung des auch nach seiner Meinung anfangs zentralen Hauptortes Donnermark (ursprunglicher Name St. Ladislaus/ Szent Laszlo/ Svety Vladislav) nach Besiedlung durch zahlreiche von Abgaben freigestellte zipser-sachsische Siedler, die ihm seinen Namen nach dem Donnertags-Markttag gaben und als sachsische Stadt organisierten, was das Lanzenadels-Gebiet in Teilgebiete fragmentierte, organisierte sich der Lanzenadel zunehmend als geschutztes Sonderkomitat mit autonomem Gericht, das das autonome Adelsrecht verteidigte.
Lanzenadel Aus den uber 550 Jahren seines Bestehens sind uber 50 kleinadelige Geschlechter der nobilitas lanceatorum bekannt, die durch ihre sehr kleinen Besitztumer beinahe mittellos waren. Die Geschlechternamen des Lanzenadels stammten noch im 16. Jahrhundert vorwiegend aus dem Slowakischen, seltener aus dem Ungarischen oder dem Deutschen. Das lasst nicht automatisch auf die Herkunft der Familien schließen, wie altere Historiker vermuteten. Die Namen konnen auch durch Einflusse der ungarischen Umgangssprache des Adels und der im Mittelalter in der Zips verbreiteten deutschen Umgangssprache entstanden sein. Wie uberall in Ungarn war die Amtssprache Latein, aber die Protokolle der Versammlungen des Lanzenadels, die vom Anfang des 17. Jahrhunderts erhalten sind, wurden im Gegensatz zum ubrigen Ungarn nie auf Latein oder Deutsch, seltener auf Ungarisch, sondern meistens auf Slowakisch bzw. der etablierten tschechischen Schriftsprache mit slowakischen Einflussen verfasst. Nationale Identitaten als Ungarn, Slowaken oder Deutsche waren vom 13. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts auch nicht relevant.
Zwei Lanzenadels-Geschlechter stiegen uber den Umweg sehr erfolgreicher stadteburgerlich-unternehmerischer Aktivitaten im 16. Jahrhundert in den uberregionalen Hochadel auf: die Familien Thurzo und etwas spater die ihnen verwandten Henckel von Donnersmarck (ein jungerer Thurzo hatte die Witwe der nachkommenlosen Henckel im 14. Jahrhundert geheiratet und das Geschlecht weitergefuhrt). Ebenfalls dem Lanzenadel entstammte der Kamaldulensermonch Romuald Hadbavny (1714–1780), der die alteste vollstandige Bibelubersetzung ins Slowakische schuf.
Interner Aufbau Die Versammlungen des Lanzenadels, die Generalkongregationen, fanden anfangs in Spissky Stvrtok/Donnersmark(t) statt, das nicht zum Territorium des Stuhls gehorte. Ab dem 16./17. Jahrhundert versammelten sie sich in wechselnden Orten, spatestens Anfang des 18. Jahrhunderts fanden die Generalkongregationen dauerhaft im Dorf Betlanovce (deutsch Bethelsdorf, heute im Norden des Nationalparks Slowakisches Paradies) statt, wo sich die Thurzo von Bethelsdorf im 16. Jahrhundert nachtraglich ihren Stammsitz im Stil der Renaissance errichtet hatten, nachdem sie bereits zu europaisch fuhrenden Bergbauunternehmern aufgestiegen waren. Nach dem Aussterben der Thurzo und ihrer Vasallen aus der Familie Feigel nutzten es die ubrigen Lanzenadels-Geschlechter manchmal, 1726–68 regelmaßig als ihre Versammlungsstatte.
Sie wahlten jahrlich einen Gespan mit stellvertretendem Untergespan. Das Kleine Komitat des Stuhls der zehn Lanzentrager hatte im Mittelalter vielfach Machtkampfe gegen den Grafen/Gespan des umgebenden Komitats Zips zu bestehen, an den es mehrere ursprungliche Dorfer verlor, besonders seit diese ab dem 15. Jahrhundert keine gewahlten Grafen der Zipser Sachsen, sondern erbliche Grafen aus machtigen Magnatengeschlechtern waren. Deshalb wahlte der Lanzenadel seit dem 14. Jahrhundert zunehmend, seit dem 15. Jahrhundert fast immer den Zipser Grafen zu ihrem Gespan, um ihn in das eigene Privilegiensystem einzubinden und Konfrontationen mit seiner Ubermacht zu vermeiden, sich gleichzeitig aber durch die Wahlkapitularien, die Bedingungen der Wahl, gegen weitere Ubergriffe abzusichern. Auch deshalb gab es ein Privileg, dass sich der Zipser Graf nicht dauerhaft im Kleinen Komitat aufhalten durfte. Die tatsachliche Regierungsspitze des Kleinen Komitats bildete deshalb der Untergespan, der aus dem Lanzenadel stammte. Neben dem Gespan und Untergespan wahlten die Generalkongregationen jahrlich im 16. Jahrhundert einen Notar und die Geschworenen des Gerichtes nach eigenem Recht. Im 18. Jahrhundert kamen zu diesen Amtern noch ein Eidabnehmer, ein Amtsmann und ein Archivar. Die Amtseide der Gewahlten von 1628 sind auf Latein und Slowakisch erhalten, in denen sie offensichtlich aufgesagt wurden.
Bis zum 18. Jahrhundert entstanden deshalb neben dem Thurzoschloss auch ein Komitatshaus als Amtssitz des Untergespans und der Verwaltung, ein Barockhaus und ein neueres klassizistisches Versammlungshaus (Kurienhaus, Landeskurie), die sich alle um den Vorplatz der Dorfkirche sammeln. Mit Ausnahme des klassizistischen Kurienhauses sind sie bis heute unrenoviert und im Verfall begriffen, vom Komitatshaus sind nur noch die Grundmauern erhalten.
Im Laufe der absolutistischen Modernisierung der Verwaltung, besonders ab Maria Theresia (1740–80) erschien der Stuhl der zehn Lanzentrager zunehmend als winzige Provinz, unter ihren aufgeklarten Sohnen Joseph II. (1765–90) und Leopold II. (1790–92) wirkten seine autonomen Sonderrechte und seine Sozialstruktur mit Leibeigenschaft zudem als unzeitgemaßes Relikt. Schon Joseph II. schaffte das Komitat 1785 ab, stieß aber noch auf Widerstande, die Reform wurde nach seinem Tod 1790 ruckgangig gemacht. Im Jahr 1802 beschloss die Generalkongregation des Lanzenadels die Auflosung und den Anschluss an das Komitat Zips zum Beginn des Jahres 1803. Die letzte Generalkongregation des Lanzenadels fand am 10. Januar 1803 statt, die erste Generalkongregation des vereinigten Zipser Komitats war am 26. April 1803.
Zugehorige Orte und Bevolkerung Zum Stuhl der zehn Lanzentrager gehorten am Ende die Dorfer, seltener Kleinstadtchen: Abrahamovce, Betlanovce, Cencice (heute Ortsteil von Janovce), Cingov, Filice (heute Ortsteil von Ganovce), Ganovce, Hadusovce, Horka, Hozelec, Kisovce (heute zu Horka), Komarovce, Levkovce, Machalovce (heute Teil von Janovce), Miklusovce, Ondrej (heute zu Horka) und Pikovce (heute Teil von Abrahamovce). Ursprunglich gehorten dazu historisch auch Mecedelovce (heute Ortsteil von Spissky Stvrtok), Primovce, Urbanovce, Kuria Tyba, Cepanovce (heute Teil von Markusovce), Spissky Hrusov, Granc, Petrovce, Zaluzany (heute Teil von Nemesany), Kobulany (heute zu Kazimirovce), Marcelovce (heute zu Horanske) und Arnutovce.
Die Bevolkerung des Komitats war gering. Jozsef Hradszky erforschte in historischen Dokumenten Angaben zum Zweck der Steuerberechnung aus den Jahren 1693, 1700 und 1712. Diese Steuerregister sind keine vollstandigen Volkszahlungen, wurden dafur nicht angefertigt, die reale Bevolkerung war großer. In dieser Zeit erreichte die Bevolkerung der Zipser Region ihren historischen Tiefststand als Folge zahlreicher Kriege und Aufstande, wie des Großen Turkenkriegs mit einem Tatarensturm in die Zips und der Kuruzenaufstande gegen die Herrschaft der Habsburger, besonders der Aufstand von Emmerich Thokoly 1678–1687/88 mit Zentrum in der Zips und der großte Aufstand von Franz II. Rakoczi 1703–1711. Die Quellen zeigen diese Bevolkerungsverluste, denn in dem Dokument 1693 war eine der aufgelisteten 15 Ortschaften vorubergehend verlassene Wustung, 1700 waren es 10 von 18 aufgelisteten Orten, 1712 noch 9 dieser 18 Orte. Die Quelle 1692 listet im Komitat des Stuhls der zehn Lanzentrager 1693 135 Angehorige des Lanzenadels, 55 nichtadlige Partner von Adeligen und 413 Dorfbewohner, zusammen listet das Dokument 633 Bewohner auf. Andere Dokumente listeten in nunmehr 18 Orten im Jahr 1700 751 romisch-katholische und 268 evangelisch-lutherische Bewohner, zusammen 1019 Einwohner auf, im Jahr 1712 werden 801 romisch-katholische und 631 evangelisch-lutherische, zusammen 1432 Bewohner aufgelistet, die nicht die ganze, nur einen Großteil der Bevolkerung stellten. Der ungarisch-zipsersachsische Statistiker Marton Schwartner schatzte 1811, dass im letzten Jahr des Komitats 1802 etwa 2600 Menschen in ihm lebten. Zu Hradszkys Lebzeiten hatten diese 18 Dorfer nach der ungarischen Volkszahlung im Jahr 1894 1767 romisch-katholische, 290 evangelisch-lutherische und 112 „israelitische“ (judische), zusammen 2161 Einwohner (im 19. Jahrhundert kam es zu Bevolkerungsruckgangen durch Landflucht, Abwanderung in Industriezentren oder nach Amerika). Die Bevolkerungszahl in der Blutezeit der Region Ende 15./ Anfang 16. Jahrhundert war wahrscheinlich deutlich großer, besonders wenn die spater abgetretenen historischen Orte dazu gezahlt werden.
Geschichte der Lanzentrager-Einheit Im Mittelalter wurden die zehn Lanzenreiter fur viele konigliche Feldzuge angefordert, es sind aber wenige historische Quellen erhalten, die daruber Auskunft geben. Aus dem folgenden 16. Jahrhundert sind fast keine Quellen erhalten, dafur zahlreiche aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Anfang und Mitte des 17. Jahrhunderts in der Zeit der „Dreiteilung“ Ungarns zwischen den Osmanen, dem mit ihnen verfeindeten Koniglichen Ungarn der katholischen Habsburger und dem pro-osmanischen evangelisch-magnatischen Vasallenstaat Furstentum Siebenburgen wurde die Zips mit ganz Oberungarn, das eigentlich zum koniglichen Ungarn gehorte, mehrfach von Siebenburgen erobert. Dabei forderten die siebenburgischen Fursten, die eigentlich keine Konige waren, aber das Konigtum beanspruchten, mehrfach die zehn Lanzentrager an. Am 14. Oktober 1619 rekrutierte Furst Gabriel Bethlen auf einer Lanzentragerversammlung in Ondrej (ung. Szentandras) die Bereitstellung von 10 Lanzenreitern mit 20 Pferden vorerst fur zwei Monate, auch Furst Georg II. Rakoczi verwendete sie in einem Feldzug 1656. Der antihabsburgische Aufstandsanfuhrer und selbst proklamierte Konig Emmerich Thokoly, der aus der Zips stammte und hier sein Zentrum hatte, verwendete sie ab 1678, zeitweilig auch als seine Leibgarde. Dieser Aufstand und seine Niederschlagung verwustete und entvolkerte die Zips und auch das Kleine Komitat schwer, seinem Nachfolger, dem Aufstandsfuhrer Franz II. Rakoczi konnten nur noch acht ausgerustete Lanzenreiter angeboten werden. Aber nicht nur die Feinde der Habsburger, auch sie selbst verwendeten die Lanzenreiter, Kaiserin Maria Theresia heuerte sechs Lanzenreiter an. In ihrer Zeit war das Kleine Komitat weiterhin schwer entvolkert, seine damals 13 Dorfer waren in nur noch zwei Kirchspielen zusammengefasst, im 16. Jahrhundert bestand in jedem Dorf eines.
Literatur Ivan Chalupecky: Stolica X Spiskich Kopijnikow w dziejach Spisza [„Der Stuhl der zehn Lanzentrager in der Geschichte der Zips“]. (polnische Ubersetzung und Bearbeitung von Maciej Pinkwart, aktuelle Hauptbasis des Artikels).
Antal Fekete Nagy: A Szepesseg teruleti es tarsadalmi kialakulasa [„Die territoriale und soziale Entstehung der Zips.“]. Budapest 1934 (ungarisch).
Peter Galambosi: A szepesi tizlandzsas szek kialakulasa [„Die Entstehung des Zipser Zehnlanzentrager Stuhls“] Budapest 2023 (ungarisch).
Jozsef Hradszky: A Szepesi „Tizlandsas szeke“ vagy A „Kisvarmegye“. Tortenete [„Der Zipser ‚Zehnlanzentrager-Stuhl‘ oder Das ‚Kleine Komitat‘. Seine Geschichte.“]. Locse 1895 (ungarisch).
Martin Kostelnik: Stolica 10 Spiskich Kopijnikow w latach 1526–1803. [„Der Stuhl der 10 Lanzentrager in den Jahren 1526–1803“] (polnisch) in: Martin Homza; Stanisław A. Sroka (Hrsg.): Historia Scepusii II. Dejiny Spisa od roku 1526 do roku 1918. (slowakischer Titel)/ Historia Scepusii II. Dzieje Spisza od roku 1526 do roku 1918. (polnischer Titel) [„Historia Scepusii II. Die Geschichte der Zips vom Jahr 1526 bis zum Jahr 1918.“], (online, pdf), S. 593–606, Bratislava, Krakau 2021.
tizlandzsas szek [„Zehnlanzentrager-Stuhl“]. In: Magyar Katolikus Lexikon (Ungarisches Katholisches Lexikon), Budapest 1993–2010 (ungarisch).
Einzelnachweise
|
Der Stuhl der zehn Lanzentrager oder Kleines Komitat (lateinisch Sedes X (decem) lanceatorum, auch Sedes superior = „Oberster Stuhl“ oder Parvus comitatus = „Kleines Komitat“/„Kleine Gespanschaft“; slowakisch Stolica X (desat) spisskych kopijnikov = „Stuhl der X (zehn) Zipser Lanzentrager“, Mala zupa = „Kleine Gespanschaft“; ungarisch Tizlandzsas szek = „Zehnlanzentrager-Stuhl“, auch Szepessegi szekek = „Zipser Stuhl“, Kisvarmegye = „Kleines Komitat“, seltener Felszek = „Hoher Stuhl“, Hegyszek = „Oberer Stuhl“ oder Kozepsoszek = „Mittlerer Stuhl“) war eine sehr kleine separate Grafschaft (Komitat/Gespanschaft) des Konigreichs Ungarn in der historischen Region Zips im Gebiet der heutigen Slowakei. Der Stuhl der zehn Lanzentrager ist erstmals in einer Privilegienurkunde 1243 nachweisbar und bestand nach seiner 1802 beschlossenen Auflosung bis zum Jahr 1803.
In den mehr als 550 Jahren seines Bestehens war er eine aus dem Komitat Zips administrativ ausgegliederte Sonderprovinz mit eigenem, durch konigliche Privilegien zugesichertem autonomen Rechtssystem und Heeresfolgepflicht und Abgabenpflicht ausschließlich fur den ungarischen Konig. Er ist die kleinste von mehreren regionalen Autonomien eigenen Rechts, die im Konigreich Ungarn vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert bestanden.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Stuhl_der_zehn_Lanzenträger"
}
|
c-427
|
Der Ketzerturm (zuerst Neuer Turm, spater auch Hexenturm genannt) stand auf der Ostseite in der Befestigung der Stadt Zurich. Er gehorte zur dritten Phase des Befestigungsausbaus, wurde 1314 erstmals erwahnt und 1878 abgebrochen. Seit 1588 ist die Bezeichnung Ketzerturm aktenkundig. Mit einer Grundflache von 10 auf 10,8 Metern und einer Firsthohe von fast 39 Metern war er der grosste Befestigungsturm der Stadt. Er stand am Seilergraben zwischen dem Kronentor beim Neumarkt und dem Niederdorftor beim heutigen Central zwischen der Grabligasse und der Haringstrasse.
Bauwerk Beim Abbruch wurde die Sohle des Bauwerks wie beim benachbarten Predigerabschnitt auf 3,90 m unter Strassenniveau bestimmt. Es existieren Fotos aus dem Jahr 1953, die beim Bau eines Luftschutzbunkers in der Liegenschaft Seilergraben 49 Fundamentreste des Ketzerturms zeigen. Die Front des Turms stand vor der Flucht der Stadtmauer, die den Graben abtrennte, war aber mit ihr zu einem Bauwerk verbunden.
In ganzer Hohe war der Turm mit Buckelquader-Eckverbanden ausgestattet und als Binder mit einzelnen zusatzlichen Steinen erganzt worden. Die Fensteroffnungen waren ebenfalls mit bossierten Quadern verstarkt. Wahrend bis zum dritten Stockwerk hohe, schartenartige Lichtschlitze mit Rundbogen ins Mauerwerk eingelassen wurden, gab es ab dem vierten Obergeschoss auf drei Seiten des nahezu quadratischen Grundrisses spitzbogige Zwillingsfenster, die dem Turm «vornehmen Charakter [verliehen] und ihn in die Nahe adeliger Baukultur [ruckten]». Er stellt mit diesem Geprage eine Besonderheit aller Wehrturme in Zurich dar und konnte einen Bergfried einer Burg als Vorbild gehabt haben.
Die Fensterauspragung des obersten Stockwerks konnte darauf schliessen lassen, dass der Turm ursprunglich zinnenbewehrt war. Auch wenn ihn alle Abbildungen mit schmalen, gemauerten Lichtschlitzen und zwei breiten Fenstern zeigen, scheinen die unteren Teile dieser Fenster alter zu sein und gehorten offensichtlich zum ursprunglichen Mauerbestand, wahrend die Fensterbogen sicher junger waren. Das Mauerwerk dazwischen bestand aus ungewohnlich grossen Steinblocken. 1631 wurde das Bauwerk verstarkt und 1634/1636 wurde ihm eine dreieckige Bastion vorgesetzt. Vergleicht man diese bossierten Fensteroffnungen mit Gebauden in der Nachbarschaft, konnte eine Datierung moglich sein. Das Haus Roter Ochse, Storchengasse 23, besass Lichtschlitze «mit ausgepragter gotischer Spitze» und wird auf die zweite Halfte des 13. Jahrhunderts datiert.
Der Name Neuer Turm konnte darauf hindeuten, dass er etwas spater als die ubrigen Turme fertiggestellt wurde oder dass er einen alteren Bestandsturm ersetzte.
Im Jahr 1543 erhielt der Turm auf der stadtzugewandten Seite in der Hohe des obersten Stockwerks eine Ein-Zeiger-Turmuhr. Sie stammte von der St.-Peter-Kirche auf der anderen Limmatseite in der Altstadt. Sie hatte 1538 statt nur eines Ziffernblattes ein Zifferblatt auf allen vier Seiten. Schon zuvor hatte der Turm eine Uhr erhalten, deren Grosse mit «20 Schuch hoch und 20 Schu breytt» beschrieben wurde. 1685 wurde das Uhrwerk von dem Uhrwerkermeister Felix Bachoffen durch eines mit einem Pendel ersetzt.
Nutzung Bis zum Bau der Zeughauser wurde der Turm zur Aufbewahrung von Waffen und anderer militarischer Ausrustung benutzt. Zur Reformationszeit diente der Ketzerturm, wie er nun genannt wurde, als Gefangnis fur Taufer.
Weblinks Einzelnachweise
|
Der Ketzerturm (zuerst Neuer Turm, spater auch Hexenturm genannt) stand auf der Ostseite in der Befestigung der Stadt Zurich. Er gehorte zur dritten Phase des Befestigungsausbaus, wurde 1314 erstmals erwahnt und 1878 abgebrochen. Seit 1588 ist die Bezeichnung Ketzerturm aktenkundig. Mit einer Grundflache von 10 auf 10,8 Metern und einer Firsthohe von fast 39 Metern war er der grosste Befestigungsturm der Stadt. Er stand am Seilergraben zwischen dem Kronentor beim Neumarkt und dem Niederdorftor beim heutigen Central zwischen der Grabligasse und der Haringstrasse.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ketzerturm"
}
|
c-428
|
Die Taiping (chinesisch 太平輪, Pinyin Taiping Lun) war ein chinesisches Dampfschiff, das am 27. Januar 1949 auf dem Weg von Festlandchina nach Taiwan mit einem Frachtdampfer kollidierte und sank. Mit geschatzten 1000 Todesopfern (andere Schatzungen gehen von uber 1500 Todesopfern aus) handelt es sich bei dieser Kollision um eines der opferreichsten Schiffsunglucke der Zivilschifffahrt.
Schiff Die Taiping war ein Dampfschiff von 2093 (nach anderen Angaben 2045) Tonnen Frachtkapazitat.
Geschichte Im Zuge des chinesischen Burgerkriegs flohen in den spaten 1940ern, als sich der Sieg der Volksbefreiungsarmee uber die Kuomintang abzuzeichnen begann, etwa zwei Millionen Chinesen vor den heranruckenden Kraften der Kommunistischen Partei nach Taiwan, um dem kommunistischen Regime zu entgehen.
Die Taiping war zunachst ein Frachtschiff. Ab 1948 wurde sie von der „Pacific Shipping Company“ an die „China Union Enterprise Company“ oder „Shanghai Zhonglian Enterprise Company“ verchartert. Sie wurde als eines von Dutzenden Passagierschiffen zwischen China und Taiwan eingesetzt, seit Juli 1948 hatte sie 35 Fahrten absolviert. Zuerst beforderte sie hauptsachlich Geschaftsleute, Beamte, Touristen und Menschen auf Verwandtenbesuch, aufgrund des Erfolgs der Huaihai-Offensive wurde sie jedoch zu einem Fluchtlingsschiff. Im September und Oktober 1948 wurde sie wahrend der Liaobang-Offensive von der Kuomintang als Versorgungsschiff sowie als Transportschiff fur verwundete Soldaten verwendet. Im November 1948 wurde das Schiff umgerustet und verkehrte anschließend zweimal pro Woche zwischen Shanghai und Keelung auf Taiwan. Reeder des Schiffes war Cai Tianduo, Vater des taiwanesischen Moderators Kevin Tsai.
Untergang Am 26. Januar 1949 sollte die Taiping von Shanghai nach Keelung fahren, die Abfahrt wurde jedoch auf den 27. Januar, den letzten Tag des chinesischen Jahres, um 10 Uhr verschoben. Obwohl die offizielle Kapazitat nur 580 Passagiere betrug, waren mehr als 1000 Fluchtlinge des Burgerkriegs an Bord, die in die relative Sicherheit Taiwans gelangen wollten. Darunter befanden sich hauptsachlich wohlhabende Geschaftsleute, Beamte und Wurdentrager. Einige bezahlten ihr Ticket mit mitgefuhrten Goldbarren. Viele fuhren mit dem Auto zum Hafen und ließen es am Dock stehen. 508 Passagiere hatten Bordkarten (Kinder brauchten keine), mindestens 300 waren ticketlos an Bord; ferner waren 124 Besatzungsmitglieder auf dem Schiff. Kurz nach dem Ungluck sprach die Presse von schatzungsweise 1000 Toten (508 offiziell auf den Passagierlisten gefuhrten Personen sowie mindestens 500 blinden Passagieren). Spateren Schatzungen zufolge betrug die Gesamtzahl von Passagieren und Mannschaft uber 1500, andere Quellen sprechen von etwa 1000 Menschen an Bord.
Die Abfahrt der Taiping verzogerte sich erneut, da auf eine Lieferung Geld und Silber der Zentralbank der Republik China gewartet wurde. Daneben hatte sie auch 600 Tonnen Stahlstangen, uber 100 Tonnen Zeitungen und Druckmaschinen, uber 1000 Kartons mit Dokumenten der Zentralbank, 180 Kartons mit Materialien zur Geschichte der Kuomintang und weitere Fracht an Bord. Aufgrund der hohen und ungleichmaßig verteilten Last befand sich der Rumpf bereits in Schieflage. Erst um 18:18 Uhr legte die vollig uberladene Taiping ab.
In der Nacht zum 28. Januar gab es keinen Wind, Regen oder Nebel; die Taiping fuhr aufgrund einer Ausgangssperre ohne Navigationslicht. Um 23:45 Uhr stieß sie nahe der Zhoushan-Inseln etwa zwei Seemeilen sudostlich der Insel Baijie mit dem aus Keelung kommenden kleineren Frachtschiff Jianyuan (建元) der Yixiang Steamship Company zusammen, das 2700 Tonnen in Taiwan gekaufte Kohle und Holz transportierte. Das 1919 in Norwegen gebaute Schiff war bis 1948 unter franzosischer Flagge gefahren. Die Jianyuan wurde in der Mitte getroffen und sank innerhalb von funf Minuten. Dabei starben 72 Menschen, drei konnten von der Taiping gerettet werden. Das großere Schiff sandte ein Notsignal und der Kapitan versuchte, einen Fischereihafen auf der Nordseite von Baijie anzulaufen. Uberlebende berichteten, dass Menschen panisch zu den Rettungsbooten rannten, welche von der Besatzung jedoch nicht herabgelassen wurden. Nach 15 Minuten explodierte der Kessel und das Schiff wurde manovrierunfahig; es sank etwa 45 Minuten nach der Kollision (gegen 00:30 Uhr) aufgrund der massiven Schaden am Rumpf, nur 500 Meter oder eine dreiminutige Bootsfahrt vom rettenden Ufer entfernt. Hatte der Kapitan stattdessen das flache Sudufer der Insel angefahren, das zum Stranden geeignet war, ware es womoglich nicht zu einer Katastrophe gekommen. Die meisten Passagiere und Crewmitglieder ertranken oder erfroren im eiskalten Wasser. Im Nachhinein konnten 932 Tote identifiziert werden. Weitere Schatzungen gehen von uber 1500 Toten aus.
Nur etwa 50 Menschen uberlebten das Ungluck. Einige hatten sich an großen Holzkisten festgehalten, die zur Aufbewahrung von Fischen verwendet wurden. Nach Berichten von Uberlebenden versuchten die Menschen auf den Kisten, auch andere zu retten, bei zu viel Last kippten die Kisten jedoch um und alle wurden ins Wasser geworfen. Schreie und Hilferufe aus dem dunklen Meer seien nach und nach verstummt. Der australische Zerstorer Warramunga, der auf dem Weg nach Nanjing war, um ein weiteres Evakuierungsboot zu ersetzen, hatte das SOS-Signal empfangen und vom Funker der Taiping Informationen uber den Ort des Untergangs erhalten. Er passierte die Unfallstelle am fruhen Morgen des 28. Januar. Der erste Uberlebende, der sich an eine Planke klammerte, wurde beinahe ubersehen, weil seine Arme zu steif waren, um zu winken. Der Zerstorer rettete insgesamt 30 Manner und funf Frauen aus dem Wasser, darunter zwei Besatzungsmitglieder der Jianyuan. Eine Frau starb wenig spater an der erlittenen Unterkuhlung. Die Besatzung der Warramunga unter der Fuhrung von Konteradmiral Lord Oldham berichtete, dass die Leichen vieler Babys und Kleinkinder im Wasser getrieben seien. Die Geretteten wurden versorgt und zuruck nach Shanghai gebracht. Die ubrigen Uberlebenden wurden von Fischern von den Zhoushan-Inseln gerettet. Sie berichteten, dass keines der vielen anderen vorbeikommenden Schiffe sie aufgenommen habe. Nach dem Ungluck fanden Fischer in der Nahe Schmuck, Buddhastatuen, Holzkisten mit Dokumenten und Baumwolle im Wasser schwimmend.
Folgen Bei der Katastrophe starben mehrere beruhmte Personlichkeiten, darunter der Musiker Wu Buchao, der ehemalige Prasident der Provinz Liaoning Xu Chen, der Prasident der Zeitung „Southeast Daily“ Lu Shuying, der Vater des beruhmten Forensikers Henry Lee und die Familien weiterer wichtiger Politiker. Der Prasident des nationalen Konservatoriums fur Musik, Wang Yi, war auf dem Schiff, um einen neuen Standort fur das nach Taiwan umgezogene Konservatorium auszuwahlen. Da die Taiping bei seiner Ankunft schon voll war, gab der dritte Steuermann fur ihn seine Kabine auf.
Das Haus des Hauptaktionars der Zhonglian Enterprise Company wurde noch am selben Tag von wutenden Angehorigen der Opfer verwustet. Die Reederei in Shanghai wurde in einem Urteil des Shanghaier Gerichtshofs der Republik China zur Zahlung einer Entschadigung von 2,23 Millionen Yuan verurteilt. Kurze Zeit spater wurde Shanghai jedoch von der Volksbefreiungsarmee besetzt. Die Versicherungsgesellschaft der Taiping, die Shanghai Huatai Insurance Company, meldete kurz nach dem Ungluck Insolvenz an und die Zhonglian Enterprise Company musste die Entschadigung selbst tragen. Schließlich ging sie bankrott. Zwei Schiffe der Reederei, die in Festlandshafen lagen, wurden von der Kommunistischen Partei beschlagnahmt, zwei weitere ihrer Dampfschiffe im Hafen von Kaohsiung verfielen anschließend. Wegen der hohen Inflation und der unsicheren wirtschaftlichen Lage bekamen die Hinterbliebenen statt Geld Naturalien als Entschadigung, unter anderem 80 kg Reis.
Einordnung und Verarbeitung Als Ursachen fur die Katastrophe wurden in den Medien Uberladung, Geschwindigkeitsuberschreitung und das Fahren einer nicht geplanten Abkurzung ausgemacht. Auch die durcheinander geladenen 600 Tonnen Stahlstangen konnten die Havarie verschlimmert haben. Es wurde auch spekuliert, dass der Untergang mit dem Burgerkrieg zwischen der Kommunistischen Partei und der Kuomintang zusammenhangen konnte. Als Argumente wurden angefuhrt, dass der Rumpf des Schiffs nur 500 m vor der Kuste explodiert sei, dass vier der funf Reeder der China Union Company heimlich Mitglieder der Kommunistischen Partei waren und dass ein Passagier der dritten Klasse, der spater ebenfalls als geheimes Mitglied der Kommunistischen Partei identifiziert wurde, sein Ticket von einem Parteigenossen erhalten hatte.
Weniger als zwei Monate zuvor, am 4. Dezember 1948, ereignete sich unter ahnlichen Umstanden der Untergang der Kiang Ya mit mindestens 2000 Toten. Mit den geschatzt zwischen 1000 und 1500 Todesopfern gehorte die Havarie der Taiping wie die der Kiang Ya zu den opferreichsten Katastrophen der Zivilschifffahrt im 20. Jahrhundert; unter der Annahme von 1500 Toten wurde sie auf Rang 6 uberhaupt liegen. Vergleichbar schwere chinesische Schiffsunglucke seit den 1940ern waren noch die Katastrophe von Zhaoqing am 4. August 1975 (432 Tote beim Zusammenstoß zweier Flussfahren) und das Sinken der Dashun am 24. November 1999 (290 Tote beim Sinken wahrend eines Sturms).
Aufgrund ihrer Rolle bei der Ubersetzung von Immigranten wurde die Taiping mit der Mayflower verglichen, aufgrund der Anzahl der Todesopfer wurde sie auch als „chinesische Titanic“ bezeichnet. An der Marinebasis im Hafen von Keelung wurde 1951 ein Denkmal fur die Todesopfer der Katastrophe errichtet. Es war nicht offentlich zuganglich, erst 2018 verlegte das Verteidigungsministerium den Zaun und integrierte das Denkmal in einen neu geschaffenen Erinnerungspark fur die Opfer der Taiping, der selbst Teil eines großeren Denkmalparks ist, in dem das Kulturministerium regelmaßig Gedenkveranstaltungen organisiert. Am 25. Mai 2010 fand auf einem Schiff am Ort des Untergangs eine Gedenkfeier mit Uberlebenden und Hinterbliebenen statt.
Der zweiteilige Film The Crossing von Regisseur John Woo handelt von der Taiping und ihrem Untergang. In den Hauptrollen spielen Zhang Ziyi, Takeshi Kaneshiro und Song Hye-kyo. 2004 wurde der von der Demokratischen Fortschrittspartei und Phoenix Television produzierte Dokumentarfilm Die Suche nach der Taiping (尋找太平輪) uber die Katastrophe gedreht. Ein weiterer Dokumentarfilm wurde 2012 von der Want Want Zhongshi Media Group produziert und von CTi News veroffentlicht.
Es wurden mindestens ein halbes Dutzend chinesische Bucher uber die Katastrophe veroffentlicht.
Weblinks 中国的泰坦尼克号:太平轮沉没记. NetEase, 25. Mai 2010 (archiviert). Ausfuhrliche Chronik der Ereignisse wahrend des Untergangs.
Blog mit Sammlung zeitgenossischer Zeitungsartikel zum Ungluck
Fußnoten
|
Die Taiping (chinesisch 太平輪, Pinyin Taiping Lun) war ein chinesisches Dampfschiff, das am 27. Januar 1949 auf dem Weg von Festlandchina nach Taiwan mit einem Frachtdampfer kollidierte und sank. Mit geschatzten 1000 Todesopfern (andere Schatzungen gehen von uber 1500 Todesopfern aus) handelt es sich bei dieser Kollision um eines der opferreichsten Schiffsunglucke der Zivilschifffahrt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Taiping_(Schiff)"
}
|
c-429
|
Towsta Mohyla (ukrainisch Товста Могила, wortlich „Dickes Grab“) ist ein skythischer Kurgan aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. bei Pokrow in der Ukraine.
Geschichte = Ausgrabung =
Der Archaologe Borys Mosolewskyj machte 1969 und 1970 den Direktor des Bergbau- und Verarbeitungswerks Ordschonikidsewsk auf die Notwendigkeit aufmerksam, den Hugel zu untersuchen. Forschung konnte dort zunachst nicht betrieben werden, da es ein Verstoß gegen die Finanzdisziplin gewesen ware. Der Hugel fiel nicht in den Bereich zukunftiger Steinbruche. Einer der einflussreichen Beamten von Dnipropetrowsk benotigte Schwarzerde fur die Landgewinnung in seinem Gebiet und gewann die Unterstutzung mehrerer anderer einflussreicher Personen bei der regionalen Fuhrung. Sie untersuchten den 8 Meter hohen Hugel, berechneten das Volumen der Schwarzerdeboschung und wandten sich an Mosolewskyj in Kiew.
Die Ausgrabung fand 1971 statt. Der Hugel war ursprunglich bis zu 21 Meter hoch. Zwei Grabkammern skythischer Adliger wurden freigelegt. Das Zentralgewolbe war geplundert worden, das Seitengewolbe war intakt. In der Nahe der Grabeingange standen in einer separaten Nische die Rader zerlegter Leichenwagen. Uber einer der Eingangsgruben wurde ein großer Satz Bronzeornamente aus dem Trauerzug entdeckt. Das zentrale Gewolbe enthielt Uberreste eines skythischen Adligen. Das Seitengewolbe enthielt funf Skelette, von denen die wichtigsten einer skythischen Adligen und einem Kind gehorten. Sechs Pferde und vier Diener der Adligen waren ebenfalls darin begraben.
= Fundstucke =
Die gefundenen Relikte deuten eine iranische oder assyrisch-babylonische Herkunft an und konnten Einflusse aus Indien, Griechenland und China haben. Die Skelette im Seitengewolbe waren mit zahlreichen Goldornamenten und anderen Artefakten bedeckt.
Einer der Funde war ein goldenes Pektorale mit einem Durchmesser von 30,6 cm und einem Gewicht von 1150 g, das Szenen aus dem Alltagsleben der Skythen und Tiermotive darstellte. Es wurde zusammen mit einem eisernen Schwert in einer goldverzierten Scheide in einem kurzen Korridor gefunden, der eine der Grabkammern mit der Eingangsgrube verband. Die Herstellungstechniken waren Gießen nach dem Wachsausschmelzverfahren, Pragen, Gravieren, Filigranarbeiten, Loten und Einlegen mit farbigen Emails. Das Pektorale wurde im zweiten Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr. von griechischen Kunsthandwerkern im Auftrag des skythischen Adels als diplomatisches Geschenk angefertigt, zum Beispiel in den Schmuckwerkstatten von Athen oder Pantikapaion. Es wurde als „eine Symphonie und eine Geschichte in Gold“ beschrieben und wurde angeblich von einem skythischen Konig getragen.
Ein weiterer wichtiger Fund war ein goldener Frauenkopfschmuck. Der im Kurgan gefundene Schatz, der Waffen, Metall- und Tongefaße und Artefakte sowie uber 600 Goldgegenstande und Ornamente umfasste, ist einer der reichsten archaologischen Funde aus dieser Zeit. Die gefundenen Goldornamente wurden als Beweis fur die entwickelte Kultur und Herstellungsgewohnheiten der Skythen verwendet. Außerdem dienten sie als Beleg fur ihren Reichtum, da viele Ornamente von den Griechen gekauft wurden. Die Sammlung befindet sich heute im Nationalen Historischen Museum der Ukraine.
Zu den Goldornamenten der Adligen gehoren eine massive gegossene Griwenka, verziert mit Figuren von Lowen, die ein junges Reh jagen, Schlafenanhanger mit dem Bild einer auf einem Thron sitzenden Gottin, drei breite Armbander und 11 Ringe. Ahnliche, aber viel einfachere Dekorationen wurden auch beim Grab des Kindes gefunden.
Anhand der Positionierung der Goldornamente der Artefakte wurden die Umrisse der damaligen Kleidung rekonstruiert, zum Beispiel verschiedener Kopfschmuck und Schuhe fur Frauen. Hunderte Stickereien zur Befestigung von verzierten Goldplattchen sind in der Towsta Mohyla erhalten geblieben. Der Kopfschmuck reichte von Diademen uber eng anliegende Mutzen zu 30 cm langen kalathosformigen Kopfbedeckungen.
Rechtsstreit mit Russland Eine Nachbildung des Pektorale gehorte zu Artefakten, die 2014 in einer Ausstellung mit dem Titel Krim: Gold und Geheimnisse aus dem Schwarzen Meer im Allard Pierson Museum in Amsterdam zu sehen waren. Dieser etwas irrefuhrende Name hat sich in der Presse fur die Sammlung wertvoller archaologischer Objekte eingeburgert, die im Rahmen der Ausstellung prasentiert wurden. Nur knapp ein Viertel der 432 Objekte sind tatsachlich aus Gold. Die Ausstellung wurde von Juli 2013 bis Januar 2014 im LVR-Landesmuseum Bonn gezeigt, bevor sie nach Amsterdam ging. Die Macher hatten den Anspruch, die kulturellen Wechselwirkungen der antiken Zivilisationen der Halbinsel Krim fur die Westeuropaer darzustellen: der Griechen auf der einen, der nomadischen Steppenvolker auf der anderen Seite. Unter den Objekten fanden sich altgriechische Gefaße, Plastiken, filigrane Broschen und Juwelen ebenso wie skythische Waffen, Begrabnismasken und Helme oder wertvolle chinesische Lackkastchen aus der Han-Dynastie. Die Halbinsel war einst ein Schmelztiegel der Kulturen des Orients und Okzidents. Die antiken Schatze waren Leihgaben, als Russland im Marz 2014 die Krim von der Ukraine annektierte. Nach der Schließung der Ausstellung wusste die Institution nicht, wohin sie die ausgeliehenen Gegenstande schicken sollte und brachte die Angelegenheit in einem jahrelangen Gerichtsverfahren vor die niederlandischen Gerichte.
Der Streit um die Artefakte ist zum Sinnbild der Territorialstreitigkeiten zwischen den beiden Nationen geworden. 19 Stucke der insgesamt 432 Kunstgegenstande stammten aus dem Museum fur Nationalgeschichte in Kiew – dabei handelte es sich um die Gold-Objekte der Skythen. Die ubrigen 413 kamen aus den vier wichtigsten Museen der Krim. Moskau bestritt den Anspruch der Ukraine vor niederlandischen Gerichten und argumentierte, dass die Nichtruckgabe der Artefakte von vier Institutionen auf der Krim gegen deren Darlehensvereinbarung verstoße. Das skythische Gold, wie es oft genannt wird, „gehort zur Krim und muss dort sein“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut Interfax auf einer Pressekonferenz gegenuber Reportern. Die Artefakte sollen auf Anordnung des Hohen Rats der Niederlande in die Ukraine uberfuhrt werden. Das niederlandische Gericht entschied, dass der Schatz antiker Artefakte Teil des nationalen Erbes der Ukraine sei und nicht zur von Russland annektierten Krim gehore. Laut Prasident Wolodymyr Selenskyj „konnen die Artefakte nicht dem Besatzer, dem Rauber, ubergeben werden“. Außerdem werde der Schatz „auf der Krim sein, wenn die ukrainische Flagge auf der Krim wehen wird“. Mitarbeiter des Amsterdamer Museums bekraftigten, dass die Gegenstande „bis zur Deokkupierung der Krim aufbewahrt“ wurden.
Weblinks Einzelnachweise
|
Towsta Mohyla (ukrainisch Товста Могила, wortlich „Dickes Grab“) ist ein skythischer Kurgan aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. bei Pokrow in der Ukraine.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Towsta_Mohyla"
}
|
c-430
|
Laura Tiefenthaler (* 14. Juli 1996 in Innsbruck) ist eine osterreichische Kletterin, Hohenbergsteigerin, Bergfuhrerin und Arztin.
Herkunft und Ausbildung Tiefenthaler wuchs in Innsbruck auf. Bereits in Jugendtagen war sie viel in Bergen unterwegs, sie wanderte mit ihrer Familie viel und ging haufig auf Skitouren. Im Alter von 17 Jahren fing sie gemeinsam mit ihrem Bruder an zu klettern. Eine ihrer ersten Eistouren war die Mayerlrampe in der Großglockner-Nordwand, die bis 70° steiles Blankeis aufweist. Diese Erfahrung hat sie in ihren Wunsch zu klettern bestarkt, ihr aber auch aufgezeigt, dass sie sich noch viel Wissen und Konnen aneignen muss. Daher ist sie in die Jungmannschaft der Sektion Innsbruck des Osterreichischen Alpenvereins eingetreten. Spater wurde sie fur den DAV-Frauenkader ausgewahlt, in dem sie ihre Fahigkeiten und ihr Konnen stark ausbauen konnte.
2022 schloss Tiefenthaler ihr Medizinstudium ab und fing die Basisausbildung im Krankenhaus an, 2023 absolvierte sie ihre Zusatzausbildung zur Allgemeinarztin. Im gleichen Jahr schloss sie auch ihre Ausbildung zur staatlich gepruften Bergfuhrerin ab.
Alpinistische Karriere Tiefenthaler entdeckte fruh ihre Freude an den Bergen und am Bergsteigen. Wesentlich baute sie ihr Konnen aber im DAV-Frauenkader im Forderbereich Leistungsbergsteigen und Expeditionen aus, dem sie drei Jahre lang von 2017 bis 2019 angehorte.
Sie hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine große Anzahl anspruchsvoller Alpintouren bewaltigt, darunter Klettertouren wie die Comici an der Großen Zinne (VII/VI obl., 500 m), die Cassin an der Westlichen Zinne (VIII/VI+ obl., 650 m), den Bachmannpfeiler (VI+, 330 m) an der Hechenbergwand, O sole mio (VII+/VII- obl., 300 m) und Direkte (VIII/VII- obl., 400 m) am Grand Capucin sowie den Salbitschijen-Westgrat (VII-/VI obl., 1600 m/36 Seillangen). Mit Raphaela Haug bestieg sie den Montblanc uber den Freney-Pfeiler.
In Patagonien bestieg Tiefenthaler 2020 zusammen mit ihrer Seilpartnerin Raphaela Haug den Cerro Torre (Ragni Route) und den Fitz Roy. Im Januar 2022 war sie im Helferteam, als Korra Pesce und Tomy Aguilo am Cerro Torre von einer Lawine verschuttet wurden. Daher verzichtete sie auf eine eigene Begehung. 2023 war sie wieder in Patagonien und kletterte zusammen mit Haug und Babsi Vigl eine Route an der Westseite der Aguja de l’S und der Saint-Exupery.
2020 war Tiefenthaler mit ihren Seilpartnerinnen Veronika Hofmann, Jana Mohrer und Raphaela Haug im sudlichen Teil des Himalaya, dem Himachal Pradesh sudlich von Ladakh, unterwegs. Das Team bestieg mehrere Funftausender, darunter den 5490 m hohen Ali Ratmi Tibmeba; es gelangen drei Erstbegehungen (von Touren bis zu einer Schwierigkeit von 6b+) und eine Erstbesteigung.
Im August 2022 gelang Tiefenthaler gemeinsam mit ihrer Seilpartnerin Babsi Vigl die Integraltraverse der Drei Zinnen an einem Tag. Die Integraltraverse ist die gesamte Uberschreitung aller funf Gipfel auf schwierigen Routen, wobei sie von West nach Ost kletterten. Sie begannen mit der Scoiattolikante auf die westliche Zinne, von dieser stiegen sie uber den Normalweg ab und uber die Dulfer auf die Große Zinne. Von dieser stiegen sie uber den Normalweg ab und uber die Innerkofler auf die Kleine Zinne. Uber die Westkante kletterten sie schließlich auf die Punta di Frida. Durch deren Ostwand querten sie zur letzten Scharte und bestiegen dann den Preussturm uber dessen Westwand.
Am 25. Marz 2022 kletterte Tiefenthaler die beruhmte Heckmair-Route an der Eiger-Nordwand im Alleingang in nur 15 Stunden. Als Vorbereitung hatte sie die Route mit ihrer Seilpartnerin Jana Mohrer bereits am 8. Marz durchstiegen. Am 24. Marz war sie bereits einmal free solo eingestiegen, hatte aber die falsche Route genommen und daher entschieden, abzubrechen und es erst am nachsten Tag wieder zu probieren. Seit der legendaren Begehung von Catherine Destivelle im Jahre 1992 ist eine Free-Solo-Begehung nur wenigen gelungen. Tiefenthaler ist die zweite Frau, der dies gelang.
Vom 11. Juli bis zum 9. August 2023 nahm Tiefenthaler an der Abschlussexpedition des Frauenkaders nach Tasiilaq in Gronland teil, wo entlegene Lager von der Kuste zu Fuß erreicht und eingerichtet werden mussten, dabei marschierten die acht Frauen insgesamt 800 km uber Trampelpfade mit insgesamt 800 kg Trage-Arbeit. Dem Team gelangen Begehungen mehrerer schwerer und langer Klettertouren und die Erstbegehung der Klettertour Disco Fox (7b, 10 Seillangen) beim Tasiilaq-Fjord nordostlich von Tasiilaq.
Im September 2023 durchstieg Tiefenthaler zusammen mit Thomas Bukowski die drei Nordwande der Drei Zinnen an einem Tag, namlich die Cassin an der Westlichen, die Comici an der Großen und die Innerkofler an der Kleinen Zinne. Im Januar 2024 war sie wieder mit Thomas Bukowski unterwegs, diesmal in Patagonien. Sie durchkletterten die Route „El Corazon“ in der Ostwand des Fitz Roy. Sie mussten sich aber verschiedenen Schwierigkeiten stellen (schlechtes Wetter, Nasse, Vereisung, Probleme beim Abseilen, weggeflogenes Zelt), was dazu fuhrte, dass sie 72 Stunden am Stuck unterwegs waren. Mitte Januar erstieg Tiefenthaler zusammen mit Tad McCrea die „Davis-Potter“ Route in der Nordwand der Aguja Poincenot.
Auszeichnungen Paul-Preuß-Preis: 2023 wurde ihr der Paul-Preuß-Preis als Forderpreis als besonderes Nachwuchstalent verliehen.
Einzelnachweise
|
Laura Tiefenthaler (* 14. Juli 1996 in Innsbruck) ist eine osterreichische Kletterin, Hohenbergsteigerin, Bergfuhrerin und Arztin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Laura_Tiefenthaler"
}
|
c-431
|
Myrtle Hart, auch Louise Kavanaugh (MacKinlay), (* 1. Marz 1877 in Evansville, Indiana; † 23. Oktober 1966 in Boston) war eine US-amerikanische Harfenistin. Sie gilt als die erste afroamerikanische Frau, die mit diesem Instrument in den Vereinigten Staaten offentlich auftrat.
Biographie Myrtle Hart war eine Tochter von Sarah (1849–1932) und Henry Hart (1839–1915), die beide Musiker waren: Die Mutter spielte Klavier, der Vater Geige, und er komponierte. Hart war eine Urenkelin einer Sklavin namens Dolly. Diese war im Gefolge von Holzfallern, die fur den Pionier Daniel Boone arbeiteten, nach Kentucky gebracht worden. Dort gebar sie ihren Sohn Frederick, gezeugt von dem weißen Sklavenhalter Richard Callaway. Frederick war frei ab 1850, und er nahm den Nachnamen des Sklavenhalters Nathaniel Hart an. Fredericks Sohn Henry, Myrtles Vater, wurde 1839 in Frankfort, Kentucky geboren. Sarah und Henry Hart heirateten 1866 und bekamen sieben Tochter, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Myrtle war die viertalteste. Eine Schwester erhielt den Namen William, genannt „Willie“, da sich Henry einen Sohn gewunscht hatte.
1867 zogen die Harts nach Evansville in Indiana, wo Henry einen Friseursalon eroffnete. Gleichzeitig trat er in Theatern auf und leitete Salonorchester, die bei Tanzveranstaltungen aufspielten. Auch publizierte er eigene Kompositionen, mehrheitlich Tanz- und Unterhaltungsmusik. Beide unterrichteten ihre Tochter im Klavierspiel sowie an weiteren Instrumenten, sodass man das The Henry Hart Orchestra bilden konnte. Myrtle Hart lernte Klavier, Geige und Harfe. 1879 zog die Familie nach Indianapolis. Dort waren 22 afroamerikanische Musiker im Census aufgefuhrt, vier davon gehorten zur Familie Hart. Die Indianapolis News berichtete, dass die Harts bei drei Besuchen von US-Prasidenten musizierten sowie bei der Einfuhrung eines Gouverneurs.
Ab Anfang der 1890er Jahre erhielt Myrtle Hart Gelegenheiten, als Harfenistin solo aufzutreten. So wurde sie 1893 fur Auftritte im britischen Teil der World’s Columbian Exposition engagiert, um dort auf Harfen des franzosischen Instrumentenbauers Sebastien Erard zu spielen. Dass auf der Ausstellung Harfen aus England zu sehen waren, ging mutmaßlich auf die Initiative von Edmund Schuecker zuruck, der Solo-Harfenist des Chicago Orchestra war und Myrtle zu diesem Zeitpunkt seit einem Jahr unterrichtete. Henry Hart fand großen Gefallen an einer Harfe von Erard, die nahezu 1000 Dollar kostete. Der Pharma-Unternehmer Eli Lilly lieh Hart die Kaufsumme, ohne einen Termin fur die Ruckzahlung zu nennen. In einem Brief an den Dichter Paul Laurence Dunbar sprach Myrtle Hart 1895 von ihrem Instrument als „darling harp“ (liebe Harfe).
Rund zehn Sommersaisons lang trat die Hart-Familie – Henry, Myrtle und ihre Schwester Willie – am Lake Wawasee auf, wo sich ein Erholungsresort mit Luxushotel fur die Wohlhabenden aus Chicago und Indianapolis befand; Besitzer des Hotels war Eli Lilly. Nach einem Konzert von Myrtle Hart in Chicago schrieb die Chicago Daily News: „[...] the talented young woman is very much in love with her harp and has thoroughly mastered it. Her playing is marked by brilliant execution, pure tones, and extreme delicacy of touch. Her fingering is graceful and easy [...]“ („[...] die talentierte junge Frau ist sehr verliebt in ihre Harfe und beherrscht diese vollkommen. Ihr Spiel ist gepragt von brillanter Ausfuhrung, reinen Tonen, und extremer Zartheit im Anschlag. Ihr Fingersatz ist anmutig und leicht [...]“). Ein Kritiker der Washington Post bezeichnete Myrtle Hart als „the only coloured harpist in the country“ („einzige farbige Harfenistin im Land“). Die Daily News beschrieb sie als derart hubsche, junge Frau mit kaum so viel „Negerblut“, dass man ihr ihre „Nationalitat“ nicht ansehe. Am 11. April 1903 gehorte Myrtle Hart zu einer Gruppe von Musikern, die in der New Yorker Webster Hall vor den Spitzen der Gesellschaft auftrat; 1905 spielte sie in der Columbus Avenue AME Zion Church in Boston.
1907 heiratete Myrtle Hart ihren ersten Ehemann John Luther Fry (1867–1938). Das Paar bekam zwei Kinder, die Tochter Frances und den Sohn John Luther, der spater vom zweiten Ehemann seiner Mutter adoptiert wurde und den Namen William MacKinlay, Jr. erhielt. Laut seinem spateren Nachruf war Fry pensionierter Captain der United States Army und von Beruf Hotelangestellter, dem zuvor einmal das Keystone Hotel selbst gehort haben soll und der mutmaßlich wegen seiner finanziellen Ruckschlage in spateren Jahren an Depressionen litt.
Von 1919 bis 1926 war Hart Mitglied der Chicagoer Gruppe der American Federation of Musicians. Dann aber verlegte sie ihren Lebensmittelpunkt zunachst nach New York, spater Richtung Boston. Bekannt ist, dass sie 1925 mit der Beethoven Society von New York auftrat. 1926 heiratete sie ihren zweiten Ehemann William McKinlay (1875–1942), den langjahrigen Dirigenten des Boston Colonial Theatre Orchestra, und nannte sich fortan Louise Kavanaugh; wann sie sich von John Luther Fry hatte scheiden lassen, ist unbekannt. Wahrend Myrtle Hart in Chicago mit Fry gelebt hatte, waren die Eheleute in den Censuslisten als „schwarz“ registriert, in Boston jedoch galten Louise Kavanaugh und ihr Ehemann William McKinlay als „weiß“. Laut Harts Biograph Clark Kimberling war diese Form der Uberschreitung von Rassengrenzen, heute auch Passing genannt, zu der damaligen Zeit nicht unublich. Harts Enkelin Judith Simmons nimmt an, dass es unerlasslich war, weiß zu sein, um von großen Symphonieorchestern engagiert zu werden; ihre Großmutter habe unter diesem gesellschaftlichen Druck und der beruflich notwendigen Verstellung gelitten.
Uber die weiteren Lebensjahre von Myrtle Hart ist wenig bekannt. Im Alter erkrankte sie an Alzheimer, wie ihre Enkelin berichtete. Sie starb am 23. Oktober 1966 im Alter von 89 Jahren und wurde auf dem Mount Auburn Cemetery in Massachusetts neben ihrem Mann bestattet. Sie uberlebte vier ihrer funf Schwestern.
Literatur Clark Kimberling: Myrtle Hart (Louise Kavanaugh), Harpist: A Documentary Story. In: American Harp Society (Hrsg.): American Harp Journal. Band 27, Nr. 4, 2021, S. 9–17 (englisch, google.com [PDF; 8,0 MB]).
Einzelnachweise
|
Myrtle Hart, auch Louise Kavanaugh (MacKinlay), (* 1. Marz 1877 in Evansville, Indiana; † 23. Oktober 1966 in Boston) war eine US-amerikanische Harfenistin. Sie gilt als die erste afroamerikanische Frau, die mit diesem Instrument in den Vereinigten Staaten offentlich auftrat.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Myrtle_Hart"
}
|
c-432
|
Die schwere Stunde ist ein Gemalde der deutschen Malerin Charlotte Berend-Corinth, das um 1908 entstand. Es zeigt eine Frau wahrend der Geburtswehen mit zwei Figuren, die sie bei der Geburt ihres Kindes unterstutzen. Das Bild wurde 1908 bei der Ausstellung der Berliner Secession als eines der ersten Bilder von Berend-Corinth ausgestellt und loste dort sehr unterschiedliche Reaktionen aus: Wahrend es in der Kritik teilweise als „gut gemaltes, wie schlecht erdachtes naturalistisches Kraftstuck“ wie auch als Bild mit „widerlichem Beigeschmack“ tituliert wurde, erhielt es vor allem von Kunstlerkollegen und ‑kolleginnen wie Max Liebermann, Max Slevogt und insbesondere Else Lasker-Schuler viel Lob.
Gekauft wurde das Bild von dem Gynakologen Paul Straßmann, der es in seiner Berliner Frauenarztpraxis aufhangte. Heute gilt es als verschollen; eine Olstudie befindet sich im Lentos Kunstmuseum Linz und eine Fotografie im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See.
Bildbeschreibung Das Bild zeigt eine auf einem Bett liegende Frau in den Geburtswehen sowie zwei Figuren, eine Hebamme und ein Kind, die sie bei der Geburt ihres Kindes unterstutzen. Sie liegt auf einem weißen Bettlaken und ihr Korper ist teilweise von Laken und weiterer Kleidung bedeckt, die Bruste und der Bauch sind entbloßt. Die Frau blickt nach oben. Ihr Gesicht ist durch den Wehenschmerz wie bei einer Grimasse verzerrt mit weit geoffnetem Mund und zugekniffenen Augen. Ihre rechte Hand liegt an ihrer Schlafe, die linke reicht vom Bett herunter und wird von einer der beiden Hebammen gehalten. Beide Arme sind angespannt, die rechte Hand zu einer Klaue verkrampft. Ihre Beine sind angewinkelt.
Das Kind blickt aus dem Bild heraus seitlich in Richtung des Betrachters, wahrend sie den Arm der Frau halt. Es tragt ein dunkles Oberteil und einen schwarzen Rock. Die hintere Hebamme legt ihre Hand auf den unteren Bauch der Gebarenden, auch sie ist in dunklen Farbtonen gekleidet. Die drei Figuren bilden eine Komposition auf mehreren Ebenen, in der die werdende Mutter umgeben und geschutzt ist.
Hintergrund und Rezeption Charlotte Berend-Corinth begann bereits im Kindesalter mit dem Zeichnen und Malen. Sie besuchte nach ihrem Schulabschluss zuerst die Konigliche Kunstschule zu Berlin, wo sie nach einer Prufung als nur eine von zwei Schulerinnen angenommen wurde, und danach die Unterrichtsanstalt des Kunstgewerbemuseums. Nach dem Suizid ihres Vaters fehlten der Familie die Mittel fur ein weiteres Studium am Berliner Kunstgewerbemuseum und sie musste ihre Ausbildung an einer privaten Malschule fortsetzen. Sie begann ihren Unterricht 1901 an der Malschule von Lovis Corinth, den sie 1904 heiratete. Nach Darstellung von Irmgard Wirth war dies auf der einen Seite ihre Chance, „ihre Anlagen am nachhaltigsten zu fordern“, auf der anderen Seite barg es jedoch auch „die große Gefahr, sich neben einem Großen, neben Corinth, dem so viel reiferen genialen Kunstler, […] behaupten“ zu mussen, ohne eine „reine Nachahmerin seiner Kunst“ zu sein.
Mit ihren ersten Arbeiten aus den fruhen Ehejahren konnte sie sich allerdings bereits als sehr eigenstandig beweisen und eine „spezifisch weibliche, zugleich auch fast kuhne Auffassung“ ihrer Kunst zeigen. Bereits 1906 zeigte sie mit dem heute verschollenen Die Mutter ihr erstes Gemalde in der Ausstellung der Berliner Secession und 1908 folgte mit der heute ebenfalls verschollenen Geburtsszene Die schwere Stunde ein Werk, das trotz oder wegen des gewagten Themas das Publikum und die Fachpresse beeindruckte. Mit der Aufnahme dieses Bildes zeigte die Secession zugleich, „dass hier durchaus auch radikale Bilder von Kunstlerinnen auf Wohlwollen und Akzeptanz stießen.“ Charlotte Berend-Corinth brach mit der Prasentation mehrere Tabus: Zum einen stellte sie mit der Geburt eine Szene in den Mittelpunkt, die in der europaischen Kunsttradition „keineswegs als bildwurdig“ angesehen wurde.
Das Bild wurde kritisiert als „gut gemaltes, wie schlecht erdachtes naturalistisches Kraftstuck“ wie auch als Bild mit „widerlichem Beigeschmack“, das trotz seiner „unleugbaren kunstlerischen Qualitaten doch durch das naturalistisch Unverhullte der Szene einen reinen Genuß nicht aufkommen laßt“. Rudolf Lothar warf in einem Feuilletonbeitrag gar die Frage auf, was „die Kunstlerin veranlaßt hat, eine Entbindung zu malen […]. Schließlich gibt es doch auch Grenzen des Darstellbaren, und daß gerade eine Frau diese Grenzen uberschreitet, ist nicht das am wenigsten Seltsame an dem Bilde.“
Auf der anderen Seite bekam sie allerdings auch sehr viel Lob in der Presse, beim Publikum und bei Kunstlerkollegen, darunter bei Max Liebermann, Max Slevogt und vor allem bei Else Lasker-Schuler. Fur Eliza Ichenhaeuser war „‚Die schwere Stunde‘ (der Frau) [ein Gemalde], das einen großen inneren Reichtum verrat“. Barbara Hordych bezeichnete es 2016 in der Suddeutschen Zeitung als „eruptiv expressionistisches Gemalde“ und zitierte Lasker-Schuler mit den Worten: „Charlotte Berend hat ein Historienbild des Naturgesetzes gemalt; es mußte neben Michelangelos Moses im Tempel der Galerien hangen.“ Andrea Jahn interpretiert das Bild 2022 und zeigt dabei auf, „dass es der Kunstlerin in diesem Bild um weit mehr geht als darum, den Geburtsprozess in naturalistischer Form festzuhalten.“ Durch die Wahl des Zeitpunkts zum Einsetzen der Wehen und des dynamischen, impressionistischen Malstils entfernt sie den Frauenkorper von der Bedeutung als „Projektionsflache mannlicher Fantasien“ und konfrontiert die Betrachter mit der Anstrengung der anstehenden Geburt, die sich jedweder Idealisierung verweigert und den kraftezehrenden Prozess offenlegt, „der den Korper an seine Grenzen bringt und nicht dazu geeignet ist, das klassische Bild von passiver Weiblichkeit zu bestatigen.“ Sie konfrontiert ihr Publikum damit „mit einem Selbstportrat, in dem die Fahigkeit, ein Kind zur Welt zu bringen, zu einem wichtigen Teil kunstlerischer Selbstbehauptung wird.“
Provenienz Das Bild wurde 1908 bei der Ausstellung der Berliner Secession als erstes Bild von Berend-Corinth ausgestellt und nach der Ausstellung an den Gynakologen Paul Straßmann verkauft, der es in seiner Berliner Frauenarztpraxis aufhangte. Der weitere Verbleib ist nicht dokumentiert, heute gilt das Original als verschollen. Eine Olstudie des Bildes befindet sich im Lentos Kunstmuseum Linz und eine Fotografie im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See.
Literatur Andrea Jahn: „Eine schwere Geburt – Charlotte Berens Bilder uber weibliche Kreativitat und Selbstbehauptung.“ In: Andrea Jahn (Hrsg.): Charlotte Berend-Corinth – Wiederentdeckt. Hirmer, Munchen 2022, ISBN 978-3-7774-3939-6; S. 20–35.
Belege
|
Die schwere Stunde ist ein Gemalde der deutschen Malerin Charlotte Berend-Corinth, das um 1908 entstand. Es zeigt eine Frau wahrend der Geburtswehen mit zwei Figuren, die sie bei der Geburt ihres Kindes unterstutzen. Das Bild wurde 1908 bei der Ausstellung der Berliner Secession als eines der ersten Bilder von Berend-Corinth ausgestellt und loste dort sehr unterschiedliche Reaktionen aus: Wahrend es in der Kritik teilweise als „gut gemaltes, wie schlecht erdachtes naturalistisches Kraftstuck“ wie auch als Bild mit „widerlichem Beigeschmack“ tituliert wurde, erhielt es vor allem von Kunstlerkollegen und ‑kolleginnen wie Max Liebermann, Max Slevogt und insbesondere Else Lasker-Schuler viel Lob.
Gekauft wurde das Bild von dem Gynakologen Paul Straßmann, der es in seiner Berliner Frauenarztpraxis aufhangte. Heute gilt es als verschollen; eine Olstudie befindet sich im Lentos Kunstmuseum Linz und eine Fotografie im Buchheim-Museum in Bernried am Starnberger See.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Die_schwere_Stunde"
}
|
c-433
|
Die Damengalerie oder Damenloge der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 waren 200 Platze im Erdgeschoss der Rotunde der Paulskirche, die Frauen vorbehalten waren. Fur den Zugang benotigten sie eine Eintrittskarte. Darin unterschieden sie sich von den Platzen auf den Rangen und zeitweilig neben dem Germania-Gemalde, die allen Geschlechtern offen standen.
Frauen waren ab 1820 in einigen deutschen Landesparlamenten als Publikum zugelassen, aber nicht in der beratenden Versammlung vor der Wahl der Nationalversammlung (Vorparlament genannt). Die Abgeordneten der Nationalversammlung erlaubten Frauen den Zugang als Zuschauerinnen, da sie einen Teil der Nation reprasentierten. Doch ein weitergehendes politisches Engagement wurde den Frauen nicht zugestanden.
Die Damengalerie war bei fast allen Sitzungen des Parlaments uberfullt, auch die Platze auf den Rangen wurden rege genutzt. Vor allem Frauen aus dem Frankfurter Burgertum, aus dem kunstlerischen Bereich sowie Ehefrauen und Tochter der Abgeordneten nutzten die Moglichkeit, bei den Verhandlungen dabei zu sein.
Die hinterlassenen Ego-Dokumente belegen das politische Interesse der Zuschauerinnen. Dagegen wird in zeitgenossischen Veroffentlichungen ein anderes Bild von den Zuschauerinnen gezeichnet: Karikaturen zeigen sie vor allem als neugierige Frauen, die es auf erotische Abenteuer anlegen und sich nur fur Außerlichkeiten der Abgeordneten interessieren.
Vorgeschichte Die Erfahrungen in der Zeit der Franzosischen Revolution fuhrten dazu, dass die mittel- und suddeutschen Staaten auf Verfassungen basierende Parlamente einrichteten. Die Verhandlungen dieser meist als Zwei-Kammer-Systeme organisierten Parlamente fanden in der Regel offentlich statt. In den Verfassungen war die Zulassung von Zuschauerinnen nicht geregelt. So musste dieses Thema in den folgenden Jahren ausgehandelt werden, was zu Kontroversen fuhrte.
Die Abgeordneten waren von Vorstellungen der Bipolaritat naturlicher Geschlechtscharaktere gepragt, wonach Politik und Offentlichkeit als mannliche Bereiche galten, wogegen Frauen dem Privaten und dem hauslichen Raum zugeordnet waren. Zunachst forderten vor allem liberale Abgeordnete die Zulassung von Zuschauerinnen, wobei es ihnen nicht um eine dadurch geforderte Mundigkeit der Frauen ging. Vielmehr sollten Frauen eine gewisse patriotisch-liberale Bildung erhalten und so besser als Erzieherinnen vor allem der Sohne wirken konnen. Die Gegner des weiblichen Zuschauens argumentierten dagegen, dass die Zulassung von Zuschauerinnen ein erster Schritt hin zur Abschaffung der mannlichen Fuhrungsrolle in der Offentlichkeit und der Familie ware. Außerdem fuhrten sie die Enge der Raumlichkeiten und die Schutzbedurftigkeit des „schwachen Geschlechts“ an.
Die Zweite Kammer Badens ließ 1820 als erstes Parlament Frauen im Publikum zu. Die Sitzungen waren sehr popular. Gerade aus dem beliebten Kurort Baden-Baden fuhren haufig Kurgaste, Manner und Frauen, ins nahegelegene Karlsruhe, um die Debatten mitzuerleben. Wahrend das Großherzogtum Baden liberal agierte, wechselte im Konigreich Bayern die gelebte Praxis immer wieder. Die zunachst großzugige Geschaftsordnung der Zweiten Kammer wurde 1825 auf Druck der bayerischen Regierung verscharft und insbesondere Frauen damit ausdrucklich als Zuschauerinnen ausgeschlossen. Nachdem die Opposition an die Macht gekommen war, wurde 1831 das Verbot wieder aufgehoben. Im Großherzogtum Hessen und im Konigreich Wurttemberg schlossen jeweils beide Kammern (Wurttembergische Landstande) Frauen als Zuschauerinnen aus. Selbst prominente Liberale wie Ludwig Uhland und Albert Schott hatten sich gegen ihre Anwesenheit ausgesprochen.
Im Konigreich Sachsen wurde erst 1831 ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament eingefuhrt. Wiederholte Antrage von verschiedenen Abgeordneten, Frauen als Zuschauerinnen zuzulassen, scheiterten. 1844/45 setzte sich die Schriftstellerin Louise Otto uber die mangelnde Erlaubnis hinweg und besuchte gemeinsam mit weiteren Frauen Debatten der Zweiten Kammer, was von den Kammermitgliedern nicht unterbunden wurde. Kurz darauf war ein Antrag auf Zulassung der Zuschauerinnen bei der Ersten Kammer erfolgreich. Erst 1875 akzeptierte die Zweite Kammer des Konigreichs Wurttemberg als letztes deutsches Parlament Frauen als Zuschauerinnen.
Zugang von Frauen zu Debatten in der Paulskirche Am 31. Marz 1848 trat in der Paulskirche in Frankfurt am Main das sogenannte Vorparlament, eine beratende Versammlung von liberalen und demokratischen Politikern, zusammen, das die Wahlen zur Nationalversammlung vorbereiten sollte. Wahrend der vier Tage dauernden offentlichen Debatte erhielten Frauen offiziell keinen Einlass. Am letzten Tag gelang es mehreren Frauen, darunter der Schriftstellerin Malwida von Meysenbug, der Frankfurter Burgerin Clotilde Koch-Gontard und mehreren Ehefrauen von Abgeordneten, auf der Kanzel hinter schwarz-rot-goldenen Tuchern versteckt heimlich die Verhandlungen mitzuverfolgen.
Zu den Sitzungen der Nationalversammlung waren Frauen ab der ersten Sitzung am 18. Mai 1848 zugelassen. Ihnen standen mehrere Moglichkeiten offen. In der Paulskirche waren alle parlamentarischen Funktionen im Erdgeschoss der Rotunde untergebracht. Von den Rangen, auf denen Frauen als regulare Zuschauerinnen einen Platz einnehmen durften, konnte das Geschehen wie im Theater verfolgt werden. Zusatzlich wurden mehrere separate Bankreihen als Sitzgelegenheiten auf der Hohe der Abgeordneten eingerichtet, Damengalerie oder -loge genannt.
Zutritt zur Damengalerie, die 200 Platze aufwies, hatten nur Frauen mit einer Eintrittskarte, die sie von einem Abgeordneten erhalten hatten. Die Abgeordneten wiederum erhielten die Karten im Sekretariat der Nationalversammlung. Etwas spater richtete die Versammlung noch zusatzliche Platze ein, die sich erhoht neben der von einem Germania-Gemalde verdeckten Orgel befanden und unabhangig vom Geschlecht vergeben wurden.
Einen etwas anderen Zugang zum Parlament hatte dagegen die damals 23-jahrige Claire von Glumer. Sie assistierte ihrem Vater, einem politischen Journalisten, ein halbes Jahr bei der Parlamentsberichterstattung fur die Magdeburger Zeitung. Dabei saß sie mit und ohne ihn auf den Journalistenbanken, die die Abgeordnetenplatze ringformig einfassten.
Gelegentlich wurde die „parlamentarische Ordnung der Geschlechter“ auch durchbrochen. So setzten sich am 12. Juli 1848, wahrend der Einfuhrung des Reichsverwesers, „Hunderte von Damen“ auf von Abgeordneten frei gelassene Platze. Die ganze Versammlung hatte daraufhin, so berichtete ein Abgeordneter „sehr gemischt und heiter und keineswegs feierlich ausgesehen“. Die Sangerin Wilhelmine Schroder-Devrient nahm sich bei ihrem Besuch am 28. Marz 1849, dem Tag der Kaiserwahl, die Freiheit, einen Platz auf den Journalistenbanken (neben Claire von Glumer) einzunehmen.
Es gibt keine Quellen dazu, wie es zur allgemeinen Zulassung von Zuschauerinnen und der Einrichtung der Damengalerie kam. Der Historiker Henning Turk verweist auf die etablierte Praxis in den Landesparlamenten und die allgemeine revolutionare Stimmung. Zudem sei es zu dieser Zeit ublich gewesen, dass Frauen an Versammlungen und Kampfen des Vormarz, an Fahnenweihen, an karitativen Veranstaltungen oder Gerichtsverhandlungen teilnahmen. In dieser Situation ware es anachronistisch gewesen, sie als Zuschauerinnen im Paulskirchenparlament auszuschließen. Neuere Forschungen hatten außerdem gezeigt, dass fur das Paulskirchenparlament das Publikum symbolisch fur die Nation des zu grundenden Staates stand. Die Redner sprachen – anders als in den Standekammern – nicht mehr zum Prasidenten, sondern zu den Abgeordneten und dem Publikum. Frauen waren Teil der deutschen Nation. Durch ihre Teilnahme legitimierten sie die Arbeit der Abgeordneten.
Besucherinnen der Damengalerie Verschiedenste Quellen berichten, dass die Damengalerie meist uberfullt war. Viele Frauen waren von den Parlamentsverhandlungen fasziniert und besuchten sie regelmaßig. Etliche Besucherinnen berichteten, dass die Reden sie derart fesselten, dass sie stundenlang ihre Platze nicht verließen und erst abends dazu kamen, etwas zu essen.
Allein aus sozio-okonomischen Grunden gehorten zu den Besucherinnen vor allem Frauen des Burgertums wie auch aus dem Bereich der Kunst. Koch-Gontard, die einen politischen Salon ausrichtete, in dem mit Ausnahme der radikalen Linken Abgeordnete aller Gruppierungen des Parlaments verkehrten, veranlasste Serafine Jordan und Josefine Buhl, beides Ehefrauen von Abgeordneten, die Sitzungen regelmaßig zu besuchen. Weitere Besucherinnen, deren Eindrucke und Einstellungen sich in ihren Tagebuchern und Briefen nachvollziehen lassen, waren die Abgeordnetenehefrauen und ‑tochter Anna Claussen, Corradine Droge, Amadore Freudentheil, Emilie Madai, Julie Pagenstecher, Emilie Uhland, Hermine Wurm und Louise Zimmermann.
Einige Besucherinnen, aber nicht alle, außerten – zumindest im privaten Kreis – engagierte und selbstbewusste politische Ansichten. Dabei zeigten sich die Frauen frustriert von der Lucke zwischen ihrer erfolgten Politisierung und den geringen politischen Mitspracherechten. So schrieb Koch-Gontard in einem Brief 1848 an ihre Freundin Josefine Buhl: „Ich habe es in den letzten Zeiten recht schmerzlich empfunden, nur eine Frau sein zu mussen, die das Zusehen hat, und doch mit Gefuhl und Tatkraft im Leben begabt ist.“
Die Damengalerie befand sich auf der vom Prasidenten aus gesehen linken Seite, die Frauen saßen also in der Nahe der politisch linken Abgeordneten. Den dort sitzenden Zuschauerinnen wurde daher von Kommentatoren oft zugeschrieben, uberwiegend fur die linken Abgeordneten zu schwarmen. Einige Besucherinnen, darunter Schroder-Devrient und die Schriftstellerin Fanny Lewald, die vier Monate in Frankfurt am Main verbrachte, waren durchaus links eingestellt. Trotzdem schwarmten sie keineswegs fur die Abgeordneten. Andere wie Koch-Gontard oder Buhl praferierten entschieden andere politische Richtungen.
Zeitgenossische Rezeption Obwohl sie Frauen als Zuschauerinnen zugelassen hatten, scheinen die meisten Paulskirchenabgeordneten dennoch von getrennten Spharen von Mannern und Frauen in der Politik ausgegangen zu sein. Diesen Schluss zog der Historiker Richard Hoter aus Abgeordneten-Eintragen in Koch-Gontards Stammbuch, wobei er auf die haufigen Bezuge auf die Antike mit ihren tradierten Mechanismen der Zuweisung von Geschlechterrollen verwies.
In der Offentlichkeit kamen nur mannliche Meinungen in den Blick, sei es durch Zeitungen, Karikaturen oder publizierte Darstellungen uber die Arbeit der Nationalversammlung. Die Zuschauerinnen in den Landtagen waren nach ihrer Zulassung nicht weiter offentlich kommentiert worden. Bei den Zuschauerinnen der Frankfurter Nationalversammlung war das anders. Es gibt zahlreiche zeitgenossische Karikaturen, die Zuschauerinnen in der Paulskirche darstellen. Laut Henning Turk folgen diese meist zentralen Darstellungsmustern, die typische mannlich-burgerliche Erwartungen an die Frauen widerspiegeln: Frauen, die sich nur fur die Außerlichkeiten der Abgeordneten interessierten und erotische Abenteuer anstrebten, Hausfrauen, die ihre Pflichten vernachlassigten, und Frauen als „schwaches Geschlecht“. Dabei wandten Autoren und Karikaturisten aller politischer Richtungen, auch von links, diese Muster an.
Ein konservativer Abgeordneter gestand den Zuschauerinnen in seinem Bericht nur Interesse an Außerlichkeiten zu:
Ein anderes Beispiel, diesmal von linker Seite, ist eine Karikatur, die Felix von Lichnowsky als Schoßhund der Damen auf der Galerie zeigt und ihn so lacherlich macht. Die Forderung des Aufsehers, den Hund zu entfernen, beantworten die Frauen mit der Bitte, den Schoßhund behalten zu durfen. Die Botschaft der Karikatur ist, dass es den Zuschauerinnen und Lichnowsky um profane Dinge wie Liebschaften, ums Sehen und Gesehenwerden geht, anstatt um Deutschlands Ruhm und Große, so der Historiker Henning Turk. Tatsachlich hatten die abgebildeten Frauen in der Realitat zu keinem Zeitpunkt Interesse an Lichnowsky gezeigt.
Das Stereotyp der Hausfrau, die ihre Familie und Pflichten vernachlassigt, wurde am scharfsten von Linken vorgebracht. Ein Beispiel ist eine Karikatur in der Munchner Satirezeitschrift Fliegende Blatter von 1848, die eine hungrige Familie und eine spat aus der Paulskirche zuruckkehrende Ehefrau und Mutter zeigt. Der Familienvater fragt, warum es jetzt immer so spat Essen gebe. „Geistige Nahrung geht vor“, erwidert die Frau. Auf die nachste Frage des Mannes antwortet sie, dass sie sich fur „monarchisch-republikanische Anarchie auf breitester Grundlage“ einsetze, womit sie offenlegt, dass sie keinerlei politisches Verstandnis hat und ihren Paulskirchenbesuchen wohl trivialere Grunde als echtes politisches Interesse zugrunde liegen.
Eine weitere Karikatur aus den Fliegenden Blattern verwendet das Stereotyp der Frau als „schwaches Geschlecht“. Eine Parlamentszuschauerin liegt zu Hause erschopft auf dem Sofa und kundigt eine notwendige Kur an, um sich vom Stress der Verhandlungen zu erholen. Die Anmerkung des Mannes, dass sie ihr starkes politisches Engagement kunftig auch als Schutzwache in der Burgerwehr zeigen konnte, verweist auf ein damals oft vorgebrachtes Argument gegen politische Rechte fur Frauen. Carl Theodor Welcker hatte geschrieben: „Wer den Krieg zu beschließen das Recht haben will, der muß ihn auch zu fuhren im Stande sein.“ Die karikierte Frau ist schon vom Zuhoren erschopft, alle weiter gehenden Aufgaben wurden ihre Krafte ubersteigen, so der Karikaturist.
Karikaturen uber Zuschauerinnen in der Frankfurter Nationalversammlung
Die oft gezeigte negative Meinung uber an Politik interessierte Frauen, was sie durch Besuche der Nationalversammlung zeigten, fuhrte im Fall der Henriette Zobel zu drastischen Konsequenzen. Sie wurde nach der Ermordung der Abgeordneten Felix von Lichnowsky und Hans von Auerswald am 18. September 1848 mit anderen verhaftet. Im Prozess wegen des Mordes an Lichnowsky wurde sie zur hochsten Strafe (16 Jahre Zuchthaus, spater auf 15 Jahre verkurzt) verurteilt, obwohl sie mit ihrem Tatwerkzeug (einem Regenschirm) den Abgeordneten kaum ernsthaft verletzt haben konnte. Doch Zobel war dafur bekannt, die Nationalversammlung regelmaßig besucht zu haben. Im Prozess wurde sie als „Furie“ und „Megare“ gebrandmarkt. Der das Urteil beeinflussende Vorwurf war, „Politik getrieben“ zu haben. An Zobel wurde wegen ihres politischen Interesses ein Exempel statuiert.
Trotz der negativen Begleiterscheinungen zog Louise Otto 1850 folgendes Fazit:
Forschungsstand Wahrend die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen ein lebhaftes Interesse an der Damengalerie und den Parlamentszuschauerinnen zeigten, wurden in der historischen Forschung die Zuschauertribunen der Paulskirche mit ihrer Damengalerie lange nicht beachtet. Der Schwerpunkt lag auf den Inhalten der Verhandlungen und den politischen Auseinandersetzungen der Fraktionen. Die Frauengeschichtsforschung ab den 1970er Jahren behandelte zunachst Frauen, die in den Revolutionen kampfend mitwirkten oder die Revolution schreibend begleiteten, und wandte sich dann in den 1980er Jahren der Analyse der Protestformen von Frauen unter einem sozialgeschichtlichen Blickwinkel zu. Dabei kam auch die Zulassung der Frauen als Zuschauerinnen in der deutschen Nationalversammlung unter dem Aspekt „Offentlichkeit“ in den Blick.
Stanley Zucker untersuchte 1987 die Beteiligung der Ehefrauen der Abgeordneten in ihren Rollen als Salongastgeberinnen, Vereinsmitglieder oder Parlamentszuschauerinnen. Dabei interpretierte er eine von Louise Zimmermann erstellte Abschrift des Buchs Lebensbilder aus der Deutschen Nationalversammlung von Ludwig Schatte als von ihr selbst verfasst und bezeichnete diese als die ausfuhrlichste weibliche Darstellung der Damengalerie. Diese Fehlzuschreibung wurde in der Literatur vielfach ubernommen. Alexa Geisthovel analysierte 2002 die Briefe einer Abgeordnetenehefrau. Richard Hoter hat bei seiner detaillierten Betrachtung des Publikums der Frankfurter Nationalversammlung das weibliche Zuschauen im Zusammenhang einer veranderten Parlamentskommunikation in den Blick genommen.
Henning Turk wiederum erarbeitete 2017, wie es zur Einrichtung der Damengalerie kam und welche Funktion sie fur das Paulskirchenparlament hatte. Dazu untersuchte er die Selbstwahrnehmung der Zuschauerinnen anhand von Ego-Dokumenten und kontrastierte sie mit der Darstellung des weiblichen Publikums in zeitgenossischen Karikaturen, was er 2023 weiter vertiefte.
Literatur Alexa Geisthovel: Teilnehmende Beobachtung. Briefe von der Damengalerie der Paulskirche 1848. In: Jurgen Herres, Manfred Neuhaus (Hrsg.): Politische Netzwerke durch Briefkommunikation. Briefkultur der politischen Oppositionsbewegungen und fruhen Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert (= Berichte und Abhandlungen Sonderband / Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Band 8). Akademie-Verlag, Berlin 2002, ISBN 978-3-05-003688-5, S. 303–333.
Richard Hoter: Das Publikum der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49. In: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft. Band 26, 2019, S. 75–121.
Henning Turk: „Ich gehe taglich in die Sitzungen und kann die Politik nicht lassen“. Frauen als Parlamentszuschauerinnen und ihre Wahrnehmung in der politischen Offentlichkeit der Marzrevolution 1848/49. In: Geschichte und Gesellschaft. Band 43, Nr. 4, 2017, ISSN 0340-613X, S. 497–525.
Henning Turk: Begrenzte Politisierung. Die weiblichen Zuschauer im Paulskirchenparlament wahrend der Marzrevolution 1848/49. In: Ariadne. Nr. 79, Mai 2023, ISSN 0178-1073, S. 6–27.
Stanley Zucker: Frauen in der Revolution von 1848. Das Frankfurter Beispiel. In: Archiv fur Frankfurts Geschichte und Kunst. Band 61, 1987, ISBN 978-3-7829-0345-5, S. 221–236.
Einzelnachweise
|
Die Damengalerie oder Damenloge der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 waren 200 Platze im Erdgeschoss der Rotunde der Paulskirche, die Frauen vorbehalten waren. Fur den Zugang benotigten sie eine Eintrittskarte. Darin unterschieden sie sich von den Platzen auf den Rangen und zeitweilig neben dem Germania-Gemalde, die allen Geschlechtern offen standen.
Frauen waren ab 1820 in einigen deutschen Landesparlamenten als Publikum zugelassen, aber nicht in der beratenden Versammlung vor der Wahl der Nationalversammlung (Vorparlament genannt). Die Abgeordneten der Nationalversammlung erlaubten Frauen den Zugang als Zuschauerinnen, da sie einen Teil der Nation reprasentierten. Doch ein weitergehendes politisches Engagement wurde den Frauen nicht zugestanden.
Die Damengalerie war bei fast allen Sitzungen des Parlaments uberfullt, auch die Platze auf den Rangen wurden rege genutzt. Vor allem Frauen aus dem Frankfurter Burgertum, aus dem kunstlerischen Bereich sowie Ehefrauen und Tochter der Abgeordneten nutzten die Moglichkeit, bei den Verhandlungen dabei zu sein.
Die hinterlassenen Ego-Dokumente belegen das politische Interesse der Zuschauerinnen. Dagegen wird in zeitgenossischen Veroffentlichungen ein anderes Bild von den Zuschauerinnen gezeichnet: Karikaturen zeigen sie vor allem als neugierige Frauen, die es auf erotische Abenteuer anlegen und sich nur fur Außerlichkeiten der Abgeordneten interessieren.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Damengalerie"
}
|
c-434
|
Die Klage der Kuh ist ein Dialog zwischen der Kuh und einer Horerschaft. Sie ist vom altesten Teil des Avestas uberliefert und basiert auf alten indoeuropaischen Mythen mit dem Motiv von Viehdiebstahlen. Sie gehort zu den bekanntesten Geschichten aus dem Avesta. Die Klage der Kuh ist eine Reform des Mythos fur die Gefolgschaft von Zarathustra mit weltlichen und spirituellen Elementen.
Einleitung Die Klage der Kuh ist ein Dialog aus den altesten Texten des Avestas. Der Dialog ist aus dem Yasna und tragt die Bezeichnung Yasna 29. Er ist in 11 Abschnitte unterteilt, die mit Yasna 29.1 bis Yasna 29.11 angegeben werden. Die Klage der Kuh ist Bestandteil des ersten Gesangs der Gathas.
Die Gathas, in die die Klage der Kuh eingereiht wird, sind ein historischer Text, der eine Gemeinschaft in einem kritischen Moment ihrer Geschichte beschreibt. Sie stellen Situationen und Ideen dar, die die Gemeinschaft beschaftigten, als diese Literatur geschaffen wurde. Die Gathas sprechen von denen, die sie beim Namen nennen, in der Gegenwart. Es geht um reale Menschen, die einen wichtigen Platz innerhalb der Familie, dem Clan oder im Stamm einnahmen. Der deutlichste Hinweis auf historische Personen ist deren Einbezug durch den Rezitator, wenn er um gottliche Gunst fur „Zarathustra und uns“ und „Vistaspa und mich“ bittet.
Inhalt Der dramatische Dialog der Klage der Kuh wird von der Kuh eroffnet, die sich an eine Horerschaft wendet. Sie klagt ihr ihr Leid und fordert ein Ende ihrer misslichen Lage.
Daraufhin wendet sich der Gestalter der Kuh an die Harmonie mit der Frage, ob es so vorgesehen sei, dass sich die Kuh auf der Weide ernahre, verbunden mit der Arbeit des Hirten. Welcher Hirte denn ihrer Meinung nach den Zorn und die Anhanger der Tauschung vertreiben konne. Nach ein paar Diskussionen wird die Frage Mazda ubergeben. Mazda ist nach Ansicht der Teilnehmer derjenige, der am besten im Gedachtnis behalt, welche Gebote fruher von (schlechten) Gottern und (schlechten) Menschen angewandt wurden und welche spater kommen werden. Er erklart, dass die Kuh im Rahmen der Schopfung, fur die er die Verantwortung trage, fur den Viehzuchter und Hirten vom Gestalter geformt worden sei. Der Gestalter der Kuh schlagt darauf Zarathustra als Hirten fur die Kuh vor. Die Kuh ist damit nicht zufrieden und beklagt sich.
Es bleibt der Kuh aber keine andere Wahl. Sie muss sich mit Zarathustra begnugen. Der Gesang endet mit einem nicht eindeutigen Gebet, um Zarathustra mehr Macht zu geben.
Beschreibung = Der Dialog =
Die Klage der Kuh ist in den Details aus verschiedenen Grunden schwierig zu verstehen. Eines der großten Probleme stellt die Identifikation des Erzahlers und der Zuhorer dar. Namentlich erwahnt sind die Kuh und der Gestalter der Kuh, Zarathustra und Mazda. Alle anderen Teilnehmer ebenso wie die Sprechenden in den einzelnen Abschnitten konnen nur vermutet werden.
Im Abschnitt 29.2 wird die in den Gathas einmalig aufgefuhrte Entitat Gǝus Tasan erwahnt, die mit Zimmermann der Kuh, beziehungsweise Gestalter der Kuh ubersetzt wird. Gemaß einer wissenschaftlichen Meinung ist es dieser, der in den Absatzen 29.2 bis 29.8 einen Dialog mit Mazda fuhrt. Der Dialog ist eingerahmt von den Klagen der Kuh in Absatz 29.1 und 29.9. Die zwei restlichen Abschnitte 29.10 und 29.11 nehmen in der Anrufung Mazdas den Faden aus dem vorherigen Gesang (Yasna 28) wieder auf.
Dem gegenuber steht die Annahme, dass in den meisten Abschnitten Zarathustra die sprechende Person ist (29.1, 29.2, 29.5–29.7, 29.9–29.11).
Fur den Sprecher des Abschnitts 29.8, worin Zarathustra als Hirte der Kuh vorgeschlagen wird, werden der Gestalter der Kuh, Mazda und Vohu Manah vorgeschlagen.
= Die Adressaten =
Bei den Anfang des Gesangs in der zweiten Person Plural angesprochenen anonymen Adressaten handelt es sich um eine Gruppe von guten Gottheiten, die nicht ausdrucklich Ahura Mazda zugeordnet werden konnen. Es sind Gottheiten, von denen die Kuh Hilfe und Schutz erwarten kann. Sie stellt ihnen die zwei Fragen, fur wen sie lebe und wer sie konstruiert habe. Ahura Mazda wird ihr in 29.6 antworten, dass sie nicht das Ergebnis einer kollektiven Tat von Gottern gewesen, sondern sie im Rahmen der Schopfung des Kosmos fur den Viehzuchter und den Hirten gestaltet worden sei.
= Der Gestalter =
Die Identitat des Gestalters der Kuh ist nicht vollstandig gesichert und wird gegenuber dem verantwortlichen Schopfer des Kosmos, Ahura Mazda, abgegrenzt. Wahrscheinlich stammt die Figur, die im Abschnitt 29.6 erwahnt ist, von der indoiranischen Figur des Tvashtri ab, der vom altesten Teil des Rigveda uberliefert ist. In der Klage der Kuh wird er Thvoreschtar (franzosisch le tailleur/der Schneider/le faconneur/der Formgeber; englisch: the Artisan/der Kunsthandwerker) genannt.
= Ahura Mazda =
Die Vormachtstellung von Ahura Mazda gegenuber allen anderen Gottheiten und dem Gestalter zeigt sich, indem er es selber ist, der der Klage der Kuh antwortet. Er ist der Autor und Verantwortliche fur den Kosmos, wie er erschaffen wurde. Wenn es die Gotter als Ganzes sind, die fur die standige Sicherheit und Pflege der Weide sorgen, so ist es Ahura Mazda als Schopfer, dem die archetypische Erschaffung der Kuh zu verdanken ist.
= Sprachliche Schwierigkeiten =
Die Schwierigkeit und die Unklarheiten des Textes haben zu vielen Interpretationen vor allem der nicht namentlich erwahnten Teilnehmer des Dialogs gefuhrt. Es haben sich zwei wissenschaftliche methodische Ansatze herauskristallisiert. Im streng philologischen Ansatz von Jean Kellens und Eric Pirart werden die abstrakten Bezeichnungen fur die Teilnehmer beibehalten. So ubersetzen sie zum Beispiel den avestischen Begriff aus den Texten mit Harmonie (l’Harmonie). Den gleichen avestischen Begriff interpretiert William W. Malandra als Asa Vahista. Analoges geschieht mit dem gottlichen Gedanken (la divine Pensee) zu Vohu Manah und dem Einfluss (l’emprise) zu Xsathra Vairya. Alle drei sind Wesenheiten der Amescha Spenta, die aber erst spater in der Orthodoxie des Avestas kanonisiert wurden.
Eine weitere Schwierigkeit bereitet das Verstandnis einzelner Passagen, so dass diese verschiedene und zum Teil unverstandliche Aussagen erfahren. Im Folgenden eine Ubersetzung des Abschnitts 29.7 mit dem streng philologischen Ansatz und eine zweite, die denselben Abschnitt interpretiert ubersetzt.
Mythos und Reform Die Klage der Kuh ist eine Geschichte, die ausschließlich in der indoiranischen Tradition zu finden ist. Sie hat sich aus den weiterverbreitenden Mythen der Viehdiebstahle heraus entwickelt.
Die Viehwirtschaft war die wirtschaftliche Basis der Indoeuropaer. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die Kuh oder der Ochse bei wichtigen indoeuropaischen Mythen anwesend ist, wie bei der Schopfung des Kosmos oder beim ersten Viehuberfall. Bei der Entstehung der Welt wird mit der Opferung eines Ochsen und dessen Tod die Schopfung in Gang gesetzt. Bei den Viehuberfallen ist das Vieh die Ursache einer kriegerischen Handlung gegen den wirtschaftlichen Lebensunterhalt. Die beiden Mythen hielten Einzug in die ganze indoeuropaische Literatur wie zum Beispiel bei den Opferritualen der Hethiter, den Viehuberfallen bei Homer oder Hesiod und einem vorgetauschten Viehuberfall bei der indischen Kronungszeremonie.
Die Geschichte der Klage der Kuh ist keine Erfindung von Zarathustra. In der indischen Erzahlung Ramayana wird zum Beispiel die Geschichte des Priesters Vasishta und des Konigs Vishvamitra erzahlt. In der Geschichte will der Konig die Kuh, die dem Priester so viel Reichtum beschert, in seinen Besitz bringen. Nachdem alle Angebote auf taube Ohren gestoßen sind, entfuhrt der Konig die Kuh. Die Kuh ist daruber nicht erfreut und flieht zuruck zum Priester. Dort klagt sie dem Priester ihr Leid.
Wahrend in der indischen Geschichte die Rivalitat zwischen Priesterschaft und weltlicher Herrschaft einen wichtigen Raum einnimmt, sind in der Reform Zarathustras Viehuberfalle nichts anderes als Diebstahl. In der Klage der Kuh werden am Anfang die sprachlichen Begriffe von Attributen eines Kriegers aufgelistet: dessen Zorn, die feindlichen Ubernahmen von Herden, die Grausamkeit, Dreistigkeit und Brutalitat. Aus dem Blickwinkel eines damaligen Kriegers waren dies Tugenden. Aus der Sicht Zarathustras entstand daraus Leid fur die Hirtenbevolkerung. Deshalb mussten sich die Anhanger Zarathustras verpflichten, auf Viehuberfalle zu verzichten.
Rezeption Der Dialog stellt eine Allegorie des Konflikts von Lebensumstanden und religiosen Auseinandersetzungen zur Zeit Zarathustras im Osten des Irans dar. Er schildert den Kampf Zarathustras fur die Etablierung seiner religiosen Lebensform. Die Seele der Kuh, Zarathustra und die ubrigen Teilnehmer des Dialogs reprasentieren den friedlichen und sesshaften Weg einer Agrikultur, in der die Viehzuchter eine wichtige Rolle spielen. Ihnen gegenuber stehen die gesetzlosen Nomaden und hartnackigen Gefolgsleute des alten Wegs, diejenigen, die die Daevas verehren. Der religiose Kontext gibt der Klage der Kuh sowohl einen weltlichen als auch spirituellen Inhalt.
Eine andere wissenschaftliche Meinung stellt die Religion mit ihren Ritualen in den Mittelpunkt. Die Gefolgsleute der Daevas, die die Falschheit gewahlt haben, fuhren gewalttatige, orgastische und blutige Opfer durch, wahrend Zarathustra und die Anhanger von Asa Vahista die Kuh respektieren und in den Ritualen angemessen behandeln.
Eine dritte Meinung schlagt in einer Hypothese vor, dass die Klage der Kuh eine ubertragene bildliche Darstellung der Daena sei. Das Konzept der Daena kommt nur kurz in den Gathas vor und ist dort ein unscharfer Begriff. In den spateren Texten des Avestas, wie dem Vendidad, wird Daena zum Programm fur Einsicht und Offenbarung. Die Hypothese wird bestarkt durch die Darstellung der Kuh im Rigveda, wo sie eine Metapher fur Dichtung darstellt.
Literatur Georges Dumezil: A propos de la plainte de l’ame du bœuf (Yasna 29). In: Bulletin de l’Academie royale de Belgique, Classe des Lettres, Band 51. Brussel 1965, S. 23–51. persee.fr
Jacques Duchesne-Guillemin: On the Complaint of the Ox-Soul. In: Journal of Indo-European Studies. Heft 1. Washington 1973, S. 101–104.
Bruce Lincoln: The Myth of the Bovine’s Lament. In: Journal of Indo-European Studies. Heft 3. Washington 1975, S. 337–362.
William W. Malandra: An introduction to ancient iranian religion. Readings from the Avesta and the achaemenid inscriptions. Minneapolis 1983, ISBN 0-8166-1114-9, S. 35–39.
Jean Kellens, Eric Pirart: Les textes vieil-avestiques. 3 Bande. Reichert Verlag, Wiesbaden 1988–1991, ISBN 978-3-88226-428-9, ISBN 978-3-88226-463-0 und ISBN 978-3-88226-516-3.
Jeans Kellens: Le pantheon de l’Avesta ancien. Reichert Verlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-88226-207-9.
Einzelnachweise
|
Die Klage der Kuh ist ein Dialog zwischen der Kuh und einer Horerschaft. Sie ist vom altesten Teil des Avestas uberliefert und basiert auf alten indoeuropaischen Mythen mit dem Motiv von Viehdiebstahlen. Sie gehort zu den bekanntesten Geschichten aus dem Avesta. Die Klage der Kuh ist eine Reform des Mythos fur die Gefolgschaft von Zarathustra mit weltlichen und spirituellen Elementen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Klage_der_Kuh"
}
|
c-435
|
Das National Cowgirl Museum and Hall of Fame ist ein Museum in Fort Worth im amerikanischen Bundesstaat Texas, das das Leben der Frauen des amerikanischen Westens dokumentiert.
Geschichte und Gebaude Das Museum wurde 1975 unter dem Namen National Cowgirl Hall of Fame and Western Heritage Center in der „Deaf Smith County Library“ in Hereford im Deaf Smith County eroffnet. 1994 wurde es nach Fort Worth verlegt. Am 9. Juni 2002 bezog das Museum das vom Architekten David Schwartz entworfene Gebaude im Museumsviertel von Fort Worth. Gemeinsam mit dem benachbarten „Cattle Raisers Museum“ und „Fort Worth Museum of Science and History“ ist es Teil des „Western Heritage Center“. Das Bauwerk wurde aus privaten Mitteln mit 21 Millionen US-Dollar finanziert. 2015 und 2018 wurden die einzelnen Ausstellungsbereiche grundlegend renoviert und umgestaltet.
Auf der Außenseite des Bauwerks ist ein monumentales Trompe-l’œil-Wandbild von Richard Haas zu sehen, das funf Cowgirls zeigt, die auf den Betrachter zugaloppieren. Auf dem Außengelande sind verteilt um das Gebaude mehrere lebensgroße Skulpturen aufgestellt, die bekannten Personlichkeiten wie Sacajawea nachempfunden sind oder Stereotype zeigen, wie die „Wustenprinzessin“ des Kunstlers Mehl Lawson, ohne Sattel reitende jugendliche Cowgirls, Packpferde, wilde Mustangs oder eine Stute mit Fohlen.
Museum Das Museum zeigt auf 3100 Quadratmetern mehr als 4000 Exponate und Informationen uber mehr als 750 Frauen. Es ist eine Bildungseinrichtung mit Ausstellungen, einer Forschungsbibliothek und einer Sammlung seltener Fotografien. Das Museum arrangiert regelmaßig Wanderausstellungen und organisiert Vortrage, Filme und andere kulturelle Veranstaltungen zum Thema Frauen in der Geschichte des amerikanischen Westens. Seit 2018 forscht und sammelt das Museum verstarkt zu schwarzen, indigenen und anderen farbigen Frauen aus Vergangenheit und Gegenwart, die in der Geschichte des Westens unterreprasentiert waren.
Im Erdgeschoss der Rotunde befindet sich die Hall of Fame. Ebenfalls im Erdgeschoss sind außerdem eine Ausstellungsgalerie und ein Theater. In die „Cowgirl Hall of Fame“ werden Frauen aus verschiedenen Bereichen aufgenommen, darunter Pionierinnen, Kunstlerinnen, Geschaftsfrauen, Padagoginnen, Viehzuchterinnen und Rodeo-Cowgirls, wobei jedes Jahr weitere Frauen hinzukommen. Elektronische Jahrbucher bieten Fotos und Biografien zu jeder Preistragerin. Das Obergeschoss der Rotunde wird von zwolf Glaswandgemalden mit Portrats von Cowgirls gesaumt. Die Bilder verandern sich langsam und erzeugen die Illusion von Bewegung.
Auswahl Hall of Fame:
Im ersten Stock gibt es drei thematisch gegliederte Hauptgalerien. In „Into the Arena“ sind Trickreiterinnen, Rodeo- und Wild-West-Show-Cowgirls wie Annie Oakley und Barbara Inez „Tad“ Lucas zu sehen. „Kinship with the Land“ ist amerikanischen Rancherinnen wie Hallie Crawford Stillwell gewidmet und umfasst Exponate im Zusammenhang mit der Viehzucht, darunter historische Ausrustung wie Sattel und Damenbekleidung. „Claiming the Spotlight“ beleuchtet die Darstellung von Cowgirl-Schauspielerinnen und Sangerinnen wie Dale Evans und Patsy Montana in den Medien. Die Ausstellung ist teils interaktiv und zeigt Archivfilme, Kostume und Artefakte, wie etwa einen Sattel von Dale Evans und den Damensattel der Rancherin und Kunstlerin Gertrude Maxwell aus dem Jahr 1899. Im Obergeschoss befinden sich außerdem eine Bibliothek, Archive und ein Forschungsbereich.
Wechselausstellungen (Auswahl) 2015/16: Rodeo: Photographs by Rima Canaan Lee
2016: Light, Landscape and Livestock: The Photography of Nadine Levin
2016/17: Pure Quill: Photographs by Barbara Van Cleve
2017/18: Constance Jaeggi: Aspects of Power, Light and Motion
2018: Collection of Hermes Scarves
2019/20: Laura Wilson: Looking West
2021: Twelve Mighty Orphans – Behind the Scenes: Laura Wilson
2021/22: The Devils – Constance Jaeggi
2024: Soldaderas to Amazonas: Escaramuzas Charras
Siehe auch Liste von Frauenmuseen
Weblinks Website des Museums
Einzelnachweise
|
Das National Cowgirl Museum and Hall of Fame ist ein Museum in Fort Worth im amerikanischen Bundesstaat Texas, das das Leben der Frauen des amerikanischen Westens dokumentiert.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/National_Cowgirl_Museum_and_Hall_of_Fame"
}
|
c-436
|
Hans Huber (* 18. Mai 1927 in Regensburg; † 22. November 2023 ebenda) war ein deutscher Diplom-Kapellmeister, Komponist und Jazz-Pianist.
Leben und Werk Hans Huber wurde am 18. Mai 1927 als nichtehelicher Sohn von Ernst Pollini (1889–1941) und einer Chorsangerin des Regensburger Stadttheaters geboren. Pollini war von 1925 bis 1930 Kapellmeister des Stadttheaters Regensburg. Von den Nationalsozialisten als Jude verfolgt, starb Hubers Vater spater in einem Konzentrationslager. Hubers Großvater vaterlicherseits war der Operettenkapellmeister Max Pollini.
Hans Huber wurde von seinem Onkel Alois aufgezogen, da seine Mutter und sein Vater nach Wien gingen, und erfuhr zunachst nichts von seiner Herkunft. Seine musikalische Begabung zeigte sich fruh: Mit neun Jahren konnte er bereits Partituren lesen. Als Elfjahriger sang er als Knabensopran bei den Regensburger Domspatzen unter Theobald Schrems. Er war auch dabei, als der Chor 13. August 1938 auf dem Berghof in Obersalzberg vor Adolf Hitler sang.
Huber kehrte 1948 aus der Kriegsgefangenschaft zuruck. In der Nachkriegszeit setzte er seine musikalische Ausbildung fort und studierte von 1949 bis 1952 an der Musikhochschule in Munchen Kapellmeisterei, Komposition und Klavier. Bis in die 1960er Jahre tourte er als Jazzpianist mit verschiedenen Formationen durch Europa. Spater gehorte er als Pianist, als Leiter einer Big Band und als Arrangeur, darunter auch fur das Vokalsolistenensemble Singer Pur, zu den fuhrenden Personlichkeiten der Regensburger Musikszene.
Sein meistgespieltes Werk, die Barenmarke-Melodie (Werbung fur die Barenmarke-Kondensmilch), schuf er als Student in den 1950er Jahren, nach eigener Aussage fur 20 Mark – „davon konnte ich eine Woche Essen kaufen“. Die ursprunglich fur den Rundfunk konzipierte Ur-Melodie, die stets zum Schluss der Werbesequenz erklang, wurde in der Folgezeit viele Male adaptiert. Spater komponierte er auch eine Regensburg-Hymne und war bis ins hohe Alter musikalisch aktiv.
Hans Huber starb am 22. November 2023 im Alter von 96 Jahren in Regensburg.
Weblinks Juan Martin Koch: Unerschutterliche Musikalitat – zum Tod des Komponisten, Pianisten und Dirigenten Hans Huber. In: nmz.de. Neue Musikzeitung, 6. Dezember 2023; abgerufen am 7. Dezember 2023.
Die Barenmarke-Melodie in der Fernsehwerbung 1982 auf YouTube
Einzelnachweise
|
Hans Huber (* 18. Mai 1927 in Regensburg; † 22. November 2023 ebenda) war ein deutscher Diplom-Kapellmeister, Komponist und Jazz-Pianist.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Huber_(Kapellmeister)"
}
|
c-437
|
Jenny Nystrom (* 13. Juni 1854 in Kalmar; † 17. Januar 1946 in Stockholm) war eine schwedische Malerin und Illustratorin. Sie war vor allem fur ihre Zeichnungen von Jultomte auf Weihnachtskarten und Zeitschriftencovern bekannt, wodurch die schwedische Version des Weihnachtsmanns mit den Zwergen gepragt wurde.
Leben Jenny Nystrom wurde am 13. Juni 1854 in Kalmar als Tochter des Kantors und Lehrers Daniel Nystrom und seiner Frau Anette Bergendahl als drittes von funf Kindern geboren. Sie war ein lebhaftes und kreatives Kind und lebte in einer großen Familie, mit Großeltern, zwei Tanten und der Urgroßmutter. Ihren ersten Schulunterricht erhielt sie von ihrem Vater.
Ende 1863 zog die Familie nach Majorna in Goteborg. Ihr Vater war dort zum Schulleiter ernannt worden. Die Magd der Nystroms, Karin Johansdotter, begleitete die Familie nach Goteborg. In Goteborg besuchte Nystrom zunachst die Schule von Frau Natt och Dag, bevor sie auf die Kjellberg-Madchenschule wechselte. 1869 begann sie an der Kunstschule des Goteborger Museums (heute Kunsthochschule Valand) zu studieren und einer ihrer Lehrer dort, Fredrik Wohlfahrt, regte sie dazu an, Bilder von „Tomte“ zu malen. 1871 wurde der Regionalgouverneur Albert Ehrensvard auf sie aufmerksam, wahrend sie im Goteborger Kunstmuseum zeichnete. Er lud sie nach Stockholm ein, damit sie die dortigen Kunstgalerien und das Nationalmuseum besuchen konnte.
In Stockholm wurde sie dem Professor an der Koniglichen Akademie der Schonen Kunste Stockholm Johan Christoffer Boklund vorgestellt. In dem Jahr erschien auch die Geschichte von Viktor Rydberg Lille Viggs afventyr pa julafton (Klein-Viggs Abenteuer am Heiligabend) in der Weihnachtsausgabe von Goteborgs Handels- och Sjofarts-Tidning. Angeregt durch die Erzahlung fertigte Nystrom acht Illustrationen an, die dem Chefredakteur der Zeitung vorgelegt wurden, der sie an Rydberg weitergab. Diesem gefielen sie und er schickte sie an Bonnier zur Veroffentlichung. Dort blieben sie jedoch liegen. Jenny Nystrom forderte die Ruckgabe. Das Buch wurde 1875 im Verlag von Torsten Hedlund mit ihren Illustrationen veroffentlicht. Es wurde spater zum schwedischen Weihnachtsklassiker.
Im August 1873 schrieb sich Jenny Nystrom an der Akademie der Schonen Kunste in Stockholm ein und studierte dort acht Jahre. Da sie nicht aus wohlhabenden Verhaltnissen stammte, musste sie selbst fur ihren Unterhalt sorgen. So verkaufte sie Abonnements fur die Ny Illustrerad Tidning, fur die sie auch Illustrationen fertigte. Unterstutzt wurde sie zudem durch Gonner wie Albert Ehrensvard, der dafur sorgte, dass sie ab dem 1. April 1874 jeden Monat 100 Kronen erhielt, solange sie Studentin an der Akademie war. Auch der Großhandler James Dickson finanzierte ihr Studium fur eine gewisse Zeit. Der Schatzmeister Wilhelm Berg wurde ab 1876 ihr Gonner und ab 1877 erhielt sie ein jahrliches Stipendium der Akademie. Fur ihr historisches Gemalde Gustav Vasa infor Konig Hans erhielt sie zusammen mit Richard Hall die konigliche Goldmedaille der Akademie im Jahr 1881.
Dank eines Reisestipendiums konnte sie Paris besuchen und dort ihre Techniken perfektionieren. Sie reiste im November 1882 nach Paris und studierte an der Academie Colarossi, da die franzosische Kunstakademie zu der Zeit keine Studentinnen annahm. Sie nahm 1884 am Pariser Salon teil und stellte dort ihr Selbstportrat Fran min atelier i Paris aus. Nach Schweden kehrte sie nur kurz zuruck, um dort Gemalde zu verkaufen und um ihr Stipendium abzuholen, dann verlobte sie sich im Herbst 1884 mit Daniel Stoopendaal, den sie wahrend ihres Studiums kennengelernt hatte. Auch 1885 stellte sie im Pariser Salon aus, diesmal das Gemalde Gammal kvinna i Creuze.
Nach Stockholm kehrte Jenny Nystrom Anfang 1886 zuruck. Sie arbeitete fur verschiedene Verlage als Illustratorin und 1887 heiratete sie Daniel Stoopendaal. Im Herbst des Jahres zogen sie in eine große Wohnung in der Tegnergatan. Sie zeichnete auch ihr Atelier und nach dem Tod ihrer Mutter zog ihr Vater 1889 bei ihr und ihrem Mann ein. Der Sohn Curt Stoopendaal wurde im Juni 1893 geboren. Die Magd Karin Johansdotter zog zur Familie Nystrom-Stoopendaal nach Stockholm, um bei der Hausarbeit und Kinderbetreuung zu helfen.
Da ihr Mann bei schlechter Gesundheit war und sein Studium nicht abschließen konnte, war Jenny Nystrom-Stoopendaal dafur verantwortlich, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Sie illustrierte zahlreiche Kinderbucher und historische Romane, sie malte Titelbilder fur Zeitungen und Zeitschriften. 1911 unterzeichnete sie einen Vertrag zur Herstellung von Grußkarten fur den Verlag von Axel Eliasson. Das bedeutete, dass sie jeden Monat eine bestimmte Anzahl Aquarelle als Hintergrundillustration fur die Karten anfertigen musste. Aufgrund der Anziehungskraft ihrer Zeichnungen erlangten diese Illustrationen große Aufmerksamkeit. Ihre Kunstwerke waren modern und humorvoll. Sie zeichnete den „Tomte“ als Kapitan eines Flugzeugs, Fahrer eines Autos, eines Lastwagens, eines Motorrads oder sogar eines Zuges und gab ihm auch exotische Tiere wie Elefanten und Giraffen als Assistenten fur die Auslieferung von Weihnachtsgeschenken bei. Sie mischte in ihren Werken traditionelle, volkstumliche Weihnachtselemente wie den Julbock, Weihnachtsbaume, Schlitten, Rodeln mit den modernen Aspekten. Deutlich kommt in ihren Osterbildern die Darstellung von Geschlechterfragen zum Ausdruck. Eine ihrer Illustrationen zeigt eine Henne mit behandschuhtem Fuß, die einen schwarzen Ordner mit der Aufschrift „Antituppforeningen“ (Anti-Hahn-Verein) halt. Die Henne steht dem Hahn gegenuber, der als Hausmann dargestellt wird, der fur zwei Huhner verantwortlich ist, wahrend die Henne nicht zu Hause ist.
Vorlagen fur ihre Kunstwerke fand sie uberall und als Fotografin fotografierte sie Personen, die spater in ihre Kunstwerke einflossen. In der Barnbibliotekets Saga des Jahres 1910 steht in ihrem biografischen Eintrag, dass sie sich fur die Illustration von Kindergeschichten entschieden habe, da sie Kinder immer geliebt habe und ihnen etwas vom schonen, sonnigen Land zeigen wollte, das ihr aus ihrer Kindheit in Kalmar in Erinnerung geblieben sei. Auch ihren Sohn Curt zeichnete sie, oft mit einer roten Mutze und im traditionellen Outfit. Gemeinsam mit Curt malte sie 1895 ein Portrat von sich selbst, das sie Mor och son nannte.
Jenny Nystrom-Stoopendaal war bis zum Schluss produktiv. Sie starb am 17. Januar 1946 im Alter von 91 Jahren in ihrem Haus in Stockholm. Jenny Nystrom wurde auf dem Nordfriedhof von Stockholm neben ihrem Ehemann Daniel Stoopendaal und ihrem Vater Daniel Nystrom beigesetzt.
Einzelnachweise Weblinks Nystrom-Stoopendaal, Jenny (1854 - 1946), digitalmuseum.org (Werke von Jenny Nystrom)
|
Jenny Nystrom (* 13. Juni 1854 in Kalmar; † 17. Januar 1946 in Stockholm) war eine schwedische Malerin und Illustratorin. Sie war vor allem fur ihre Zeichnungen von Jultomte auf Weihnachtskarten und Zeitschriftencovern bekannt, wodurch die schwedische Version des Weihnachtsmanns mit den Zwergen gepragt wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Jenny_Nyström_(Malerin)"
}
|
c-438
|
Das Ubereinkommen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika uber den gegenseitigen Schutz der Urheberrechte vom 15. Januar 1892 ist ein volkerrechtlicher Vertrag auf dem Gebiet des Urheberrechts.
Hintergrund Das Ubereinkommen gehort zu einer Reihe von bilateralen Vertragen, die die Vereinigten Staaten ab 1891 vornehmlich mit europaischen und lateinamerikanischen Staaten abschlossen, um die Urheberrechte von US-Burgern im Ausland zu schutzen. Es gilt unverandert fort und entfaltet in einem Punkt noch heute Wirkung.
Bedeutung Die eigenstandige Bedeutung des Ubereinkommens ergibt sich daraus, dass das US-amerikanische Urheberrecht fur vor 1978 geschaffene Werke eine Schutzdauer von maximal 95 Jahren ab Veroffentlichung des Werks vorsieht, wahrend die Schutzdauer im deutschen Urheberrecht 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers betragt. Um das Problem dieser unterschiedlichen Fristen zu losen, sieht Art. 7 Abs. 8 der Berner Ubereinkunft den Grundsatz des Schutzfristenvergleichs vor, nach welchem ein Ablauf des urheberrechtlichen Schutzes im Herkunftsland auch in Staaten mit einer eigentlich langeren Schutzdauer Wirkung entfaltet. Die Berner Ubereinkunft gestattet Staaten jedoch, von diesem Prinzip abzuweichen.
Die in Art. 1 des Ubereinkommens vorgesehene Inlanderbehandlung fuhrt nun dazu, dass das deutsche Recht bei Werken US-amerikanischer Urheber die Schutzdauer ohne Berucksichtigung des Schutzfristenvergleichs eigenstandig berechnet (vgl. § 121 Abs. 4 S. 1 Urheberrechtsgesetz). Das hat zur Folge, dass ein von einem US-Burger geschaffenes Werk innerhalb Deutschlands urheberrechtlich geschutzt bleibt, auch wenn die Rechte dieses Urhebers in den USA bereits abgelaufen sind, bis 70 Jahre nach seinem Tod (§ 64 UrhG).
Der bekannteste Nutznießer dieser Regelung ist die Walt Disney Company, die auf diese Weise in Deutschland urheberrechtlichen Schutz fur die fruhen Werke Walt Disneys und seiner Miturheber beanspruchen kann, nachdem dieser in den USA bereits abgelaufen ist. So lief zum Beispiel der Schutz des Kurzfilms Steamboat Willie in den USA 2023 aus, gilt aber in Deutschland noch bis 2041 fort.
Wie der Bundesgerichtshof in einem Urteil betreffend das Urheberrecht an dem Buch Tarzan bei den Affen von Edgar Rice Burroughs aus dem Jahr 1912 bestatigte, gilt dies jedoch nur fur Werke, die am 16. September 1955 in den USA noch geschutzt waren, weil erst zu diesem Zeitpunkt das Welturheberrechtsabkommen (das keine Offnungsklausel fur nationale Ausnahmen vom Schutzfristenvergleich enthielt) in Deutschland durch die Berner Ubereinkunft abgelost wurde.
Das Recht der Europaischen Union lasst eine solche mitgliedsstaatliche Regelung in Art. 7 Abs. 3 der Schutzdauer-Richtlinie ebenfalls zu.
Weblinks Einzelnachweise
|
Das Ubereinkommen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten von Amerika uber den gegenseitigen Schutz der Urheberrechte vom 15. Januar 1892 ist ein volkerrechtlicher Vertrag auf dem Gebiet des Urheberrechts.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Urheberrechtsübereinkommen_zwischen_dem_Deutschen_Reich_und_den_USA"
}
|
c-439
|
Der Liegende weibliche Akt (BC 660) ist ein Gemalde des deutschen Malers Lovis Corinth (1858–1925) aus dem Jahr 1915. Es zeigt eine unbekleidete liegende Frau in Frontalansicht. Das Bild befand sich bis zu seiner Beschlagnahme durch das NS-Regime im Besitz des in Berlin lebenden judischen Sammlers Oskar Skaller.
Das Bild wurde im Juli 1942, wahrend des Zweiten Weltkrieges, an den Berliner Juristen Conrad Doebbecke verkauft und war bis zu dessen Tod 1954 Teil seiner Sammlung. 2023 wurde es an die Erben Skallers restituiert und danach bei einer Kunstauktion in Munchen an eine private Sammlung verkauft. Skaller und seine Frau Lea emigrierten 1939 nach Sudafrika.
Bildbeschreibung Das großformatige Bild im Querformat zeigt eine auf einem Sofa liegende junge Frau in Frontalansicht. Der Kopf der Frau liegt dabei auf der vom Betrachter aus gesehen linken Seite auf der angedeuteten Sofalehne und ihr Korper ist quer durch das Bild bis zu den Oberschenkeln knapp unter der Hufte gemalt. Die Portratierte tragt ihr langes blondes Haar offen und um den Kopf ausgebreitet und sie schaut den Betrachter (und Maler) mit ihren blauen Augen direkt an. Ihre Bruste befinden sich durch die Lage im Bildzentrum, wobei die rechte Brust frontal und die linke leicht seitlich dargestellt ist. Der rechte Arm ist vor dem Korper auf dem Sofa abgelegt, der hintere weist in den Hintergrund. Wahrend die Portratierte im Bereich der Schulter und des oberen Brustbereichs auf dem Rucken liegt, nimmt ihre untere Korperhalfte und damit die Hufte eine Seitenlage mit geschlossenen Beinen ein. Im Schambereich sind durch uberlagernde Schatteneffekte und die Haltung der Beine keine Details erkennbar.
Den Hintergrund bilden das dunkel gemalte und nur konturhaft dargestellte Sofa sowie eine angedeutete Tapete dahinter. Das Bild ist in Olfarben auf Holz mit deutlichen Pinselstrichen ausgefuhrt. Es ist oberhalb der Hufte mit Lovis Corinth signiert, wobei sich die Signatur kaum vom an dieser Stelle fast schwarzen Hintergrund abhebt.
Hintergrund und Deutung Das Bild entstand im Jahr 1915, kurz nachdem Corinth zu seiner Genesung von einem ersten Schlaganfall Urlaub in Italien gemacht hatte. Er hatte vorher mehrere Fassungen von Joseph und Potiphars Weib gezeichnet und gemalt, darunter drei Versionen 1914 (BC 605, 606, 607) und danach eine weitere ebenfalls im Jahr 1915 (BC 657), sodass dieses Thema bei ihm prasent und zu dem Zeitpunkt auch das zentrale Aktthema des Kunstlers war; mindestens fur die zweite Fassung malte er offensichtlich das gleiche Modell wie beim Liegenden weiblichen Akt. In ihrer Bildbeschreibung zur Versteigerung des Liegenden weiblichen Akts setzte Barbara Vinken von der Ludwig-Maximilians-Universitat Munchen diese beiden entsprechend zueinander in Beziehung und beschrieb die Aktdarstellung mit den Worten:
Nach ihren Worten ist „der von Corinth gemalte Akt […] eindeutig: Hier spricht einzig das Fleisch, brunstig bedrohlich. In den blutunterlaufenen, wie maskiert wirkenden Augen der Frau leuchtet, irrlichtert ein Vorschein der erwarteten Liebesekstase“ und sie fuhrt weiter aus, dass „das Objekt des Begehrens […] von diesem nackten Fleisch zum Liebesakt verfuhrt, nein eigentlich uberwaltigt werden soll.“ Im Folgenden stellt sie zudem dar, dass es sich bei der Dargestellten weder um eine „glatte, reizend verniedlichende ‚Marzipanvenus‘, wie Zola die beruhmte, klassizistischste Geburt der Venus (1863) von Alexandre Cabanel beschimpfte“, noch um eine Darstellung „der kuhlen Ebenmaßigkeit nackter Marmorstatuen“ handelt. Echtheit und Materialitat werden unterstrichen durch die gut sichtbaren Pinselstriche und machen das Fleisch zum ersten Blickpunkt, bei dem ein „runder, voller Busen und der runde Bauch im Fokus“ stehen, wahrend der „Schoß […] im Schatten uppiger Schenkel“ unsichtbar bleibt.
Die alttestamentliche Geschichte von Joseph und Potifars Frau (Gen. 39, 1-20) stellt sie in einen Kontrast zu dem Bild. Wahrend Corinth hier, „entlastet von aller Narrativik, allein das Fleisch gelten und fur sich sprechen“ lasst, gilt dort das „Narrativ des Geschlechterkampfes“, bei dem „Joseph angstvoll zuruck[weicht]“: In der Geschichte und auch in den Darstellungen von Corinth versucht die Frau des Potifar den jungen Sklaven Joseph zu verfuhren. Dieser verweigert sich ihr allerdings, auch als sie ihn weiter bedrangt und ihn zu sich ins Bett ziehen will. Er entzieht sich ihr weiter, muss allerdings sein Gewand zurucklassen und wird daraufhin mit diesem als Beweis bei ihrem Mann denunziert.
Provenienz und Ausstellungen Das Gemalde befand sich laut Werkverzeichnis zuerst in der von Wolfgang Gurlitt geleiteten Galerie Fritz Gurlitt in Berlin und ging spatestens 1923 in den Besitz des Apothekers und Kunstsammlers Oskar Skaller uber, wo es sich bis zu dessen Ausburgerung und der Beschlagnahme seines Besitzes durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) im April 1941 befand. Skaller hatte das Bild 1923 fur eine Corinth-Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie zur Verfugung gestellt; im selben Jahr wurde es in der Zeitschrift Kunst und Kunstler vorgestellt. 1927 war die Sammlung Skaller nochmals Thema eines Artikels in der Zeitschrift Kunsthandel und Kunstbesitz, allerdings ohne konkrete Erwahnung des Bildes. In der Folge wurde das Bild von Skaller mehrfach bei Kunstauktionen angeboten, jedoch nicht verkauft. So tauchte es im Dezember 1927 bei Cassirer/Helbing in Berlin, am 13. November 1930 bei Paul Graupe, ebenfalls Berlin, und am 2. Februar 1932 beim Internationalen Kunst- und Auktionshaus in Berlin auf.
Am 16. Juli 1942 kaufte der Berliner Jurist und Kunstsammler Conrad Doebbecke das Bild uber den offentlichen Versteigerer Bernhard Schluter fur 7200 Reichsmark und wurde Teil seiner Sammlung. Doebbecke hatte bereits im Januar 1942 schriftlich sein Interesse an dem Bild bekundet und es wurde ihm auf Anweisung des Finanzamtes Berlin-Moabit verkauft. Es blieb in seinem Besitz bis zu seinem Tod im September 1954 und kam danach an seine Erben, seine Frau Elsa und seinen Sohn Tomy. Bis 1960 war das Bild zusammen mit weiteren Teilen der Sammlung im Niedersachsischen Landesmuseum Hannover hinterlegt; von dort wurde es von Elsa Doebbeke am 12. Februar 1960 wieder abgeholt. Ob sie und ihr Sohn das Bild danach weiterverkauft haben, ist nicht bekannt – am 16. September 1977 wurde es bei einer Auktion der Adolf Weinmuller Neumeister KG in Munchen angeboten und fur 46.000 D-Mark verkauft.
2004 erfolgte eine Suchanfrage fur das Bild in der Lost Art-Datenbank. Im Oktober 2023 kam es nach einer gutlichen Einigung zur Restitution durch die aktuellen Besitzer an die Erben von Oskar Skaller. Am 6./7. Dezember 2023 wurde das Bild beim Neumeister Munchener Kunstauktionshaus erneut versteigert und zum Preis von 377.000 Euro erworben. 2025 prasentierte es die Sammlung Wurth im Zuge einer Ausstellung der Offentlichkeit.
Belege Literatur Liegender weiblicher Akt. In: Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth. Werkverzeichnis. Neu bearbeitet von Beatrice Hernad. Bruckmann Verlag, Munchen 1958, 1992; BC 660, S. 153. ISBN 3-7654-2566-4.
|
Der Liegende weibliche Akt (BC 660) ist ein Gemalde des deutschen Malers Lovis Corinth (1858–1925) aus dem Jahr 1915. Es zeigt eine unbekleidete liegende Frau in Frontalansicht. Das Bild befand sich bis zu seiner Beschlagnahme durch das NS-Regime im Besitz des in Berlin lebenden judischen Sammlers Oskar Skaller.
Das Bild wurde im Juli 1942, wahrend des Zweiten Weltkrieges, an den Berliner Juristen Conrad Doebbecke verkauft und war bis zu dessen Tod 1954 Teil seiner Sammlung. 2023 wurde es an die Erben Skallers restituiert und danach bei einer Kunstauktion in Munchen an eine private Sammlung verkauft. Skaller und seine Frau Lea emigrierten 1939 nach Sudafrika.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Liegender_weiblicher_Akt_(Lovis_Corinth)"
}
|
c-440
|
Ernst Gotsch (* 1948 in Raperswilen) ist ein Schweizer Agronom, der in Brasilien eine neue Methode der Landwirtschaft, den syntropischen Landbau, entwickelte.
Werdegang Ernst Gotsch ist ein Agronom und Forscher, geboren 1948 im thurgauischen Raperswilen. Nach seiner Ausbildung zum Agronomen arbeitete er an der Verbesserung der Genetik an der Eidgenossischen Forschungsanstalt fur landwirtschaftlichen Pflanzenbau FAP-Reckenholz in Zurich (heute Agroscope). Im Verlauf seiner Forschungstatigkeit kam er zur Uberzeugung, dass die Antworten, die er als Forscher suchte, nicht im Labor zu finden waren. Aus diesem Grund beendete er seine Arbeit an der Forschungsanstalt in Reckenholz. Ab 1974 pachtete er in der Schweiz und in Deutschland Boden, um Experimente im Feld zu betreiben. Stimuliert von den Ansatzen des okologischen Landbaus, die von Hans Peter Rush und Hans Muller entwickelt wurden, kombinierte er den Anbau von Gemuse, Knollenfruchten, Getreide und Obstbaumen, auf der Suche nach Wechselwirkungen, welche die Produktivitat erhohen.
Aufgrund seiner vielversprechenden Experimente und wissenschaftlichen Tatigkeit bekam er Arbeitsangebote aus verschiedenen Landern. In Namibia und Costa Rica (1979–1982) konnte er neue Erfahrungen in anderen sozialen Kontexten und unter anderen klimatischen Bedingungen sammeln. In den fruhen 1980er Jahren wanderte er nach Brasilien aus und liess sich auf einer Fazenda in der Kakaozone im Suden Bahias nieder, wo er dank einer Partnerschaft mit einem Landsmann auf einer degenerierten Bodenflache von 480 ha Kakao produzieren wollte. Vorher musste die Degeneration des Bodens ruckgangig gemacht werden. Er wollte seine Erfahrungen, die er in Europa, Namibia und Costa Rica gemacht hatte, auf dem eigenen Boden unter Beweis stellen.
In den nachsten Jahren forstete er das Anwesen auf und fuhrte Kakao als Hauptkultur ein. Dabei entwickelte und verfeinerte er eine Reihe von Prinzipien und Techniken, die es ermoglichen, die Dynamik der Nahrungsmittelproduktion mit der naturlichen Regeneration der Walder zu verbinden, die so genannte syntropische Landwirtschaft.
Ernst Gotsch lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Pirai do Norte, wo er seit den 1980er Jahren die Fazenda Olhos d’Agua bewirtschaftet.
Syntropische Agrokultur Als Gotsch in seinen Mischkulturen aus Gemuse, Knollenfruchten und Getreide auch den Obstanbau in seine Versuche einbezog, stellte er weitere Vorteile fest: Baume beleben sowohl durch organische Stoffe aus dem Holz als auch durch die Interaktion mit anderen Arten das System. Darauf ging er noch einen Schritt weiter. Er beschloss, die Mischkulturen noch vielfaltiger zu kombinieren, und zwar nicht nur kurzzyklische, sondern er wollte Arten aus allen Stadien der Waldbesiedlung einbeziehen. Er wollte der Dynamik der naturlichen Sukzession der Pflanzen in seiner Landwirtschaft Raum geben. Wie im Wald forderte er Okosysteme mit immer breiteren Organisationsstufen. Dabei beobachtete er genau, wie sich die Pflanzen entwickeln. Seine Ergebnisse veroffentlichte er 1995 in Break-through in Agriculture und 1996 in O renascer da agricultura. Sein Wissen und seine Erfahrungen gab er in zahlreichen Kursen an der Tiba, dem Instituto de Tecnologias Intuitivas e Bio-Arquitectura in Rio de Janeiro, weiter. Seine Arbeit wurde als «Successional Agroforestry» bezeichnet.
Beim Jaten achtete Gotsch darauf, dass er nur jene Graser, krautigen Arten und Ranken entfernte, die ihr Reifestadium erreicht hatten. Alle anderen einheimischen Krauter, Baume und Palmen durften wachsen und ihre wichtige Funktion bei der Bodenverbesserung erfullen. In der Gegenwart der einheimischen Pflanzen gediehen die kultivierten Pflanzen gut. Gotsch erklart, dass viele einheimische Pflanzen bei richtigem Umgang ausgezeichnete Begleiter fur die Kulturpflanzen seien, da sie gut an die vorhandenen Bodenbedingungen angepasst sind. Wenn sie jung sind, wurden sie das Wachstum der Kulturpflanzen stimulieren und Schadlinge und Krankheiten abwehren. Ausserdem schutzten und verbesserten sie den Boden, da sie erheblich zur Vermehrung der organischen Substanz beitragen wurden und somit eine wertvolle Quelle fur organischen Dunger darstellten, der indirekt zu einer Korrektur des pH-Werts des Bodens fuhre.
Ganzheitlicher Ansatz von Gotsch Laut Gotsch haben alle Lebewesen, jedes Individuum, jede Spezies und jede Generation eine bestimmte Aufgabe, der sie von sich aus nachzukommen suchen, namlich das Leben zu erhalten und zu optimieren. Deshalb sieht Gotsch in den Raubtieren nicht Feinde der gejagten Beute, sondern deren Korrektiv. Raubtiere haben von der Natur die Aufgabe, eine bestimmte Population in Grenzen zu halten und dafur zu sorgen, dass sich uber Generationen die Besten fortpflanzen. So sei es auch mit dem, was wir Schadlinge oder Unkraut nennen. In Wirklichkeit seien das Nutzlinge. Wenn man die Prozesse verstehe, liessen sie sich auch fur die Landwirtschaft nutzen. So lasse er junges Unkraut wachsen, weil es das Wachstum auch der Kulturpflanzen anrege. Wenn das Unkraut grosser werde, musse es gestutzt werden, und wenn es die Reifephase erreicht habe, konne es ausgerissen oder umgehauen werden und liefere als Biomasse wichtige Stoffe fur den Boden.
Der Mensch habe ein gestortes Verhaltnis zum Wald, meint Gotsch. Der Mensch habe sich vor rund 35.000 Jahren in der trockensten Phase der letzten Eiszeit entwickelt. Der Wald, der sich viel spater uber die Landmassen ausbreitete, stellte fur den Menschen eine Bedrohung dar. Dieses gestorte Verhaltnis zum Wald prage unseren Instinkt bis heute. Alle grossen Kulturen drangten den Wald zuruck, trieben Raubbau an ihm, was zur Erschopfung des Bodens und der ubrigen Rohstoffe und letztlich zum Untergang des Reiches fuhrte. Das konne man bei den Romern, aber auch bei den Mayas sehen. Und neuere Kulturen hatten den gleichen Fehler bis heute begangen. Die moderne Landwirtschaft fuhre einen Krieg mit Pestiziden, Insektiziden und Gentechnik gegen alles, was nicht Kulturpflanze sei. Gotsch nennt das war-farming im Gegensatz zu seiner Herangehensweise, die in Schadlingen keine Feinde, sondern Komplizen sieht. Jede Art habe ihre von der Natur gegebene Aufgabe. Wenn man diese Aufgabe verstehe, konne ein Schadling als Nutzling dienen. Das sei peace-farming, Landwirtschaft nicht gegen, sondern mit der Natur, erklart Gotsch.
Rezeption Eine Forschergruppe um Rafaela Martins da Silva bilanzierte 2021, dass das System der successional agroforestry in Brasilien noch kaum verbreitet sei. In diesem Zusammenhang erwahnenswert seien die Projekte der Fazenda Sucupira in der unteren sudlichen Region des Bundesstaates Bahia, das Ribeira-Tal im Bundesstaat Sao Paulo, in der Region Paraty an der Sudkuste des Bundesstaates Rio de Janeiro sowie in den Betrieben von Ernst Gotsch und Henrique Sousa, beide im Bundesstaat Bahia, und weitere brasilianische Biome. Die Journalisten Mirela Tavares und Balz Rigendinger trugen Fakten und Stellungnahmen zu Ernst Boschs syntropischer Landwirtschaft zusammen. Demnach verbreiten Gotschs Anhanger die syntropische Landwirtschaft in Kursen, in sozialen Netzwerken; auch in Reality-TV-Formaten finden seine Ideen und Praktiken ein beachtliches Publikum. Auch brasilianische Grossbauern interessieren sich seit einiger Zeit fur die Anbaumethoden von Gotsch. Pasini stellt in seiner Studie zusammenfassend fest, dass die Grundlage von Ernst Gotschs syntropischer Landwirtschaft die klassischen Prinzipien und Konzepte der Gemeinschaftsokologie (insbesondere Sukzession und Forderung), der Okophysiologie und der funktionellen Okologie (Akklimatisierung, Anpassung, Toleranz, Stress, Nahrstoffkreislauf) sind. Zudem ordnet er die syntropische Landwirtschaft dem Universum der nachhaltigen Landwirtschaft zu, sie sei insbesondere eine Form der Sukzessionslandwirtschaft oder des Agroforstsystems, jedoch mit der Besonderheit, dass sie auf naturlichen Fruchtbarkeitsprozessen basiere, die von der Logik der Syntropie (einer komplementaren Tendenz zur Entropie) geleitet werde. Gotsch selbst wunscht sich, dass seine Landwirtschaft weltweit Anhanger finde und das war-farming, wie er die konventionelle Methode nennt, mit der Feinde mit Pestiziden und Insektiziden bekampft werden, vom peace-farming, in dem die Organismen untereinander kooperieren, zur vorherrschenden Methode der Landwirtschaft werde.
Veroffentlichungen Break-through in agriculture (= Caderno de TA). AS-PTA, Rio de Janeiro Mai 1995 (englisch, naturefund.de [PDF; 184 kB]). e
Ehrungen, Preise 2015 wurde Gotsch in Sao Paulo mit dem Premio Trip Transformadores fur die Erfolge mit seiner Agroforstwirtschaft ausgezeichnet.
2019 wurde Gotsch in Salvador mit dem Nelson-Mandela-Preis fur seine Verdienste bei der Entwicklung des syntropischen Landbaus geehrt.
Literatur Mirela Tavares, Balz Rigendinger: Ernst Gotsch – ein Schweizer pflugt Monokultur auf bio um. In: Swissinfo. 27. Juli 2023.
Portugiesisch: Suico promove cultivo sustentavel de terra no Brasil. In: Swissinfo. 27. Juli 2023.
Englisch: Swiss agronomist turns monoculture into organic farming. In: Swissinfo. 27. Juli 2023.
Yara Walther: Bodenregeneration durch syntropischen Agroforst. In: Eat Grow Change. A Blog of the ZHAW. Zurich University of Applied Sciences, 2023; abgerufen am 5. Februar 2024.
Fernanda Santana: «A gente fecha os olhos porque e mais facil», defende Ernst Gotsch. In: Correio*. 18. Oktober 2020; abgerufen am 30. Januar 2024 (portugiesisch).
Sandra Weiss: Der geplante Urwald in Brasilien: Wie man im Dschungel erfolgreich Kakao anbaut. In: Tagesspiegel. 22. Mai 2018; abgerufen am 27. Juli 2023.
Felipe dos Santos Pasini: A Agricultura Sintropica de Ernst Gotsch: historia, fundamentos e seu nicho no universo da Agricultura Sustentavel. Dissertacao. Universidade Federal do Rio de Janeiro, Rio de Janeiro 2017.
Weblinks Website von Ernst Gotsch (englisch, portugiesisch)
Workshop mit Ernst Gotsch vom 2. November 2019 auf Einladung vom Verein fur Regenerative Landwirtschaft e. V.
Syntropische Landwirtschaft Vortrag von Ernst Gotsch am 28. Marz 2019 im Inforama in Zollikofen
Ernst Gotsch auf der Website von Global Earth Repair Foundation (englisch)
Benedikt Boesel: Eine Landwirtschaft mit Zukunft auf YouTube
Podcast von Sandra Weiss uber Syntropie an einer Landwirtschaftsmesse im Bundesstaat Goias, Brasilien 2019
Syntropic Agroforestry Ressources (in English), Sammlung vieler Daten und Links zu Handbuchern, Videos, Fachartikeln (alles auf Englisch)
Einzelnachweise
|
Ernst Gotsch (* 1948 in Raperswilen) ist ein Schweizer Agronom, der in Brasilien eine neue Methode der Landwirtschaft, den syntropischen Landbau, entwickelte.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Götsch"
}
|
c-441
|
Das Schloss La Baume (Chateau de la Baume) liegt in der kleinen sudfranzosischen Gemeinde Prinsuejols im Departement Lozere in der Region Okzitanien. Mit seiner Hohenlage von 1150 Metern auf dem Hochplateau des Aubrac im Zentralmassiv ist es eines der am hochsten gelegenen Schlosser Frankreichs.
La Baume wurde erstmals 1275 dokumentarisch erwahnt, bis in die 1630er Jahre stand auf dem Gelande jedoch nur ein mittelalterliches Festes Haus. Die meisten Erweiterungen und Umbauten wurden in der ersten Halfte des 17. Jahrhunderts durchgefuhrt.
Vom 3. Juli 1864 bis zum 18. Januar 1866 lebte Peter Haßlacher als Gast auf Schloss La Baume.
Das Schloss wurde am 21. Januar 1963 vom franzosischen Ministerium fur Kultur als Monument historique unter Denkmalschutz gestellt. Weitere Elemente des Schlosses wie der Park wurden in spateren Jahren in den Schutz einbezogen. Das seit 1858 im privaten Besitz der Familie Las Cases befindliche Schloss kann besichtigt werden.
Vorgeschichte des Schlosses Das Schloss liegt im Gebiet des fruheren Baronats (franzosisch baronnie) de Peyre – eines von acht Baronaten der Grafschaft Gevaudan. Eine auf dem Roc de Peyre gelegene Festung der Familie de Peyre war 1586 von Admiral Anne de Joyeuse wahrend seines Feldzugs gegen die Hugenotten teilweise zerstort worden. Vorausgegangen war die Ermordung von Astorg de Peyre und anderen Protestanten in der Bartholomausnacht am 24. August 1572 in Paris sowie ein darauffolgender Rachefeldzug gegen Katholiken, an dem sich die Familie de Peyre beteiligt hatte.
Zu Beginn der 1630er Jahre ließ Antoine de Grolee, der damalige Baron de Peyre, der in diese Familie eingeheiratet hatte, die Uberreste der Festung auf dem Roc de Peyre abreißen. Grolees Ehefrau Marguerite de Solages, die das Erbe der Familie de Peyre angetreten hatte, war eine Großnichte des ermordeten Astorg de Peyre. Grolee verlegte den Wohnsitz der Familie in das sieben Kilometer westlich vom Roc de Peyre gelegene La Baume; beim Bau des neuen Schlosses wurde Abbruchmaterial von der Festung verwendet.
Architektur In den 1630er Jahren wurde das ursprungliche Bauwerk im Norden und Osten um je einen jeweils von einem massiven Turm flankierten Gebaudeflugel erweitert. Als Baumaterial diente, auch im Schlossinneren, Granit, ein magmatisches Gestein, das in der einst vulkanisch aktiven Region weit verbreitet ist. 1708 wurde im Suden ein langer Trakt errichtet, mit dem das Schloss an Versailles erinnern sollte und deshalb als „das kleine Versailles des Gevaudan“ bezeichnet wurde.
Aus Grunden der Gebaudesymmetrie erganzte man die bereits vorhandenen drei Turme um einen weiteren Turm im Sudosten. Vor dem Hintergrund fortbestehender religioser Spannungen wurden die Turme als Wehrturme angelegt, an deren Mauern Wurflochreihen (Maschikulis) ausgespart blieben. Im Osten wurden zwei Pavillons gebaut, um den Schlosshof vollstandig zu umschließen. Trotz der beabsichtigten Anklange an Versailles gleicht das massive Granitbauwerk damit eher einer Festung als einem Schloss.
Innenraume Das reich dekorierte Innere des Schlosses reprasentiert mit seinen Mobeln, Gemalden und Wandteppichen eine Zeitspanne vom fruhen 16. bis zum 19. Jahrhundert. Zu den vom Ministerium fur Kultur in seiner Begrundung des Schutzstatus beschriebenen Innenraumen gehort im ersten Stock neben dem sogenannten „Schlafzimmer des Konigs“ (chambre du roi), das mit einem Kamin aus dem Jahr 1702 ausgestattet ist, auch ein Billardzimmer, dessen Wande mit Holztafelungen verkleidet sind. In diesem Zimmer sind Paraderustungen der Familie Grolee ausgestellt; uber dem Kaminsims hangen das Wappen der Familie sowie ein Gemalde, das Vulcanus beim Schmieden seiner Waffen zeigt.
Im zweiten Stock wurde 1714 ein Arbeitszimmer fur Cesar de Grolee eingerichtet, den Sohn von Antoine de Grolee und Marguerite de Solages. Dieses Zimmer ist mit Gemalden uber mythologische Themen dekoriert, die von kleinen bemalten Tafeln umrahmt werden; hinter einem der Gemalde ist ein Bucherschrank verborgen. Die Deckenbalken sind mit floralen Motiven, Putten und Wappen verziert. Das „goldene Schlafzimmer“ (chambre doree), ebenfalls im zweiten Stock, ist mit pastellfarbenen Stoffen ausgestattet; ein Aubusson-Wandteppich (benannt nach einer Tapesserie in Aubusson) thematisiert die Ruckkehr des Odysseus. Einige Raume wurden im 19. Jahrhundert umgestaltet, etwa der aus einer Galerie hervorgegangene, ebenfalls mit mythologischen Bildern sowie einem Kamin aus dem Chateau de Chanac ausgestattete Speisesaal im zweiten Stock; das Chateau de Chanac war 1220 von Bischof Guillaume IV. de Peyre wahrend des Albigenserkreuzzugs in Besitz genommen worden.
Bestienjagden beim Schloss Im naheren Umkreis von La Baume beziehungsweise auf dessen Landereien trugen fehlgeschlagene Jagden auf die sogenannte Bestie des Gevaudan (la Bete) zum Mythos eines unbesiegbaren Raubtiers bei. Im Schloss ausgestellte Waffen sollen bei diesen Jagden eingesetzt worden sein; ebenfalls dort ausgestellt ist ein Bajonett, das angeblich dem beim Schloss angegriffenen Hirtenjungen Jean Rieutort gehorte. Der zwolfjahrige Jean rettete sich am 8. Oktober 1764 vor dem Raubtier, indem er, bereits erheblich verletzt, zwischen seinen mit Hornern bewehrten Rindern Schutz fand. Daraufhin wurde im Gebiet eine mehrtagige Jagd durchgefuhrt, bei der man das Raubtier schließlich hinter einer Feldmauer aufspurte. Es wurde von mindestens drei Musketenschussen getroffen, zwei davon abgefeuert aus weniger als zehn Metern Entfernung. Das Tier wurde niedergestreckt, schien tot zu sein, rappelte sich jedoch auf und entkam in einen Wald.
Am 23. Dezember 1764 ließ der Dragoner-Hauptmann Duhamel, der zeitweilig mit seinen Mannern in La Baume Quartier bezogen hatte, zum Schloss gehorende Walder durchsuchen, weil in einigen Kilometern Entfernung vom Schloss ein Madchen oder eine Frau unbekannten Namens von dem Raubtier getotet worden war. Wahrend seine Dragoner das Raubtier aufzuscheuchen versuchten, postierte Duhamel sich an einem Waldrand, getarnt zwischen Baumen. Als dort die Bestie auftauchte, die von einigen seiner berittenen Manner larmend verfolgt wurde, entwickelte sich die Situation so chaotisch, dass niemand einen Schuss abgeben konnte. Das Tier floh in ein Sumpfgebiet.
Weblinks Einzelnachweise
|
Das Schloss La Baume (Chateau de la Baume) liegt in der kleinen sudfranzosischen Gemeinde Prinsuejols im Departement Lozere in der Region Okzitanien. Mit seiner Hohenlage von 1150 Metern auf dem Hochplateau des Aubrac im Zentralmassiv ist es eines der am hochsten gelegenen Schlosser Frankreichs.
La Baume wurde erstmals 1275 dokumentarisch erwahnt, bis in die 1630er Jahre stand auf dem Gelande jedoch nur ein mittelalterliches Festes Haus. Die meisten Erweiterungen und Umbauten wurden in der ersten Halfte des 17. Jahrhunderts durchgefuhrt.
Vom 3. Juli 1864 bis zum 18. Januar 1866 lebte Peter Haßlacher als Gast auf Schloss La Baume.
Das Schloss wurde am 21. Januar 1963 vom franzosischen Ministerium fur Kultur als Monument historique unter Denkmalschutz gestellt. Weitere Elemente des Schlosses wie der Park wurden in spateren Jahren in den Schutz einbezogen. Das seit 1858 im privaten Besitz der Familie Las Cases befindliche Schloss kann besichtigt werden.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_La_Baume"
}
|
c-442
|
Uber die Quellgruppe Neunbronn entwassern Gebiete, die jenseits der Jagst liegen, in den Kocher-Zufluss Buhler. Fruher trat uber die Quellen auch Wasser der Jagst aus, das unterhalb von Crailsheim versank. Von diesen Karstquellen ruhrt der Name des nahen Wohnplatzes Neunbronn her, der zum Stadtteil Sulzdorf von Schwabisch Hall im frankisch gepragten Nordosten von Baden-Wurttemberg gehort.
Lage Die Quellgruppe Neunbronn liegt auf etwa 307 m u. NHN rechts der Buhler und rund 200 Meter sudlich des Wohnplatzes Neunbronn. Der Wasseraustritt erfolgt im Bereich der Schichtgrenze zwischen Mittlerem und Oberem Muschelkalk. Heute stoßen die Quellen in einem kleinen Stausee auf, der von einem Wehr aufgestaut wird, das Wasser zum Kleinwasserkraftwerk in Neunbronn leitet. Eine kleine, sumpfige Landzunge trennt die Buhler von dem Teil des Stausees, in dem die Quellen austreten. Durch die Lage unterhalb des Wasserspiegels ist die Quellschuttung nicht direkt messbar, geschatzt werden 30 bis 50 Liter pro Sekunde. Dank der Quellen friert der Stausee nie zu, da Wasser aus Karstquellen eine jahreszeitlich kaum schwankende Temperatur hat, die ungefahr der Jahresmitteltemperatur der Region entspricht.
Die Quellen liegen im Naturschutzgebiet Unteres Buhlertal und sind als Naturdenkmal geschutzt und als Geotop ausgewiesen.
Nach dem Handbuch der naturraumlichen Gliederung Deutschlands liegt die Quellgruppe im Naturraum Hohenloher und Haller Ebene; das zutage tretende Wasser unterquert zuvor den Naturraum Kocher-Jagst-Ebenen. Weite Teile der Region bestehen aus Hochflachen mit wenig Reliefunterschieden, die uberwiegend zum Ackerbau genutzt werden. Dorfer und Weiler liegen bevorzugt in Mulden. In die Hochflache haben sich die Flusse Kocher, Buhler und Jagst eingegraben. Das Tal der Buhler – bei Neunbronn etwa 80 Meter tief – hat knapp 12 Kilometer flussabwarts an der Mundung in den Kocher eine Tiefe von rund 160 Metern. Die nordostlich der Buhler verlaufende Jagst ist weniger tief eingeschnitten: Bei Kirchberg ist ihr Tal etwa 80 Meter tief. Crailsheim konnte sich zum Verkehrsknotenpunkt entwickeln, da dort der Ubergang uber die Jagst ohne wesentliche Hohenunterschiede moglich ist.
Geologie Im Bereich der Quellgruppe sind Schichten des Mittleren und Oberen Muschelkalks verkarstet. Der Mittlere Muschelkalk ist rund 50 Meter machtig; seine Steinsalzlager sind meist ausgelaugt. Oberste Formation sind circa 10 Meter machtige, dickbankige und gut gekluftete Dolomitsteine. Der Obere Muschelkalk ist gut 70 Meter machtig und besteht aus kluftigen Kalksteinen, die bereichsweise, vor allem im Westen und Norden, durch bis zu 2 Meter dicke Tonmergelsteinlagen untergliedert sind. Oberhalb folgt der etwa 20 Meter machtige Untere Keuper, eine Wechselfolge von Tonsteinen, kluftigen Dolomiten und Sandsteinen. Die Hochebenen sind von Losslehm bedeckt, in den Talern haben die Gewasser Auenlehm abgelagert.
Tektonisch bestimmendes Element ist die Frankische Furche, eine Nordost bis Ostnordost streichende Scherzone, in der die Schichtgrenze zwischen Keuper und Muschelkalk bis zu 120 Meter tiefer als in den benachbarten Sattelzonen liegt. Die Furche kreuzt bei Kirchberg das Jagsttal. Erkennbar ist die Furche im Jagsttal: Ostlich von Kirchberg tritt am Hangfuß vorubergehend der Mittlere Muschelkalk zutage, dann folgt im Bereich der Furche der Obere Muschelkalk, ehe die Jagst endgultig in den Mittleren Muschelkalk eintritt.
Parallel zur Frankischen Furche verlaufen Verwerfungen wie die Schainbacher Verwerfung mit Versetzungsbetragen unter 30 Meter. Die Kirchberger Verwerfung mit einem Versetzungsbetrag von bis zu 20 Metern folgt dagegen dem Jagsttal zwischen Crailsheim und Kirchberg. Bei Satteldorf bildet die Kirchberger Verwerfung mit einer zweiten Verwerfung einen tektonischen Horst.
Der wichtigste Karstwasserleiter liegt an der Schichtgrenze zwischen Mittlerem und Oberem Muschelkalk; seine Basis sind Auslaugungsschluffe und -tone der einstigen Steinsalzlager. Ortlich konnen schwebende Grundwasserstockwerke auf den Tonschichten des Oberen Muschelkalks vorhanden sein.
An Karsterscheinungen gibt es Hohlen, Dolinen und Bachschwinden. Dolinen treten gehauft an den Schultern von Talern und an der Schichtgrenze zwischen Keuper und Muschelkalk auf, sie sind zum Teil zugleich Bachschwinden, in denen kurze Gewasserlaufe aus dem Keuper versinken. Eine hohere Dichte von Karsterscheinungen an den vermuteten Abflussbahnen ist nicht erkennbar.
Karsthydrologie Anfang der 1970er Jahre gelang durch Markierungsversuche der Nachweis, dass in zwei Bachschwinden nordostlich der Jagst versinkendes Wasser die Jagst unterquert und in der Quellgruppe Neunbronn wieder zutage tritt. Da eine der Bachschwinden in der Nahe einer heute verschlossenen Versinkungsstrecke der Jagst nordlich von Crailsheim liegt, wird auch diese Versinkung der Quellgruppe zugeordnet. Dass Wasser von der Jagst unterirdisch zur Buhler fließt, war bereits in Crailsheimer Chroniken des 18. Jahrhunderts vermutet worden. 1988 fuhrte das Geologische Landesamt einen weiteren Markierungsversuch durch, der die Ergebnisse der 1970er Jahre bestatigte und zusatzliche Erkenntnisse lieferte.
= Versinkungen =
Die Weidenbachversinkung ⊙ liegt auf etwa 425 m u. NHN 17,8 Kilometer nordostlich von Neunbronn bei Wallhausen am Weidenbach, einem Zufluss der Brettach. Das rund 29 km² große Einzugsgebiet oberhalb der Versinkung reicht nach Osten bis zum Hornberg, dem hochsten Berg der Frankenhohe. Die Hauptversinkungsstelle liegt vor der Schainbacher Verwerfung; unterhalb folgen weitere Versinkungsstellen, die nur bei starkerer Wasserfuhrung erreicht werden. Es wird vermutet, dass die Verwerfung die Versinkung ausloste und diese mit fortschreitender Verkarstung talaufwarts wanderte. Die Versinkungsstellen sind mit Betonringen gegen Verstopfungen gesichert.
Die zweite, uber Markierungsversuche nachgewiesene Versinkungsstelle liegt – rund 15,9 Kilometer ostnordostlich von Neunbronn – am Kreuzbach, einem rechten Zufluss der Jagst zwischen Crailsheim und Satteldorf. Die rund 100 m lange Versinkungsstrecke ⊙ liegt auf etwa 420 m u. NHN knapp unterhalb der Schichtgrenze zwischen Keuper und Muschelkalk. Nur bei Niedrigwasser versickert das Wasser aus dem gut 4 km² großen Einzugsgebiet vollstandig; bei teilweiser Versinkung fließt Wasser weiter zur rund einen Kilometer entfernten Jagst.
Knapp einen Kilometer sudlich der Kreuzbachversinkung liegt auf etwa 396 m u. NHN die fruhere Versinkung der Jagst ⊙ an der Heldenmuhle nordlich von Crailsheim. Nach Angaben von 1911 versanken bei einem Abfluss der Jagst von 0,48 m³/s 97 Prozent und bei 0,87 m³/s 70 Prozent des Wassers, wenn der Wehrkanal geschlossen war und das Wasser durch die Muhle floss. Dann stromte Wasser entgegen der nominellen Fließrichtung von der Mundung des Muhlkanals zu den oberhalb gelegenen Versinkungsstellen. Auf Initiative einer Genossenschaft der Muller an der Jagst wurden die Versinkungsstellen ab 1910 mit Beton abgedichtet. In der Gegenwart ist keine Versinkung wahrnehmbar. Die raumliche Nahe zur Kreuzbachversinkung und die geologischen Gegebenheiten lassen den Schluss zu, dass das Wasser von der Jagstversinkung nach Neunbronn floss. Im Mai 1905 hatte der wurttembergische Innenminister Johann von Pischek in einer Landtagsdebatte uber die Donauversinkung erklart, die Versickerung der Jagst werde hingenommen, ohne dass bisher Wunsche geaußert worden seien, dass diesem Zustand ein Ende bereitet werde.
= Markierungsversuche =
Die Markierungsversuche von 1988 bestatigten die Ergebnisse der 1970er Jahre, wonach der Hauptteil des an den Versinkungsstellen an Weidenbach und Kreuzbach verschwindenden Wassers zur Quellgruppe Neunbronn fließt. 1988 wurden 21 Prozent des am Weidenbachs eingesetzten Tracers nachgewiesen; die maximale Konzentration trat nach 420 Stunden auf, was einer Abstandsgeschwindigkeit von 37 Meter pro Stunde entspricht. Vom am Kreuzbach eingegebenen Markierungsmittel wurden 10 Prozent in Neunbronn festgestellt; dessen Konzentration war 312 Stunden nach der Eingabe maximal, woraus sich eine Abstandsgeschwindigkeit von 51 Meter pro Stunde errechnen lasst.
Fur beide Versinkungen konnten 1988 Nebenaustritte nachgewiesen werden. Dabei waren die Ergebnisse fur die Weidenbachversinkung weniger eindeutig, da das dort eingesetzte Uranin auch aus Abwasserbelastungen stammen kann. Am Kreuzbach wurden dagegen fluoreszierende Mikropartikel genutzt; diese lassen sich auch in sehr geringen Mengen nachweisen. Quantitativ sind die Nebenaustritte der Kreuzbachversinkung mit maximal 0,1 Prozent des eingebrachten Tracers sehr gering.
An folgenden Stellen konnten 1988 Nebenaustritte nachgewiesen werden:
Die Quelle Teufelsklinge ⊙ liegt auf etwa 410 m u. NHN im Unterlauf des Kreuzbachs rund 370 Meter vor der Mundung in die Jagst. In der zeitweise trockenfallenden Quelle wurde Tracer aus der Kreuzbachversinkung festgestellt.
In der Wasserhaltung des Steinbruchs Neidenfels ⊙ auf etwa 375 m u. NHN konnte Tracer aus der Kreuzbachversinkung nachgewiesen werden. Der Steinbruch liegt linksseits eines Jagstmaanders.
Die Quelle Rotenberg 1 ⊙ liegt etwa einen Kilometer oberhalb von Lobenhausen links der Jagst auf etwa 362 m u. NHN. Hier wurden Tracer aus beiden Versinkungen festgestellt.
Im Steinbach wurde an seiner Mundung ⊙ auf etwa 336 m u. NHN der Tracer aus der Weidenbachversinkung nachgewiesen. Der Austritt erfolgte sehr wahrscheinlich an einer episodisch schuttenden Quelle ⊙ auf etwa 370 m u. NHN etwa einen Kilometer oberhalb der Mundung. Nach einem sparsam dokumentierten Versuch soll das Wasserwirtschaftsamt 1963 eine Verbindung dieser Quelle zur Weidenbachversinkung nachgewiesen haben.
Die Quelle Pfaffengumpen⊙ liegt auf etwa 275 m u. NHN im Tal der Buhler unweit der Mundung des Baches durch die Kressenklinge. An dieser rund 4 Kilometer unterhalb von Neunbronn gelegenen Quelle wurde Tracer aus der Kreuzbachversinkung gefunden.
= Interpretation =
Aus den Untersuchungsergebnissen wird gefolgert, dass die Hauptabflussbahn zwischen Jagst und Buhler in der obersten Formation des Mittleren Muschelkalks verlauft, dem Dolomitstein. Diese Schicht steht unter beiden Flussen in 10 bis 20 Meter Tiefe an. Von der Kreuzbachschwinde und der fruheren Versinkung an der Jagst durfte das Wasser nicht den direkten Weg nach Neunbronn nehmen, sondern zunachst langs dem Jagsttal und der diesem parallelen Kirchberg-Verwerfung fließen. Ungefahr in der Gegend der Quelle Rotenberg 1 vereinigt sich diese Abflussbahn mit einer zweiten von der Weidenbachschwinde und fuhrt dann nach Neunbronn. Der Abzweig zum Nebenaustritt in der Quelle Pfaffengumpen wird hochstens 1 bis 2 Kilometer vor Neunbronn vermutet. Fur die Verbindungen von der Weidenbachversinkung nach Westen zum Steinbach und von der Kreuzbachversinkung zur Quelle in der Teufelsklinge liegt das Karstwasserstockwerk im Dolomitstein zu tief; hier erfolgt der Abfluss uber schwebende Grundwasserstockwerke im Oberen Muschelkalk.
Vorlaufer der Buhler war ein als „Ur-Buhler“ bezeichneter Zufluss der Urbrenz, die in die Donau mundete. Im Altpleistozan konnten zum Rhein orientierte Flusse das Einzugsgebiet der Ur-Buhler ubernehmen, da sie durch ihre tiefere Erosionsbasis im Vorteil waren. Die Umkehr der Buhler-Fließrichtung zeigt sich unter anderem am „verkehrten“ Mundungswinkel von Buhler-Zuflussen wie der Schmerach oder der Fischach. Die Hauptabflussbahn von der Jagst zur Quellgruppe Neunbronn zeigt einen ahnlichen, „verkehrten“ Mundungswinkel, woraus gefolgert wird, dass sich das Karstsystem bereits vor der Anzapfung der Ur-Buhler zu entwickeln begann, moglicherweise entlang von tektonischen Strukturen parallel zur Frankischen Furche. Im Raum Crailsheim konnte das Karstsystem vorubergehend den Vorteil der tieferen, rheinischen Erosionsbasis nutzen, da sich die Fließrichtung der Jagst erst spater umkehrte. Die Abflussbahnen in den hoheren, schwebenden Grundwasserstockwerken im Oberen Muschelkalk entstanden erst spater, ungefahr ab dem Mindel-Riß-Interglazial. Modelle zur zeitlichen Entwicklung von Karstsystemen kommen zu ahnlichen Ergebnissen wie die Folgerungen aus der Landschaftsgeschichte.
Jurgen Zander nannte 1973 die von ihm nachgewiesenen Verbindungen der Quellgruppe Neunbronn „unterirdische Flusspiraterien“, die einen Hinweis darauf geben konnen, wie sich die Flusssysteme der Zwillingsflusse Kocher und Jagst in der Zukunft entwickeln werden. In ihrer Bedeutung reichten die Verbindungen vielleicht nicht an die Donauversinkung im Oberen Jura bei Tuttlingen heran; allerdings zeigten sie, welche großraumigen Karstsysteme auch im Muschelkalk entstehen konnen.
Siehe auch Liste von Karstquellen in Baden-Wurttemberg
Liste der Geotope im Landkreis Schwabisch Hall
Liste der Naturdenkmale in Schwabisch Hall
Literatur Theo Simon, Werner Kaß, Knut Hinkelbein: Markierungsversuche im Bereich der Jagstversickerung bei Crailsheim (Hohenlohe). In: Geologisches Landesamt Baden-Wurttemberg (Hrsg.): Jahreshefte. Band 35(1993), S. 407–432.
Jurgen Zander: Zum Problem der ehemaligen Jagst-Versickerung bei Crailsheim. In: Beitrage zur Hohlen- und Karstkunde in Sudwestdeutschland. 2(1973), S. 2–11 (pdf, 4,9 MB, Auszug aus Dissertation).
Weblinks Einzelnachweise
|
Uber die Quellgruppe Neunbronn entwassern Gebiete, die jenseits der Jagst liegen, in den Kocher-Zufluss Buhler. Fruher trat uber die Quellen auch Wasser der Jagst aus, das unterhalb von Crailsheim versank. Von diesen Karstquellen ruhrt der Name des nahen Wohnplatzes Neunbronn her, der zum Stadtteil Sulzdorf von Schwabisch Hall im frankisch gepragten Nordosten von Baden-Wurttemberg gehort.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Quellgruppe_Neunbronn"
}
|
c-443
|
Der Riout 102T Alerion ist der Prototyp eines einsitzigen Ornithopters des franzosischen Ingenieurs Rene Riout aus dem Jahr 1937.
Vorlaufer Rene Riout war zunachst bei Automobilbauern tatig, bis er auf die Luftfahrttechnik umschwenkte und verschiedene Segel- und Propellerflugzeuge entwickelte. 1907 gelangen ihm die ersten Fluge mit kleinen Ornithoptermodellen, die bis zu 220 m weit flogen. 1910 erhielt er Patente in Frankreich sowie 1911 in Großbritannien und den USA fur Fluggerate, die durch Schlagflugel angetrieben werden. Verformbare Flugel sollten dazu in der Aufwartsbewegung in waagerechter Gleitposition gehalten werden, wahrend sich in der Abwartsbewegung die Hinterkante der Flugel nach oben biegt, um den Vortrieb zu erzeugen, wobei die Verformung zur Flugelspitze hin starker ausgepragt sein sollte. 1912 baute er zusammen mit seinem Partner Dubois den ersten bemannten Ornithopter DuBois-Riout. Dieser hatte eine Flugelspannweite von 10,5 m bei einer Flugelflache von 15 m². In dem 360 kg schweren DuBois-Riout kam zunachst ein 25,7 kW starke Motor von Viale zum Einsatz, mit dem die ersten Starts gelangen. 1916 gelang Riout mit einem 37 kW von Gnome et Rhone ein spektakularer Flug vor einer technischen Kommission, bei dessen Landung allerdings das Fahrwerk brach und die Maschine einen Totalschaden erlitt, was die weitere Erprobung verzogerte. Schließlich wurde die Weiterentwicklung mit dem beginnenden Ersten Weltkrieg eingestellt.
Nach dem Ersten Weltkrieg entwarf Riout weitere Fluggerate mit Schlagflugeln, die bei Herstellern jedoch nur auf geringes Interesse stießen. Er experimentierte mit zahlreichen Flugmodellen, von denen eines 1930 eine Flugweite von 150 m und Flughohen von 5 bis 10 m erreichte.
Entwicklungsbeginn 1933 reichte er Entwurfe und Modelle von 100 bis 500 g leichten, zwei- und vierflugeligen Schlagfluglern beim Service technique de l’aeronautique – STAe ein, die Flugweiten von bis zu 100 m erreichten. Daraufhin erhielt er den Auftrag zum Bau eines Erprobungsmodells mit Elektromotor im Maßstab 1:5. Das 1934 fertiggestellte Modell wurde vom 11. November 1934 bis 1. Februar 1935 etwa 200 Stunden lang im Windkanal von Issy-les-Moulineaux bei Paris getestet und bestatigte die Machbarkeit des Entwurfs. Auf Grundlage der Testergebnisse sollte ein flugfahiges Flugzeug mit einem 67-kW-Motor Geschwindigkeiten von 200 km/h erreichen konnen, worauf Riout den Auftrag zum Bau eines Prototyps erhielt.
Der Prototyp wurde Ende 1937 im Werk des Karosseriebauers Emile Tonnelline in Courbevoie gebaut und im Flugzeugwerk Ateliers d’Aviation Louis Breguet in Villacoublay endmontiert. Er absolvierte eine Reihe von Tests am Boden und im Windkanal des Service technique de l’aeronautique – STAe in Chalais-Meudon. Hier wurde festgestellt, dass der Motor statt der projektierten 56 kW nur eine Leistung von etwa 45 kW erreichte; trotzdem wurden die Tests fortgefuhrt. Das Gerat hatte bis dahin drei Stunden lang erfolgreich Stabilitatstest im Windkanal absolviert. Am 12. April wurde das Fluggerat zunachst zwei Minuten mit ruhenden Flugeln und dann im Schlagflug getestet. Nach 20 Minuten bei Windgeschwindigkeiten von 125 km/h wurde die Motordrehzahl auf 4500 min−1 angehoben, in der Folge erlitt zunachst eine Tragflache nach 10 Sekunden einen Strukturschaden und knickte am außeren Drittel ein, worauf die ubrigen drei Tragflachen ebenfalls auf gleiche Weise brachen. Bereits vor der Havarie hatte Riout einige strukturelle Anderungen bei der STAe beantragt, die jedoch nach der Havarie abgewiesen wurden. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde die weitere Entwicklung des Projekts eingestellt. Die beschadigten Flugel wurden entsorgt und der Flugzeugrumpf wurde eingelagert.
Der Rumpf wurde 2005 in einer verlassenen Fabrik in La Couture-Boussey wiedergefunden und in das Musee Regional de l’Air in Angers gebracht, wo er teilrestauriert wurde und in der Dauerausstellung ausgestellt ist.
Konstruktion Der zigarrenformige Rumpf des Alerion besteht aus einem Gitterrahmen aus Stahlrohren mit Aluminiumbeplankung; er ist 6,40 m lang und 2,49 m hoch. Hinter dem Cockpit sind zwei schwenkbare Paare Schlagflugel hintereinander an einem Metalltrager am Rumpf angeschlagen. Die Flugel bestehen aus Metallrahmen mit Stoffbespannung und haben eine Flugelspannweite von etwa 8 m. Der Flugelschlag beschreibt einen Bogen von 50°, davon 40° oberhalb und 10° unterhalb der Flugelachse. Die Flugelspitzen reichen in der unteren Position 0,67 m und in der oberen Position 4,1 m uber den Boden. Hinter der Flugelaufnahme befindet sich ein 56 kW starker V-2-Zylinder-Einbaumotor mit OHV-Ventilsteuerung von J.A.P. (moglicherweise ein JAP 8/75). Die Flugel werden vom Motor uber eine Kurbelwelle und Pleuelstangen paarweise angehoben und abgesenkt, wobei die vorderen und hinteren Flugelpaare gegenlaufig schwingen. Die genaue Ansteuerung der Flugel konnte noch nicht sicher rekonstruiert werden, da die ursprunglichen Flugel nicht mehr erhalten sind. Auftrieb und Vortrieb sollten uber Verwerfungen der hinteren Flugelflachen beim Schlagflug erreicht werden. Das Leitwerk ist mit Hohen- und Seitenruder konventionell ausgelegt. Das Fahrwerk besteht aus vier einziehbaren Radern mit einer Spurweite von 1,3 m; das Leergewicht des Flugzeugs liegt bei 500 kg und das Abfluggewicht bei 630 kg.
Trivia Moglicherweise war der Riout 102T Alerion einer der Ideengeber fur die Ornithopter-Fluggerate in Frank Herberts Romanzyklus Dune und den darauf basierenden Verfilmungen.
Vergleichbare Typen Konstruktiv ist der Riout 102T mit dem ebenfalls vierflugligen, jedoch bedeutend kleineren Festo BionicOpter vergleichbar. Zweifluglige flugfahige Varianten sind das Festo SmartBird oder der DelFly der Technischen Universitat Delft.
Literatur Roger Robert: Le RIOUT Alerion. In: Association des amis du Musee de l'air Auteur du texte (Hrsg.): Pegase : revue de l'association des amis du musee de l'air. Nr. 144, Marz 2012, ISSN 2725-9811, S. 26–27 (franzosisch, bnf.fr [abgerufen am 27. Februar 2024]).
Christian Ravel: Avion a ailes battantes Riout 102T. In: Trait d’Union (T.U.). Nr. 225, 2006, S. 1–3 (franzosisch, Nachweis).
Weblinks Les Prototypes – RIOUT 102-T ALERION auf Espace Air Passion – Angers Loire Aeroport (franzosisch)
The Riout 102T Alerion Ornithopter; Frank Herbert’s Inspiration?
Einzelnachweise
|
Der Riout 102T Alerion ist der Prototyp eines einsitzigen Ornithopters des franzosischen Ingenieurs Rene Riout aus dem Jahr 1937.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Riout_102T_Alérion"
}
|
c-444
|
Richard Keir Pethick Pankhurst (* 3. Dezember 1927 in Woodford Green bei London; † 16. Februar 2017 in Addis Abeba) war ein britischer Historiker und Athiopist. Er war von 1962 bis 1992 Professor an der Universitat Addis Abeba und einer der einflussreichsten Forscher und Autoren zur Geschichte Athiopiens.
Leben Richard Pankhurst entstammte einer sehr politischen Familie. Er war der Sohn der kommunistischen Frauenrechtlerin und fruheren Suffragette Sylvia Pankhurst (1882–1960) und des italienischen Anarchisten Silvio Corio (1875–1954). Seine Großeltern waren die Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst sowie der Rechtsanwalt und Sozialist Richard Pankhurst. Christabel und Adela Pankhurst waren seine Tanten.
Wahrend des Angriffskriegs des faschistischen Italien gegen Athiopien ab 1935 engagierte sich Pankhursts Mutter fur die Unabhangigkeit des afrikanischen Landes und dessen Kultur. Sie grundete die Zeitung The New Times and Ethiopia News, beherbergte in ihrem Haus athiopische Fluchtlinge und stand auch mit dem exilierten Kaiser Haile Selassie in Kontakt. So wurde schon fruh Pankhursts Interesse fur Athiopien geweckt. Er befreundete sich mit dem Dramatiker und Dichter Mengistu Lemma und dem Kunstler Afewerk Tekle. Er studierte Wirtschaftsgeschichte an der London School of Economics und promovierte 1954 mit einer Arbeit uber den Fruhsozialisten William Thompson (1775–1833) zum Ph.D. Anschließend setzte er seine Studien am National Institute of Economic and Social Research fort, die in einer Arbeit uber die Saint-Simonisten, John Stuart Mill und Thomas Carlyle resultierten. Parallel unterrichtete er im Abendschul-Programm der University of London britische Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
1956 zog er mit seiner Mutter und seiner Partnerin Rita Eldon nach Athiopien. Die studierte Slawistin war als Judin aus Rumanien geflohen; das Paar heiratete im Jahr darauf. Pankhurst lehrte Wirtschaftsgeschichte am University College of Addis Ababa, aus dem 1962 die Haile-Selassie I.-Universitat hervorging. Als Nachfolger seiner Mutter gab er von 1961 bis 1974 die Zeitschrift Ethiopia Observer heraus, außerdem war er von 1962 bis 1974 einer der Herausgeber des Journal of Ethiopian Studies. Zusammen mit dem polnischen Kunsthistoriker Stanisław Chojnacki grundete Pankhurst 1963 das Institut fur Athiopische Studien an der Universitat Addis Abeba, das er als erster Direktor bis 1972/73 leitete. Zum Institut gehorten eine athiopistische Bibliothek, eine Kunstgalerie, ein ethnographisches Museum und eine Forschungseinrichtung. Durch die Ausbildung einheimischer Fachleute trug Pankhurst zur „Athiopisierung“ der Athiopistik bei, die bis dahin von europaischen Wissenschaftlern dominiert worden war. Rita Pankhurst wurde 1964 Leiterin der Universitatsbibliothek von Addis Abeba.
Nach dem Staatsstreich des Derg im Jahr 1974 und dem Ausbruch des athiopischen Burgerkriegs kehrte Pankhurst 1976 mit seiner Familie nach London zuruck, wo er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der London School of Economics und der School of Oriental and African Studies sowie als Bibliothekar bei der Royal Asiatic Society arbeitete. 1986 oder 1987 konnten die Pankhursts wieder nach Athiopien, wo Richard Pankhurst erneut am Institut fur Athiopische Studien tatig war. Auch lange nach seinem offiziellen Eintritt in den Ruhestand 1992 arbeitete er weiter als Forscher und Autor. Pankhurst setzte sich fur die Ruckgabe des 1937 als Kriegsbeute nach Rom verschleppten Obelisks von Aksum an Athiopien ein und konnte 2008 der Zeremonie zu seiner Wiederaufrichtung in Aksum beiwohnen. Zudem war er Organisator und stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung Afromet fur die Ruckgabe der nach dem britischen Feldzug gegen Athiopien 1868 und der Schlacht um Magdala von Großbritannien erbeuteten athiopischen Kostbarkeiten.
Die Universitat Addis Abeba verlieh Pankhurst 2004 die Ehrendoktorwurde. 2005 wurde er mit dem Order of the British Empire (OBE) ausgezeichnet. Nach seinem Tod wurdigte das athiopische Außenministerium ihn als „einen der großten Freunde Athiopiens“. Pankhurst erhielt ein Staatsbegrabnis, diese Ehre wird in Athiopien nur selten Auslandern zuteil. Er wurde, wie bereits seine Mutter, auf dem Gelande der athiopisch-orthodoxen Dreifaltigkeitskathedrale in Addis Abeba bestattet.
Sein Sohn Alula Pankhurst (* 1962) ist Sozialanthropologe und ebenfalls Athiopist, seine Tochter Helen Pankhurst (* 1964) Sozialwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin.
Veroffentlichungen (Auswahl) The Saint Simonians, Mill and Carlyle. A preface to modern thought. Sidgwick & Jackson, London 1957.
An Introduction to the Economic History of Ethiopia from early times to 1800. Lalibela House, London 1961.
Als Herausgeber: Travellers in Ethiopia. Oxford University Press, London 1965.
Als Herausgeber: The Ethiopian Royal Chronicles. Oxford University Press, Addis Ababa u. a. 1967.
Economic History of Ethiopia, 1800–1935. Haile Sellassie I University Press, Addis Abeba 1968.
Sylvia Pankhurst, Artist and Crusader. An intimate portrait. Paddington, New York u. a. 1979.
Let’s visit Ethiopia. Burke, London/Bridgeport (Conn.) 1984.
Mit Leila Ingrams: Ethiopia Engraved. An illustrated catalogue of engravings by foreign travellers from 1681 to 1900. Kegan Paul, London u. a. 1988.
A Social history of Ethiopia. The Northern and Central Highlands from early medieval times to the rise of emperor Tewodros II. Institute of Ethiopian Studies, Addis Abeba 1990.
William Thompson (1775–1833). Pioneer socialist. Pluto Press, London u. a. 1991.
The Ethiopians. A history. Blackwell, Oxford u. a. 1998.
Sylvia Pankhurst: Counsel for Ethiopia. A biographical essay on Ethiopian, anti-fascist and anti-colonialist history, 1934–1960. Tsehai, Hollywood (Calif.) 2003.
Literatur Jon Abbink: Richard Pankhurst, 1927–2017. In: Rassegna di Studi Etiopici, 3. Serie, Band 1 (2017), S. 226–229.
Shiferaw Bekele: In memoriam Richard Pankhurst (1927–2017). In: Aethiopica, Band 20 (2017), S. 256–263.
Rita Pankhurst: Bibliography of Publications written, edited, or annotated by Richard Pankhurst. In: Aethiopica, Band 5 (2002), S. 15–41.
Heran Sereke-Brhan, Baye Yimam, Gebre Yntiso (Hrsg.): Festschrift Dedicated in Honour of Prof. Richard Pankhurst & Mrs. Rita Pankhurst. In: Journal of Ethiopian Studies, Band 40 (2007), Nr. 1–2.
Edward Ullendorff: Richard Pankhurst. In: Aethiopica, Band 5 (2002), S. 7–9.
Einzelnachweise
|
Richard Keir Pethick Pankhurst (* 3. Dezember 1927 in Woodford Green bei London; † 16. Februar 2017 in Addis Abeba) war ein britischer Historiker und Athiopist. Er war von 1962 bis 1992 Professor an der Universitat Addis Abeba und einer der einflussreichsten Forscher und Autoren zur Geschichte Athiopiens.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Pankhurst_(Historiker)"
}
|
c-445
|
Die Windmuhle Immanuel ist ein Erdhollander im Marner Neuenkoogsdeich, einem Ortsteil der Gemeinde Neufeld im schleswig-holsteinischen Landkreis Dithmarschen. Sie stand ursprunglich in Marne und wurde erst 1983 transloziert, das heißt an ihren neuen Standort ubertragen. Unter der Objekt-ID 3399 ist die Muhle in der Liste der Kulturdenkmale in Neufeld (Dithmarschen) eingetragen. Die Anschrift lautet Puttenweg 2 in Neufeld.
Geschichte = „Alte“ Muhle von 1854 =
Im Jahr 1854 wurde auf dem alten Sophiendeich, der zum Kirchspiel Marne gehorte, ein Erdhollander mit Reetdach errichtet. Erbauer war der Muhlenbauer Paul Jebens. Statt der mit Segeln bespannten Flugel erhielt die Muhle schon kurz nach ihrer Inbetriebnahme Jalousieflugel, die sich wahrend des Laufs verstellen lassen, um die Drehzahl je nach Windstarke gleichmaßig zu halten.
1907 wurde ein Petroleummotor eingebaut, um die Muhle auch bei Windstille betreiben zu konnen. Bei einem durch einen Kurzschluss ausgelosten Brand wurde 1936 die historische Muhle vernichtet.
= Versetzung einer Muhle aus Marne nach Neufeld =
Der Standort im Marner Neuenkoogsdeich, zugehorig zur Gemeinde Neufeld, lag seither fast ein halbes Jahrhundert brach, bis der Bildhauer Klaus Wiethoff 1983 die Muhle Immanuel dorthin translozieren ließ. Sie stand ursprunglich in der Konigstraße in Marne. Sie war 1845 ebenfalls von Paul Jebens errichtet worden und am ursprunglichen Standort bis 1959 in Betrieb, bevor sie verfiel. In Verbindung mit der Aufstellung an ihrem neuen Platz wurde sie saniert.
Heute dient die Windmuhle dem Eigentumer als Galerie. Es finden regelmaßig Ausstellungen mit zeitgenossischer Kunst statt.
Ausstattung Die komplette Einrichtung der Muhle ist erhalten, ebenso ein unterirdischer Gang. Auch die Windrose und die Jalousieflugel existieren noch. Die Kunstgalerie ist im Keller eingerichtet.
Um die Flugel nach der Windrichtung auszurichten, war Immanuel zunachst mit einem Steert ausgestattet, der 1918 durch eine Windrose ersetzt wurde.
Weblinks Immanuel bei milldatabase.org
echt-dithmarschen: Windmuhle Immanuel. Abgerufen am 28. Januar 2024
Einzelnachweise
|
Die Windmuhle Immanuel ist ein Erdhollander im Marner Neuenkoogsdeich, einem Ortsteil der Gemeinde Neufeld im schleswig-holsteinischen Landkreis Dithmarschen. Sie stand ursprunglich in Marne und wurde erst 1983 transloziert, das heißt an ihren neuen Standort ubertragen. Unter der Objekt-ID 3399 ist die Muhle in der Liste der Kulturdenkmale in Neufeld (Dithmarschen) eingetragen. Die Anschrift lautet Puttenweg 2 in Neufeld.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_(Neufeld)"
}
|
c-446
|
Reinhard Kusch (* 22. Dezember 1946; † 3. Dezember 2010 in Frankfurt an der Oder) war ein deutscher Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum Viadrina.
Leben Reinhard Kusch studierte Geschichte an der Humboldt-Universitat zu Berlin. Im Juli 1968 wurde er zum Gegenstand einer sogenannten „Einzel-Information“ an das Ministerium fur Staatssicherheit, in der ein unbekannt bleibender Informant ein „negatives Verhalten“ Kuschs und drei anderer Studenten meldete. Kusch sei am 28. Mai 1968 „(...) in einer FDJ-Versammlung zu Problemen der internationalen Arbeiterbewegung mit einem provokatorischen Schreiben auf[getreten], in dem die Studenten ihren Protest zum Abriß der Ruine der Garnisonskirche in Potsdam zum Ausdruck bringen sollten. (...)“ (Zitat); Kusch habe Sympathien fur die Veranderungen im Rahmen des Prager Fruhlings gezeigt. Gegen die Studenten wurde eine Kampagne inszeniert, fur die aus einem Arbeitsplanentwurf der FDJ-Leitung der Gruppe Hist/Dipl. III/1 angebliche Belege fur „konterrevolutionare Umtriebe“ an der Sektion Geschichte zitiert wurden. Auf Betreiben des Rektors Karl-Heinz Wirzberger und des Sektionsdirektors Gunter Vogler fanden am 6. Dezember 1968 Disziplinarverfahren statt, die fur drei der Beschuldigten, darunter Reinhard Kusch, mit der Relegation von der Universitat endeten.
Nach seiner Relegation von der Humboldt-Uni arbeitete Kusch im Stadtarchiv in Greifswald. Ab Mitte der 1970er Jahre arbeitete er im Museum Viadrina in Frankfurt (Oder). Er promovierte 1981 zur Geschichte der Stadt Stralsund und war im Museum Viadrina als wissenschaftlicher Mitarbeiter tatig, wobei er sich auf das Mittelalter spezialisiert hatte.
In der Wendezeit engagierte Kusch sich in Frankfurt (Oder) im Neuen Forum und war einer der Sprecher von Bundnis 90/Die Grunen. Zuletzt arbeitete Kusch im Furstenwalder Stadtmuseum.
Ehrungen Fur sein ehrenamtliches Engagement wurde Kusch im Jahr 2000 mit dem Preis Der gute Geist im Verein geehrt.
Schriften (Auswahl) Im Jahr 1999 veroffentlichte Kusch sein Werk Kollaps ohne Agonie mit Protokollen der SED-Bezirksleitung Frankfurt/Oder. In Furstenwalde/Spree war er Mitautor des Furstenwalder Lesebuchs.
Auswahl seiner Schriften
Fachschule fur Archivwesen (Hrsg.): Johannes Kornow, Reinhard Kusch, Franz Scherer: Wissensspeicher fur das Lehrgebiet Geschichte der politischen Organisation der Gesellschaft – Teil Kapitalismus – Band 5. Potsdam 1976.
Die schwedische Stadtaufnahme von Stralsund 1706/07. Ein soziotopographischer und sozialokonomischer Querschnitt. In: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 11/1977.
Die Manufaktur in Stralsund. Voraussetzungen und Entwicklung der protokapitalistischen Produktion im spatfeudalen Stralsund wahrend der Schwedenzeit 1720–1815. Diss. phil., Greifswald 1981.
Stralsund von 1720 bis 1815. In: Herbert Ewe (Hrsg.): Geschichte der Stadt Stralsund. Hermann Bohlaus Nachfolger, Weimar 1984, S. 202–233.
Handelskapital und Manufaktur im Spatfeudalismus. Das Beispiel Stralsund (1720 bis 1815). In: Jahrbuch fur Wirtschaftsgeschichte/Economic History Yearbook 27, 4 (1986), S. 367–390.
Kollaps ohne Agonie. Das Ende des SED-Regimes im Bezirk Frankfurt an der Oder. Die Furt, Jacobsdorf 1999.
Die finale Krise der DDR und die demokratische Herbstrevolution in Frankfurt 1989/90. In: Ulrich Knefelkamp, Siegfried Griesa (Hrsg.): Frankfurt an der Oder. 1253–2003. Verlag fur Wissenschaft und Forschung, Frankfurt an der Oder 2003, S. 281–310.
Uber das Ende des Frankfurter Oderland-Museums im Jahre 1945. In: Frankfurter Jahrbuch 2000, S. 89–95.
Wer Stalin sagt, muß auch Lenin sagen. Uber die Ursprunge des Stalinismus zwischen 1903 und 1924. In: Der Frohliche Marxist 9/2013 (PDF).
Weblinks Werke von Reinhard Kusch in der Landesbibliographie MV
Einzelnachweise
|
Reinhard Kusch (* 22. Dezember 1946; † 3. Dezember 2010 in Frankfurt an der Oder) war ein deutscher Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Museum Viadrina.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Reinhard_Kusch"
}
|
c-447
|
Gertrude Augusta „Gussie“ Moran (* 8. September 1923 in Santa Monica, Kalifornien; † 16. Januar 2013 in Los Angeles, Kalifornien) war eine US-amerikanische Tennisspielerin.
Karriere = Anfange =
Mit dem Tennis begann Moran an der Santa Monica High School. In ihrer fruhen Karriere erreichte sie die Hauptrunden mehrerer Amateurturniere in Kalifornien. Im Marz 1949 besiegte sie Nancy Chaffee im Einzelfinale der US Indoor Championships, die in New York City ausgetragen wurden. Bei dem Turnier gewann sie mit Marjorie Gladman auch die Doppel- und mit Pancho Gonzales die Mixedkonkurrenz.
= Kontroverse 1949 in Wimbledon =
Aufgrund guter Ergebnisse erhielt sie die Berechtigung, 1949 in Wimbledon zu starten. Fur diesen Auftritt bat sie Ted Tinling, ihr ein Outfit zu designen, nachdem die Funktionare ihr verboten hatten, ein farbiges Kleid zu tragen. Das Outfit bestand aus einem sehr kurzen Rock, bei dem die spitzenbesetzte Ruschenunterwasche in manchen Situationen wahrend des Tennisspiels sichtbar war, beispielsweise wenn sie sich nach einem Ball am Boden buckte. Sie schied bei ihrer ersten Begegnung aus dem Einzelturnier aus, erreichte aber im Doppel an der Seite von Patricia Todd das Finale.
Ihr Outfit erhielt eine erhebliche Aufmerksamkeit der Reporter. Sie nannten sie „Gorgeous Gussie“ („Wunderschone Gussie“), und Fotografen kampften um moglichst gute Positionen, von denen aus sie aus niedriger Hohe die Spitze ablichten konnten. Daruber waren die Funktionare des Turniers konsterniert, und es folgten hierzu Debatten im britischen Parlament. Das Komitee des All England Lawn Tennis and Croquet Club beschuldigte Moran, „Sunde und Vulgaritat in den Tennissport“ (“sin and vulgarity into tennis”) gebracht zu haben.
Im September 1949 belegte Gussie Moran in der Tennis-Weltrangliste den achten Platz.
Im Folgejahr trat sie mit Shorts in Wimbledon an. Tinling, der bis zum Vorfall 23 Jahre lang als Gast nach Wimbledon geladen worden war, wurde dort anschließend 33 Jahre gemieden und erst 1982 wieder zum Turnier eingeladen.
= Profikarriere und Open Era =
1950 erreichte sie in Wimbledon das Viertelfinale. Gussie Moran, „die im vergangenen Jahr beim Wimbledon-Turnier durch ihre extravagante Kleidung besonders auffiel“, stand erneut „im Mittelpunkt der sensationshungrigen Presse“:
Danach begann sie eine Profikarriere als Tennisspielerin. Sie wurde von Bobby Riggs unter Vertrag genommen und tourte unter anderem mit Pauline Betz, Pancho Segura und Jack Kramer, wobei ihr Outfit-Skandal vermarktet wurde. Fur den Wechsel in die Profiliga soll sie angeblich 50.000 US-Dollar (entspricht heute ungefahr 700.000 US-Dollar) von Riggs erhalten haben.
Eines der letzten Turniere, bei dem sie antrat, war das Dameneinzel der US Open 1971, wo sie in der ersten Runde ausschied. Ab 1968 und dem Beginn der Open Era durften Profis wieder gemeinsam mit Amateuren bei vielen Turnieren antreten.
= Karriere außerhalb des aktiven Tennissports =
Im Jahr 1951 begann sie fur einen Fernsehsender in Los Angeles zu arbeiten, wo sie unter anderem Interviews fuhrte.
1953 betatigte sich Gussie Moran in Las Vegas als Tennis-Hostess, d. h. sie stand Hotelgasten als Tennispartnerin zur Verfugung. Das Hotel „soll auf Monate hinaus ausverkauft“ gewesen sein.
1955 wurde sie Nachrichtensprecherin fur Sportmeldungen in New York City. Als eine der ersten Frauen, die im Sportbereich moderierten, erhielt sie nach eigenen Angaben teilweise „schreckliche Briefe und Anrufe“ von Zuschauern. Sie arbeitete in dem Bereich bis 1961. In den folgenden zwei Jahren stellte sie mit einem Partner Tennisbekleidung her, die sie auch selbst verkaufte; nachdem sie das Geschaft 1963 geschlossen hatten, ging sie zuruck nach Kalifornien und arbeitete fur kurze Zeit in einem Tennisclub in Palm Springs. Anschließend wurde sie Moderatorin in einer kurzlebigen taglichen Talkshow, aus der sie nach 11 Wochen entlassen wurde, nachdem sie die katholische Kirche als politische Partei bezeichnet hatte. Danach arbeitete sie wieder als Tennislehrerin in einem Tennisclub, der von der ehemaligen Tennisspielerin Alice Marble betrieben wurde.
Wegen ihrer Bekanntheit hatte sie 1952 einen Cameo-Auftritt im Film Pat und Mike, in dem Spencer Tracy und Katharine Hepburn die Hauptrollen spielten. Außerdem zierte sie die Titelseiten verschiedener Magazine weltweit, und ein Rennpferd, ein Flugzeug und die Spezialsoße eines Restaurants wurden nach ihr benannt.
Wahrend ihres Lebens war sie in vielen Berufen tatig, wobei der Tennissektor die einzige Konstante war. Sie bereute, dass sie keine College-Ausbildung hatte. In den 1980er Jahren arbeitete sie zuletzt im Andenkenladen im Los Angeles Zoo.
Personliches Gussie Morans Vater arbeitete als Tontechniker und Elektriker bei den Universal Studios. Er starb 1960. Moran trat in den 1940er Jahren wahrscheinlich wegen Verbindungen ihres Vaters bei verschiedenen Filmen als Statistin auf. Sie war spater mit Charlie Chaplin so eng befreundet, dass er fur ihre Verlobung eine Feier veranstaltete.
Als sie 17 Jahre alt war, erfuhr ihre Familie, dass Gussies alterer Bruder im Zweiten Weltkrieg vermisst wurde. In der Folge arbeitete sie fur die Douglas Aircraft Company, wo sie am Bestucken von Flugzeugen fur den Kriegseinsatz beteiligt war. Außerdem besuchte sie fur die United Service Organizations (USO) Militarstutzpunkte und Krankenhauser in Kalifornien. 1970 war sie fur die USO in Vietnam. Wahrend ihres Aufenthalts dort wurde der Hubschrauber, in dem sie sich befand, abgeschossen. Sie erlitt mehrere gebrochene und dislozierte Knochen. Spater konnte sie sich an diesen Vorfall fur langere Zeit nicht mehr erinnern, erst mit zeitlichem Abstand kam die Erinnerung zuruck.
Moran war dreimal verheiratet, das erste Mal mit 19 Jahren. Die Ehen blieben alle kinderlos und endeten mit Annullierungen oder Scheidungen. Spater erklarte sie, abgetrieben zu haben.
Moran lebte in Santa Monica in einem Haus im viktorianischen Stil mit Meerblick, das ihrer Familie gehorte. Nach dem Tod ihrer Mutter 1977 konnte Gussie Moran nach einiger Zeit die Steuer auf das Haus und Grundstuck nicht mehr zahlen, sodass sie 1986 zur Raumung des Hauses gezwungen wurde. Anschließend lebte sie funf Monate lang bei Freunden. Danach lebte sie in der Region von Los Angeles in verschiedenen kleinen Wohnungen.
Moran selbst wollte „Gussy“ und nicht „Gussie“ geschrieben werden. Sie starb im Alter von 89 Jahren an Darmkrebs.
Erfolge bei Grand-Slam-Turnieren = Doppel =
Finalteilnahmen = Mixed =
Finalteilnahmen Weblinks WTA-Profil von Gussie Moran (englisch)
ITF-Profil von Gussie Moran (englisch)
Gussie Moran bei IMDb
Einzelnachweise
|
Gertrude Augusta „Gussie“ Moran (* 8. September 1923 in Santa Monica, Kalifornien; † 16. Januar 2013 in Los Angeles, Kalifornien) war eine US-amerikanische Tennisspielerin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Gussie_Moran"
}
|
c-448
|
Der Codex Mayerianus ist eine von dem Falscher Konstantinos Simonides 1861 publizierte, angebliche fragmentarische Handschrift neutestamentlicher Texte auf Papyrus. Wahrend andere seiner Falschungen verschollen sind, werden die Papyri des Codex Mayerianus im World Museum Liverpool aufbewahrt.
Vorgeschichte Bei seinem ersten Englandaufenthalt 1853/54 knupfte Simonides Kontakte in der gebildeten Gesellschaft des viktorianischen London. Er bot einen Mix aus echten mittelalterlichen (auf dem Athos entwendeten) griechischen Manuskripten und ausgesuchten Falschungen zum Kauf an. Frederic Madden (British Museum) und Henry Coxe (Bodleian Library) waren imstande, die Spreu vom Weizen zu trennen; aber der Umstand, dass er einzelne Stucke verkauft hatte, verschaffte Simonides bei Privatsammlern Prestige.
Nach Aufenthalten in Konstantinopel, Odessa und Moskau war Simonides 1855/56 in Deutschland, wo er wieder echte und falsche Manuskripte im Angebot hatte. Fast ware ihm mit dem gefalschten Uranios-Palimpsest gelungen, Fachleute zu tauschen. Aber der Coup flog auf, unter anderem dank eines Gutachtens Konstantins von Tischendorf. Simonides, der in Leipzig wohnte, wurde am 1. Februar 1856 verhaftet und in der Folge aus Sachsen ausgewiesen. Er lebte einige Monate in Wien und Munchen, dann kehrte er im April 1858 fur einen mehrjahrigen zweiten Aufenthalt nach England zuruck.
Simonides’ Entdeckung Der Liverpooler Goldschmied und Antiquitatensammler Joseph Mayer teilte die Mitte des 19. Jahrhunderts weit verbreitete Begeisterung fur agyptische Altertumer. Er beauftragte Konstantinos Simonides, einen griechischen Muttersprachler, im Februar 1860 damit, die ungeordneten Papyrusbestande seiner Privatsammlung zu sichten. Da weder Mayer noch der Kurator seiner Sammlung Griechisch lesen konnten, war Simonides mit den Papyrusfragmenten sich selbst uberlassen, und als er dann krank wurde, durfte er einige Papyri mit in sein Quartier nehmen, um weiter daran zu arbeiten. Nach seiner Genesung vermeldete Simonides spektakulare Entdeckungen, erst mundlich und dann in einem auf den 25. Marz 1860 datierten Brief an Mayer. Simonides schrieb, er habe sich zunachst den Papyri in altgriechischer Sprache zugewandt.
„Darunter entdeckte ich zu meiner Uberraschung erst drei Fragmente und kurz darauf zwei weitere, die einen Teil des Evangeliums nach Matthaus enthalten, geschrieben etwa im 15. Jahr nach der Himmelfahrt unseres Erlosers, also im 48. Jahr nach der Inkarnation der Gottheit, von der Hand des Diakons Nikolaos. Denn am Ende des funften Fragments, welches den letzten Teil des 28. Kapitels enthalt, stehen die folgenden Worte:
Η ΓΡΑΦΗ THI XEIPI NIKOΛAOY ΔIAKONOY ΚΑΘ
YΠAΓOPEYCIN MATΘAIOY AΠOCTOΛOY IHCOY
XPICTOY ΕΓΕΝΕΤΟ ΔE ΤΩΙ ΠENTEKAIΔEKATΩI
THC TOY KYPIOY ANAΛHΨEΩC ETE KAI TOIC
EN ΠAΛAICTINHI ΠICTOIC IOYΔAIOIC TE KAI
EΛΛHCI ΔΙΕΔΟΘΗ.
Die Schrift von der Hand Nikolaos’ des Diakons nach dem Diktat des Matthaus, des Apostels Jesu Christi. Angefertigt im 15. Jahr nach der Himmelfahrt unseres Herrn, und ausgeteilt an die glaubigen Juden und Griechen in Palastina.“
Simonides behauptete, Fragmente von insgesamt acht einseitig in zwei Kolumnen beschriebenen Blattern eines Papyrus-Codex identifiziert zu haben, nicht nur des Matthausevangeliums, sondern auch des Jakobus- und des Judasbriefs. Wenn der Matthaus-Text im Jahr 48 n. Chr. auf Diktat des Apostels niedergeschrieben wurde, folgt daraus, dass Jakobus- und Judasbrief ebenfalls aus apostolischer Zeit stammen mussen. Alle Papyrusstucke wurden von Simonides auf weißen Karton aufgezogen und beschriftet. Das war ein zu dieser Zeit ubliches Verfahren, das Falschungen erleichterte, denn es war unmoglich, den Papyrus abzulosen und die Ruckseite auf eventuelle andersartige Texte zu uberprufen.
Vorbild: der Hyperides-Papyrus Um einen literarischen Papyrus des 1. Jahrhunderts glaubwurdig imitieren zu konnen, brauchte Simonides ein Vorbild. Tommy Wasserman und Malcolm Choat vermuten, dass der 1858 von Churchill Babington publizierte Hyperides-Papyrus Simonides dieses Modell lieferte. Simonides wies in der Einleitung seiner Edition des Codex Mayerianus selbst auf diese Parallele hin: „Indem ich meinem Versprechen gemaß diese Fragmente des Neuen Testaments publiziere, mochte ich folgendes bemerken: Erstens, sie wurden 1856 von Rev. Henry Stobart, dessen Name allgemein bekannt ist, aus dem agyptischen Theben nach England gebracht. Sie kamen … in den Besitz des gelehrten Joseph Mayer, beide Gentlemen konnen das bezeugen. … Zusammen mit diesen wurden verschiedene andere beruhmte Werke des griechischen Geistes von demselben Gentleman von Agypten nach England gebracht, darunter die Grabrede des Hyperides … welche erstmals ediert wurde von Rev. Churchill Babington, Cambridge, 1858. Das Original, auch auf Papyrus, befindet sich im British Museum und wurde fur viel Geld angekauft. Wer sich fur diese Dinge interessiert, findet alles, was sich auf die Grabrede bezieht, im Vorwort und in der Einfuhrung des Herausgebers.“ Der Hyperides-Papyrus lieferte Simonides die Einteilung der Seite in zwei Kolumnen fast ohne Zwischenraum mittels senkrechter Striche; die Buchstabenformen sind ahnlich, im Codex Mayerianus allerdings ebenmaßiger und offenbar noch durch andere Vorlagen beeinflusst.
Codex Mayerianus und die offenen Fragen der Bibelexegese Ware der Codex Mayerianus echt, so ware die Zweiquellentheorie widerlegt; es ware außerdem klar, dass das Matthausevangelium ursprunglich auf Griechisch und nicht, wie oft vermutet, auf Aramaisch abgefasst wurde. Der griechische Text des Codex Mayerianus beruht auf dem Textus receptus in der zeitgenossischen Ausgabe von Henry G. Bohn (1859). Simonides verschleierte dies aber durch mehrere Textanderungen, fur die er Varianten aus Konstantin von Tischendorfs 7. Ausgabe des griechischen Neuen Testaments (1859) heranzog und den Apparat mit Verweisen auf fiktive Manuskripte fullte.
Auch inhaltlich war der Codex Mayerianus interessant. Das Gleichnis vom Nadelohr (Mt 19,24 „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelohr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme“) war schon von Kyrill von Alexandria und Origenes so interpretiert worden, dass altgriechisch καμηλον kamelon nicht nur das Kamel, sondern auch ein dickes Tau bezeichne. Der Codex Mayerianus bestatigte diese alte Interpretation; statt kamelon liest man hier altgriechisch καλων kalon „Tau“.
Rezeption Im November 1860 lernte Simonides in Liverpool den angesehenen Sammler John Eliot Hodgkin kennen und freundete sich mit ihm an. Hodgkin fuhrte ihn in das Netzwerk britischer Privatsammler und Amateurgelehrter ein; er verteidigte Simonides’ Integritat gegen alle Verdachtigungen, bis es im Fruhjahr 1864 zum Bruch zwischen beiden kam. Hodgkins Beistand war fur Simonides sehr wichtig, denn die zuruckliegenden aufgedeckten Falschungen, zuletzt der Uranios-Skandal, waren auch in der britischen Fachwelt bekannt und hatten zur Folge, dass jede neue Sensation, die Simonides veroffentlichte, verdachtig war.
Die Lokalpresse war weniger kritisch. Im Liverpool Mercury (2. Mai 1860) wurde die Entdeckung des „gelehrten Dr. Simonides“ als zweifellos echt bezeichnet; Liverpool konne sich glucklich schatzen, dieses „unbezahlbare biblische Dokument“ zu besitzen. Am 7. Dezember 1861 erschien dagegen in The Athenaeum eine atzende Besprechung von Simonides’ Publikation seiner neutestamentlichen Fragmente. Der Rezensent ging besonders auf das Frontispiz ein, von dem Simonides behauptet hatte, es sei eine eigenhandige Kopie eines Freskos auf dem Athos, das aus dem 5. Jahrhundert stamme: „Funftes Jahrhundert, so so! Entweder hat die Sprache ihre normale Bedeutung verloren, oder Mr. Simonides ist verruckt geworden. Byzantinische Kunst! Ach was, das Original dieses Portrats, wenn es denn etwas Originales auf dem Athos gibt, ist mit Sicherheit spater zu datieren als Raphael und Michelangelo …“ Der Kommentator des Christian Remembrancer fand im Juli 1863 konkrete Indizien, die auf Falschung deuteten, wurde aber im Literary Churchman (1. September 1863) zurechtgewiesen, er lasse es an „altenglischer Fairness“ fehlen.
Das Pro und Kontra zur Echtheit des Codex Mayerianus fullte eine Weile die Leserbriefspalten der britischen Presse, wurde dann aber uberlagert durch eine noch sensationellere Neuigkeit: Simonides behauptete, den von Tischendorf entdeckten und publizierten Codex Sinaiticus in jungen Jahren auf dem Berg Athos eigenhandig geschrieben zu haben.
Im Jahr 1865 verließ Simonides England. Er ließ eine Reihe weiterer von ihm fabrizierter neutestamentlicher Papyri zuruck, die er nicht mehr publizierte. Auch darunter befanden sich Texte, die Aufsehen erregt hatten, vor allem ein Fragment des 1. Johannesbriefs, der das Comma Johanneum enthielt.
Literatur Constantinos Simonides: Fac-similes of certain portions of the Gospel of St. Matthew, and of the Epistles of Ss. James & Jude: written on papyrus in the first century and preserved in the Egyptian museum of Joseph Mayer, Esq., of Liverpool. Trubner & Co., London 1861 (Digitalisat)
Andreas E. Muller, Lilia Diamantopoulou, Christian Gastgeber, Athanasia Katsiakiori-Rankl (Hrsg.): Die getauschte Wissenschaft: Ein Genie betrugt Europa – Konstantinos Simonides. V & R unipress, Gottingen 2017, darin besonders:
Anna Mykoniati: Biographische Bemerkungen zu Konstantinos Simonides, S. 87–106
Pasquale Massimo Pinto: Simonides in England: A Forger’s Progress, S. 109–126.
Tommy Wasserman, Malcolm Choat: “The Cable Guy”: Constantine Simonides and Codex Mayerianus. In: Bulletin of the American Society of Papyrologists 57 (2020), S. 177–218. (Download)
Weblinks World Museum Liverpool: The Gospel of Matthew: 'The Last Supper' (Forgery); The Gospel of Matthew: 'The Third Day' (Forgery); The Gospel of Matthew 28: 6-16; 18-20 (Forgery); Epistle of James (Forgery); Epistle of James (Forgery); Epistle of James (Forgery)
Anmerkungen
|
Der Codex Mayerianus ist eine von dem Falscher Konstantinos Simonides 1861 publizierte, angebliche fragmentarische Handschrift neutestamentlicher Texte auf Papyrus. Wahrend andere seiner Falschungen verschollen sind, werden die Papyri des Codex Mayerianus im World Museum Liverpool aufbewahrt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Codex_Mayerianus"
}
|
c-449
|
Die Pfarrkirche St. Anna auf einer Warft in der Gemeinde Tetenbull im Kreis Nordfriesland in Schleswig-Holstein gehort zur Kirchengemeinde Eiderstedt-Mitte im Kirchenkreis Nordfriesland der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Sie ist ein nach dem Denkmalschutzgesetz von Schleswig-Holstein geschutztes Kulturdenkmal mit der Objekt-ID 2330.
Geschichte Eine Kapelle in Tetenbull soll es schon 1113 gegeben haben; 1297 ist sie als Pfarrkirche erwahnt. Tetenbull gehorte damals zu Everschop, einer der drei Eiderstedter Harden. Von den acht ehemals selbstandigen Gemeinden der Kirchengemeinde Eiderstedt-Mitte ist Tetenbull die flachenmaßig großte. Die Kirche liegt am sudlichen Rand des Gemeindegebiets. Drei nordlich gelegene benachbarte Kirchspiele Offenbull, Sieversfleth (oder Ivenfleth) und Konigskapelle gingen im 14. Jahrhundert in Sturmfluten unter, wahrscheinlich bei der zweiten Marcellusflut 1362, bei der der Heverstrom die spatere Halbinsel Eiderstedt von Strand trennte. Ihr teilweise spater wiedergewonnenes Gebiet wurde dem Kirchspiel Tetenbull angegliedert. Um 1400 gab es dann ein Alt-Tetenbuller und ein Neu-Tetenbuller Kirchspiel, wobei die heutige Kirche vermutlich Neu-Tetenbull ist, was zur Erbauungszeit der St.-Anna-Kirche passt. Ihre Patroziniumsheilige war die legendare Anna, die besonders im spaten Mittelalter als Mutter von Maria und Großmutter Jesu verehrt wurde.
Beschreibung Die spatgotische Saalkirche aus Backsteinen wurde um 1400 errichtet. Sie besteht aus einem Langhaus und einem gleich breiten Chor mit Funfachtelschluss von 1558, der 1657 vergroßert wurde. Die Nordwand ist fensterlos. Das Dach ist mit Schieferschindeln gedeckt.
Der aufgeschuttete Boden der Warft bietet keinen festen Untergrund. Schon im 19. Jahrhundert mussten die Wande mit auf Eichenpfahlen gegrundeten und aus Ziegeln errichteten Stutzpfeilern stabilisiert werden. Im Laufe der Zeit verfaulte das Holz. Nachdem der Chor 2002 teilweise eingesturzt war, erhielt die Kirche 2003–2009 ein Betonfundament und Betonpfeiler. Das nachmittelalterliche Vorhaus an der Sudwand musste 2002 abgerissen werden.
Der Westturm wurde im Jahr 1491 errichtet und spater von Strebepfeilern gestutzt. Sein achtseitiger, mit einer Laterne bekronter Helm stammt aus dem 19. Jahrhundert.
Der Innenraum des Langhauses war wie Chor und Turmhalle anfangs uberwolbt, ist aber spatestens seit dem 18. Jahrhundert mit einer Holzbalkendecke uberspannt.
Ausstattung = Vorreformatorische Ausstattung =
Das alteste Stuck der Kirchenausstattung ist die auf den Anfang des 15. Jahrhunderts datierte Christusfigur der Triumphkreuzgruppe im Chorbogen. Da es fur die Gestaltung dieses Kruzifixus keine Parallele in Schleswig-Holstein gibt, wurde er moglicherweise aus den Niederlanden importiert. Die Figuren der Maria und des Johannes stammen aus der Zeit um 1500. 1726 wurde das Brettkreuz mit Ranken verziert, in dem Leidenswerkzeuge aufgehangt sind. Das obere und die beiden seitlichen Kreuzenden tragen Reliefs mit Evangelistensymbolen, wohl auch aus dem fruhen 16. Jahrhundert. Die untere Endscheibe wurde vermutlich 1906 entfernt, als die Kreuzigungsgruppe auf einen neuen Balken montiert wurde, der die Aufschrift „Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Freden hatten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Jes:52“ tragt.
Eine qualitativ einfache, schlecht erhaltene kleine Figur Christus im Elend von etwa 1500, moglicherweise von einem Nebenaltar, ist in der Sakristei aufgestellt. Etwa gleichaltrig ist eine kleine Kreuzigungsgruppe, die im 19. Jahrhundert auf eine Schrifttafel aufgesetzt wurde. Ein schlichter Sakramentsschrank aus dem fruhen 16. Jahrhundert, der nordlich vom Altar in die Chornwand eingemauert ist, tragt die Aufschrift „hir is in de lic/ham unses heren“.
= Altar =
Der Flugelaltar mit ursprunglich zwei Flugelpaaren ist inschriftlich auf 1523 datiert. Der Mittelschrein zeigt einen figurenreichen Kalvarienberg. Im Vordergrund von links Veronika mit dem – hier rein weißen – Schweißtuch, die trauernde Maria in einer Gruppe mit drei weiteren Frauen und dem Lieblingsjunger, die Kriegsknechte, die sich um Jesu Kleidung streiten, und ganz am Rand der Titulusschreiber. Dahinter sind gestaffelt in zwei Reihen Soldaten zu Pferde abgebildet, darunter Longinus und der Hauptmann, der den sterbenden Jesus als Gottes Sohn erkennt. In der Mitte kniet unter dem Kreuz Maria Magdalena, daneben steht ein Knecht mit einem Korb voll Nageln. Auf den Seitenflugeln finden sich vier Szenen aus der Passionsgeschichte, oben links die Geißelung, darunter die Kreuztragung mit der Begegnung mit Veronika, rechts oben die Dornenkronung und darunter Pontius Pilatus, der sich nach dem Verhor die Hande wascht (Mt 27,24 ), wahrend Jesus bereits abgefuhrt wird und in der Gruppe der Knechte kaum zu erkennen ist. Die vier Einzelszenen werden aufgrund der Ahnlichkeiten zum Bruggemannaltar im Schleswiger Dom der Werkstatt von Hans Bruggemann zugeschrieben. Die Skulpturengruppe des Mittelschreins stammt aber bis auf die Figur des gekreuzigten Christus wohl eher aus einer lokalen Werkstatt.
Die mittelalterlichen Malereien der Innen- und Außenflugel sind nicht erhalten. Bei der barocken Aufarbeitung des Retabels wurden 1654 die Flugel festgestellt und das gesamte Retabel samt Predella mit einem Knorpelwerkrahmen umgeben. Fur die Schnitzarbeiten wurde Claus Heimen beauftragt, der kurz zuvor im Auftrag von Alexander Dresscher das große Epitaph fur dessen Familie geschaffen hatte. Der Altar ist deshalb nicht klappbar. Die damals mit Szenen aus der Kindheit Jesu neu bemalten Gemaldeflugel wurden spater abgenommen und nordlich des Chorbogens aufgehangt. An diese Renovierung erinnert eine Stiftungsinschrift in einer Kartusche uber dem Mittelschrein, die mit dem Pantokrator bekront ist. Diese Inschrift wurde ebenso wie die Texte auf der Predella bei weiteren Renovierung 1738, 1797 und 1857 uberschrieben. Bei der Restaurierung durch Botho Mannewitz 1981/82 wurde die Fassung von 1797 wieder freigelegt, zu der auch der bewolkte Himmel als Hintergrund der Kreuzigung gehort. Nur die Predella mit den Einsetzungsworten blieb im Zustand von 1857.
= Bilderbibel =
Die reich verzierte Nordempore wurde 1613 eingezogen. Fur die Gestaltung der Brustungsfelder stifteten Gemeindeglieder 1634 die Ausmalung mit dreißig Szenen aus dem Alten Testament. Unter jedem Bild steht in Kartuschen die entsprechende Bibelstelle, daruber der Name des Stifters und ganz unten dessen Hausmarke.
Als Vorlage fur alle Bilder dienten die Icones biblicae von Matthaus Merian (1627). Allerdings wurde die bibelchronologische Anordnung nicht ubernommen. Stattdessen wurden die Bilder oft thematisch zusammengestellt.
Die Holzbalkendecke des Kirchenschiffs wurde 1742 zwischen den Balken mit neutestamentlichen Szenen in 36 Medaillons ausgemalt. Die Medaillons waren ursprunglich von einem Rankenmuster umgeben, das jedoch nur bei einem Bild wieder freigelegt ist.
= Epitaph =
Ein barockes Epitaph mit reicher Schnitzverzierung von 1654 hangt im Kirchenschiff. Es wurde in der Werkstatt von Claus Heimen hergestellt. Das Mittelbild zeigt Christi Himmelfahrt, die darum angeordneten kleinen Bilder Portrats der Familie Dresscher. Alexander Dresscher, 1621 in Lubeck geboren, war in Eiderstedt wahrend des Dreißigjahrigen Krieges als Rittmeister stationiert, heiratete dort 1648 Heerda (1611–1652), die deutlich altere Witwe und Erbin eines reichen Tetenbuller Bauern. Dresscher wurde dadurch Besitzer des Deichgrafenhofs im Marschkoog. Er stiftete das Epitaph in Erinnerung an seine „hertzliebe“ Ehefrau und die drei Kinder, die alle 1651/52 innerhalb von neun Monaten verstorben waren. Er selbst verließ Tetenbull und zog mit seiner zweiten Frau nach Husum.
= Sonstige Ausstattung =
Die renaissancezeitliche Kanzel ist inschriftlich auf 1575 datiert. In der Barockzeit wurde sie farblich gefasst. Die Reliefs zeigen die vier Evangelisten jeweils verbunden mit einem Bibelvers aus dem jeweiligen Evangelium in niederdeutscher Sprache. Unter den Reliefs stehen die Namen der Stifter.
Das Taufbecken aus Sandstein ist von 1596. Die achteckige Kuppa ist groß genug, dass das zu taufende Kind ganz eingetaucht werden konnte. Auf der Wandung sind abwechselnd die Evangelisten und Engelskopfe abgebildet. Die Uberschrift daruber, ursprunglich mit goldenen Buchstaben auf blauem Grund, lautet: „GOT MACHET VNS SELIG DVRCH DAS BAD DER WIDERGEBVRT VND ERVEN WERVNC DES HEILIGEN GEISTES WELCHEN EHR AVSGEGOSSEN HAT VBER VNS REICHLICH DVRCH IESVM CHRISTVM VNSEREN HEILAND TIT V3. CA.“ Am Sockel hocken vier Lowen mit Wappenschilden. Ein 1887 als neu bezeichneter Taufdeckel ist nicht mehr vorhanden.
Die Gestuhlwangen und -turen stammen von 1672, die beiden Abendmahlsbanke von 1697. Rechts und links vom Altar befinden sich im Chor zwei Priechen aus dem 18. Jahrhundert, von denen zumindest die linke an der Nordwand fruher als Beichtstuhl verwendet wurde, wie die Aufschriften „Ich bekenne dir, Herr, meine Sund und verhele meine Missethat nicht. Psalm 32V5“ und „Gehe hin mein Sohn oder Tochter, deine Sunde sind dir vergeben. Matth. 9V2“ verraten.
Einige Gedenktafeln, die wohlhabende Familien fur ihre Verstorbenen stifteten, sind erhalten, aber nicht aufgehangt.
Orgel Die Orgel auf der Empore wurde 1861 von Johann Hinrich Farber gebaut.
Umgebung Die Kirche steht auf der Kirchwarft, umgeben von dem ehemaligen Friedhof, zu dem auch einige Erdgrufte gehoren.
Gemeinde Die St.-Anna-Kirche in Tetenbull gehort zusammen mit den ehemals selbstandigen Kirchengemeinden der St.-Christians-Kirche in Garding, der St.-Katharina-Kirche in Katharinenheerd, der St.-Martin-Kirche in Osterhever, der St.-Johannis-Kirche in Poppenbull, der St.-Martin-Kirche in Vollerwiek, der St.-Michael-Kirche in Welt und der St.-Stephanus-Kirche in Westerhever zur Kirchengemeinde Eiderstedt-Mitte mit insgesamt acht historischen Kirchen und zehn Kommunalgemeinden.
Literatur Hans-Walter Wulf: Tetenbull. St. Anna. In: Ders.: Eiderstedt: Halbinsel der Kirchen. Luhr und Dircks, Hamburg 1999, ISBN 3-921416-77-9, 114–121.
Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler, Hamburg, Schleswig-Holstein. Deutscher Kunstverlag, Berlin, Munchen 2009, S. 927–928.
Siehe auch Emporenmalerei in Schleswig-Holstein
Weblinks St. Anna Kirche Tetenbull. In: Atlas sakrale Architektur. Abgerufen am 30. Januar 2024.
Tetenbull – St. Anna (1113). Abgerufen am 30. Januar 2024.
Kirche St. Anna. In: tetenbuell.de. Abgerufen am 30. Januar 2024.
Einzelnachweise
|
Die Pfarrkirche St. Anna auf einer Warft in der Gemeinde Tetenbull im Kreis Nordfriesland in Schleswig-Holstein gehort zur Kirchengemeinde Eiderstedt-Mitte im Kirchenkreis Nordfriesland der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland. Sie ist ein nach dem Denkmalschutzgesetz von Schleswig-Holstein geschutztes Kulturdenkmal mit der Objekt-ID 2330.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/St._Anna_(Tetenbüll)"
}
|
c-450
|
Pierre Einar Isacsson (* 1. Dezember 1947 in Bergum, Goteborg; † 28. September 1994 in der Ostsee vor Uto) war ein schwedischer Musiker, Schauspieler und Horspielsprecher. Der fur seine Bassstimme bekannte Sanger war zwischen 1969 und 1974 Mitglied der Band Family Four und nahm mit ihr zweimal am Eurovision Song Contest teil, ehe er eine Solokarriere begann. Isacsson starb 1994 beim Untergang der Passagierfahre Estonia, auf der er als Bordmusiker engagiert war.
Leben = Karriere =
Pierre Isacsson begann seine musikalische Laufbahn als Mitglied der von 1965 bis 1969 bestehenden Musikgruppe Country Four. Nach deren Auflosung wurde Isacsson einer der Sanger der neuformierten Band Family Four, zu der unter anderem auch Marie Bergman gehorte. Als Teil von Family Four gewann er zweimal das Melodifestivalen und reprasentierte damit Schweden beim Eurovision Song Contest 1971 (sechster Platz) und 1972 (dreizehnter Platz). Zudem trat die Gruppe bei der Eroffnungsfeier zur Fußball-Weltmeisterschaft 1974 auf. Im selben Jahr verließ Isacsson Family Four zugunsten einer Solokarriere.
Ebenfalls 1974 erschien Isacssons Debutalbum Pierre! mit dem Song Da gar jag ner i min kallare (deutsch: Dann gehe ich in meinen Keller), der die Nummer eins der schwedischen Hitparade Svensktoppen erreichte und sich dort elf Wochen lang hielt. Das im Refrain mit einer tiefen Bassstimme gesungene Lied wurde zum bekanntesten Titel des Musikers, auch das dazugehorige Album war ein kommerzieller Erfolg in Schweden. Im Verlauf seiner Karriere erreichten mehrfach Lieder von Isacsson die Spitze der Svensktoppen. Neben schwedischen Titeln veroffentlichte der Sanger auch deutschsprachige Lieder.
Nach 1977 pausierte Isacsson seine Karriere als Solomusiker fur viele Jahre, einzige Ausnahme blieben die Singleveroffentlichungen Ge mig en enkel sang und Kor mig hem 1984. Stattdessen betatigte er sich nun als Theaterschauspieler, so wirkte er in Auffuhrungen der Musicals The Sound of Music unter der Regie von Stig Olin (1982), Der kleine Horrorladen (1984) und La Cage aux Folles (1986) mit. Isacsson blieb jedoch auch weiterhin musikalisch tatig und wirkte als Sanger und Sprecher in einigen Horspielen mit, darunter fur Horspiel- und Musikkassetten von Disney sowie fur Lucky Luke.
= Tod und Nachleben =
In seinen letzten Lebensjahren betatigte sich Pierre Isacsson unter anderem als Bordmusiker und Entertainer auf der estnischen Passagierfahre Estonia, die zwischen Tallinn und Stockholm verkehrte. So auch auf ihrer letzten Uberfahrt vom 27. auf den 28. September 1994. Laut Augenzeugenberichten trat Isacsson zum Ungluckszeitpunkt gerade in der Baltic Bar auf, ehe seine Darbietung durch die plotzlich eintretende Schlagseite des Schiffes unterbrochen wurde. Wahrend des Untergangs soll der Musiker mehreren Menschen beim Verlassen der sinkenden Fahre geholfen haben. Er selbst schaffte es ebenfalls, sich aus dem Schiff in die sturmische Ostsee zu retten, wo er jedoch ums Leben kam. Sein Leichnam wurde geborgen und zu einem spateren Zeitpunkt auf dem Friedhof nahe der Kirche von Bromma beigesetzt. Isacsson wurde 46 Jahre alt, er hinterließ seine Ehefrau und drei Kinder. Ursprunglich sollte sich Isacsson auf der Unglucksreise gar nicht an Bord der Estonia befinden. Er sprang kurzfristig fur einen anderen Musiker ein, der verhindert war.
Zum Zeitpunkt seines Todes arbeitete Pierre Isacsson an einem Comeback-Album, noch im Spatsommer 1994 prasentierte er den daraus stammenden Titel Da gommer jag mig i Eden im schwedischen Fernsehen. Isacsson konnte das Album nicht mehr fertigstellen, er hinterließ jedoch mehrere Demoaufnahmen. Zur Weihnachtszeit 2020 wurde mit Juli i Sahara erstmals einer der damals entstandenen Titel veroffentlicht. 2021 erschien das Album Innan slutet (deutsch: Vor dem Ende) mit weiteren, bislang unveroffentlichten Songs von den letzten Aufnahmen des Musikers, die hierfur neu arrangiert wurden. Die Produktion des Albums ubernahm Isacssons Sohn Ludvig Isacsson.
2023 wurde der vom Sveriges Television produzierte Dokumentarfilm Da gar jag ner i min kallare – filmen om Pierre Isacsson uber das Leben von Pierre Isacsson veroffentlicht.
Diskografie = Soloalben =
1974: Pierre!
1975: En sommarsaga
1976: Hemma
1977: Igen
2021: Innan slutet (postume Veroffentlichung aus unveroffentlichten Demoaufnahmen von 1994)
Theatrografie (Auswahl) 1982: The Sound of Music (Folkteatern Stockholm)
1984: Der kleine Horrorladen (Riksteatern Stockholm)
1986: La Cage aux Folles (Oscarsteatern Stockholm)
Weblinks Internetseite von Pierre Isacsson (schwedisch)
Pierre Isacsson bei Discogs
Pierre Isacsson in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in Wikidata
Einzelnachweise
|
Pierre Einar Isacsson (* 1. Dezember 1947 in Bergum, Goteborg; † 28. September 1994 in der Ostsee vor Uto) war ein schwedischer Musiker, Schauspieler und Horspielsprecher. Der fur seine Bassstimme bekannte Sanger war zwischen 1969 und 1974 Mitglied der Band Family Four und nahm mit ihr zweimal am Eurovision Song Contest teil, ehe er eine Solokarriere begann. Isacsson starb 1994 beim Untergang der Passagierfahre Estonia, auf der er als Bordmusiker engagiert war.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Pierre_Isacsson"
}
|
c-451
|
Der Wendax WS 750 ist ein Pkw-Modell der fruhen 1950er Jahre. Hersteller war Wendax in Hamburg.
Hintergrund Draisinenbau Dr. Alpers aus Hamburg stellte Draisinen und ab 1933 Nutzfahrzeuge her. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Tochterunternehmen Wendax fur die Produktion von Straßenfahrzeugen gegrundet. Zu der Zeit gab es einen Mangel an neuen Pkw in Deutschland. Dies fuhrte dazu, dass Wendax zusatzlich die Produktion von Pkw aufnahm, obwohl das Unternehmen damit keine Erfahrungen hatte. Als erster Pkw entstand ab April 1949 der Roadster Aero WS 700. 1950 erschien der WS 750. Er wurde 1950 auf einer Automobilausstellung in Kopenhagen und 1951 in Brussel prasentiert. Das Modell kam ohne ausreichende Erprobungs- und Testphase auf den Markt. Nach kurzer Zeit hauften sich die Beschwerden, was Reparaturen und Nachbesserungsarbeiten erforderte. Dadurch konnten Lieferfristen nicht eingehalten werden. Manche Kundenbestellungen wurden storniert. 1951 endete die Produktion und Wendax meldete Insolvenz an.
Beschreibung Der WS 750 war eine vierturige Limousine mit sechs Seitenfenstern und Stufenheck. Die Angaben zu Maßen und Gewicht schwankten. Einmal hieß es, der Wagen sei 4400 mm lang, 1470 mm breit und 1460 mm hoch; der Radstand betrage 2650 mm und die Spurweite 1220 mm vorn bzw. 1240 mm hinten. Als Leergewicht wurden 880 kg genannt; im Verkaufsprospekt standen 850 kg. Genannt wurden auch 4300 mm Lange und 950 kg Leergewicht. Davon abweichend wurden des Weiteren 4140 mm Lange, 1360 mm Hohe, 1140 mm hintere Spurweite und 850 kg Leergewicht angegeben. Auch dieses Leergewicht bedeutete bei einem zulassigen Gesamtgewicht von 1000 kg fur ein Fahrzeug mit vier oder mehr Sitzplatzen eine viel zu geringe Zuladung von nur 150 kg. Beide Sitzbanke waren 130 cm breit, sodass das Fahrzeug Platz fur sechs Personen bot. Mit diesen Maßen war es damals ein Fahrzeug der Mittelklasse. Besonderheit ist, dass die vorderen Turen vorn und die hinteren Turen an der C-Saule angeschlagen waren, sie also gegenlaufig offneten. Diese Bauweise war nach dem Zweiten Weltkrieg selten. Außerdem wurde auf die B-Saule zwischen den Turen verzichtet, um den Ein- und Ausstieg zu vereinfachen. Das brachte Stabilitatsprobleme mit sich. Das Karosseriebauunternehmen Bobel aus Laupheim fertigte die Karosserie; sie war selbsttragend ausgelegt. Teile des Bodens bestanden aus Holz.
Der Wagen hatte Frontmotor und Frontantrieb, war diesbezuglich also modern konstruiert. Der Zweizylinder-Zweitaktmotor kam von den ILO-Motorenwerken. Es war ein Doppelkolbenmotor (mit vier Kolben). Die Bohrung betrug 2 × 52 mm je Zylinder, der Hub 88 mm und der Hubraum insgesamt 748 cm³. Der Motor hatte Wasserkuhlung und leistete 26 PS bei 3500 Umdrehungen in der Minute. Die Hochstgeschwindigkeit lag bei 105 km/h. Davon abweichend sind auch 95 km/h und 102 km/h angegeben. Der Hersteller nannte in einem Prospekt eine Leistung von nur 25 PS. In einer Anzeige wurde ein Verbrauch von 6,5 Liter auf 100 km versprochen.
Das Getriebe hatte vier Gange, von denen die oberen drei synchronisiert waren. Gegen Aufpreis gab es Lenkradschaltung. Die Kupplung war eine Einscheibentrockenkupplung. Der WS 750 hatte hydraulisch betatigte Trommelbremsen an allen vier 16-Zoll-Radern.
Das Fahrzeug sollte insbesondere als Taxi genutzt werden, daher der bequeme Zugang und der relativ kleine, angeblich sparsame Motor. Der Kaufpreis war sehr knapp kalkuliert und betrug 5750 DM. Zum Vergleich: Der Mercedes-Benz 170 V als damals kleinster deutscher Vierturer kostete 7380 DM.
Fur den Inhaber Adolf Alpers entstand als Einzelstuck ein Coupe mit einem kurzeren Radstand. Dieses Fahrzeug wurde auf der Messe in Kopenhagen ausgestellt.
Die Probleme In einem Ruckblick wird der Wendax WS 750 als „eines der schlechtesten Autos, die je gebaut wurden“ bezeichnet.
Zu den Problemen gehorte die Kupplung, die haufig bereits nach einer Fahrleistung von 3000 km uberholt werden musste. Einige Schweißnahte rissen auf, Turscharniere konnten sich losen und Bremspedale brachen. Insgesamt wird die Verarbeitungsqualitat als schlecht bezeichnet. Der Motor wurde ebenfalls kritisiert.
Der Automobilhistoriker und Journalist Werner Oswald schrieb in Heft 6 des Jahrgangs 1951 in der Automobilzeitschrift Das Auto einen sehr kritischen Bericht uber den Hersteller mit dem Titel „In Sachen Wendax“. Insbesondere prangerte er dubiose Geschaftsmethoden an. Außerdem bemangelte er bei den Fahrzeugen das Fehlen von Feinschliff und Perfektion. Er ruhmte sich spater damit, dass er mit diesem Bericht „dem skandalosen Spuk ein Ende bereitet“ habe.
Außerdem heißt es, dass der Motor das gesamte Fahrzeug in Stucke ruttelte, die Konstruktion dilettantisch war, die Karosserie zu schwer, der Motor zu schwach, die Verarbeitung „mau“ und die Produktion unrentabel.
Stuckzahlen Werner Oswald schreibt in seinem Standardwerk uber deutsche Autos nach 1945, dass etwa 70 Fahrzeuge dieses Typs hergestellt wurden. Hanns-Peter Rosellen und Walter Zeichner nennen in ihren Buchern uber deutsche Kleinwagen dieselbe Zahl.
Erik Eckermann ermittelte 1968 in den Unterlagen des Kraftfahrt-Bundesamts, dass in Deutschland 55 Fahrzeuge dieses Typs zugelassen wurden. Zusammen mit einigen Exporten insbesondere in die Benelux-Lander waren es moglicherweise 70 Fahrzeuge.
Unauto bot das Fahrzeug in den Ausfuhrungen Standard und De Luxe in Belgien und Luxemburg an.
Erla plante die Montage in Danemark, zu der es jedoch nicht kam.
Erhaltenes Exemplar Ein Fahrzeug des Baujahrs 1951 existiert noch. Als Neuwagen wurde es nach Munchen geliefert. Von 1954 bis 1957 war es als Taxi in Hamburg-St. Pauli im Einsatz und danach bei einem Vertreter in Bad Bramstedt.
Der Wagen wurde bis 1959 benutzt, zuletzt mit dem Kennzeichen SE-M 3 nach dem ab 1956 gultigen Schema. Erik Eckermann entdeckte ihn im Marz 1968 auf einer Streuwiese in Neversdorf im Kreis Segeberg. Er lag ungeschutzt auf dem Dach, vermutlich seit neun Jahren. Dementsprechend schlecht war der Zustand, zumal sich das Holz des Bodens aufgelost hatte und somit der Innenraum dem Regen ausgesetzt war. Das Dach war eingedruckt, Turen und Kofferraumdeckel hingen schief, viele Teile waren verrostet und der Motor war blockiert. Immerhin waren alle Scheiben intakt und das Fahrzeug relativ komplett. Im April 1968 erwarb Eckermann das Wrack mit dem Ziel, es der Nachwelt zu erhalten. Zunachst stellte er es in einer Scheune in seiner Heimat Norddeutschland unter und spater in Bayern, als er fur das Deutsche Museum in Munchen arbeitete.
Zwischen Ostern 1977 und September 2001 stand es leihweise im Automobilmuseum von Fritz B. Busch in Wolfegg, dort als Scheunenfund inszeniert. Fritz B. Busch schrieb dazu: „So einer fuhr bei uns als Taxe. Er war der billigste Vierturer, den man damals kaufen konnte. Aber er taugte rein gar nichts. Das Werk ging pleite, und Muller, der die Taxe fuhr, auch …“
Im September 2001 wurde das Fahrzeug zusammen mit anderen Fahrzeugen von 1951 in einer Sonderschau auf der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main gezeigt.
Im Januar 2006 verkaufte Eckermann das Fahrzeug an einen Herrn Gumz aus Hamburg, der es restaurieren wollte. Das Dach wurde ausgebeult, dann stoppten private Probleme das Projekt. Im Januar 2018 ubernahm der PS-Speicher aus Einbeck das Fahrzeug.
Seit 2019 versucht ein Herr Schroder, ein Fahrzeug nachzubauen.
Literatur Hanns-Peter von Thyssen-Bornemissza: Die große Enzyklopadie der kleinen Automobile. Europaische Kleinwagen 1945–1955. Zyklam-Verlag, Frankfurt 1989, ISBN 3-88767-101-5.
Hanns-Peter Rosellen: Deutsche Kleinwagen nach 1945. Geliebt, gelobt und unvergessen. Weltbild-Verlag, Augsburg 1991, ISBN 3-89350-040-5.
Walter Zeichner: Kleinwagen International. Mobile, Kleinwagen und Fahrmaschinen von 1945 bis heute. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1992, ISBN 3-613-01959-0.
Roger Gloor: Nachkriegswagen. Personenautos 1945–1960. Hallwag, Bern 1986, ISBN 3-444-10263-1.
Werner Oswald: Deutsche Autos. Band 4, 1945–1990: Audi, BMW, Mercedes, Porsche, und andere. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-613-02131-5.
Weblinks Die Erinnerungen des Erik Eckermann. Rette sie wer kann. (Memento vom 20. Dezember 2016 im Internet Archive) In: adac.de
Super Adventure: HAMBURGER CARS: The Story of the Wendax and the Staunau auf YouTube, 16. Oktober 2021 (englisch).
Einzelnachweise
|
Der Wendax WS 750 ist ein Pkw-Modell der fruhen 1950er Jahre. Hersteller war Wendax in Hamburg.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Wendax_WS_750"
}
|
c-452
|
Henry Wilhelm Ernst Zwanck (* 27. Dezember 1905 in Hamburg; † 8. April 1987 ebenda) leitete nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 25 Jahre lang die Hamburger Wohnungsbaugesellschaft SAGA. Zudem galt er in der Betriebswirtschaft und der Kostenrechnung der gemeinnutzigen Wohnungswirtschaft als Experte.
Herkunft, Studium und Berufstatigkeit bis 1945 Henry Zwanck, im Familienkreis auch Heiner gerufen, wuchs als Sohn eines Hochbahn-Kontrolleurs auf. Von 1928 bis 1932 studierte er Wirtschaftswissenschaften, zunachst an der Handelshochschule Berlin, dann an der Handelshochschule Konigsberg und schließlich an der Universitat Hamburg. Er erwarb einen Abschluss als Diplom-Handelslehrer.
Nach Ende des Studiums begann Zwanck eine Tatigkeit in der Buchhaltung eines Verkehrsunternehmens. Anschließend arbeitete er als Handelslehrer an der Groneschen Handels- und Sprachschule. Beim Verband Norddeutscher Wohnungsunternehmen (VNW) trat er am 1. Dezember 1935 eine Stelle in der Abteilung fur Revision an. Leiter dieser Abteilung wurde er 1938. Zwei Jahre spater bestellte ihn der Verband zum Wirtschaftsprufer.
Wahrend des Zweiten Weltkrieges wurde Zwanck zum 1. April 1943 zur Luftanlagen GmbH (Sitz in Berlin) abgeordnet. Fur dieses Unternehmen, eine Tochtergesellschaft der Bank der Deutschen Luftfahrt, wurde er nach eigenen Angaben unter anderem im vom Deutschen Reich beherrschten Protektorat Bohmen und Mahren und Polen tatig.
Einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP stellte Zwanck 1938. Dieser wurde ruckwirkend zum 1. Mai 1937 bewilligt. Zudem wurde er 1937 Mitglied in der Deutschen Arbeitsfront, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (1938) und dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund (1940). In der Partei und den NS-Verbanden ubte er keine Funktionen aus.
Nach Kriegsende dauerte sein Entnazifizierungsverfahren bis 1948, im Oktober jenes Jahres wurde er als Entlasteter eingestuft.
Leitung der SAGA Obgleich Zwanck damals noch als Mitlaufer galt, storte sich die britische Besatzungsmacht daran nicht, sondern folgte der Empfehlung von Erich Klabunde, damals VNW-Geschaftsfuhrer und spater Vorsitzender der SPD-Fraktion in der Hamburgischen Burgerschaft, sowie des damaligen VNW-Direktors Walter Volschau, die sich fur Zwanck ausgesprochen hatten, als der Leitungsposten der SAGA nach Kriegsende neu zu besetzen war. Dieser trat seine Stelle am 1. Oktober 1945 an, begann dort aber bereits 14 Tage vorher, um sich einzuarbeiten. „Mit Zwanck hatte man einen profilierten Interessenvertreter der Unternehmensbelange gefunden.“ Zur damaligen Zeit wohnte er als „Ausgebombter“ mit seiner Familie in der Baracke einer fruheren Flakstellung in Rellingen.
Zwanck fuhrte das Unternehmen bis zu seinem Ausscheiden am 31. Dezember 1973 fast durchgangig als Alleinvorstand. Nur die letzten eineinhalb Jahre traten weitere Vorstande hinzu, was mit der unmittelbar bevorstehenden und dann im Sommer 1972 auch realisierten Fusion mit drei weiteren Hamburger Wohnungsbaugesellschaften zusammenhing.
Zwanck leitete das Unternehmen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den Boomjahren des Wiederaufbaus. Schon beim Bau der Grindelhochhauser (ab Juli 1946) gelang es ihm, dass sich die SAGA gegenuber den in Hamburg ebenfalls ansassigen Wohnungsbaugesellschaften durchsetzte und den Auftrag bekam.
Unter seiner Regie vergroßerten sich der Personal- und der Wohnungsbestand der SAGA deutlich: 1948, im Jahr der Wahrungsreform, waren 93 Personen beschaftigt; 1972 waren es 279. Die Zahl der eigenen Wohnungen und weiteren Objekte – in der Regel Laden und Garagen – konnte das Unternehmen im selben Zeitraum von 5.562 auf 29.873 erweitern. Das Eigenkapital der SAGA verfunffachte sich in der Zeit von der Wahrungsreform bis Ende 1971 von 13,6 auf 71,4 Mio. DM.
Die fruhen 1970er Jahre, die letzten Jahre seiner Amtszeit, waren zudem gepragt von der Fusion vier großer Hamburger Wohnungsbauunternehmen. Zwanck war mit dieser Zasur einverstanden, denn die anderen drei Gesellschaften waren alle kleiner und ubertrugen ihr Vermogen auf die SAGA. Sie stieg mit diesem Zusammenschluss zur großten kommunalen Wohnungsbaugesellschaft der Bundesrepublik auf und verfugte uber 85.500 Wohnungen.
Rezeption und Ehrung Kurz vor seinem 60. Geburtstag portratierte ihn das Hamburger Abendblatt am 15. Dezember 1965 in seiner Titelseiten-Rubrik Menschlich gesehen.
Zwanck galt in seinem beruflichen Wirken als nuchtern und zielstrebig. Offentliche Auftritte vor Publikum mied er. Er trat allerdings mit Fachbuchern zur Wohnungswirtschaft hervor. Zu Zwancks 25-jahrigem Dienstjubilaum am 15. Oktober 1970 meinte Bausenator Casar Meister in seiner Rede deshalb, Zwanck habe bei „manchem Kollegen den Ruf eines ‚Papstes‘ der Betriebswirtschaft und der Kostenrechnung in der gemeinnutzigen Wohnungswirtschaft“.
Aufgrund seiner besonderen Verdienste um die gemeinnutzige Wohnungswirtschaft ehrte ihn der Gesamtverband Gemeinnutziger Wohnungsunternehmen am 16. November 1973 mit der Victor-Aime-Huber-Plakette.
Der Historiker Ralf Lange befasste sich in der 2022 von der SAGA publizierten Jubilaumsschrift SAGA. 100 Jahre Wohnen in Hamburg unter anderem mit der SAGA in den Wiederaufbaujahren. Das entsprechende Kapitel nennt er im Untertitel Die Ara Zwanck und attestiert dem Manager einen großen Anteil am Wachstum der Wohnungsbaugesellschaft. Nach Max Brauer und Gustav Oelsner sei er in den ersten funf Jahrzehnten die dritte pragende Gestalt der SAGA gewesen.
Privates Gemaß der Traueranzeige der Angehorigen vom 11. April 1987 war Henry Zwanck verheiratet und hinterließ zwei Tochter.
Werke Gemeinsam mit Luzian Sarkowski: Kommentar zum Kontenrahmen der Wohnungswirtschaft, Hammonia-Verlag, Hamburg 1978.
Betriebskosten und Betriebskostenvergleich. Ergebnisse eines großen Wohnungsunternehmens. In: GW. Gemeinnutziges Wohnungswesen (Organ des Gesamtverbandes Gemeinnutziger Wohnungsunternehmen), Band 24 (1971), S. 172–180.
Die elektronische Datenverarbeitung bei anderen Teilen des Rechnungswesens. In: Gesamtverband Gemeinnutziger Wohnungsunternehmen (Hrsg.): Allgemeiner Deutscher Bauvereinstag. Hannover 1967. 12. und 13. Oktober. Germeinnutzige Wohnungsunternehmen im Wettbewerb. Hammonia-Verlag, Hamburg 1967, S. 177–184.
Moglichkeiten der Finanzierung der gemeinnutzigen Wohnungsunternehmen. In: Gesamtverband Gemeinnutziger Wohnungsunternehmen (Hrsg.): Allgemeiner Deutscher Bauvereinstag. Stuttgart 1964. 15. und 16. Oktober. Die unternehmerische Wohnungsversorgung. Hammonia-Verlag, Hamburg 1965, S. 105–111.
Das Rechnungswesen der Wohnungswirtschaft. Band 2: Der Kontenrahmen. Hammonia-Verlag, Hamburg 1954 (Zweite Auflage: 1965).
Der Kontenrahmen der Wohnungswirtschaft. Hubener-Verlag, Wilhelmshaven 1950.
Literatur Ralf Lange: Vom Wiederaufbau zum Bauboom. Die Ara Henry Zwanck. In: Thomas Krebs, Michael Ahrens (Hrsg.): SAGA. 100 Jahre Wohnen in Hamburg, Dolling und Galitz, Munchen & Hamburg 2022, S. 79–125 und S. 297–302, insb. S. 87 f. ISBN 978-3-86218-155-1.
Einzelnachweise
|
Henry Wilhelm Ernst Zwanck (* 27. Dezember 1905 in Hamburg; † 8. April 1987 ebenda) leitete nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als 25 Jahre lang die Hamburger Wohnungsbaugesellschaft SAGA. Zudem galt er in der Betriebswirtschaft und der Kostenrechnung der gemeinnutzigen Wohnungswirtschaft als Experte.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Zwanck"
}
|
c-453
|
Der Digital Cleanup Day ist ein Aktionstag mit dem Ziel, auf den individuellen digitalen okologischen Fußabdruck und die damit verbundenen Umweltauswirkungen aufmerksam zu machen. Er findet weltweit jahrlich am dritten Samstag im Marz statt und dient als Aufruf, unnotige digitale Daten zu loschen und virtuelle Arbeitsablaufe effizienter zu gestalten.
Geschichte Im September 2020 wurde der Aktionstag zunachst unter dem Namen Cyber World CleanUp Day von der Denkfabrik Institut du Numerique Responsable und der Nichtregierungsorganisation World Cleanup Day France (WCD) in Frankreich ins Leben gerufen. Ziel war es, ein Bewusstsein fur die Umweltauswirkungen der digitalen Industrie zu schaffen.
Seit 2021 ist der Aktionstag offizielles Projekt der globalen Burgerorganisation Let’s Do It World, die dafur den dritten Samstag im Marz als feststehenden Termin festlegte. Seit 2023 tragt er seinen heutigen Namen Digital Cleanup Day.
Problem Wie es auf der offiziellen Website des Digital Cleanup Day heißt, ubertreffe „die jahrliche Emission von 900 Millionen Tonnen CO2 durch digitale Daten […] sogar den Jahresausstoß von Landern wie Deutschland“. Allein das Videostreaming von durchschnittlich zwei Stunden pro Tag verursache den gleichen Energieverbrauch wie eine Fahrt von acht Kilometern mit dem Elektroroller.
Da ein Großteil dieser Energie außerhalb des eigenen Haushalts in internationalen Rechenzentren aufgebracht wird, sind Klima- und Umweltschaden kaum sichtbar. Die standige Bereithaltung ungenutzter digitaler Daten nimmt unnotig Zeit und Ressourcen in Anspruch. Backups und Sicherung dieser Daten fuhren zur Belastung von Servern und begunstigen Sicherheitsrisiken.
Losungsvorschlage Der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche Bitkom ruft zu dem Aktionstag auf und rat, ungenutzte Apps oder Programme auf Smartphone und PC zu loschen, veraltete oder doppelt gespeicherte Dokumente zu prufen und zu loschen sowie uberflussige Chatverlaufe aus Messenger-Apps zu entfernen. In der Cloud gespeicherte Fotos und Videos sowie E-Mails mussen von rund um die Uhr laufenden Rechenzentren und Cloud-Diensten abrufbar gehalten werden und verursachen damit hohe Stromkosten. Da von den taglich versendeten 281 Milliarden E-Mails 20 % noch nicht einmal geoffnet werden, sei es ratsam, sich von ungenutzten Newslettern und Mailinglisten abzumelden. Das Deaktivieren der Funktion Autoplay bei Videos und Streams und eine Verringerung der Wiedergabequalitat sowie das Reduzieren der Bildschirmhelligkeit und das Ausschalten von Geraten anstelle des Standby-Modus helfen ebenfalls Strom und damit Emissionen einzusparen.
Weblinks Offizielle Website des Digital Cleanup Day
Einzelnachweise
|
Der Digital Cleanup Day ist ein Aktionstag mit dem Ziel, auf den individuellen digitalen okologischen Fußabdruck und die damit verbundenen Umweltauswirkungen aufmerksam zu machen. Er findet weltweit jahrlich am dritten Samstag im Marz statt und dient als Aufruf, unnotige digitale Daten zu loschen und virtuelle Arbeitsablaufe effizienter zu gestalten.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Digital_Cleanup_Day"
}
|
c-454
|
Kong (chinesisch 孔, Pinyin Kong, Jyutping Hung2, Peh-oe-ji Khong) ist ein Geschlecht, das auf den Stammvater Konfuzius zuruckgeht und uber 2.500 Jahre alt ist. Sowohl die Hauptlinie als auch Nebenlinien erhielten mit der Zeit verschiedene Nobilitierungen. Vom Kaiserreich China bis in die fruhen Jahre der Republik China fuhrte das jeweilige Oberhaupt der Familie unterschiedliche Adelstitel, zuletzt von 1055 bis 1935 den Titel des Herzogs Yansheng (衍聖公, Yansheng Gong).
1935 schaffte die republikanische Regierung unter der Fuhrung der Kuomintang den Titel ab und der letzte Inhaber, Kong Decheng, wurde „Zeremonieller Beamter fur Konfuzius“ (大成至聖先師奉祀官, Dacheng zhisheng xianshi fengsi guan). Aus einem Adelstitel ist ein Staatsamt geworden mit der Aufgabe, das Erbe des Konfuzius zu pflegen. Auch nach der Ausrufung der Volksrepublik China existierte das Amt in der Republik China auf Taiwan fort, welches bis 2008 dem Rang eines Ministers entsprach, aber seitdem symbolischer Natur ist. Gegenwartiges Familienoberhaupt ist Kung Tsui-chang (孔垂長, Kong Chuichang), der 2009 die Nachfolge antrat. Er ist ein Nachfahre in der 79. Generation, wodurch die Familie Kong hinsichtlich der Stammlinie (direkte Vater-Sohn-Nachkommenschaft) eine der nachweisbar altesten existierenden Familien der Welt ist.
Herkunft des Nachnamens Das Schriftzeichen 孔, kong, setzt sich zusammen aus 子, zi, „Kind“ oder „Nachkomme“, und dem Schragstrich 丿, pie. In der Grundbedeutung bedeutet 孔 somit „Penetration“ oder „Loch“ (im Sinne einer Fontanelle eines Sauglings). In der Bronzeinschrift kann man diese Bedeutung noch sehr gut erkennen. Abhangig von der Sprache und der Transkription werden im lateinischen Alphabet die Namenstrager mit Kong, Kung oder Gong wiedergegeben.
Wie Konfuzius diesen Nachnamen bekam, lasst sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Es gibt verschiedene Theorien, die im Abschnitt „Geschichte“ dargestellt werden. Zur Zeit der Song-Dynastie, also um 1000 nach Christus herum, gehorte Kong zu den hundert Familiennamen.
Nicht zu verwechseln sind Nachnamen, die im Deutschen ebenfalls mit Kong transkribiert, aber mit einem anderen Schriftzeichen geschrieben werden. Auch gibt es Namenstrager der koreanischen Linie, deren Nachname entsprechend der Aussprache als Gong transkribiert werden. Nicht alle Namenstrager des Nachnamens 孔 sind Nachfahren des Konfuzius. Bezuglich der Abstammung gibt und gab es Kontroversen.
Geschichte Im Folgenden soll die Geschichte der Familie Kong mit besonderem Fokus auf die Hauptlinie in Qufu angegeben werden. Im Abschnitt #Mitglieder der Familie ist ein Stammbaum angegeben, der beim Nachvollziehen der Verwandtschaftsverhaltnisse helfen soll.
= Konfuzius =
Begrunder der Familie ist der Philosoph Kong Qiu (孔丘, Kong Qiu, K’ung Ch’iu), eher bekannt unter seinem Ehrennamen 孔夫子, Kong Fuzi, „Lehrmeister Kong“, der von Jesuiten zu Konfuzius latinisiert wurde. Die von ihm und von seinen Schulern formulierten Ideen und Konzepte, heute unter Konfuzianismus bekannt, hatten eine gewaltige Auswirkung auf die Entwicklung der chinesischen Kultur und des Staates.
Konfuzius selbst soll nach der traditionellen Uberlieferung eine adlige Abstammung gehabt haben. Es wird in Kapitel 47 der Shiji berichtet, er stamme von der Shang-Dynastie ab, welche nach dem Sturz der nachfolgenden Zhou-Dynastie Grundbesitz in Song bekam. Die Familie verarmte aber schnell und ein Vorfahre des Konfuzius wanderte nach Qufu, einer Stadt des Staates Lu, aus. Der Nachname Kong (孔, Kong) wird mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht. Denn die Prinzen der Shang-Dynastie wurden als 子 bezeichnet und der Thronname von Cheng Tang, dem Grunder der Dynastie, lautete 大乙, dayi. Aus dem letzten Schriftzeichen 乙 sei zusammen mit 子 der Nachname 孔 entstanden. Da die legendare Abstammung moglicherweise eine spatere Fiktion ist, ist diese Herleitung nicht sicher, wird aber bis heute in vielen Buchern vertreten.
Nach einer anderen, zur Zeit der Tang-Dynastie zusammengestellten Quelle soll der Nachname hingegen von einem Zi Jia (子嘉), einem hohen Beamten des Staates Song zur Zeit der Fruhlings- und Herbstannalen, stammen, dessen Großjahrigkeitsname Kong Fu (孔父) gewesen sei. Als er getotet wurde, flohen seine Nachkommen nach Qufu und nahmen mit Kong einen neuen Nachnamen an. Wie bei allen biografischen Daten des Konfuzius ist die Historizitat nicht mehr zweifelsfrei festzustellen. Moderne Historiker halten diese Ursprunge fur konstruiert oder ubertrieben. Dafur spricht auch, dass zu diesem Zeitpunkt vermeintliche oder tatsachliche Nachfahren ein Interesse daran hatten, die Große des Stammvaters zu uberhohen. Konfuzius selbst soll einmal geheiratet haben und einen Sohn und zwei Tochter bekommen haben. Von dem Sohn Kong Li (孔鯉) stammen alle restlichen Nachfahren ab, die den Namen Kong tragen. In weiblicher Linie sind hingegen keine Nachfahren uberliefert.
Konfuzius starb vermutlich um 479 v. Chr. in seiner Heimatstadt Qufu. Noch bis zur Ausrufung der Volksrepublik China 1949, also zweieinhalbtausend Jahre spater, blieb Qufu das Zentrum der Familie Kong.
= Von der Qin-Dynastie bis zur Song-Dynastie =
Nach dem Tod des Konfuzius gab es in den Aufzeichnungen immer wieder Personen, die eine Abstammung von Konfuzius beanspruchten oder fur Nachkommen des Konfuzius gehalten wurden. Die Zahl haufte sich besonders von der Han-Dynastie an. Dass zeitgleich der Konfuzianismus zur Staatsdoktrin erhoben wurde, durfte kein Zufall sein. Die Nachkommen erhofften sich hierbei wohl Ehrentitel, Amter, Sinekure, Ausnahmen bei der Beamtenprufung oder andere Privilegien, die auch regelmaßig bis zum Ende des Kaiserreich Chinas gewahrt wurden.
Wahrend einzelne Kongs viele Ehrentitel erhielten, die in der Regel mit dem Tode erloschen, erhielt ca. 40 vor Christus der Nachkomme der 13. Generation Kong Ba (孔霸) von Kaiser Han Yuandi (漢元帝) den ersten erblichen Titel und fuhrte seitdem den Titel Furst Baocheng (褒成君, Baocheng jun). Berufend auf die legendare Abstammung von der Shang-Dynastie erhielt im Jahre 29 nach Christus Kong An (孔安), Nachkomme der 17. Generation, der angeblich von Kong Ji (孔吉), Nachkomme der 14. Generation, abstammte, den Titel Herzog, der Yin fortfuhrt und ehrt (殷紹嘉公, Yinshaojia Gong), und spater Herzog Song (宋公, Song Gong). Yin ist hierbei die ehemalige Hauptstadt der spaten Shang-Dynastie und wurde auch metonymisch fur sie verwendet. Der von Kong An begrundete Seitenzweig existiert heute nicht mehr. Auch wenn nachweisbar ist, dass sein Lehen fur einige Zeit verwaltet wurde, sind von Kong An keine Nachkommen uberliefert.
952, knapp tausend Jahre spater, erhielt Kong Renyu (孔仁玉), ein Nachkomme in der 43. Generation, den hoherwertigen Titel Herzog Wenxuan (文宣公, Wenxuan Gong), im Englischen haufig mit Duke for Propagating Culture („Herzog zur Verbreitung der Kultur“ oder „Kulturverbreitender Herzog“) ubersetzt. Der Titel ist zudem eine Anspielung auf einen der gelaufigen posthum vergebenen Namen des Konfuzius. Noch heute ziert sein Grab in Siegelschrift die ehrenvolle Anrede „Großer Vollender, hochster Heiliger, Kulturverbreitender Konig“ (大成智聖文宣王, Dacheng zhisheng wenxuan Wang).
= Song- und Jin-Dynastie =
Herzog Yansheng Der letzte und bei weitem wohl wichtigste Titel war der des Herzogs Yansheng (衍聖公, Yansheng Gong) (in alterer deutschsprachiger Literatur auch Herzog Konfutse genannt), den der Song-Kaiser Renzong verlieh. Erster Herzog Yansheng wurde 1055 Kong Zongyuan (孔宗願). „Herzog“ ist hierbei die gelaufige chinesische Ubersetzung des Titels 公, gong. Das Wort 公, gong, selbst kann auch als besonders ehrende Anrede verstanden werden, die vergleichbar einer Anrede wie „Seine Exzellenz“ ist. Yansheng setzt sich zusammen aus 衍, yan „uberfullen“, „im Uberfluss sein“, und 衍, sheng „weise“ oder „der Weise“ (d. h. Konfuzius). In der englischsprachigen Literatur wird der Titel haufig mit Duke for Fulfilling the Sage (deutsch: Herzog fur die Erfullung des Weisen, „Erfullung“ ist bezogen auf die notwendige Verrichtung des chinesischen Ahnenkults) ubersetzt. Denkbar ware aufgrund der Mehrdeutigkeit der Schriftzeichen auch eine Ubersetzung wie „Seine Exzellenz, welche an Weisheit uberquillt“.
Der Titelwechsel entsprach aber am ehesten einer „Degradierung“ als einer „Erhohung“: Kaiser Renzong argumentierte, die Abkehr von den Riten (禮, li) habe dadurch begonnen, dass man lebenden Nachkommen einen posthum verwendeten Ehrentitel des Weisen verliehen habe (Namenstabu). Die Umbenennung war letztlich also ein Schritt, um eine Trennung zwischen der Konfuziusverehrung und dem Titel zu schaffen. Des Weiteren weist Agnew darauf hin, dass sich nach dem Jahre 1000 die Kongs von Qufu zu einem Machtfaktor entwickelt habe. Nicht nur aus militarischer Sicht habe es Sinn ergeben, lokale Adlige auf seiner Seite zu haben, bei den Kongs war es zusatzlich ein ideologischer Faktor, um die Legitimitat der eigenen Dynastie zu sichern. Auf dieser Basis bauten die Kongs mit der Zeit ihre Privilegien aus, aber dadurch war auch die Gefahr gegeben, dass infolge von Kriegen Teile der Familie fur die Zwecke machtbewusster Feldherren vereinnahmt wurden. Der Wechsel des Titels fiel zeitgleich mit einem allgemeinen Niedergang der mittelalterlichen Aristokratie zusammen. Hatte sie noch gegen Ende der Tang-Dynastie oligarchische Strukturen ausgebildet, wurde sie zur Zeit der Song-Dynastie großtenteils durch einen burokratischen Apparat ersetzt.
Trotzdem stiegen die Kongs von Qufu bezuglich ihrer Machtfulle innerhalb kurzester Zeit auf und bekamen Privilegien verliehen, wie sie anderen Adligen nur selten gewahrt wurden. Der Historiker Christopher S. Agnew bringt dies in Verbindung mit dem Niedergang der Song-Dynastie und den dynastischen Kampfen um die Kontrolle Chinas, von denen die Kongs außerordentlich profitiert hatten:
Innerhalb dieser dynastischen Kampfe konnten sich die Kongs verschiedene Privilegien im Tausch gegen ihre Loyalitat und Unterstutzung einfordern. Darunter fielen unter anderem:
Eine allgemeine Steuerbefreiung
Das Recht, Steuern in Qufu zu erheben
Richterliche Gewalt, die selbst einige Gebiete außerhalb Qufus umfasste und uber dem staatlichen Rechtssystem stand
Die Selbstverwaltung von Qufu (normalerweise taten dies Beamte von außerhalb, um Interessenskonflikte zu vermeiden) unter „Herrschaft“ der Kongs
Der Historiker Thomas Wilson bezeichnete dementsprechend das Gebiet um Qufu herum als fiefdom with serfs („Lehen mit Leibeigenen“).
Schisma Zugleich stellte Agnew fest, dass die dynastischen Kampfe nicht nur Privilegien fur die Kong-Familie brachte, sondern auch zu ihrer Militarisierung gefuhrt habe. Herzog Yansheng wurde immer mehr bedeutungsgleich mit der Herrschaft uber Qufu und ihre umliegenden Lander. Es bedeutete die Kontrolle uber ein de facto autonomes „Herzogtum“ und dementsprechend sorgte die Erbfolge mehr und mehr fur Streitigkeiten innerhalb der Familie.
Durch die militarischen Auseinandersetzungen zwischen der Jin- und der Song-Dynastie wurde 1127 die bisherige Hauptstadt der Song-Dynastie Kaifeng (開封) von Jin eingenommen. Der neue Kaiser Gaozong floh in den Suden; der bisher anerkannte Herzog Yansheng, Kong Duanyou (孔端友), ging mit dem Kaiser in den Suden und bekam Land in Quzhou in der Provinz Zhejiang zugewiesen. Sein jungerer Bruder Kong Duancao (孔端操) blieb zuruck und wurde 1128 von der Jin-Dynastie als rechtmaßiger Herzog Yansheng anerkannt. Dadurch ist ein Schisma innerhalb der Kong-Familie entstanden. Fur einige Generationen gab es sowohl in Qufu als auch in Quzhou jeweils Herzoge Yansheng, die fur sich beanspruchten, die Hauptlinie zu sein. Nach der Geografie wird deshalb das Haus in Qufu als nordliche und das in Quzhou als sudliche Linie bezeichnet. Fur ungefahr 150 Jahre bestand eine sudliche Linie, die von der sudlichen Song legitimiert war und 130 Jahre lang eine nordliche, legitimiert durch die Jin-Dynastie.
Als Anfang des 13. Jahrhunderts die Mongolen unter Dschingis Khan China eroberten, gab es noch immer zwei konkurrierende Linien der Kongs. Erschwerend kommt dazu, dass der bisherige Herzog Yansheng der nordlichen Linie Kong Yuancuo (孔元措) mit der Jin-Dynastie nach Kaifeng floh. In Qufu verblieb hingegen Kong Yuanyong (孔元用), der wahrscheinlich einer Seitenlinie entstammte und die notwendigen Riten durchfuhrte. Er ernannte sich kurzerhand selbst zum neuen Herzog Yansheng und wurde von der Song-Dynastie anerkannt, obwohl die Song-Dynastie schon in Quzhou einen anerkannten Herzog Yansheng im Suden hatte. So gab es im Jahr 1225 drei Manner, die den Anspruch erhoben, der rechtmaßige Herzog Yansheng zu sein. Recht schnell dankte Kong Yuanyong zugunsten seines Sohnes Kong Zhiquan (孔之全) ab, um die Song-Dynastie auf eine Militarexpedition gen Norden zu begleiten, wo er wahrscheinlich umkam.
= Von der Yuan-Dynastie bis zur Qing-Dynastie =
Beilegung des Schismas Der Hof in Kaifeng fiel 1226 und 1233 entschied Ogedei Khan, der Nachfolger von Dschingis Khan, den Nachfolgestreit innerhalb der nordlichen Linie zugunsten von Kong Yuancuo (chinesisch 孔元措). Kong Zhiquan verzichtete auf den Titel – moglicherweise war mit dem Verzicht eine großzugige Entschadigung verbunden. Die Wiedervereinigung der nordlichen Linie geschah aber nur de jure; de facto diente Kong Yuancuo am mongolischen Hof und uberließ die Verwaltung in Qufu verschiedenen Vize-Herzogen. Das sorgte aber nicht fur eine Beilegung des Konflikts mit der sudlichen Linie. Kublai Khan wollte, als er die Yuan-Dynastie proklamierte, moglichst schnell die Frage entscheiden, um die Einigkeit des mongolisch regierten Chinas auch symbolisch innerhalb der Kong-Familie zu demonstrieren. Schon seit einigen Jahrzehnten gab es im Norden keinen neuernannten Herzog Yansheng mehr und daher bat er Kong Zhu (孔洙), Nachkomme in der 53. Generation und Herzog Yansheng der sudlichen Linie, nach Norden zuruckzukehren und so beide Linien zu vereinigen. Kong Zhu lehnte die Bitte mit der Begrundung ab, dass seit einigen Generationen seine Vorfahren im Suden lebten und er es nicht ertragen konne, die Graber seiner Eltern zu verlassen. Kublai Khan soll ausgerufen haben: „Er gabe eher seine Vergutungen auf als den Dao! Wahrhaftig ist er des Weisen Nachfolger!“
Kong Zhu gab 1276 freiwillig den Titel auf, aber erst 1295 (aus nicht naher genannten Grunden) ist mit Kong Zhi (chinesisch 孔治) ein neuer Herzog Yansheng ernannt worden, welcher der nordlichen Linie angehorte und das Schisma beendete. Nach Angaben der nordlichen Linie verstarb Kong Zhu 1287 kinderlos – eine Behauptung, welche Angehorige der sudlichen Linie zuruckwiesen und mit eigenen Stammbaumen, welche angebliche Kinder von Kong Zhu zeigten, zu widerlegen versuchten.
Auch wenn die Frage nach der rechtmaßigen Erbfolge entschieden war, gab es bis in die Neuzeit Konflikte zwischen der nordlichen und sudlichen Linie. Noch heute existiert die sudliche Linie in Quzhou. 2006 wurde sie auf ca. 30.000 Angehorige geschatzt, was die Gemeinde in Quzhou zur zweitgroßten nach Qufu in ganz China macht.
Exemplarisch kann man den Konflikt aus einer Anekdote aus der Ming-Dynastie sehen: 1495 waren die Kongs im Suden schon langst vergessen, als der neueingesetzte Magistrat von Quzhou die sudliche Linie, ihren Tempel und Grundbesitz „wiederentdeckte“. Jener bemitleidete aber die Armut der sudlichen Kongs und bat den Hof von Ming um die Verleihung eines ehrenwerten Titels fur die sudlichen Kongs – was den Herzog von Yansheng in mehreren Publikationen veranlasste, die sudliche Linie als illegitim zu beschuldigen, welche sich den Nachnamen angemaßt hatten und gar nicht wirklich von Konfuzius abstammten. Trotzdem wurde das Haupt der sudlichen Linie 1506 von Kaiser Zhengde zu Professoren der funf Klassiker (五經博士, Wujing Boshi) ernannt.
Koreanische Linie Wahrend der Yuan-Dynastie behauptete jemand, der Sohn von Kong Huan (孔浣), Nachkomme in der 25. Generation, zu sein, und zog nach Heirat einer Koreanerin nach Korea. Daraus entstand der koreanische Gokbu-Gong-Klan (koreanisch 곡부 공씨, Hanja 曲阜 孔氏). Bis heute besteht dieser Seitenzweig und ist der einzige auslandische Zweig in der 2009 herausgebrachten Kong-Genealogie. Dieser Zweig umfasst heute mindestens 86 Generationen. Heute gibt es nach dem sudkoreanischen Zensus 2000 knapp 75.000 Menschen, die dem Gokbu-Gong-Klan angehoren.
Korruption Nach dem Fall der Yuan-Dynastie und dem Aufstieg der Ming-Dynastie wuchs die okonomische Macht der Herzoge Yansheng. Ihr Grundbesitz vergroßerte sich drastisch, obwohl die Ming-Dynastie die politische Macht der Herzoge einschrankte. Die Ming-Kaiser verboten den Herzogen Yansheng, burokratische Amter zu bekleiden, und formalisierten die lokale Machtbalance zwischen den Herzogen und den staatlichen Beamten. Sie achteten darauf, dass die einzige Aufgabe der Herzoge Yansheng sein sollte, die notwendigen Riten fur die Ahnenverehrung durchzufuhren. Nichtsdestoweniger erwiesen sich die Maßnahmen nicht als effektiv, da durch das Vermogen der Kongs und durch Korruption viele dieser Regelungen faktisch ausgehebelt wurden.
Auch nach dem Fall der Ming-Dynastie und dem Aufstieg der Qing-Dynastie setzte sich die Korruption fort. Normalerweise wurden in den meisten Kreisen Beamte von außerhalb eingesetzt, um Interessenskonflikte zu vermeiden. Qufu wurde aber seit jeher faktisch von den Herzogen Yansheng regiert. Trotz der Korruption unter den Kong-Magistraten von Qufu und der Kontroverse daruber, wie die korrupten Magistrate angeklagt und abgesetzt werden sollten, wurde gegen die Idee argumentiert, die Kongs aus dem Amt des Magistrats des Kreises Qufu zu entfernen. Es sei unangemessen, da Qufu die Heimatstadt von Konfuzius und die meisten Residenzen und Landereien in Qufu im Besitz von Kongs seien, so dass nichts dagegen spreche, dass Kongs von anderen Kongs regiert wurden. Dies sei auch eine Frage des Respekts des Staates gegenuber Konfuzius. Um das Problem zu losen, ist auch vorgeschlagen worden, dass die sudlichen Kongs Qufu regieren sollten, wodurch sichergestellt wurde, dass sie keine Interessenkonflikte in Qufu haben wurden, da sie außerhalb der Provinz lebten und keine lokalen Verbindungen hatten, aber immer noch zur Familie Kong gehorten. Am Ende wurde beschlossen, das Auswahlverfahren fur die Magistrate von Qufu zu reformieren, indem sie die Magistratur in der Position der Familie Kong beließen, aber den Herzog Yansheng aus der Auswahl der Richter heraushielten und sie dazu zwangen, alle Absolventen, Studenten und Pruflinge der nordlichen Linie in die Provinzhauptstadt von Shandong zu schicken, damit dort vor dem Gouverneur der Provinz eine Prufung abgelegt werden konnte. Die Hauptstadt wurde die letzten beiden verbleibenden Kandidaten der Prufung empfangen. Dies bedeutete, dass der Magistrat weniger anfallig fur Korruption war, da der Herzog ihn nicht ernennen wurde und der Gouverneur vorsichtig sein musste, da er allein fur die Ernennung der Kandidaten verantwortlich war.
= Nach dem Sturz der Qing-Dynastie =
Nach der Xinhai-Revolution wurden die meisten Adelstitel abgeschafft, davon unberuhrt blieb aber der Herzog Yansheng. Von manchen wurde damals gefordert, dass nach dem Sturz der Qing-Dynastie, die von ethnischen Mandschus beherrscht wurde, ein Han-Chinese den Drachenthron besteigen sollte. Neben dem Nachfahren der Ming-Dynastie kam auch der Herzog Yansheng in Frage. Unter anderem pladierte der konstitutionelle Monarchist Liang Qichao fur eine Monarchie unter einem Nachfahren des Konfuzius. Aber spatestens mit der kurzzeitigen Herrschaft von Yuan Shikai, der sich selbst zum Kaiser proklamierte, endeten die meisten monarchistischen Bestrebungen.
1935 wurden endgultig alle Adelstitel und ihre Vorrechte abgeschafft. Stattdessen wurde der letzte Herzog Yansheng, Kong Decheng, Nachkomme in der 77. Generation und damals funfzehnjahrig, der erste zeremonielle Beamte fur Konfuzius (大成至聖先師奉祀官, Dacheng zhisheng xianshi fengsi guan). Aus einem Adelstitel wurde damit ein Staatsamt mit der Aufgabe, sich um das Erbe des Konfuzius zu kummern. Er selbst wurde mit Verleihung des Amtes einem Minister gleichgestellt und bekam dieselbe Vergutung. 1938 gab es Geruchte, dass die Japaner Kong Decheng, den ehemaligen Herzog Yansheng, fur eine Marionettenregierung rekrutieren wollten. Puyi, der letzte Kaiser der Qing-Dynastie, war zu dem Zeitpunkt bereits als Oberhaupt des Marionettenstaates Manchukuo eingesetzt worden. Der damals 17-Jahrige Kong Decheng, der kurz vor Beginn des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges ins heutige Wuhan geflohen war und seinen entfernten Verwandten und damaligen Premierminister H. H. Kung traf, antwortete, auf das Gerucht angesprochen:
Nach der Niederlage der Kuomintang im Chinesischen Burgerkrieg floh Kong Decheng mit der restlichen Regierung nach Taiwan. Dort wurde er Berater des Prasidenten, Abgeordneter der Nationalversammlung und Professor fur Chinesische Literatur. Er starb 2008. Sein Enkel Kong Chuichang ubernahm das Amt, welches mittlerweile nur noch symbolischer Natur ist und dem entsprechend nicht mehr vergutet wird. Mittlerweile ist fur die Nachfolge des Amtes auch eine weibliche Erbfolge vorgesehen, falls es keine mannlichen Erben mehr geben sollte und die betreffenden Anwarterinnen weiterhin den Namen Kong tragen.
Vermachtnis Der Historiker Christopher S. Agnew urteilt, auch wenn er auf die schwankende Machtfulle hinwies, folgendermaßen uber das Erbe der Herzoge Yansheng:
= Kulinarik =
Die von den Herzogen Yansheng angestellten Koche schufen in ihrer uber zweitausendjahrigen Geschichte zahlreiche Gerichte, die selbst dem chinesischen Kaiser serviert wurden. Das Anwesen in Qufu war bekannt dafur, extravagante Feste mit ausgefallenem Essen zu veranstalten. Zu den Gerichten gehorten unter anderem:
魯壁藏書 / 鲁壁藏书, Lubi cangshu – „In einer rauen Mauer versteckte Bucher“: Garnelen werden in einen nudelartigen Teig gesteckt und frittiert. Das soll an eine Legende erinnern, wie Kong Fu (孔鲤), Nachkomme der 9. Generation, verschiedene Schriftrollen vor der Zerstorungswut des ersten Kaisers Qin Shihuangdi versteckte. Die Garnelen stehen also symbolisch fur die Schriftrollen, der Teig fur die Mauern.
三套湯 / 三套汤, Santaotang – „Dreischichtensuppe“: Schwein, Hahnchen und Ente werden uber lange Zeit zu einer Suppe gekocht.
詩禮銀杏 / 诗礼银杏, Shili yinxing – „Gedichte-Riten-Ginkgo“: Gekochte und halbierte Birne. In die Birne wird das Schriftzeichen fur „Gedicht“ oder „Poesie“ 孔詩, Kongshi – „Kong-Gedichte“ eingeritzt. Mariniert wurde es dann mit Jujube, Ginkgo und Honig. Der Name soll daher ruhren, dass die Bedeutung von Poesie und Riten veranschaulicht werden soll.
= Qufu und Gegend =
Besonders in und um Qufu herum, wo die Hauptlinie der Familie wirkte, entstanden mit der Zeit zahlreiche reprasentative Bauten.
Residenz der Familie Kong, tempelahnlicher Bau, ungefahr 16 ha groß und umfasst 456 Zimmer.
Wald der Familie Kong, ein Waldgrundstuck, wo neben Konfuzius sehr viele seiner Nachfahren beerdigt liegen.
Konfuziustempel, eine der großten Gebaudeanlagen Chinas, welche nur von der verbotenen Stadt ubertroffen wird.
Tempel des Konfuzius auf dem Nishan, traditionell fur den Geburtsort des Konfuzius gehalten
Die ersten drei sind seit 1994 als Tempel und Friedhof des Konfuzius und Anwesen der Familie Kong von der UNESCO als Weltkulturerbe aufgefuhrt worden.
Mitglieder der Familie = Stammbaum =
Das folgende Diagramm zeigt nur die wichtigsten, mannlichen Nachkommen der Hauptlinie. Sie folgt der traditionellen Darstellung der nordlichen Linie.
= Statistik =
Zunachst gab es um Qufu, die Heimatstadt des Konfuzius, herum mehrere Haushalte, die eine Abstammung von Konfuzius beanspruchten – zur Zeit der Ming-Dynastie im 16. Jahrhundert waren es von der Hauptlinie abgesehen 60 – und Schulen leiteten. Bis 1930 breitete sich die Kong-Familie in ganz China aus, wobei die „Haushalte“ den Bezug zu einem Wohnort verloren und bezuglich der Große teilweise mehrere hundert Mitglieder umfassen konnten. 1684 umfasste die Hauptlinie in Qufu 675 Mitglieder. Insgesamt gab es uber zehntausend Manner aus der Familie Kong, die sich sechzig Jahre spater zu fast zwanzig Tausend verdoppeln sollte.
Besonders gut kann man daher fur die Kongs aus Qufu die Abstammung zu Konfuzius belegen. Anders sieht es aber aus fur diejenigen, die ausgewandert sind. Denn diese wurden in den Genealogien haufig ausgelassen und als inexistent betrachtet. „Alle Kongs, die aus Qufu wegzogen, wurden in der Genealogie komplett entfernt, als ware der Boden, auf dem der Weise wandelte, heilig.“ Daher konnen die meisten Kongs gar nicht so leicht eine direkte Abstammung von Konfuzius belegen, zumal auch Menschen, die gar keine Verwandtschaft mit Konfuzius haben, den Nachnamen Kong tragen.
Seit 1998 gibt es mit dem „Ausschuss zur Zusammenstellung der Konfuzius-Genealogie“ (孔子世家譜續修工作協會 / 孔子世家谱续修工作协会, Kongzi shijiapu xuxiu gongzuo xiehui) einen Verein mit dem Ziel, alle Nachkommen des Konfuzius in den letzten zweieinhalbtausend Jahren zusammenzufassen. 2009 erschien die funfte Auflage des Kong-Familienstammbaumes, welches 80 Bande umfasst und uber zwei Millionen Nachkommen verzeichnet. Der Verein selbst schatzte 2008, dass es mindestens drei Millionen lebende Nachkommen gebe. 2013 konnten Forscher der Fudan-Universitat die gemeinsame Abstammung einiger Seitenzweige durch einen DNA-Test belegen.
= Bedeutende Nachkommen außerhalb der Hauptlinie =
Kong Rong (* 153; † 208), Beamter, Dichter und einer der kleineren Warlords zur Zeit der Drei Reiche im alten China
H. H. Kung (* 1881; † 1967), Bankier und Politiker, Ministerprasident der Republik China
Literatur Christopher S. Agnew: The Kongs of Qufu – The Descendants of Confucius in Late Imperial China. 1. Auflage. University of Washington Press, Seattle 2019, ISBN 978-0-295-74593-0, doi:10.1017/S0041977X20002785, JSTOR:j.ctvnp0kzh (englisch, PDF; 1,3 MB, Rezension von Julia K. Murray, University of Wisconsin-Madison; E-Book-ISBN 978-0-295-74594-7).
Anmerkungen
|
Kong (chinesisch 孔, Pinyin Kong, Jyutping Hung2, Peh-oe-ji Khong) ist ein Geschlecht, das auf den Stammvater Konfuzius zuruckgeht und uber 2.500 Jahre alt ist. Sowohl die Hauptlinie als auch Nebenlinien erhielten mit der Zeit verschiedene Nobilitierungen. Vom Kaiserreich China bis in die fruhen Jahre der Republik China fuhrte das jeweilige Oberhaupt der Familie unterschiedliche Adelstitel, zuletzt von 1055 bis 1935 den Titel des Herzogs Yansheng (衍聖公, Yansheng Gong).
1935 schaffte die republikanische Regierung unter der Fuhrung der Kuomintang den Titel ab und der letzte Inhaber, Kong Decheng, wurde „Zeremonieller Beamter fur Konfuzius“ (大成至聖先師奉祀官, Dacheng zhisheng xianshi fengsi guan). Aus einem Adelstitel ist ein Staatsamt geworden mit der Aufgabe, das Erbe des Konfuzius zu pflegen. Auch nach der Ausrufung der Volksrepublik China existierte das Amt in der Republik China auf Taiwan fort, welches bis 2008 dem Rang eines Ministers entsprach, aber seitdem symbolischer Natur ist. Gegenwartiges Familienoberhaupt ist Kung Tsui-chang (孔垂長, Kong Chuichang), der 2009 die Nachfolge antrat. Er ist ein Nachfahre in der 79. Generation, wodurch die Familie Kong hinsichtlich der Stammlinie (direkte Vater-Sohn-Nachkommenschaft) eine der nachweisbar altesten existierenden Familien der Welt ist.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Kong_(Familie)"
}
|
c-455
|
Bertha von Hillern (* 4. August 1857 in Trier, Preußen; † 19. September 1939 in Staunton, Virginia) war eine deutschamerikanische Landschaftsmalerin und pedestrian.
Leben = Emigration und Athletin =
Laut Appletons’ Cyclopædia of American Biography wurde von Hillern 1857 in Trier geboren. Davon abweichend fuhrt die Datenbank Find a Grave das Jahr 1853 als Geburtsjahr an. Spatestens 1876 emigrierte sie in die Vereinigten Staaten, wo sie sich in den nachsten zwei Jahren als pedestrian betatigte. Der sogenannte Pedestrianismus war eine damals populare Sportform, bei der Athleten lange Strecken gingen, ahnlich dem heutigen Geh- oder Laufsport. Von Hillern wurde auch deshalb zu einer pedestrian, weil sie uberzeugt war, dass nicht nur Manner, sondern auch Frauen sportlich aktiv sein sollten. Zu ihrer Motivation erklarte sie:
Schon bald wurde sie dadurch bekannt, dass sie an verschiedenen Orten im Land Ein-Tages-Rennen uber mehrere dutzend Meilen bestritt; viele dieser Rennen wurden zu offentlichen Ereignissen. Große Aufmerksamkeit erregte sie, als sie innerhalb von 28 Stunden 100 Meilen lief.
Bekannt wurden ebenfalls von Hillerns Wettkampfe mit Mary Marshall, mit der sie sich in mindestens zwei Sechstagerennen uber 300 Meilen maß. Das erste Rennen in Chicago im Januar 1876 brach von Hillern unter Berufung auf ungerechte Kampfrichter ab, als sie mit 231 Meilen gegenuber Marshalls 234 Meilen in Ruckstand geraten war. Das zweite Rennen in New York City gewann von Hillern deutlich mit 323,5 Meilen gegenuber Marshalls 281 Meilen, allerdings litt Marshall an geschwollenen Fußen. Fur viele dieser Rennen und Wettkampfe waren Preisgelder ausgeschrieben, mit denen sich von Hillern ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. Insgesamt bestritt sie zwischen 1876 und 1878 mindestens 25 Rennen in dreizehn verschiedenen Stadten.
So brachte im Jahre 1877 in der Stadt Providence „Frl. Bertha v. Hillern das unerhorte Kunststuck oder eigentlich die Kraftprobe fertig, 50 [englische] Meilen in 11 Stunden 58 Minuten zu gehen“. Bei Zugrundelegung der US-Definition der Meile (1,609347 km) entspricht dies einer Durchschnittsgeschwindigkeit von rund 6,72 km/h. Fur ihren Lauf war in einer Music Hall ein Rundkurs von 242 Fuß abgemessen. „Als sie zum letztenmale den Kreis durchschritt und noch gerade so rustig und so elastischen Schrittes dahermarschirte wie im Anfange, da brach ein allgemeiner Sturm des Beifalls aus. Die Manner klatschten, jubelten, schwenkten ihre Hute und die Damen schwenkten ihre Facher.“
Die US-Suffragettenbewegung hob von Hillern in dieser Zeit als gluhendes Beispiel fur die Fahigkeiten von Frauen hervor. Nach 1878 gab sie den Sport auf, kurz vor dem Niedergang des Pedestrianismus.
= Landschaftsmalerin =
Mit den Preisgeldern aus ihren Geh-Wettkampfen konnte sich von Hillern Ende der 1870er bei William Morris Hunt (1824–1879), einem Vertreter der franzosischen Schule von Barbizon, in Boston zur Landschaftsmalerin ausbilden lassen. Die Schule von Barbizon war dadurch bekannt geworden, Landschaftsgemalde in volliger Abgeschiedenheit inmitten der Natur anzufertigen, und hatte unter anderem den Impressionismus inspiriert. In den Kursen lernte sie die Malerin Maria A’Becket kennen, mit der sie beschloss, nach dem Vorbild der Maler von Barbizon gemeinsam in die Abgeschiedenheit zu gehen. Die beiden Kunstlerinnen zogen sich in eine Holzhutte ins landliche Virginia zuruck, die in den Waldern nahe der Stadt Strasburg im Shenandoahtal lag. Dort hatten beide von 1881 bis 1888 den Mittelpunkt ihres kunstlerischen Schaffens; in dieser Zeit arbeiteten sie dort etwa drei Viertel des Jahres an ihren Gemalden. Den Rest verbrachten die beiden damit, die US-Ostkuste entlang zu reisen, um ihre Gemalde auszustellen und zu verkaufen. Das Schaffen der beiden wurde interessiert von diversen Medien der US-Ostkuste begleitet.
Ihre Gemalde stellte von Hillern in den 1880er Jahren unter anderem in den American Art Galleries in New York City, in der Galerie Williams & Everett in Boston, in den Haseltine Galleries in Philadelphia und im Bostoner Museum of Fine Arts aus. Private Ausstellungen organisierten von Hillern und A’Becket zusammen regelmaßig im Bostoner Hotel Vendome. Von Hillerns Gemalde waren haufig figurativ-allegorisch und setzten eine christliche Thematik um. Obgleich ihre Gemalde damals in verschiedenen Katalogen auftauchten und das Lob von Kunstkritikern erhielten, ist ihr gesamtes malerisches Werk verschollen. Eines ihrer namentlich bekannten Gemalde ist The Monk Felix nach einem gleichnamigen Werk von Henry Wadsworth Longfellow.
1888 trennten sich die Wege der beiden Kunstlerinnen; danach verliert sich die Spur von Hillerns weitgehend. Laut einem Zeitungsartikel in der Washington Post lebte sie 1910 zusammen mit der Schriftstellerin Emma Howard Wight in Middletown im nordlichen Shenandoahtal. Die Post berichtete damals, dass das Haus der beiden zum Ziel zweier Brandanschlage geworden sei. Von Hillern starb 1939 im Alter von 82 Jahren. Heute erinnert in Fishers Hill nahe der ehemaligen Holzhutte von Hillern und A’Becket unter dem Titel Creative Women of Fishers Hill ein historic marker an A’Becket, von Hillern und Emma Howard Wight.
Weblinks Bertha von Hillern in der Datenbank Find a GraveVorlage:Findagrave/Wartung/Gleiche Kenner im Quelltext und in WikidataVorlage:Findagrave/Wartung/Wirkungslose Verwendung von Parameter 2
Kurzbiografie in The Record Argus
Damen-Rennen. In: Mahrisches Tagblatt, 1. Februar 1884, S. 1 (online bei ANNO).Vorlage:ANNO/Wartung/mtb (Feuilleton-Artikel uber Bertha von Hillern.)
Einzelnachweise
|
Bertha von Hillern (* 4. August 1857 in Trier, Preußen; † 19. September 1939 in Staunton, Virginia) war eine deutschamerikanische Landschaftsmalerin und pedestrian.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bertha_von_Hillern"
}
|
c-456
|
Bernd Arnold (* 28. Februar 1947 in Hohnstein) ist ein deutscher Kletterer, Bergsteiger und Sachbuchautor. Arnold wurde durch eine Vielzahl schwieriger Erstbegehungen von Kletterwegen in der Sachsischen Schweiz bekannt und gehorte zu den besten Kletterern seiner Zeit.
Leben Arnold wurde 1947 in der Kleinstadt Hohnstein am nordlichen Rand der Sachsischen Schweiz geboren. Er absolvierte eine Lehre zum Buchdrucker und legte die Prufung zum Buchdruckermeister ab. 1971 ubernahm er einen Druckereibetrieb mit mehreren Mitarbeitern, eine Stelle, die ihn stark auslastete. Durch seine zahlreichen Westkontakte war Arnold der Stasi suspekt und wurde deshalb uberwacht. In seiner Klettermannschaft berichteten zwei Gefolgsleute der SED uber seine Kontakte zu namhaften westdeutschen Bergsteigern wie z. B. Wolfgang Gullich, Kurt Albert und Dietrich Hasse.
Ab der Wende bis zur Rente arbeitete er in den beiden Bergsportladen seiner Frau. Zudem bot er Kletterkurse in der Sachsischen Schweiz an.
Im Dezember 1989 zahlte Arnold zu den Mitgrundern des Sachsischen Bergsteigerbunds (SBB). Er gehorte auch zu den Begrundern der „Hohnsteiner Bergsommerabende“, in denen uber die Gegenwart und Zukunft des Bergsports diskutiert wird. In diesen Veranstaltungen wirbt Arnold heute (Stand 2023) fur eine begrenzte Lockerung der Sachsischen Kletterregeln, um aktuellen Entwicklungen des Sportkletterns wie dem Bouldern und Plaisirklettern Rechnung zu tragen. In einer Ausweitung der begehbaren Kletterflache sieht er die Chance, klassische Wege zu bewahren und eine Entlastung einzelner Kletterfelsen und der umgebenden Natur durch eine bessere Verteilung der Kletterer im Gebiet zu erreichen.
Arnold hat mehrere Bucher verfasst, vorzugsweise uber seine Sachsische Heimat, und in Publikationen des DAV, OAV und AVS Artikel uber die Sachsische Schweiz und das Klettern in ihr veroffentlicht. Er lebt mit seiner Frau in seinem Geburtsort Hohnstein, hat eine Tochter und vier Enkelkinder.
Kletterkarriere = Anfange und große Erfolge in der Sachsischen Schweiz =
Arnold unternahm seine erste Klettertour als 12-Jahriger, ein alterer Kletterer fuhrt ihn und einige andere Jungen uber den „Alten Weg“ auf den Panoramafels. Die Schwierigkeiten sind zwar sehr moderat (der 2. sachsische Grad wird kaum uberschritten), aber es sind ein Quergang und ein Kamin zu meistern. Arnold war sofort begeistert und wiederholte den Weg nur zwei Tage spater mit anderen Jungen. Sie schafften es auf den Gipfel und auch wieder zuruck, brauchten aber bis in die Nacht. Als der Vater von dem Unternehmen erfuhr, erteilte er Stubenarrest, das nutzte aber nicht viel. Arnold war vom Klettern begeistert und kletterte, wann immer das moglich war. In seiner Heimat, die mitten im Klettergebiet Sachsische Schweiz liegt, hatte er dazu auch viele Moglichkeiten. Schnell gelang es ihm, seine Fertigkeiten und Konnen auszubauen. Als seine Eltern erkannt hatten, dass sie ihren Sohn nicht vom Klettern abhalten konnen, wollten sie dies so sicher wie moglich gestalten. Daher bekam Arnold mit 14 Jahren sein erstes Kletterseil geschenkt und zu weiteren Anlassen immer wieder Karabiner. Das ist insofern bemerkenswert, als die Beschaffung der Ausrustung in der DDR nicht ganz einfach war. Kletterschuhe waren besonders schwer zu beschaffen, er loste das Problem, indem er einfach barfuß kletterte. Dies sollte er ein Leben lang beibehalten. Diese Barfußkletterei machte ihn auch in anderen Klettergebieten weltweit bekannt. Auch einige der schwierigsten Routen wurden von ihm ohne Kletterschuhe begangen.
Zu seiner damaligen Seilschaft gehorten vor allem Gisbert Ludewig, Wolfram Nolte und Gunter Lamm, insgesamt absolvierten die Kletterer gemeinsam mehrere hundert Erstbegehungen. Arnold verinnerlichte auch die besonders strengen Kletterregeln in der Sachsischen Schweiz, die bereits damals dem Freikletter-Gedanken folgte – er meinte, dass das Klettern hier ernsthafter sei und die Anforderungen hoher. Die sachsische Schwierigkeitsbewertung weicht etwas von der UIAA-Skala ab, daher werden im Folgenden meist beide Schwierigkeitsbewertungen genannt.
Nach standigem Training, im Winter auch in der Turnhalle, wagte er sich als 17-Jahriger mit Wolfram Nolte im Sommer 1964 an die Gonda-Kante (VIIIa/VII-) am Rauschenstein. Diese wurde von Karlheinz Gonda erstbegangen und galt als besonders schwierig. Als die beiden diese erfolgreich durchstiegen hatten, fuhlten sie sich richtig „groß“, wurden aber am nachsten Tag von der Realitat eingeholt, als ihnen die nachste Tour nicht gelang.
1969 hatte Arnold alle lohnenden Klettertouren im Elbsandsteingebirge durchstiegen und er wandte sich neuen Herausforderungen zu: Erstbegehungen. Die erste seiner Erstbegehungen war der „Siebziger Weg“ (IXa/VIII-) am Rokokoturm, Arnold eroffnete diesen am 17. Mai 1970 zusammen mit Gunter Lamm und Wolfram Nolte. Sie galt damals als eine der schwierigsten Routen weltweit. Am 6. Juni 1970 konnte er zusammen mit Wolfram Nolte eine neue Tour durch die Schwager Nordwand legen, diese hat die Schwierigkeit IXb, nach UIAA-Skala eine 8. Damals wurden Schwierigkeiten uber 6+ als nicht moglich eingestuft – hatte Arnold nicht in der DDR gelebt, ware er bereits damals als ein anerkannter Kletterstar angesehen worden. Ein Jahr spater eroffnete Arnold eine Route an der Talseite der Teufelsspitze, ebenfalls eine IXb (sachsische Skala), deren Erstbegehung war mit starken Schwierigkeiten und großem Risiko verbunden.
In den folgenden Jahren konnte Arnold noch einige neue Routen im Elbsandstein erschließen, viele von diesen setzen neue Maßstabe bei hohen Schwierigkeiten. So wurde im Mai 1977 die Route „Wand im fruhen Morgenlicht“ am Großen Wehlturm von ihm und Kameraden eroffnet. Es folgten 1982 die „Schallmauer“ an der Amselspitze, 1983 der „6. Versuch“ am Schwedenturm, 1986 das „Barometer fur Stimmungen“ am Heringstein.
Arnold bereiste in den folgenden Jahren die meisten „bergigen“ Ostblocklander, war in der Hohen Tatra und zweimal im Kaukasus. 1985 war er mit einer Bergsteigerdelegation in Nordkorea und konnte dort im Diamantgebirge klettern.
= Kontakte zu Kletterern aus dem Westen =
Anfang der 1970er Jahre kamen die ersten Kletterer aus dem Westen in das Elbsandsteingebirge, einer der ersten war 1973 Kurt Albert. Albert kletterte mit Arnold und lernte hier die sachsischen Freikletterregeln kennen, er sollte sie spater in den Westen exportieren und ab 1975 zum Rotpunkt-Klettern ausbauen. Im Mai 1976 besuchte der Elbsandsteinpionier Fritz Wiessner, der 1929 in die USA ausgewandert war, mit amerikanischen Kletterfreunden die Sachsische Schweiz. Zwei seiner amerikanischen Begleiter, Henry Barber und Steve Wunsch, zeigten sich beeindruckt von der Schwierigkeit der Routen und von Arnolds Fahigkeiten. Auch hier zeigte sich, dass die Sachsischen Kletterregeln in den USA neue Kletterformen und -paradigmen angestoßen hatten und den Freikletter-Gedanken auch in den USA popular machten.
Aufgrund dieser Kontakte wurde er auch auf die westlichen Klettergebiete neugierig, seine Antrage fur Auslandsreisen wurden aber abgelehnt. Bereits in den 1970er Jahren hatte er Einladungen des amerikanischen Bergsteigerverbandes zum Besuch der USA erhalten, die er jedoch nicht annehmen durfte. Nur in einigen wenigen Ausnahmefallen konnte er ins westliche Ausland fahren. Erst im Jahr 1986 durfte Arnold zu einer Veranstaltung des Weltfriedensrats nach Griechenland reisen, dies ermoglichte ihm einige Klettereien an den Felsen der Meteora.
1987 bekam Arnold im Mai und im Oktober jeweils funf Tage die Moglichkeit, Verwandten im Westen einen Besuch abzustatten. Diese hielt er sehr kurz, er nutzte die Zeit, um große Alpentouren zu wiederholen, wie die Tour „Locker vom Hocker“ an der Schusselkarspitze und die „Pumprisse“ an der Fleischbank im Wilden Kaiser.
Arnolds gute Kontakte zu westlichen Spitzenkletterern fuhrten dazu, dass er zu einer DAV-Expedition ins Karakorum eingeladen wurde. Die DDR erteilte ihm aber keine Ausreisegenehmigung. Daher suchte Arnold um einen Verwandtenbesuch an, der auch fur funf Tage genehmigt wurde. Arnold hatte aber vor, funf Monate im Ausland zu bleiben. Bis zum Start der Karakorum-Expedition absolvierte Arnold wahrend sieben Wochen einen Kletterklassiker nach dem anderen in den Alpen und erfullte sich damit einen lang gehegten Traum.
= Expedition zu den Trango-Turmen =
Am 29. Juli 1988 brach die Expedition zu den Trango-Turmen im Karakorum auf. Nach einer langen Fahrt und einem sechstagigen Fußmarsch erreichten sie am 17. August das Basislager. Die Expedition von 10 Personen teilte sich in je zwei Funfergruppen auf: Die Gruppe um Arnold wollte die Zweitbegehung des Nordostpfeilers (auch Norwegerpfeiler genannt, da die Erstbegeher Norweger waren) am Großen Trango-Turm versuchen, die zweite Gruppe entschied sich fur die Jugoslawen-Route (auch Slowenenfuhre genannt, da die Erstbegeher aus Slowenien waren) am Nameless Tower. Der Norwegerpfeiler ist mit seiner 1500 m hohen Wand eine der hochsten Granit-Bigwalls der Erde und die erste Route an einem Sechstausender mit dem Schwierigkeitsgrad VII. Die Bedingungen waren selbst fur Bigwall-Klettern schwierig: schlechtes Wetter, die Hohenlage machte den Kletterern zu schaffen, der hohe Aufwand, um alle Ausrustung und Verpflegung vom Basislager zum Hochlager zu tragen, die Uberwindung des Dunge-Gletschers, der einen Hangegletscher aufweist und haufig unter starkem Eisschlag steht.
Das Team stieg in die Wand ein, in den folgenden Tagen losten sich die Seilschaften permanent in der Fuhrung ab. Sie kamen nur sehr langsam vorwarts, die Schwierigkeiten waren großer als vermutet, besonders das Eis und der Eisschlag machten ihnen zu schaffen. Nachdem auch noch Schlechtwetter eingesetzt hatte, mussten sie die Tour abbrechen und in das Basislager zuruckkehren.
Der zweiten Gruppe um Wolfgang Kraus war in der Zwischenzeit die Begehung der Slowenenfuhre gegluckt. Daher entschied sich die Gruppe um Arnold, auch die Slowenenfuhre zu machen; diese ist zwar auch lang und schwierig, da sie aber in der Sonne liegt, nicht von Eis uberzogen. Der Gruppe um Kurt Albert, Wolfgang Gullich und Hartmut Munchenbach gelang eine Rotpunkt-Begehung, alle funf erreichten den Gipfel.
Um die Expedition abzuschließen, musste aus allen Routen noch die Ausrustung entfernt werden. Dazu musste das Team nochmals zum Hochlager am Norwegerpfeiler und schwer bepackt den Ruckweg uber den Dunge-Gletscher antreten. Bei der Querung mit schwerem Gepack rutschte Arnold aus und den steilen Gletscherhang hinunter und fiel am Ende zwanzig Meter tief in eine große Gletscherspalte. Seine Bergung und sein Heimtransport waren schwierig, in einer Munchner Klinik wurden multiple Knochenbruche festgestellt. Im Dezember kehrte Arnold in das Elbsandsteingebirge heim, er benotigte mehrere Monate, um sich zu erholen.
= Weltweite Kletterreisen und Hohenbergsteigen =
Die Offnung der Mauer ermoglichte es Arnold, die Klettergebiete zu besuchen, die er immer schon sehen wollte. Ab Fruhjahr 1990 war Arnold auch in vielen Gebirgen rund um die Welt als Bergsteiger unterwegs, nachdem sich sein Aktionsradius davor gezwungenermaßen auf Ostblock-Lander beschrankt hatte. Er hatte Touren in Patagonien eroffnet, er besuchte den Himalaya, war im Yosemite-Nationalpark, in Mali, in Venezuela, im Wadi Rum in Jordanien, in Griechenland, auf Madagaskar, im Hoggargebirge und in vielen anderen Bergsteigerregionen. Mit Kurt Albert war er unter anderem im Karakorum oder in Patagonien unterwegs.
Im Jahr 1995 war er mit Kurt Albert und einigen sachsischen Kletterern in Patagonien am Fitz Roy. Die Herausforderungen beim Klettern in Patagonien sind vor allem die schnell wechselnden Wetterverhaltnisse, trotzdem fasziniert der Fitz Roy mit seiner 1300 m hohen Ostwand viele Kletterer. Nach einer muhsamen Anfahrt und Anstieg zum Fels gelang es dem Team in zwei Etappen (durch eine Schlechtwetterperiode unterbrochen), eine neue Tour in der Wand zu eroffnen: die „Royal Flush“. 2006 kam er mit seiner Tochter Heike (ebenfalls eine gute Klettererin) an den Fitz Roy zuruck und wiederholte mit ihr mehrere schwere Touren.
= Letzte Jahre =
Arnold hatte auch eine Schwache fur eher exotische Klettergebiete: So besuchte er 2012 Tasmanien und erstieg den „Totem Pole“, eine Felsnadel direkt an der Kuste. Im Februar 2014 war er mit Sudtiroler Kletterern im Sudan zum Klettern. Aber auch klassische Sportklettergebiete wie Kalymnos in Griechenland besuchte er gerne, auch hier hatte er 2007 einige Neutouren hinterlassen, wie „Baden mit und ohne“ oder „Novembersonne“. Diese Routen wiederholte er 2017 nochmals, inzwischen 70 Jahre alt. Im Fruhjahr 2020 mit 73 Jahren wiederholte er den „Siebziger Weg“ am Rokokoturm, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Erstbegehung zusammen mit seiner Tochter Heike und seiner Enkelin Johanna, beide ebenfalls eine sehr gute Kletterinnen.
Erstbegehungen und wichtige Wiederholungen schwieriger Routen Die meisten seiner Erstbegehungen fuhrte Arnold in den 1970er und 1980er Jahren durch. Insgesamt gehen uber 900 neue Wege in der Sachsischen Schweiz auf sein Konto. Bekannt sind unter anderem:
Erstbegehungen in der Sachsische Schweiz
1970: Rokokoturm, Siebziger Weg (Sachsischer Schwierigkeitsgrad IXa/UIAA Schwierigkeitsgrad VIII-)
1970: Schwager, Nordwand (IXb/VIII)
Sudliche Pfaffenschluchtspitze, 1000-Mark-Wand (IXc/VIII+)
1977: Großer Wehlturm, Wand im fruhen Morgenlicht (IXc)
Großer Wehlturm, Direkte Superlative (IXc)
1982: Amselspitze, Schallmauer (Xa/IX-)
Teufelsturm, Teufelei (Xa)
1983: Schwedenturm, 6. Versuch (Xb/IX)
Falkenstein, Buntschillernde Seifenblase (IXc)
1986: Barometer fur Stimmungen, am Heringstein (Xc/IX+)
1986: Rokokoturm, Garten Eden (Xc/IX+)
Erstbegehungen in anderen Klettergebieten
1991: Riders on the Storm, am Central Tower of Paine in Patagonien (9/A2, UIAA)
1993: Hand der Fatima, Mali, Wonangaba Maby (Du hast es so gewollt) (IX-, A2)
1999 Pilar Rojo (Vela y Viento) an der Aguja Mermoz, Patagonien (9-, UIAA)
1995: Royal Flush, am Fitz Roy, Patagonien (9, UIAA)
2002: 55 Steps to Hell, Wadi Rum, Jordanien (VIII)
2007: Baden mit und ohne (7a) und Novembersonne (7b), Kalymnos, Griechenland
2008: Im Nest des Adlers, Upuigma, Venezuela (IX-)
Fruhe Wiederholungen bekannter Routen
Pumprisse, Fleischbankpfeiler, Tirol erste durchgehend freie Begehung
Aus dem Mauseloch, Glocke, Adersbach, Tschechische Republik (IXa)
Big Wall, Prasident, Bohmische Schweiz, Tschechische Republik (VIIIc)
Ehrungen und Auszeichnungen Arnold erhielt folgende Auszeichnungen fur sein Lebenswerk:
Am 5. Juli 2008 wurde er mit der Ehrenburgerwurde seiner Heimatstadt geehrt.
Seit 2018 ist er Ehrenmitglied des SBB (Sachsischer Bergsteigerbund),
2019 wurde er mit dem Paul-Preuß-Preis ausgezeichnet.
2022 erhielt er den Albert Mountain Award verliehen.
Veroffentlichungen Bernd Arnold: Zwischen Schneckenhaus und Dom. Panico Alpinverlag, 1999, ISBN 3-926807-69-5.
Bernd Arnold: Oscar Schuster und ich. Ein Versuch der Annaherung. In: OSCAR SCHUSTER. Bergsteiger-Alpinist-Erschließer-Arzt-Publizist. Monografien Sachsisches Bergsteigen. S. 34–54. Sachsischer Bergsteigerbund, 2013.
Literatur Peter Brunnert: Bernd Arnold – Ein Grenzgang. Eine biografische Dokumentation. Panico Alpinverlag, 2017, ISBN 978-3-95611-080-1.
Peter Brunnert: Bernd Arnold – Barfuß im Sand. Dokumentation eines Lebenswerkes. Panico Alpinverlag 2020, ISBN 978-3-95611-132-7.
Peter Brunnert: Bernd Arnold – Riders on the Storm. Reisen und Expeditionen seit 1989. Panico Alpinverlag 2020, ISBN 978-3-95611-158-7.
Ulrich Remanofsky: Die wilden Alten: Zehn Extrembergsteiger – ein Leben lang am Limit. 1. Auflage. Alpinverlag Jentzsch-Rabl GmbH, Bad Haring 2021, ISBN 978-3-902656-30-8.
Einzelnachweise
|
Bernd Arnold (* 28. Februar 1947 in Hohnstein) ist ein deutscher Kletterer, Bergsteiger und Sachbuchautor. Arnold wurde durch eine Vielzahl schwieriger Erstbegehungen von Kletterwegen in der Sachsischen Schweiz bekannt und gehorte zu den besten Kletterern seiner Zeit.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bernd_Arnold"
}
|
c-457
|
Katze Q – ein Quanten-Adventure (englische Version: Kitty Q – a Quantum Adventure) ist ein digitales Lernspiel und Point-and-Click-Adventure fur Physik aus dem Jahr 2021 im Comic-Stil fur Handys. Es wurde von dem App-Designer Philipp Stollenmayer im Auftrag und unter Mitwirkung eines gemeinsamen Exzellenzclusters der Technischen Universitat Dresden und der Universitat Wurzburg entwickelt. Das Spiel richtet sich an Kinder und Jugendliche und soll uber das Design insbesondere Madchen fur das Thema Quantenphysik interessieren. Es lasst sich ohne Mathematik- und Physikkenntnisse spielen.
Handlung und Charaktere Es klingelt an der Tur – und davor steht eine verschlossene Schachtel, auf der ein Handy liegt. Per Chat bittet damit Anna, die Urenkelin von Erwin Schrodinger, einem Quantenphysiker und Nobelpreistrager, um Hilfe dabei, herauszufinden, was darin ist und wie damit umzugehen ist. Beim Offnen erscheint die Katze Q, die zur Halfte lebendig aussieht und zur Halfte aus Knochen besteht, also in einem seltsamen Zwischenzustand ist. Außerdem verteilen sich in einer Nebelwolke unterschiedliche Dinge im Zimmer, die man im Folgenden erkunden muss. Ziel ist es, in der Form eines Escape Games alle Ratsel zu losen, um am Ende die Katze aus ihrem Zwischenzustand zu befreien.
Spielablauf Im Spiel muss zunachst das Zimmer in alle vier Richtungen (mit Wandschranken, Kuhlschrank, Herd und einigen ungewohnlichen Accessoires) erkundet werden. Verschiedene Ratsel mussen gelost werden. Dazu mussen Gegenstande eingesammelt, in eine logische Reihenfolge gebracht oder woanders wiederverwendet werden. Auch muss ein Puzzle zusammengefugt werden, oder man muss mit dem Handy bestimmte Bewegungen ausfuhren, um etwas zuganglich zu machen. Die Aufgaben sind zum Teil durch Kombinieren losbar, beziehen sich manchmal aufeinander und mussen dann in einer bestimmten Reihenfolge ausgefuhrt werden. Kommt man nicht weiter, kann man Anna per Chat um Rat fragen. Fur jede geloste Aufgabe wird in der sogenannten Kittypedia ein Lexikonartikel mit kindgerechten Erklarungen und Informationen zum quantenphysikalischen Bezug des Ratsels freigeschaltet. Dadurch lernt man im Laufe des Spiels einiges uber die Quantenphysik und ihre Begrifflichkeiten. Hat man alle Ratsel gefunden und gelost, kann man die Quanten-Halle betreten und dort nach der korrekten Bedienung eines Quantencomputers die Katze aus ihrem Zwischenzustand erlosen.
Außerdem kann man im Spielverlauf Sticker einsammeln, mit denen man das Aussehen der Katze verandern kann.
Entwicklung Das Spiel ist als Handyspiel fur Smartphones konzipiert und fur Android und iOS verfugbar. Es wurde am 13. Oktober 2021 in einer deutschen und einer englischen Fassung weltweit veroffentlicht. Es ist kostenlos, werbefrei und verwendet keine In-App-Kaufe.
Zielgruppe des Spiels sind Kinder und Jugendliche von 11 bis 14 Jahren (6. bis 9. Schulklasse), da in diesem Alter das Interesse an Physik und Naturwissenschaften gepragt wird und der Physikunterricht beginnt. Besonders Madchen sollen angesprochen werden, was bei der Designentwicklung berucksichtigt wurde. Der Exzellenzcluster mochte damit moglichen Forschungsnachwuchs auf die Fragestellungen dieses Wissenschaftsgebiets aufmerksam machen, da die aktuellen Themen im Schulunterricht noch nicht vorkommen. Madchen werden besonders adressiert, da der Frauenanteil in der Physik niedrig ist.
Die Idee geht auf das beruhmte Gedankenexperiment Erwin Schrodingers, Schrodingers Katze, zuruck, mit der er die Seltsamkeit der Zustandsuberlagerungen in der Quantenphysik deutlich machen wollte. Beauftragt wurde die Entwicklung bei dem App-Designer Philipp Stollenmayer durch den Exzellenzcluster ct.qmat – Komplexitat und Topologie in Quantenmaterialien, eine gemeinsame Forschungskooperation der Technischen Universitat Dresden und der Universitat Wurzburg. Die Spielidee stammt laut der Info-Seite in der App von Katja Lesser, Referentin fur Offentlichkeitsarbeit des Exzellenzclusters. Die wissenschaftliche Beratung fand durch die beiden Sprecher des Clusters, Matthias Vojta und Ralph Claessen, statt, unter Mitwirkung eines Teams von jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Uber rund ein Jahr wurde dann in gemeinsamen Treffen des Projektteams und des Designers festgelegt, welche Begriffe erklart werden sollen, und es wurden die Ratsel und Kittypedia-Eintrage entwickelt.
Fur Philipp Stollenmayer war es die erste Auftragsarbeit. Davor hat er bereits mehrere Spiele in Eigenregie entwickelt und damit Preise gewonnen. So erhielt er fur see/saw 2019 den Deutschen Computerspielpreis in der Kategorie Bestes Mobiles Spiel und fur Song of Bloom den Apple Design Award 2020.
Die Schirmherrschaft fur das Spiel haben die Ur-Enkelin Erwin Schrodingers, Anna Braunizer, und ihr Vater Leonhard ubernommen. Beide fanden die Idee, mit dem Spiel junge Menschen fur Physik zu begeistern, sehr positiv und ganz im Sinne ihres Vorfahren, der auch immer bestrebt gewesen sei, anderen sein Spezialgebiet der Quantenphysik zu vermitteln. Daher hat Anna auch ihren Vornamen fur die Figur im Spiel zur Verfugung gestellt.
Im Rahmen des Ideenwettbewerbs „Internationales Forschungsmarketing“ erhielt das Konzept 2020 einen Forderpreis von 100.000 Euro. Dieser Wettbewerb war Teil der Initiative „Research in Germany“ des Bundesministeriums fur Bildung und Forschung.
Rezeption Von der Veroffentlichung im Oktober 2021 bis Ende Marz 2022 erfolgten weltweit rund 100.000 Downloads, davon etwa 70 Prozent außerhalb Deutschlands. Im ersten Jahr waren es nach eigenen Angaben weltweit 280.000 Downloads.
Zur Nominierung beim Kindersoftwarepreis TOMMI stellte die Jury fest: „Kinder lernen spielerisch sich mit Physik auseinanderzusetzen. Fordert Interesse und Neugierde an MINT-Fachern.“
Die Kinderjury DIGITAL, Goldener Spatz, begrundete den ersten Platz folgendermaßen: „weil es ein witziges, gut erzahltes und zugleich kniffliges Ratselspiel ist. […] Die schone Geschichte sowie die kreative Gestaltung und die spaßigen Ratsel, die etwas uber Quantenphysik erzahlen, machen das Spiel so einzigartig.“
Im Spieletipp des Vereins Internet-ABC ist das „Fazit: ‚Katze Q‘ zeigt, wie moderne Wissensvermittlung fur Kinder funktionieren kann – selbst bei dem komplexen Thema Quantenphysik.“
Die Zeitschrift Mac & i beobachtet: „Dieser App gelingt ein wirklich erstaunliches Kunststuck: Sie bringt Kindern ab zehn Jahren die komplexe Welt der Quantenphysik spielerisch naher. Im Mittelpunkt steht die Katze Q, die zur Halfte sehr niedlich aussieht und zur anderen Halfte, na ja, sehr tot.“
Das Internetmagazin android-user.de urteilt: „Katze Q ist ein toll gemachtes Spiel rund um Schrodingers Katze und die Quantenphysik, mit vielen Ratseln, die ziemlich knifflig sind.“ Es vergibt 5 von 5 Sternen.
Appgefahren.de meint: „Die Aufmachung ist dabei wirklich toll gemacht und die Ratsel nicht all zu schwer. […] Katze Q ist ein schones Spiel fur die ganze Familie und auch Erwachsene konnen hier noch etwas lernen.“
Die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) allerdings erteilt eine Altersfreigabe erst ab 12 Jahren, da sie „angstigende Inhalte“ sieht.
Der Designer Philipp Stollenmayer berichtet außerdem von vielen positiven Zuschriften, die zeigen, dass das Spiel in der Familie von Mutter und Tochter zusammen gespielt werde, aber auch von vielen Jungen und unerwarteten Benutzergruppen wie alteren japanischen Mannern.
Auszeichnungen 2021: 2. Platz in der Kategorie „Bestes Serious Game 2021“ beim ersten Games Innovation Award Saxony. Der Games Innovation Award Saxony (GIAS) ist eine Initiative des Verbandes Games & XR Mitteldeutschland und wird gefordert vom Freistaat Sachsen.
2021: Nominierung in den Kategorien „Bildung“ und „App“ des Deutschen Kindersoftwarepreis TOMMI
2021: „Best Mobile Indie Game“, beim Valencia Indie Summit fur die englische Sprachversion Kitty Q – A Quantum Adventure
2022: Nominierung in der Kategorie „Bestes Familienspiel“ fur den Deutschen Computerspielpreis (DCP)
2022: 1. Preis in der Kategorie Digital des Deutschen Kinder Medien Festival Goldener Spatz
2022: Wahl der englische Version Kitty Q unter die Top-10-Finalisten der besten Spiele-Apps 2022 im europaischen Play-Store durch die internationale Jury des Google Play Indie Games Festivals.
2022: Let’s get digital-Award des Bundesverbands Hochschulkommunikation fur herausragende digitale Projekte der Wissenschaftskommunikation
Folgeaktionen und Zusatzmaterialien = Erklarvideos =
Nach dem Losen eines bestimmten Ratsels im Spiel kann man uber ein Bonusfeature Fragen an die Forschenden stellen. Ab Januar 2022 wurden zu den bis dahin gesammelten Fragen aus aller Welt zwolf funfminutige YouTube-Videos QUANTube – kurze Pause Wissenschaft veroffentlicht. Darin geben junge Forschende des Exzellenzclusters kindgerechte und allgemeinverstandliche Erklarungen zu Fragen und Begriffen. Dabei wurde bewusst Wert darauf gelegt, die Internationalitat und Diversitat im Cluster widerzuspiegeln. Die Halfte der Sprechenden sind Wissenschaftlerinnen, um Vorbilder fur Madchen sichtbar zu machen.
Das Konzept erhielt im Dezember 2021 den mit 20.000 Euro dotierten Community Prize der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der von Marketingfachleuten aus der Forschungslandschaft vergeben wird. Der Preis ist Teil der Initiative „Research in Germany“ des Bundesministeriums fur Bildung und Forschung (BMBF) und wird von der DFG organisiert.
= Escape-Room =
In den Technischen Sammlungen Dresden wurde ein vierteiliger realer Escape Room Katze Q aufgebaut. Er kann von Schulklassen ab Klasse 6 und anderen Gruppen seit Januar 2024 gebucht werden und wurde am 25. April 2024 offiziell eroffnet.
Weblinks Homepage katzeq.app (Trailer, Link zu App-Stores)
Unterrichtsmaterialien auf katzeq.app
Entwicklerseite mit Medienmaterial
Padagogisches Begleitmaterial zu Katze Q bei Goldener Spatz (PDF; 0,8 MB)
Web-Ausstellung „Schaufenster – Blick in unsere Forschung“ des Exzellenzclusters ct.qmat
Einzelnachweise
|
Katze Q – ein Quanten-Adventure (englische Version: Kitty Q – a Quantum Adventure) ist ein digitales Lernspiel und Point-and-Click-Adventure fur Physik aus dem Jahr 2021 im Comic-Stil fur Handys. Es wurde von dem App-Designer Philipp Stollenmayer im Auftrag und unter Mitwirkung eines gemeinsamen Exzellenzclusters der Technischen Universitat Dresden und der Universitat Wurzburg entwickelt. Das Spiel richtet sich an Kinder und Jugendliche und soll uber das Design insbesondere Madchen fur das Thema Quantenphysik interessieren. Es lasst sich ohne Mathematik- und Physikkenntnisse spielen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Katze_Q"
}
|
c-458
|
Mihonoseki (japanisch 美保関隕石 Mihonoseki inseki) ist ein Steinmeteorit, der am Abend des 10. Dezember 1992 in ein Privathaus im japanischen Ort Mihonoseki einschlug. Mihonoseki gehort seit 2005 zur Stadt Matsue in der Prafektur Shimane (Region Chugoku). Der Steinmeteorit ist ein gewohnlicher Chondrit der Gruppe L6.
Geschichte Wahrend eines Gewitters fiel am Abend des 10. Dezember 1992 ein Meteorit in ein zweistockiges Haus. Das geschah um 21 Uhr Ortszeit. Wegen des Gewitters mit Blitz und Donner hielten die Bewohner des Hauses, ein Ehepaar, den Einschlag fur einen Blitzschlag. Der Meteorit durchschlug beide Etagen und wurde erst am nachsten Abend unter dem Haus gefunden, nachdem ein Loch im Tatami-Fußboden bemerkt worden war. Um 20:58 Uhr und 20:59 Uhr hatten am Tag des Einschlages mehr als 50 Augenzeugen am Himmel einen Feuerball gesehen, der in sudwestlicher Richtung zog. Er wurde in verschiedenen Prafekturen gesehen, und zwar in Wakayama, Osaka, Hyogo, Okayama und Hiroshima sowie auf der Insel Shikoku. Der Stein, der unter dem Haus gefunden wurde, hatte ein Gewicht von 6,38 kg und eine Große von 24 × 14 × 11 cm. In dem Raum, durch den der Meteorit gefallen war, wohnte die Mutter des Ehemannes. Sie war jedoch an diesem Tag im Krankenhaus, so dass sich niemand in dem Raum aufhielt.
Der Meteorit konnte am 13. Dezember 1992 am Nationalmuseum der Naturwissenschaften in Tokio analysiert werden. Es wurde herausgefunden, dass er ein Bestrahlungsalter von wahrscheinlich 61 Millionen Jahren hat.
Die Entdeckung dieses Meteoriten fuhrte zur Identifikation eines weiteren. Am 26. Marz 1991 hatte eine Schiffsbesatzung Schaden auf dem Metalldeck gefunden, nachdem sie von ihrer Mittagspause zuruckgekommen war, sowie einen Stein von 430 Gramm. Dies geschah auf dem RoRo-Autotransportschiff Century Highway No. 1, das fur ein paar Tage im Hafen von Toyohashi lag. Nachdem ein Mitglied der Schiffsbesatzung am 28. Dezember 1992 einen Zeitungsartikel uber den Mihonoseki-Meteoriten gelesen hatte, dachte er, der Stein konne ebenfalls ein Meteorit sein. Tatsachlich stellte sich der Stein als Meteorit heraus, und zwar als H4–5-Chondrit, der inzwischen den Namen Tahara tragt.
Nach dem Mann, in dessen Haus der Mihonoseki-Meteorit gefallen war, Masaru Matsumoto (* 1936), wurde am 18. Marz 2003 ein Asteroid benannt: (9573) Matsumotomas.
Der Meteorit Mihonoseki ist dauerhaft auf der Meteor Plaza am Matsuer Shichirui-Hafen ausgestellt. Das kegelformige Dach des Museumsgebaudes symbolisiert die Flugbahn des Meteoriten und die spharoide Form des Museumsgebaudes selbst hat die Form des Meteoriten.
Zusammensetzung Im Haus wurden zwei Tage nach dem Einschlag mithilfe eines Magneten noch mehrere kleine Splitter des Meteoriten gefunden. Bei einer Untersuchung von zwei Millimeter großen Fragmenten zeigten sich unter anderem die Minerale Kamacit, Taenit und Troilit.
Weblinks Mihonoseki in der Meteorological Bulletin Database (englisch)
Foto des Meteoriten in der Encyclopedia of Meteorites
Einzelnachweise
|
Mihonoseki (japanisch 美保関隕石 Mihonoseki inseki) ist ein Steinmeteorit, der am Abend des 10. Dezember 1992 in ein Privathaus im japanischen Ort Mihonoseki einschlug. Mihonoseki gehort seit 2005 zur Stadt Matsue in der Prafektur Shimane (Region Chugoku). Der Steinmeteorit ist ein gewohnlicher Chondrit der Gruppe L6.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Mihonoseki_(Meteorit)"
}
|
c-459
|
Die Heilige Brucke ist eine Brucke fur Fußganger und Radfahrer in Leipzig. Sie fuhrt uber den Elstermuhlgraben, der hier den alten Flusslauf der Weißen Elster nutzt.
Lage und Gestalt Die Heilige Brucke verbindet im Leipziger Bachviertel im Ortsteil Zentrum-West die Moschelesstraße mit der Straße Am Elsterwehr. Die am Elstermuhlgraben vorhergehende Brucke ist der Peterssteg, die nachfolgende die Marschnerbrucke.
Die Heilige Brucke ist eine Stahlbogenbrucke von 25 Metern Lange und 4,5 Metern Breite. Außer den Uferauflagern besitzt sie zwei Stutzen. Der Bodenbelag ist Kunststoff, der von in das Gelander integrierten Bodenstrahlern beleuchtet wird. Auf der Unterseite der Brucke verlaufen Versorgungsleitungen. Die Gelander bestehen aus einem Gitterwerk mit einem oberen Sicherungsrohr und einem Handlauf.
Geschichte Am Ort der heutigen Brucke war eine alte Bruckenstelle uber die Elster zu den westlich Leipzigs gelegenen Wiesen. Auf einer Karte von 1806 trug die Brucke bereits den heutigen Namen. Damals noch ein Holzsteg, wurde sie seither, inzwischen lange innerhalb der Stadt liegend, mehrfach erneuert, bisher letztmalig zum Beginn der 2000er Jahre. Nach dem Plan des Leipziger Architekturburos Bernd Sikora wurde die oben beschriebene Stahlbogenbrucke 2003 fertiggestellt.
Zum Namen Der Name der Brucke ist mit einer Leipziger Sage verbunden. Ferdinand Backhaus hat sie 1844 wohl als Erster – entsprechend ausgeschmuckt – in seinem Buch Sagen der Stadt Leipzig niedergeschrieben. Andere Varianten stammen von Johann Georg Theodor Grasse (1855) sowie Jurgen Friedel in Leipzig-Lese.
Der Inhalt der Sage lautet kurz gefasst: Nach einer Intrige und einer Verwechslung nahm eine Zwillingsschwester die Todesstrafe auf sich, die uber ihre Schwester verhangt worden war, nachdem diese – der Liebe wegen – aus dem Leipziger Zisterzienserinnenkloster St. Georg geflohen war. Vollstreckt wurde die Todesstrafe durch Ertranken an der Stelle der Brucke. Als die noch Lebende vom Opfertod ihrer Schwester erfuhr, verlor sie die Lust am Leben und wurde eines Tages tot an der Brucke gefunden. Bald wurde die Schwesternliebe allerorts gepriesen, und man sprach von den beiden wie von Heiligen; daher der Name der Brucke.
Literatur Peter Schwarz: Das tausendjahrige Leipzig. Von den Anfangen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 1. Auflage. Band 1. Pro Leipzig, Leipzig 2014, ISBN 978-3-945027-04-2, S. 52.
Weblinks Andre Loh-Kliesch: Heilige Brucke. In: Leipzig-Lexikon. Abgerufen am 27. Dezember 2023
Bernd Sikora: Heiligenbrucke uber die Weiße Elster in Leipzig (2003). In: miriquidimedia.de. Abgerufen am 27. Dezember 2023
Die Heiligenbrucke. Ersatzneubau uber den Elstermuhlgraben, in: Das Leipziger Waldstraßen- und Bachstraßenviertel. Eine Dokumentation der stadtebaulichen Erneuerung im Forderprogramm „Stadtebaulicher Denkmalschutz“. In: static.leipzig.de. Stadt Leipzig, S. 62–63, abgerufen am 7. Marz 2025.
Einzelnachweise
|
Die Heilige Brucke ist eine Brucke fur Fußganger und Radfahrer in Leipzig. Sie fuhrt uber den Elstermuhlgraben, der hier den alten Flusslauf der Weißen Elster nutzt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Brücke_(Leipzig)"
}
|
c-460
|
Hendrika Wilhelmina Jacoba van der Pek (* 9. Januar 1867 in Amsterdam; † 23. August 1926 in Ankeveen) war eine niederlandische Malerin.
Leben und Werk Hendrika van der Pek wurde am 9. Januar 1867 in Amsterdam geboren. Ihr Vater war Jan Ernst van der Pek und ihre Mutter Anna Maria Ziegelaar. Sie heiratete am 30. April 1896 ihren Lehrer, den Maler Egbert Schaap. Sie besuchte die Rijksnormaalschool voor Teekenonderwijzers und die Rijksakademie van beeldende kunsten in Amsterdam. Ihre Lehrer waren ihr spaterer Mann Egbert Schaap und Rudolf Stang. Sie gehorte der Kunstlervereinigung Arti et Amicitiae an.
Nach der Hochzeit zog sie mit ihrem Mann in das malerische Dorfchen Kortenhoef. Dort lebten und arbeiteten sie. Sie waren zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Ruderboot unterwegs, um in der freien Natur zu malen. Ihre farbenfrohen Werke strahlen fast immer eine unbeschwerte Stimmung aus. Gerne ging sie auf Reisen. Einige ihrer Landschaftsbilder erinnern an diese Reisen durch Frankreich, Deutschland und Italien.
Hendrika Schaap starb am 23. August 1926 in Ankeveen.
Sie gehorte – sechs Jahre nach ihrem Tod – als Kunstlerin zum Team Niederlande im Rahmen der Kunstwettbewerbe bei den Olympischen Sommerspielen 1932 in Los Angeles. Dort wurden zwei ihrer Werke, Jumping Horseman und Harbor for Yachts, eingereicht.
Ausstellungen 1892: 2. Jahresausstellung St. Lucas
1911: Vereeniging Sint Lucas (1), 21. Jahresausstellung
1911: Vereeniging Sint Lucas (2) : Ausstellung von Aquarellen, Zeichnungen, Grafiken und Kleinskulpturen von Vereinsmitgliedern
1912: Werke von Mitgliedern des Haager Kunstkreises
1912: Ausstellung von Gemalden, Aquarellen, Zeichnungen, Topferwaren und anderen Kunstwerken, die zugunsten des offentlichen Sanatoriums „Herema-State“ in Joure verlost werden
1912: Sint Lucas
1913: Sint Lucas Association, 22. Jahresausstellung
Einzelnachweise Weblinks Hendrika van der Pek auf artindex.nl
|
Hendrika Wilhelmina Jacoba van der Pek (* 9. Januar 1867 in Amsterdam; † 23. August 1926 in Ankeveen) war eine niederlandische Malerin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hendrika_van_der_Pek"
}
|
c-461
|
Der Martinique-Vulkanfrosch (Allobates chalcopis) ist eine vom Aussterben bedrohte Froschart aus der Familie der Aromobatidae. Er ist endemisch auf der Karibikinsel Martinique und der einzige bekannte Aromobatid, der nur auf einer Ozeaninsel vorkommt.
Taxonomie Die Art unterscheidet sich deutlich von ihren nachsten Verwandten, was durch molekulargenetische, morphologische und okologische Daten belegt wird. Dies unterstutzt die Hypothese, dass es sich um eine eigenstandige endemische Art handelt.
Ursprung und Verbreitung Der Ursprung der Art kann bis ins Bergland von Guyana zuruckverfolgt werden, wo ihre nachsten Verwandten der Gattung Allobates leben.
Allobates chalcopis wurde ursprunglich aus den bewaldeten Schluchten des Mont Pele auf Martinique beschrieben. Ihr heutiges Verbreitungsgebiet beginnt in der Ubergangszone zwischen Wald und Savanne, wobei die Savanne die hoher gelegene Vegetationsform darstellt. Bei einer Untersuchung im Jahr 2012 wurde die Art auch am Piton Boucher in den Carbet-Bergen sudostlich von Pelee auf 1.000 m Hohe gefunden.
Die Art bevorzugt dunkle und besonders feuchte Mikrohabitate. Unterhalb des Gipfels des Mont Pele bildet die Vegetation dichte Teppiche mit einer Dicke von fast einem Meter und besteht insbesondere aus Farnen, kleinen Strauchern, Moos und Torfmoos. In den feuchten Zwischenraumen und Erdspalten, die oft mit abgestorbenem Pflanzenmaterial, Wurzeln und Stangeln gefullt sind, entwickeln sich die kleinen Frosche. Die Mannchen rufen aus dieser Vegetation und locken damit die Weibchen an.
Merkmale Die Mannchen haben eine Kopf-Rumpf-Lange von ca. 17 mm, die Weibchen von ca. 16–18 mm. Die Oberseite ist hellbraun mit einer dunkleren Zeichnung. Die Mannchen haben eine ausgepragte schwarze Kehle, die in ein dunkles Grau ubergeht, wahrend die Weibchen eine einheitlich hellorange Kehle und Bauch haben. Der Kopf ist etwas breiter als lang und die Schnauze kurz und rund. Der Augendurchmesser liegt bei rund 3 mm und die Große des Tympanums bei etwa 40 Prozent des Augendurchmessers. Zwischen den Fingern befinden sich keine Schwimmhaute und zwischen den Zehen nur kaum sichtbare Ansatze. Der erste Finger ist fast genauso lang wie der zweite. Die Zehen weisen kleine, runde Tuberkel auf.
Die Kaulquappen sind terrestrisch, d. h. sie entwickeln sich in Moos und feuchter Vegetation anstatt in einem offenen Wasserkorper. Durch ihre endotrophe Ernahrung aus den Dotterreserven der Eier sind sie nicht auf aktiven Nahrungserwerb angewiesen. Ihr Korper ist ventral abgeflacht und sie erreichen eine Lange von mindestens 12 Millimetern, bevor sie sich durch Metamorphose in Frosche verwandeln.
Die Art kann leicht mit Johnstones Pfeiffrosch (Eleutherodactylus johnstonei) oder Eleutherodactylus martinicesis verwechselt werden, das Vorhandensein von Schuppen an den Fingern ermoglicht jedoch eine schnelle Unterscheidung.
Bedrohung und Schutz Der Erhaltungszustand der Art ist besorgniserregend, da sie mehreren Bedrohungen ausgesetzt ist. Die Weltnaturschutzunion hat den Martinique-Vulkanfrosch 2021 aufgrund des Verlusts seines Lebensraums und aufgrund des Klimawandels als „vom Aussterben bedroht“ eingestuft. Auch national wird er als vom Aussterben bedroht gelistet. Die Populationen scheinen mit dem Ruckgang ihres Lebensraums zu schrumpfen. Die Qualitat des Lebensraums wurde in der Vergangenheit auch durch den Einsatz von Pestiziden in Bananenplantagen beeintrachtigt. Die Art kommt in den Naturreservaten Pitons du Carbet und Montagne Pelee vor. Sie steht seit 14. Oktober 2019 unter gesetzlichem Schutz.
Weblinks Allobates chalcopis. In: AmphibiaWeb. University of California, Berkeley, CA, USA; abgerufen am 21. Januar 2024 (englisch).
Allobates chalcopis. Darrel R. Frost und das American Museum of Natural History; abgerufen am 21. Januar 2024 (englisch).
Martinique-Vulkanfrosch (Allobates chalcopis) – CR in der Roten Liste gefahrdeter Arten der IUCN 2021.
Einzelnachweise
|
Der Martinique-Vulkanfrosch (Allobates chalcopis) ist eine vom Aussterben bedrohte Froschart aus der Familie der Aromobatidae. Er ist endemisch auf der Karibikinsel Martinique und der einzige bekannte Aromobatid, der nur auf einer Ozeaninsel vorkommt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Martinique-Vulkanfrosch"
}
|
c-462
|
Isaac Delgado (* 23. November 1839 in Kingston, Jamaika; † 4. Januar 1912 in New Orleans) war ein Geschaftsmann mit Schwerpunkt auf der Produktion von und dem Handel mit Melasse und Zucker sowie Philanthrop. Er immigrierte in den 1850er-Jahren von Jamaica nach New Orleans, wo er unter anderem ein Operations-Zentrum fur das Charity Hospital, das New Orleans Museum of Art sowie das heutige Delgado Community College stiftete.
Leben Isaac Delgado wurde am 23. November 1839 als altestes der zwolf Kinder von Henry Delgado in Kingston auf Jamaika geboren. Laut dem Historiker Prescott Dunbar hatte Delgados Großonkel, Moses Delgado, mit einer an die britische Regierung gerichteten Petition 1831 die politische Freiheit der Juden auf Jamaika erreicht. Im Alter von 14 Jahren entschied sich Isaac Delgado zu seinem Onkel Samuel Delgado nach New Orleans uberzusiedeln, um die Last seines Vaters, eine so große Familie zu ernahren, zu mindern und sein eigenes Leben selbststandig zu bestreiten. Durch die Vermittlung seines Onkels erhielt Delgado eine Stelle als Angestellter eines Buchhalters bei einer Dampfschiffgesellschaft. Isaac Delgado lebte im Haus seines Onkels an der Adresse 218 Philip Street, nahe dem Mississippi im heutigen Warehouse District, und zog dann mit ihm in das Anwesen 1220 Philip Street im Garden District, das Delgado erbte und wo er dann auch verstarb.
Die Delgado-Familie war prominentes Mitglied der Sephardim-Gemeinschaft auf Jamaika und erfolgreich in der dortigen Zuckerindustrie tatig. Samuel Delgado kam 1850 in New Orleans an und nutzte seine Kenntnisse in diesem Geschaftsfeld, um auf dem rasch wachsenden Zucker-Markt der Stadt Fuß zu fassen. Er grundete die Marklerfirma Delgado and Company an der Adresse 29 Natchez Street und residierte mit dieser dann in der 25 North Peters Street. Von 1887 bis zu seinem Tod 1905 teilte er sich ein Buro mit Isaac Delgado an der Adresse 201-103 North Peters Street, das hinter dem Custom House auf der Sugar Row gelegen war. Spatestens ab 1889 leitete Isaac Delgado die Geschafte, wenn sein Onkel abwesend war. Auf Basis der Reputation seines Onkels, der 1883 an der Grundung der New Orleans Sugar Exchange beteiligt war, und mit dem bei diesem erworbenen Wissen grundete Delgado zusammen mit George Boutcher, Samuel Snodgrass und George Allain die Firma Delgado and Co., Inc., behielt aber die alten Geschafts- und Buroraume bei. 1885 ging die Albania Sugar Plantation in Jeanerette, Louisiana durch eine Zwangsvollstreckung in den Besitz der Delgados uber und lief uber viele Jahre profitabel. Der Großteil des Vermogens stammte jedoch aus dem Zuckerhandel.
Delgado war sein Leben lang Junggeselle, jedoch mit der reichen und freidenkenden Elleonora Moss, die ebenfalls im Garden District lebte, eng befreundet. Moss war eine der engsten Freundinnen von Delgados Tante Virginia, als diese 1906 verstarb, und stand ihm in dieser Zeit bei. Mit dieser Bekanntschaft begann sein offentliches, philanthropisches Engagement. Vermutlich hat Moss Delgado angeregt mit 20.000 Dollar aus dem Nachlass seiner Tante und 180.000 Dollar aus seinem eigenen Vermogen das Delgado Memorial Building fur das Charity Hospital zu stiften, welches am 19. Dezember 1908 eingeweiht wurde. An ihn in diesem Zusammenhang herangetragene politische Ambitionen lehnte Delgado ab. Trotz seines judischen Familienhintergrundes besuchte er wie andere Geschaftsleute auch die Trinity Episcopal Church in der Jackson Avenue und richtete seine Wohltatigkeit nicht nach religioser Zugehorigkeit aus, sondern widmete sie der Offentlichkeit im Allgemeinen. Neben dem Charity Hospital ließ er auch anderen medizinischen Einrichtungen in New Orleans Mittel zukommen.
Delgado ließ 1909 inspiriert durch Elleonora Moss einen Zusatz zu seinem Testament aufsetzen, in dem er den Rest seines Nachlasses – darunter unter anderem die profitable Albania Sugar Plantation – der Stadt New Orleans vermachte, damit diese eine Handwerksschule fur Jungen errichten konnte. Die Stadt kaufte mit Mitteln aus diesem Nachlass 23 Hektar Land an der Grenze zum City Park, auf dem der City Park Campus des heutigen Delgado Community College errichtet wurde. Ein Großteil des Geldes floss in die Errichtung des Hauptgebaudes an der City Park Avenue. Im September 1921 wurde die Delgado Central Trades School eroffnet und diente anfangs der Ausbildung von 1300 Jungen. In den 1960er-Jahren erfolgte dann die Umwandlung zum Community College.
Im Jahr 1910 spendete Delgado 150.000 Dollar an die City Park Improvements Association, damit im City Park ein Kunstmuseum fur die Stadt errichtet werden konnte. Bob Monie beschreibt, dass Elleonora Moss dem unter Nephritis und Sehschwache leidenden Delgado bei Autofahrten durch die Stadt vorlas und ihm bei einer dieser Gelegenheiten von dem Wunsch seiner verstorbenen Tante berichtete, dass fur New Orleans ein Kunstmuseum eingerichtet werden sollte. Eine solche Institution konnte auch die Kunstwerke und Einrichtungsgegenstande beherbergen, die Delgado fur seine Tante erworben hatte und die sich noch im Anwesen befanden. Zusammen mit dem Zuckerhandler Pierre A. Lelong, mit dem er gemeinsam Mitglied im Boston Club und im Chess, Checkers, and Whist Club und der Ratsmitglied der City Park Improvements Association war, suchte Delgado nach einem Standort fur das Museum. Lelong konnte das Bauland fur das Gebaude schnell sichern und Delgado war mit einem freien Architekturwettbewerb einverstanden. Gemeinsam mit dem Stiftungsrat entschied er sich fur den Entwurf von Samuel A. Marx. Am 22. Marz 1911 wurde der Grundstein fur das Museumsgebaude gelegt, am 16. Dezember desselben Jahres folgte die Eroffnung des Delgado Art Museums. 1971 benannte das Board of Trustees die Institution in New Orleans Museum of Art um. Die von Delgado eingebrachten Kunstgegenstande gehoren nicht zum qualitativen Kernbestand des Museums, dessen Sammlung erheblich erweitert wurde.
Am 12. Januar 1912 verstarb Isaac Delgado in New Orleans. Seine Bedeutung wird dadurch unterstrichen, dass er und der am selben Tag verstorbene Gouverneur des Bundesstaates Louisiana, Francis T. Nicholls, von der Zeitung The Daily Picayune auf der Titelseite beide mit einer Abbildung und gleich langen Texten gewurdigt wurden. Isaac Delgado wurde im Familiengrab auf dem Metairie Cemetery bei seinem Onkel und seiner Tante bestattet.
Weblinks Bob Monie, A Civic-Minded Man in an Uncivil World: A Profile of Isaac Delgado, 23. November 2011, delgado90.blogspot.com.
Isaac Delgado, in: Louisiana Historical Society (Hrsg.), An Encyclopedia of Louisiana Biography, archivierte Version vom 25. September 2016.
Einzelnachweise
|
Isaac Delgado (* 23. November 1839 in Kingston, Jamaika; † 4. Januar 1912 in New Orleans) war ein Geschaftsmann mit Schwerpunkt auf der Produktion von und dem Handel mit Melasse und Zucker sowie Philanthrop. Er immigrierte in den 1850er-Jahren von Jamaica nach New Orleans, wo er unter anderem ein Operations-Zentrum fur das Charity Hospital, das New Orleans Museum of Art sowie das heutige Delgado Community College stiftete.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Isaac_Delgado"
}
|
c-463
|
Schloss Pouch (Aussprache mit Dehnungs-u: [pʰoːx] bzw. Pohch) befindet sich in Pouch als einem Ortsteil und Verwaltungssitz der Gemeinde Muldestausee im Landkreis Anhalt-Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Vorlauferanlage des Schlosses war eine bereits im Jahr 981 bestehende Burg am Ufer der Mulde. Heute liegt das Schloss am Ufer des als Tagebaurestsee neu entstandenen Großen Goitzschesees. Das denkmalgeschutzte Schloss ist eine weithin sichtbare Landmarke.
Geschichte Im 10. Jahrhundert wurde das eroberte slawische Siedlungsgebiet durch zahlreiche deutsche Burgwarde entlang der Mulde befestigt, so auch an der Stelle einer Burg als Vorlaufer des heutigen Schlosses in Pouch. Die Ersterwahnung der Burg im Jahr 981 ist aus der Chronik des Bischofs Thietmar von Merseburg bekannt. Die Burg maß etwa 50 × 80 Meter und hatte einen holzernen Wehrturm. Der Steilhang zur Mulde sicherte die Burg auf naturliche Weise nach Westen und Suden. An ihrer Nord- und Ostseite wurde die Anlage durch mit Palisaden bewehrte Walle und durch Graben gesichert. Reste davon sind noch heute im Schlosspark erhalten.
Im 13. Jahrhundert wurde der holzerne Wehrturm durch den bis heute existierenden so genannten „Roten Turm“ ersetzt. Mit der Entwicklung der Waffentechnik verlor die Burg ihre einstige militarische Bedeutung und wandelte sich allmahlich zum Wohnschloss mit drei Turmen und den Wohn- und Wirtschaftsgebauden. Im Dreißigjahrigen Krieg wurden der Ort Pouch und das Schloss geplundert und niedergebrannt. Um 1800 wurde ein weitlaufiger Landschaftspark angelegt. Nach einem 1816 durch Blitzschlag ausgelosten Brand blieben nur der Rote Turm und der ostlich gelegene zweite Wohnturm erhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts gehorte dem Grafen Wilhelm zu Solms-Sonnenwalde sowohl Schloss Sonnewalde in der Niederlausitz wie auch Schloss Pouch, Hauptwohnsitz blieb lange Sonnewalde. Mehrfachbesitzer aller Guter oder Teilinhaber dessen waren auch die Grafen Theodor zu Solms-Sonnewalde und sein Sohn Peter zu Solms-Sonnenwalde.
Nach der Vereinigung der beiden Herrschaften Alt- und Neu-Pouch im Jahre 1865 erfolgte eine grundliche Neugestaltung des alten Burgplateaus. 1868 wurde ein neues Schlossgebaude errichtet. 1877 wurden die Außengebaude abgebrochen. 1923 wurde das Außere des Schlosses verandert. Im Schloss Pouch wohnten bis Ende des Zweiten Weltkrieges Angehorige des Geschlechtes der Grafen von Solms-Sonnewalde.
Nach ihrer Enteignung 1945 wurde das Schloss als Pflegeeinrichtung fur alte und psychisch kranke Personen genutzt. 1948 und 1949 wurde sudlich des Schlosses der Tagebau Goitzsche aufgeschlossen, wofur die Mulde unterhalb des Burgberges nach Osten verlegt wurde. Nach Schließung des Tagebaus entstand durch Flutung bis 2002 der Große Goitzschesee.
In den 1990er Jahren wurde das im Schloss ansassige Heim geschlossen. Es folgten Jahre des Leerstandes. Fur die Expo 2000 wurde das Schloss als Ausstellungsort genutzt, danach stand es wieder leer. 2008 wurde es an ein ortsansassiges Forschungsunternehmen verkauft und 2018 an einen Investor zum Zwecke der Wohnraumschaffung weiterverkauft.
2022 und 2023 fanden archaologische Ausgrabungen des Landesamtes fur Denkmalpflege und Archaologie (LDA) Sachsen-Anhalt auf dem Schlossplateau statt, bei denen u. a. der bisher nur aus Schriftquellen bekannte dritte Wohnturm und der Keller eines weiteren Schlossgebaudes ostlich der jetzigen Bebauung nachgewiesen werden konnten. 2023 begannen am Schloss die Umbauarbeiten zu Wohnzwecken.
Gebaude und Anlagen = Roter Turm =
Der Name ist sicherlich auf die roten Ziegel, aus denen er besteht, zuruckzufuhren. Errichtet wurde er im 13. Jahrhundert als Bergfried und hatte ursprunglich einen Zinnenkranz. Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Zinnen zugemauert und der Turm auf 26 Meter erhoht. Der nur uber eine Leiter erreichbare Eingang auf der ostlichen Seite wurde ebenfalls zugemauert und in der Sudseite ein neuer Zugang angelegt. Vom 15. bis 18. Jahrhundert wurde der Turm als Gericht und Gefangnis (Fronfeste) genutzt. Ende des 19. Jahrhunderts ließ der Besitzer des Schlosses Graf Solms-Sonnenwalde den Turm restaurieren und als Aussichtspunkt ausbauen.
Anlasslich der 1000-Jahr-Feier der Ersterwahnung von Pouch im Jahre 1981 wurde eine freitragende Treppe eingebaut. 2016 wurde der Turm wegen der maroden Wendeltreppe gesperrt und nach der Sanierung im Jahre 2018 wieder eroffnet.
Daten:
Hohe: 26 Meter
Hohe bis Aussichtsplattform: 20 Meter (105 Stufen)
Mauerdicke am Fuß: 3,0 Meter
Lichte Weite innen: 2,25 Meter (3,25)
= Schloss =
Ursprung des Schlosses ist die oben erwahnte Burganlage aus dem 10. Jahrhundert, deren Befestigungen neueren Erkenntnissen zufolge schon aus dem 9. Jahrhundert stammen. Das Schloss bestand im 15. Jahrhundert neben dem runden „Roten Turm“ aus zwei Wohnturmen uber viereckigem Grundriss, dem Haupthaus der Burgherren und einigen Nebengebauden. 1670 ließ Otto Heinrich zu Sonnenwalde, der zur Solms`schen Familienlinie Sonne(n)walde-Pouch gehorte, an Stelle des 1637 im Dreißigjahrigen Krieg abgebrannten Schlossgebaudes ein neues errichten.
Im Jahre 1816 schlug der Blitz ein, wodurch einer der Wohnturme mit dem ganzen Ostflugel des Schlosses abbrannte. Die Reste wurden abgetragen und nicht wieder aufgebaut. Danach existierten fur eine Weile nur der Rote Turm und der wegen seines Verputzes auch „Weißer Turm“ genannte Wohnturm aus dem 14. Jahrhundert. Der rechteckige funfgeschossige Turm hat spitzbogige Fenster und eine geschweifte Haube.
1868 wurde an Stelle der zerstorten Bauten, vermutlich unter Verwendung der Kellermauern, ein zweigeschossiges neogotisches Schlossgebaude mit zwei Flugeln erbaut. Es hat uber einem hohen Kellergeschoss zwei Wohngeschosse. In den Nordflugel wurde der aus dem 14. Jahrhundert stammende Wohnturm integriert.
1923 erhielt das Schloss das bis 2023 bestehende Ziegelmansardwalmdach, die Fassade wurde vereinfacht.
2023 begann der Ausbau des Schlosses zu Wohnungen.
= Ritterguter und Wirtschaftsgebaude =
Von den Wirtschaftsgebauden des ehemaligen Rittergutes ist die Ruine einer Scheune nordlich des Schlosses erhalten. Das Rittergut Neu-Pouch hatte 1922 einen Umfang von 547 ha, Alt-Pouch von 629 ha.
= Schlosspark =
Um 1800 wurde ein weitlaufiger Landschaftspark angelegt, der entsprechend der Topografie mit dem Burghugel in der Mitte durch Terrassierungen gepragt ist. Im 19. und 20. Jahrhundert erfolgten Veranderungen des 1,2 ha großen Parks.
Literatur Ute Bednarz: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmaler. Sachsen-Anhalt, 2 (Regierungsbezirke Dessau und Halle), Hrsg. Georg Dehio/Nachfolge/Dehio-Vereinigung e.V., Deutscher Kunstverlag, Munchen/ Berlin 1999, ISBN 3-422-03065-4, S. 668.
Bruno J. Sobotka, Jurgen Strauss: Burgen, Schlosser, Gutshauser in Sachsen-Anhalt. In: Veroffentlichungen der Deutschen Burgenvereinigung. C: Burgen, Schlosser, Gutshauser. Verlag Theiss, Stuttgart 1994, ISBN 3-8062-1101-9, S. 417.
Gustav Schonermark [Hrsg.]: Beschreibende Darstellung der alteren Bau- und Kunstdenkmaler der Provinz Sachsen. (Band 17): Beschreibende Darstellung der alteren Bau- und Kunstdenkmaler des Kreises Bitterfeld. Halle a. d. S. 1893, S. 62, u. S. 103.
Alexander Duncker: Die landlichen Wohnsitze, Schlosser und Residenzen der ritterschaftlichen Grundbesitzer in der preussischen Monarchie nebst den koniglichen Familien-, Haus-Fideicommiss-Schatull-Gutern in naturgetreuen, kunstlerisch ausgefuhrten, farbigen Darstellungen; nebst begleitendem Text. Band 12, Selbstverlag, Berlin 1873, No. 699.
Quellen Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA)/Online-Recherche/Volltextsuche/12 Eintrage: Pouch-zu Solms, u. a. ff.
Sammlung von Schriftstucken verschiedenen Inhalts zur Geschichte der Besitzungen der Grafen zu Solms, insbesondere des Besitzes Pouch; 1601-1725 (Akte), In: BLHA Rep. 37 (Gutsarchiv) Sonnewalde 2319; ff.
Inventar uber die Hinterlassenschaft des Herrn Otto Heinrich Graf zu Solms im Schloß Pouch; 1712 (Akte), In: BLHA Rep. 37 Sonnewalde 2081
Weblinks Roter Turm
Einzelnachweise
|
Schloss Pouch (Aussprache mit Dehnungs-u: [pʰoːx] bzw. Pohch) befindet sich in Pouch als einem Ortsteil und Verwaltungssitz der Gemeinde Muldestausee im Landkreis Anhalt-Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Vorlauferanlage des Schlosses war eine bereits im Jahr 981 bestehende Burg am Ufer der Mulde. Heute liegt das Schloss am Ufer des als Tagebaurestsee neu entstandenen Großen Goitzschesees. Das denkmalgeschutzte Schloss ist eine weithin sichtbare Landmarke.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Pouch"
}
|
c-464
|
Die Concerts de la Pleiade waren eine Konzertreihe, die ab 1943 in Paris wahrend der deutschen Besetzung durchgefuhrt wurde. In den Konzerten wurden wahrend des Kriegs ausschließlich, nach dem Krieg uberwiegend Werke franzosischer Komponisten gespielt. Dazu gehorten viele Urauffuhrungen von unveroffentlichten Werken lebender Kunstler. Nach manchen Quellen verstanden die Mitwirkenden die Konzerte als kunstlerischen Akt des Widerstands. Der Name der Reihe spielt auf die Bibliotheque de la Pleiade an, eine Buchreihe mit reprasentativer franzosischer Literatur, deren Verleger Gaston Gallimard die Konzerte finanzierte. Die Konzerte wurden von der Filmregisseurin und -produzentin Denise Tual und dem Musikwissenschaftler Andre Schaeffner organisiert und nach dem Ende der Besetzung noch bis 1947 fortgesetzt.
Konzeption der Konzerte Die Idee zu den Concerts de la Pleiade entwickelten 1942 Gaston Gallimard, der Verleger der Nouvelle Revue Francaise, und Denise Tual, die zusammen mit Andre Schaeffner, Roger Desormiere und Nadia Boulanger die Konzerte organisierte. Tual zufolge war es Gallimards Vorschlag, diesem Projekt den Namen der in seinem Verlag erscheinenden renommierten Bibliotheque de la Pleiade zu geben. Die Einladungen uber das Netzwerk des Verlegers verschafften den Konzerten ein Publikum, zu dem nicht nur Musiker, sondern auch viele namhafte Schriftsteller, Kritiker und weitere Akteure des Kulturlebens gehorten.
Man gab den Pleiade-Konzerten in der Anfangszeit ausdrucklich den Untertitel „Franzosische Musik“ und beschrankte sich wahrend der Dauer des Krieges konsequent auf franzosische Komponisten. Auffallig groß ist der Anteil von Werken, die zeitgenossische franzosische Dichtung vertonen. Dies wurde als passend fur eine von einem Verleger finanzierte Konzertreihe, aber auch als typisch fur die franzosische Musik der Gegenwart und als Manifestation der Selbstbehauptung in der Besatzungszeit empfunden.
Historische Einordnung Die Konzertreihe ist als Akt des kunstlerischen Widerstands gegen die deutsche Besatzungsmacht beschrieben worden. Anderen Quellen zufolge sah Gallimard in der Musik vor allem eine unpolitische Kunstform. Sie bot ihm den unverfanglichsten Anlass, zu einer offentlichen Versammlung im besetzten Paris einzuladen und so den intensiven personlichen Austausch mit seinen Autoren aufrechtzuerhalten.
Denise Tual gibt in ihren Erinnerungen an, dass die Deutschen es ausdrucklich verboten hatten, unveroffentlichte Werke franzosischer Komponisten in offentlichen Konzerten zu spielen, weswegen die Konzerte nur fur Zuhorer mit personlichen Einladungen stattfinden konnten. Im Gegensatz dazu schrieb Leslie Sprout 2002: „Tatsachlich existierte niemals ein solches Verbot zeitgenossischer franzosischer Musik oder der Moderne im Allgemeinen in Frankreich. Paris war ein internationales Aushangeschild fur das Dritte Reich, und die Fortsetzung des aktiven und vielfaltigen Kulturlebens war unverzichtbare Propaganda dafur, wie ein neues Europa unter Naziherrschaft aussehen wurde. Die deutschen Machthaber hofften, dass eine nachgiebige Haltung gegenuber der franzosischen Kultur zur Kollaboration ermutigen wurde.“ Doch auch wenn die Auffuhrung neuer franzosischer Werke nicht generell untersagt war, waren die Bedingungen dafur zumindest nicht gunstig. Die Deutschen beaufsichtigten und kontrollierten in Zusammenarbeit mit dem Vichy-Regime das kunstlerische Leben und schlossen insbesondere judische Kunstler vollig davon aus.
Fur Musiker entstanden durch Auftritte bei den Concerts de la Pleiade in der Regel keine Probleme. Viele nahmen sowohl Engagements bei den Pleiade-Konzerten als auch bei Konzerten des deutschen Radio Paris wahr. Der Dirigent Maurice Hewitt beteiligte sich stark an der Organisation der Pleiade-Konzerte. Er trat in beiden Konzertreihen auf und war zugleich in der Resistance aktiv, bis er verhaftet und deportiert wurde.
Vergleichbare Initiativen in anderen Landern waren die von Paul Collaer organisierten Konzerte der Societe privee de musique de chambre zwischen 1942 und 1944 in Belgien sowie die Konzertreihen von Myra Hess, Hilda Bor und der City Music Society in London.
Konzertprogramme Im Rahmen der Concerts de la Pleiade gab es sechzehn Konzerte mit uber 90 Urauffuhrungen zwischen dem 8. Februar 1943 und dem 22. Mai 1947. Die ersten funf Konzerte fanden fur geladene Gaste in der Galerie d’art Charpentier in Paris statt. Ab Juni 1943 wurden die Konzerte offentlich an verschiedenen Pariser Veranstaltungsorten organisiert, z. B. in der Salle Gaveau, im Konzertsaal des Conservatoire oder im Theatre des Champs-Elysees.
Die Konzertprogramme bestanden im Wesentlichen aus klassischer und moderner franzosischer Musik, darunter immer wieder auch Werke junger und zum Teil wenig bekannter Komponisten. Noch unveroffentlichte Werke gehorten dazu wie z. B. Francis Poulencs Chansons villageoises (am 28. Juni 1943), Jean-Jacques Grunenwalds Concert d’ete und Andre Jolivets Poemes intimes auf Texte von Louis Emie, gesungen von Pierre Bernac (am 4. April 1944). Zu den Komponisten gehorten weiterhin Henri Sauguet, Jean Francaix, Henri Dutilleux, Igor Stravinsky, Maurice Ravel, Georges Auric und Maurice Delage. Unter den jungeren Komponisten sind die Boulanger-Schuler Leo Preger und Michel Ciry zu nennen, außerdem Raymond Gallois-Montbrun oder Emile Damais. Darius Milhaud, dessen Werke wahrend des Kriegs nicht aufgefuhrt werden durften, erscheint im Programm des 21. April 1945 mit seinen Quatrains valaisans auf Gedichte von Rainer Maria Rilke und erneut am 7. Dezember 1945.
Nach dem Kriegsende wurde die Beschrankung auf franzosische Komponisten aufgegeben. Der erste der wenigen Beitrage auslandischer Komponisten war im Konzert vom 23. November 1945 Benjamin Brittens Les Illuminations auf Texte von Arthur Rimbaud.
Zu den wichtigsten Urauffuhrungen gehoren diejenigen zweier Werke von Olivier Messiaen. Am 10. Mai 1943 spielte der Komponist zusammen mit Yvonne Loriod zum ersten Mal seine Visions de l’Amen. Auch seine Trois petites liturgies de la presence divine erklangen erstmals in einem Pleiade-Konzert am 21. April 1945.
Ein großer Anteil der Werke entstand nach zeitgenossischen literarischen Vorlagen. In diesem Sinn bildete die Pariser Erstauffuhrung von Francis Poulencs Kantate Figure humaine fur zwei gemischte Chore a cappella den symbolischen Abschluss des letzten Concert de la Pleiade am 22. Mai 1947. In ihr waren Gedichte aus Paul Eluards wahrend des Kriegs entstandener Sammlung Poesie et verite vertont.
Zu den Kunstlern, die in den Konzerten auftraten, gehorte das von Maurice Hewitt gegrundete und geleitete Orchestre Hewitt, das Orchestre de la Societe des concerts du Conservatoire unter der Leitung von Fernand Lamy (Mitgrunder der Jeunesses Musicales de la France), Andre Cluytens, Charles Munch und Roger Desormiere. Wiederholt traten die Chore von Emile Passani und Yvonne Gouverne auf. Bei den Sangern sind Irene Joachim und Jacques Jansen erwahnenswert.
Literatur Myriam Chimenes: Les Concerts de la Pleiade – La musique au secours de la sociabilite. In: Myriam Chimenes, Yannick Simon (Hrsg.): La Musique a Paris sous l’Occupation. Fayard, Paris 2013, ISBN 978-2-213-67663-0.
Nigel Simeone: Messiaen and the Concerts de la Pleiade: ‚A Kind of Clandestine Revenge against the Occupation‘. In: Music and Letters. Vol. 81, Nr. 4, 2000, JSTOR:854539.
Denise Tual: Le temps devore. Fayard, Paris 1980, ISBN 2-213-00830-2.
Weblinks Zusammenfassung der Geschichte der Concerts de la Pleiade auf der Homepage des Verlags Gallimard, veroffentlicht 2006–2007 in La Lettre de la Pleiade Nr. 25–27: 1. Teil, 2. Teil, 3. Teil
Dokumentation samtlicher Konzertprogramme: Peter Asimov, Yannick Simon: Concerts de la Pleiade (1943–1947). In: Dezede (online). Yannick Simon, 2013; abgerufen am 5. Januar 2024 (franzosisch).
Einzelnachweise
|
Die Concerts de la Pleiade waren eine Konzertreihe, die ab 1943 in Paris wahrend der deutschen Besetzung durchgefuhrt wurde. In den Konzerten wurden wahrend des Kriegs ausschließlich, nach dem Krieg uberwiegend Werke franzosischer Komponisten gespielt. Dazu gehorten viele Urauffuhrungen von unveroffentlichten Werken lebender Kunstler. Nach manchen Quellen verstanden die Mitwirkenden die Konzerte als kunstlerischen Akt des Widerstands. Der Name der Reihe spielt auf die Bibliotheque de la Pleiade an, eine Buchreihe mit reprasentativer franzosischer Literatur, deren Verleger Gaston Gallimard die Konzerte finanzierte. Die Konzerte wurden von der Filmregisseurin und -produzentin Denise Tual und dem Musikwissenschaftler Andre Schaeffner organisiert und nach dem Ende der Besetzung noch bis 1947 fortgesetzt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Concerts_de_la_Pléiade"
}
|
c-465
|
Magnus Hofberg war eine in Leipzig von 1891 bis 1930 existierende Instrumentenfabrik des gleichnamigen, aus Schweden stammenden Grunders Magnus Hofberg (1862–1919). Die Fabrik stellte Saugwindharmoniums nach „amerikanischem Prinzip“ und sogenannte Choral-Organetten her. Die Instrumente waren mit dem Hinweis „Hoflieferant I.M.d.K.v. Italien“, also „Hoflieferant Ihrer Majestat der Konigin von Italien“ (= Margarethe von Italien) versehen. Bis 1930 stellte Hofberg 28.500 Instrumente her.
Unternehmensgeschichte Der Unternehmenssitz befand sich durchgangig in Leipzig. Im Jahr 1893 war er in der Turnerstraße 49, von 1894 bis 1899 in der Lutznerstraße 24–26 in Leipzig-Lindenau. Im Jahr 1900 zog Hofberg in die nach eigenen Wunschen erbauten Gebaude in der Klingenstraße 20–22 in Leipzig-Plagwitz und verblieb dort bis zum Verkauf des Unternehmens an O. Lindholm im Jahr 1930.
Magnus Hofberg beschaftigte sich standig mit der Verbesserung der Technik und erhielt mehrere Patente auf eigene Erfindungen, wie die doppelte Winddruckteilung, sein selbstspielendes Autoharmonium und seinen Harmoniumspielapparat Leganola.
Technik In Hofbergs Harmoniums wird uber zwei Pedale ein Unterdruck erzeugt – daher auch die Bezeichnung Saugwindharmonium –, der durch von den Tasten gesteuerte Ventile Luft durch die jeweiligen Zungenregister saugt, so dass die Zungen in Schwingung versetzt werden und einen Ton erzeugen. Eine ausgeklugelte Unterdruckregelung sorgt fur gleichbleibende bzw. regulierbare Lautstarke, unabhangig von der Anzahl der gleichzeitig angeschlagenen Tone. Ein Begrenzungsventil in der Mitte des im Bild in der unteren Halfte sichtbaren Reservebalgs verhindert, dass ein zu großer Unterdruck aufgebaut wird.
= Zungenregister =
Die Ausstattung entsprach in der Regel der eines Normalharmoniums. Die Instrumente haben daher mehrere Zungenregister, die von der Tonhohe her 2-Fuß-, 4-Fuß- bzw. 8-Fuß-Registern einer Orgel entsprechen, gelegentlich auch 16-Fuß. Die Register erzeugen unterschiedliche Klangfarben. Eine typische Registerzusammenstellung mit 4- und 8-Fuß-Registern ist im Folgenden aufgefuhrt:
Viola (4 Fuß)
Diapason (8 Fuß)
Dulcet (8 Fuß)
Echo (8 Fuß)
Melodia (8 Fuß)
Vox Celeste (8 Fuß)
Flote (4 Fuß)
= Effektregister =
Als Zusatzeffekte haben die Instrumente in der Regel eine Vox Humana, also eine „menschliche Stimme“. Dieses Register aktiviert einen im Inneren des Harmoniums befindlichen, rotierenden Luftfacher, der einen Vibrato-Effekt erzeugt. Der Luftfacher wird ebenfalls mit Unterdruck angetrieben. Diese Form der Vox Humana unterscheidet sich in Klang und Ausfuhrung von der im Orgelbau ublichen Vox Humana.
Die Bass- und Diskantkoppel-Register aktivieren eine mechanische Oktavkopplung, so dass zu jedem gespielten Ton der jeweils eine Oktav tiefer (Basskoppel) bzw. hoher (Diskantkoppel) liegende Ton erklingt. Das Manual wird dabei in der Mitte geteilt. Die Basskoppel wirkt auf die tiefere Halfte, die Diskantkoppel auf die hohere.
Die „Forte I“- und „Forte II“-Register variieren die Lautstarke von Bass und Diskant uber eingebaute Klappen. Das ist dynamisch auch uber zwei Kniehebel moglich, die sich unterhalb des Manuals befinden.
Rezeption In der vierten Staffel der Fernsehserie Babylon Berlin sieht man in Minute 39 von Folge neun Alfred Nyssen – dargestellt von Lars Eidinger – auf einem Hofberg-Harmonium spielen und die Pedale betatigen. Das Harmonium wurde jedoch baulich mit einer Pfeifenorgel kombiniert und es erklingt Orgelmusik zu seinem Spiel.
Weblinks Hofberg Harmonium (Vox Humana) auf YouTube, 28. September 2020, abgerufen am 3. Januar 2024 (Laufzeit: 00:30 Min.). Demonstration und Funktion der Vox Humana
Verschiedene Klangbeispiele eines Hofberg Harmoniums vom Orgelverein Zurcher Weinland.
Einzelnachweise
|
Magnus Hofberg war eine in Leipzig von 1891 bis 1930 existierende Instrumentenfabrik des gleichnamigen, aus Schweden stammenden Grunders Magnus Hofberg (1862–1919). Die Fabrik stellte Saugwindharmoniums nach „amerikanischem Prinzip“ und sogenannte Choral-Organetten her. Die Instrumente waren mit dem Hinweis „Hoflieferant I.M.d.K.v. Italien“, also „Hoflieferant Ihrer Majestat der Konigin von Italien“ (= Margarethe von Italien) versehen. Bis 1930 stellte Hofberg 28.500 Instrumente her.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Magnus_Hofberg_(Instrumentenfabrik)"
}
|
c-466
|
Acoustic Kitty (englisch fur „akustische Mieze“) war in den 1960er Jahren ein Projekt des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA mit dem Ziel, Hauskatzen als Abhorgerate einzusetzen.
Hintergrund Spatestens nach Enttarnung und Hinrichtung des Doppelagenten Oleg Penkowski durch die Sowjetunion im Jahr 1963 begann die Technical Services Division der CIA, an besserer Ausrustung zu forschen. Zuvor erhielten Agenten noch die gleiche Ausrustung wie im Zweiten Weltkrieg. Neben technologischen Innovationen wie einer Kamera, die man in einem Stift verstecken konnte, fuhrte die CIA auch umstrittene Menschenversuche – etwa im MKULTRA-Programm – und Tierversuche durch, deren wissenschaftliche Aussagekraft im Nachhinein als gering beurteilt wird. Acoustic Kitty war eines der vielen Forschungsprojekte, die im Kalten Krieg verfolgt wurden.
Projekt Ursprunglich war geplant, einer Katze ein Halsband mit Mikrofon, Sender, Batterie und Antenne anzulegen. Mit der damaligen Technologie war es aber nicht moglich, ein solches Halsband unauffallig zu praparieren, und man befurchtete, dass bei Abnahme des Halsbandes die Gerate entdeckt wurden. Daher entschied man sich, die Gerate direkt im Korper der Katze zu implantieren. Der Schwanz sollte hierbei als Antenne dienen, Batterien wurden im Abdomen eingesetzt, Mikrofone waren an der Horschnecke platziert, um eine gewunschte Gerauschselektion zu erreichen, und entlang der Wirbelsaule liefen Drahte. Eine weitere Operation nahm man vor, um den Sexualtrieb und das Hungergefuhl zu kontrollieren.
Neben den zwei Operationen mussten die Katzen fur den Einsatz aufwendig trainiert werden. Schatzungsweise hat das Projekt 15 bis 20 Millionen US-Dollar gekostet.
Einstellung Das Projekt gilt als gescheitert und wurde 1967 eingestellt. Welche gesundheitlichen Folgen die Operationen hatten, wie viele Katzen trainiert wurden oder starben, wird im mittlerweile freigegebenen Abschlussbericht nicht erwahnt oder ist zensiert worden. An die Forscher sind trotz des Scheiterns lobende Worte vermerkt. Im Abschlussbericht ist von einer „bemerkenswerten wissenschaftlichen Errungenschaft“ (remarkable scientific achievement) die Rede. Man habe erfolgreich nachgewiesen, dass Katzen trainiert werden konnten, sich uber kurze Strecken zu bewegen (Cats can indeed be trained to move short distances). Es sei nur in „echten, auswartigen Situationen“ (real foreign situation) „unpraktisch“, die Katzen einzusetzen. Trotzdem seien der Einsatz und die Vorstellungskraft der beteiligten Wissenschaftler vorbildlich fur wissenschaftliche Pioniere (whose energy and imagination could be models for scientific pioneers).
Es gibt widerspruchliche Angaben, welches Ereignis genau zur Einstellung gefuhrt hat. Victor Machetti, ein ehemaliger CIA-Mitarbeiter, berichtet, dass die Acoustic Kitty einmal eingesetzt worden sei. CIA-Agenten seien in einem mit Technik gespickten Lieferwagen vor die sowjetische Botschaft in Washington, D.C., gefahren, um zwei sowjetische Diplomaten, die wahrend einer Mittagspause auf einer Parkbank saßen, zu belauschen. Als man eine Katze auf die beiden Diplomaten losschickte, soll sie von einem Taxi uberfahren worden sein. Nach Angaben eines anderen ehemaligen CIA-Mitarbeiters, Robert Wallace, sei Acoustic Kitty nie in den Einsatz gekommen, da es sich als unmoglich erwiesen habe, eine Katze in freier Umgebung zu kontrollieren. Man habe das Projekt vorzeitig beendet, die Implantate entfernt und die Katzen entlassen.
Der Abschlussbericht zu Acoustic Kitty wurde 2001 auf Grundlage des Informationsfreiheits-Gesetzes Freedom of Information Act freigegeben, ist aber in Teilen zensiert.
Weblinks John Greenewald: Operation Acoustic Kitty. In: The Black Vault. 23. Februar 2015; abgerufen am 22. Januar 2024 (englisch).
Anmerkungen
|
Acoustic Kitty (englisch fur „akustische Mieze“) war in den 1960er Jahren ein Projekt des US-amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA mit dem Ziel, Hauskatzen als Abhorgerate einzusetzen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Acoustic_Kitty"
}
|
c-467
|
Der Lugentaler, altere Schreibweise Lugen-Thaler, war der zweite sogenannte emblematische oder satirische Taler des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbuttel (1589–1613) mit den Jahreszahlen 1596 und 1597, der auf den Rebellentaler folgte. Der Herzog fuhrte einen Rechtsstreit mit einigen Adeligen seines Landes. Mit dem Taler voller Symbolik wollte er bei der Bevolkerung Sympathie fur seine Politik erlangen und seine Beschwerde fuhrenden Gegner von Adel der „immerwahrenden Schmach“ aussetzen.
Munzgeschichte Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbuttel hatte auf die Zwistigkeiten mit seinem Adel Spottmunzen schlagen lassen. Er fuhrte einen Rechtsstreit gegen einige adelige Familien seines Landes, die ihn beim Reichskammergericht verklagt hatten. Seine Hauptklager waren die Herren von Steinberg, von Stockheim und von Saldern, die er im Munzbild des Lugentalers verspottete.
Die Erklarung zu den einzelnen Details im Lugentaler stammen großtenteils aus den Gerichtsakten. Die Herren von „Salder und Consorten“ hatten angeblich viele uble Dinge uber den Herzog falschlich verbreitet. Das bewog Heinrich Julius den zweiten symbolischen Taler schlagen zu lassen, der den Namen Lugentaler tragt. Die Gegner des Herzogs bezeichneten das Munzbild des Talers als „schmahliches Gemahlde zur Verunehrung derer von Salder und anderen ehrlichen von Adel“.
Munzbeschreibung Der Lugentaler des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbuttel ist ein nach dem Reichsmunzfuß gepragter Reichstaler aus der Munzstatte Goslar. Der silberne Taler wurde ohne Munzmeisterzeichen und Kunstlersignatur gepragt.
= Vorderseite =
Die Vorderseite zeigt einen dreifach behelmten Wappenschild mit Helmzieren. Der Wappenschild hat neun Felder und ein Herzschild. Der Schild wird vom rechts im Bild stehenden Wilden Mann gehalten. Die Umschrift lautet:
HENRI(cus) • IVLI(us) • D(ei) : G(ratia) • POST(ulatus) • EPIS(copus) • HAL(berstadensis) • D(ux) • BRVN(svicensis) • E(t) • LVNEB(urgensis) •
Ubersetzung: Heinrich Julius von Gottes Gnaden, postulierter Bischof zu Halberstadt, Herzog zu Braunschweig und Luneburg.
= Ruckseite =
Der emblematische Taler zeigt auf der Ruckseite einen liegenden Lowen, der zwischen seinen Tatzen einen Steinbock halt, den er gerissen hat. Uber dem Lowen schwebt ein Engel, der einen Lorbeerkranz uber den Kopf des Lowen halt. Die Jahreszahl 1596 nimmt die Mitte des Munzfeldes ein. Unter dem Lowen liegt ein Stock, an dem sich eine Rose befindet. Oben im Außenkreis am Ende der Umschrift ist ein Zeichen, das als Monogramm des Herzogs gedeutet wurde. Ein Monogramm des Munzherrn in der Umschrift ist wahrscheinlich einmalig. Damit wollte Heinrich Julius seinem Spruch offenbar Nachdruck verleihen.
Die Umschrift im Außenkreis lautet: HVETE • DICH • FVR • DER • TADT • DER • LVEGEN • WIRDT WOL RADT (Hute dich vor der Tat; der Lugen wird wohl Rat.)
Im Innenkreis lautet die Umschrift: TANDEM • BONA • CAVSSA • TRIUMPHAT
Ubersetzung: Endlich siegt die gute Sache.
= Kohlers Erklarung der Ruckseite =
Nach Johann David Kohlers Munzbelustigung versinnbildlicht der Lowe, der aus dem furstlich-braunschweigischen Wappen stammt, den Herzog, uber dem ein Engel in Gestalt einer schwebenden Victoria einen Kranz reicht. Zu den Sinnbildern passen die Spruche: „Tandem bona causa triumphat“ (Endlich siegt die gute Sache) und „Hute dich der That, der Lugen wird wo(h)l Rath“. Mit diesen Worten und Symbolen wollte der Furst die Herren von Salder und anderen adlige Beschwerdefuhrer der „immerwahrenden Schmach“ innerhalb und außerhalb des Landes aussetzen. Der Steinbock im Munzbild, den der Lowe gerissen hat, stammt aus dem steinbergischen Wappen. Aus dem Mist des Steinbocks wachst ein Stock mit Asten und daraus eine Rose. Der Stock ist ein Symbol fur die Herren von Stockheim. Die Rose stammt aus dem Wappen derer von Saldern.
Anmerkung: Auf den Lugentaler folgte 1597 und 1598 der Wahrheitstaler, 1599 der Muckentaler oder falschlich Wespentaler und schließlich der Pelikantaler oder Patriotentaler, der ebenfalls 1599 gepragt wurde, mit dem der Herzog seinen Einsatz fur das Land und die Untertanen symbolisch darstellen wollte.
Siehe auch Brillenmunze oder Brillentaler aus der Munzstadte Goslar und Wolfenbuttel
Literatur Helmut Kahnt: Das große Munzlexikon von A bis Z, Regenstauf 2005.
Johann David Kohler: Munzbelustigung, 1744, Teil XVI, S. 164: Im Rebellentaler enthalten.
Johann David Kohler: Munzbelustigung, 1731, Teil III, S. 347.
Wolfgang Leschhorn: Braunschweigische Munzen und Medaillen. 1000 Jahre Munzkunst und Geldgeschichte in Stadt und Land Braunschweig (= Braunschweigisches Kunsthandwerk (BKH), Band 3). Appelhans, Braunschweig 2010, ISBN 978-3-941737-22-8, S. 150.
Karl Christoph Schmieder: Handworterbuch der gesammten Munzkunde, Halle und Berlin 1811.
Friedrich von Schrotter, Nikolai Bauer, Kurt Regling, Arthur Suhle, Richard Vasmer, J. Wilcke: Worterbuch der Munzkunde, Berlin 1970 (Nachdruck der Originalausgabe von 1930).
Einzelnachweise
|
Der Lugentaler, altere Schreibweise Lugen-Thaler, war der zweite sogenannte emblematische oder satirische Taler des Herzogs Heinrich Julius von Braunschweig-Wolfenbuttel (1589–1613) mit den Jahreszahlen 1596 und 1597, der auf den Rebellentaler folgte. Der Herzog fuhrte einen Rechtsstreit mit einigen Adeligen seines Landes. Mit dem Taler voller Symbolik wollte er bei der Bevolkerung Sympathie fur seine Politik erlangen und seine Beschwerde fuhrenden Gegner von Adel der „immerwahrenden Schmach“ aussetzen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Lügentaler"
}
|
c-468
|
Der Life L190 (nach anderen Quellen: Life F190 (a)) ist ein Rennwagen des ehemaligen italienischen Motorsportteams Life Racing, der zu 14 Laufen der Formel-1-Weltmeisterschaft 1990 gemeldet wurde. An seiner Entstehung waren unabhangig voneinander zwei ehemalige Ingenieure der Scuderia Ferrari beteiligt: Auf Gianni Marelli geht das Chassis zuruck, und Franco Rocchi konstruierte den Life F35 genannten Zwolfzylinder-W-Motor, der ein Alleinstellungsmerkmal des Autos war. Das Chassis war mangelhaft konstruiert und bereits bei seinem Formel-1-Debut veraltet. Der W-12-Motor war unausgereift und blieb weit hinter dem in der Formel 1 ublichen Leistungsniveau zuruck. Weder mit ihm noch mit dem britischen Judd-Motor, der zum Saisonende ersatzweise eingebaut wurde, qualifizierte sich der L190 zu einem Großen Preis.
Entstehungsgeschichte Das in der norditalienischen Gemeinde Formigine ansassige Team Life Racing Engines wurde mit dem Ziel der Teilnahme an der Formel-1-Saison 1990 gegrundet. Eine Tradition oder Erfahrungen in kleineren Rennklassen hatte das Team nicht. Gleiches gilt fur den Grunder und Inhaber Ernesto Vita, dessen anglisierter Nachname die Teambezeichnung ergab.
Vita hatte Anfang 1988 die Rechte an einem W-12-Motor erworben, den der ehemalige Ferrari-Ingenieur Franco Rocchi in Eigenarbeit entwickelt hatte. Vitas und Rocchis ursprungliche Planungen gingen dahin, den Motor an ein etabliertes Formel-1-Team mit Gewinn weiterzuverkaufen. Im Laufe des Jahres 1989 fanden sich aber keine Interessenten. Um das Projekt voranzutreiben und um ihre Investitionen zu retten, entschieden sich Vita und Rocchi Ende 1989 fur den Aufbau eines eigenen Formel-1-Teams, das die Wettbewerbsfahigkeit des W-Motors in der Praxis unter Beweis stellen sollte. Vita und Rocchi erwarteten Rennerfolge, die letztlich doch noch großere Teams als Kunden anziehen wurden.
Vita grundete daraufhin das Team Life Racing und meldete es zur Weltmeisterschaft 1990 an. Da Life die finanziellen Kapazitaten zur Entwicklung eines eigenen Chassis fehlten, blieb nur die Ubernahme eines bereits existierenden Autos. Die Wahl fiel auf den First F189, einen 1988 konstruierten Rennwagen von First Racing, der in Verbindung mit einem Judd-Motor ursprunglich fur die Formel-1-Weltmeisterschaft 1989 bestimmt gewesen war, wegen des Ruckzugs des Teams vor Saisonbeginn aber nicht zum Einsatz gekommen war. Life Racing ubernahm den 1988 fertiggestellten Prototyp des F189 und ließ ihn so weit uberarbeiten, dass er Rocchis W-12-Motor aufnehmen konnte. Dieser Umbau wurde dann in Life L190 umbenannt. Im Fruhherbst 1990 baute Life den L190 schließlich auf einen Judd-Motor zuruck und stellte somit die Konfiguration wieder her, die das Auto 1989 in seiner ursprunglichen Form gehabt hatte. Auch in dieser Version ließen sich allerdings keine Rennteilnahmen erreichen. Mit Ablauf der europaischen Saison stellte Life den Rennbetrieb ein. Zu den Uberseerennen in Japan und Australien erschien das Team nicht mehr.
Life Racing war von Beginn an Kritik und Spott ausgesetzt. Ruckblickend werden die Leistungen von Team, Auto und Motor als offensichtlicher Widerspruch zum Namen des Rennstalls wahrgenommen: Life hatte „eher den Hauch von schleichendem Tod“.
Konstruktion = Chassis =
Der Life F190 ist eine Weiterentwicklung des First F189, der seinerseits ein Nachbau des fur die Formel 3000 bestimmten March 88B von 1988 war. Erste Grundstrukturen des Autos hatte Richard Divila 1988 entworfen, die Detailkonstruktion des F189 war hingegen eine Arbeit des ehemaligen Ferrari-Ingenieurs Gianni Marelli, der seit 1980 ein eigenes Buro in Mailand unterhielt.
Der Life L190 hat ein Monocoque aus kohlenstofffaserverstarktem Kunststoff. Die Seitenkasten sind im Vergleich zu anderen Formel-1-Autos des Jahres 1990 sehr niedrig; ihre Form entsprach eher dem Formel-3000-Standard der spaten 1980er-Jahre. Ein besonderes Merkmal des L190 ist das an den Seiten tief ausgeschnittene Cockpit, das die Schultern des Fahrers frei und ungeschutzt ließ. Diese Form griff eine Gestaltung des March 881 auf.
Der Life L190 ist ein kompaktes Auto. Sein Radstand von 2780 mm war der kurzeste aller Formel-1-Autos dieses Jahres. Andererseits machte der kurze, aber breit bauende W-12-Motor eine ungewohnliche Gestaltung der Heckpartie erforderlich. Anders als ublich ragt die Verkleidung des Motors an beiden Seiten uber das Monocoque hinaus, was aerodynamisch nachteilig war. Life installierte an beiden Seiten der tonnenformig gestalteten Motorabdeckung auf Hohe der Schultern des Fahrers sichelartige Kuhllufteinlasse. Ein weiteres Problem des L190 war der hohe Schwerpunkt, der das Handling nachteilig beeinflusste.
Anlasslich des Wechsels auf einen Judd-Motor wurde die Motorhaube zum Großen Preis von Spanien neu gestaltet; sie erhielt eine schmale Form ohne uberstehende Seiten. (b)
= Fahrwerk =
Vorn und hinten ist eine Doppelquerlenkerachse mit Schubstreben eingebaut. Die Dampfer bezog Life wie die meisten kleinen Formel-1-Teams von Koni, die Bremsen kamen von Brembo.
= Motor =
Der Life L190 war bei den ersten zwolf Großen Preisen des Jahres 1990 mit Franco Rocchis W-12-Motor ausgerustet, der als Life F35 bezeichnet wurde. Zuletzt wechselte Life auf einen Achtzylindermotor von Judd.
Life F35 Der Life F35 ist der bislang einzige Motor in W-12-Konfiguration, der zu einem Formel-1-Weltmeisterschaftslauf gemeldet wurde. Der Life F35 hat drei Zylinderbanke mit je vier Zylindern. Die Banke stehen jeweils im Winkel von 60° zueinander. Der Hubraum betragt 3493 cm³. Jeder Zylinder hat funf Ventile, jede Zylinderbank zwei obenliegende Nockenwellen. Die Zundkerzen kamen von Champion. Die maximale Drehzahl wurde mit 13.500 Umdrehungen pro Minute angegeben. Das war nominell der hochste Wert aller Formel-1-Motoren der Saison 1990. Tatsachlich erreichte der Motor auf der Rennstrecke diesen Wert nicht ansatzweise. Bruno Giacomelli berichtete ein Jahrzehnt spater, dass er auf hochstens 9500 Umdrehungen pro Minute kommen durfte. Werksseitig machte Life Racing keine Angaben zur Leistung des Motors. Zeitgenossische Autoren gaben Schatzungen im Bereich von 600 PS ab. Giacomelli bezifferte die Leistung des Motors ruckblickend dagegen nur mit etwa 360 PS. Seine Angaben zugrunde gelegt, brachte Rocchis W-12-Motor nur die Halfte der Leistung des Honda RA100E, den McLaren 1990 einsetzte, und lag damit noch unter dem Niveau eines zeitgenossischen Formel-3000-Motors.
Judd CV Zum Großen Preis von Portugal wechselte Life auf einen erprobten Achtzylinder-V-Motor von Judd der Baureihe CV. Das Team ubernahm einen einzelnen Motorblock, der im Vorjahr im Werksteam von March eingesetzt worden war. Seine Leistung wurde mit 610 PS angegeben. Fur den Judd-Motor baute Life kein neues Auto; vielmehr wurde der einzige L190 des Teams so umgebaut, dass er den Achtzylindermotor aufnehmen konnte. Der Life-Judd erschien in Portugal und beim anschließenden Rennen in Spanien.
= Gewicht =
Nach offiziellen Angaben wog der L190 mit Rocchis W-12-Motor insgesamt 530 kg. Dies zugrunde gelegt, hatte das Gesamtgewicht des Autos 30 kg uber dem vom Reglement vorgegebenen Mindestgewicht gelegen. Tatsachlich durfte das Auto wesentlich schwerer gewesen sein. Bruno Giacomelli zufolge habe allein der Wechsel von Rocchis W-12-Motor das Gesamtgewicht des Autos um 80 kg gesenkt. Ein Mechaniker des Teams behauptete 2022, das Gesamtgewicht des L190 habe mit dem Judd-Motor noch immer 30 kg uber dem Mindestgewicht gelegen. Demnach hatte der L190 mit dem Life-Motor mehr als 600 kg gewogen.
= Sicherheitsprobleme =
Richard Divila hielt den Life L190 ebenso wie das Basismodell fur ein unsicheres, lebensgefahrliches Auto. Bereits am First 189 hatte er ein bruchiges, moglicherweise fehlerhaft hergestelltes Kunststoffchassis festgestellt. Außerdem seien die Aufhangungsteile defekt gewesen, und die Lenksaule habe eine Gefahrenquelle dargestellt. Auch das tief ausgeschnittene Cockpit sah er als Sicherheitsrisiko an. Divila riet Gary Brabham, dem ersten Fahrer des Teams, dringend davon ab, mit dem L190 auf die Rennstrecke zu gehen.
Lackierung und Sponsoren Der Life L190 war rot lackiert. Die Geldgeber des Teams und damit auch die Sponsorenaufkleber wechselten im Laufe der Saison vielfach. Zu den großeren Sponsoren von Life Racing gehorten Port to Port, der Treppen- und Leiterhersteller Albini e Fontanot und – etwa ab Mai – das Sankt Petersburger Industrieunternehmen PiC, fur das unter anderem die Flagge der Sowjetunion auf dem Auto abgebildet wurde. Hinzu kamen die ublichen Aufkleber der technischen Ausruster Agip, Goodyear und Koni.
Produktion Anders als alle anderen Teams hatte Life in der gesamten Saison nur ein einziges Chassis (Chassis 001) zur Verfugung. Dabei handelte es sich um das Chassis, das First Racing bereits Ende 1989 fertiggestellt und im Dezember 1989 bei einem Sprintrennen in Bologna offentlich gezeigt hatte. Der moglicherweise anfanglich geplante Aufbau weiterer Chassis war aus finanziellen Grunden ausgeschlossen. Das Chassis wurde im Laufe der Zeit vielfach repariert und umgebaut.
Renneinsatze Life begann die Saison mit dem Debutanten Gary Brabham, der sich nach dem zweiten Weltmeisterschaftslauf wegen fehlender Erfolgsaussichten des Teams zuruckzog. An seine Stelle trat ab dem Großen Preis von San Marino Bruno Giacomelli, dessen letztes Formel-1-Rennen zu dieser Zeit bereits sieben Jahre zurucklag.
Der Life L190 unterlag zusammen mit acht weiteren Autos jeweils der Vorqualifikation; nur die schnellsten vier dieser neun Wagen durften spater an der eigentlichen Qualifikation teilnehmen. (c) Life uberstand die Vorqualifikation bei keinem der 14 Großen Preise, zu dem das Team antrat.
Teilweise legte der Life L190 nicht einmal eine ganze Runde in der Vorqualifikation zuruck. So erlitt der L190 beim zweiten Rennen der Saison in Brasilien schon bei der Boxenausfahrt einen Aufhangungsdefekt. Weil das Team keine Ersatzteile hatte, konnte der Wagen nicht repariert werden. In Frankreich fiel die Benzinpumpe in der ersten Runde aus. Vergleichbares wiederholte sich am Saisonende beim Großen Preis von Portugal, wo der L190 erstmals mit dem Judd-Motor erschien: Dem Team war es in der Vorbereitung nicht gelungen, eine passende Motorabdeckung herzustellen. Um einer Vertragsstrafe wegen Nichtantritts zu entgehen, schickte das Team den L190-Judd mit der alten, auf den W-12-Motor zugeschnittenen Abdeckung auf die Strecke. Sie fiel gleich in der ersten Runde ab, sodass Giacomelli das Auto abstellen musste.
Bei den ubrigen Großen Preisen legte der Life L190 jeweils einzelne Runden in den Vorqualifikationen zuruck. Oftmals traten bereits fruhzeitig Motorschaden auf, in Italien beispielsweise schon in der dritten Runde. Nahezu immer war der L190 das mit deutlichem Abstand langsamste Auto der Vorqualifikation. Die einzige Ausnahme war USA, wo er Vorletzter war, weil Colonis C3B mit Subaru-Motor keine vollstandige Runde fuhr. Den großten Abstand zu den anderen Autos hatte der Life L190 dennoch in den USA: Hier war Brabham 32 Sekunden langsamer als der letzte qualifizierte Fahrer; auf die Poleposition fehlten ihm 37 Sekunden. Bei den ubrigen Rennen lag der Ruckstand auf den letzten qualifizierten Fahrer mit dem Life-Motor zwischen 13 Sekunden (Großbritannien) und 30 Sekunden (Kanada). Der Große Preis von Spanien war der einzige Weltmeisterschaftslauf, bei dem der Life mit dem Judd-Motor mehrere Runden in der Vorqualifikation absolvierte. Hier lag Giacomellis Ruckstand auf den letzten qualifizierten Fahrer bei etwa 19 Sekunden.
Generell lagen die Rundenzeiten des Life L190 nicht nur weit unter dem Standard der Formel 1, sondern sogar unter dem der Nachwuchsserie Formel 3000. So benotigte der Life L190 fur eine Runde in Autodromo Nazionale Monza im besten Fall 1:55,244 Minuten und erreichte damit eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 181 km/h. Damon Hill war im gleichen Jahr an gleicher Stelle mit seinem Formel-3000-Lola annahernd 20 Sekunden schneller.
Verbleib Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ubernahm der franzosische Sammler Lorenzo Prandina den Life L190 einschließlich des W-12-Motors. Er ließ das Auto komplett restaurieren und auf die Version mit dem Rocchi-Motor zuruckrusten. Das fahrbereite Auto wurde 2009 beim Goodwood Festival of Speed offentlich gezeigt. Dort legte der von Arturo Merzario gefahrene L190 mehrere Runden am Stuck aus eigener Kraft zuruck.
Resultate Literatur Adriano Cimarosti: Das Jahrhundert des Rennsports. Autos, Strecken und Piloten. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 3-613-01848-9.
Alan Henry: Auto Course 1990/91. Osprey Publishing Ltd, London 1991, ISBN 0-905138-74-0.
David Hodges: A–Z of Grand Prix Cars. Crowood Press, Marlborough 2001, ISBN 1-86126-339-2 (englisch).
David Hodges: Rennwagen von A–Z nach 1945. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1994, ISBN 3-613-01477-7.
Pierre Menard: La Grande Encyclopedie de la Formule 1. 2. Auflage. Chronosports, St. Sulpice 2000, ISBN 2-940125-45-7 (franzosisch).
Weblinks Anmerkungen Einzelnachweise
|
Der Life L190 (nach anderen Quellen: Life F190 (a)) ist ein Rennwagen des ehemaligen italienischen Motorsportteams Life Racing, der zu 14 Laufen der Formel-1-Weltmeisterschaft 1990 gemeldet wurde. An seiner Entstehung waren unabhangig voneinander zwei ehemalige Ingenieure der Scuderia Ferrari beteiligt: Auf Gianni Marelli geht das Chassis zuruck, und Franco Rocchi konstruierte den Life F35 genannten Zwolfzylinder-W-Motor, der ein Alleinstellungsmerkmal des Autos war. Das Chassis war mangelhaft konstruiert und bereits bei seinem Formel-1-Debut veraltet. Der W-12-Motor war unausgereift und blieb weit hinter dem in der Formel 1 ublichen Leistungsniveau zuruck. Weder mit ihm noch mit dem britischen Judd-Motor, der zum Saisonende ersatzweise eingebaut wurde, qualifizierte sich der L190 zu einem Großen Preis.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Life_L190"
}
|
c-469
|
Die Pappelinsel, franzosisch ile des peupliers, ist im Park von Ermenonville, 50 Kilometer nordostlich von Paris, eine mit Pyramidenpappeln und einem Kenotaph gestaltete Insel, die als Memoria an den Naturphilosophen Jean-Jacques Rousseau erinnert. Sie war Vorbild fur zahlreiche Rousseau-Inseln.
Geschichte Die Pappelinsel wurde nach Vorstellungen des Marquis Rene Louis de Girardin als Staffage eines englischen Landschaftsgartens auf dessen Landsitz in Ermenonville angelegt. Sie entstand als Gestaltungselement eines „Petit etang“ genannten Stausees der Oise, die den im Wesentlichen zwischen 1763 und 1776 konzipierten Landschaftspark durchfließt. Auf der Insel, die anfangs „Schwaneninsel“ genannt, fur musikalische Veranstaltungen genutzt und dazu mit einem steinernen Notenpult ausgestattet worden war, wurde am 4. Juli 1778 der Philosoph Jean-Jacques Rousseau bestattet.
Rousseau hatte einige Wochen bis zu seinem Tod zusammen mit seiner Gefahrtin Therese in einem Pavillon am Schloss Ermenonville und in einer kuriosen Hutte, die als Einsiedelei ein Folly des Landschaftsparks war, gelebt und an seinem letzten Werk Les reveries du promeneur solitaire (‚Die Traumereien eines einsamen Spaziergangers‘) geschrieben. Als provisorisches Grabmonument des Philosophen ließ Girardin zunachst einen Cippus mit der Skulptur einer Graburne aufstellen, dem 1780 das heute noch sichtbare Kenotaph folgte. Dieses wurde als romischer Sarkophag nach einem klassizistischen Entwurf von Hubert Robert von dem Bildhauer Jacques-Philippe Le Sueur mit seitlichen Flachreliefs, die allegorische Darstellungen zeigen, ausgefuhrt. Zeitgenossisch geschildert wurden die Darstellungen auf den Reliefs folgendermaßen:
Rousseaus Tod, der in der Presse lebhaft kommentiert wurde, setzte eine Erinnerungskultur mit Zugen eines Heldenkults in Gang. Im zivilreligiosen Kontext des Revolutionskults wurde sein Grabmal zu einer Art Pilgerstatte. Prominente Besucher waren Friedrich Schiller, Friedrich Gilly, Arthur Young, Thomas Blaikie, Antoine-Joseph Dezallier d’Argenville, Madame Roland, Charles-Joseph de Ligne, Joseph-Marie Loaisel de Treogate, Pierre Le Tourneur, Gabriel Brizard, Michel de Cubieres, Ludwig XVI. und Marie-Antoinette sowie Napoleon Bonaparte, welcher seinem Gastgeber Cecile Stanislas Xavier de Girardin allerdings sagte, dass es fur Frankreich besser gewesen ware, wenn Rousseau nicht existiert hatte, weil er die Franzosische Revolution vorbereitet habe. Am 11. Oktober 1794 ließ der Nationalkonvent Rousseaus sterbliche Uberreste in einem Staatsakt in das Pantheon uberfuhren. In Form einer Apotheose knupfte die Zeremonie an den Herrscher- und Totenkult der Antike an. Zuvor wurde der Offentlichkeit in einer nachtlichen Feier in einem Bassin des Tuileriengartens ein mit Fackeln illuminierter Cippus mit der Urne Rousseaus als Castrum doloris zur Schau gestellt. Als elegische Gartenszene eines Elysiums fand die Pappelinsel weitere Nachahmung durch Rousseau-Inseln an zahlreichen Orten Europas.
Elf Monate nach Rousseau wurde 1779 der Maler Georg Friedrich Meyer, der lutherischer Konfession war und daher nicht auf dem katholischen Friedhof der Gemeinde seine letzte Ruhestatte finden konnte, in einem anderen Teil des Parks von Ermenonville beerdigt.
Bedeutung und Rezeption Die Pappelinsel, eine Gartenschopfung der Aufklarung, eine Kreation der Empfindsamkeit und Fruhromantik, hatte motivische Vorlaufer in der bukolischen Dichtung und Landschaftsmalerei (→ Et in Arcadia ego, Die arkadischen Hirten) und steht als allegorischer Ausdruck neuzeitlicher Bukolik sowie als Symbol der Vanitas in einer Reihe von landschaftlichen Grabmalern, Friedhofen und Scheinfriedhofen. In der Rousseau’schen Vorstellungswelt bedeutet der Tod ein „Zuruck zur Natur“. Dabei bleibt die „Seele“ in einer Art „atherischen Materialitat“ in der Natur anwesend (→ neuzeitliche Athertheorie). Diese Idee eines glucklichen und friedlichen Daseins nach dem Tod in der Form einer paradiesischen Vereinigung mit der Natur veranschaulicht die Grabstatte Rousseaus.
Die Entstehung der Grabanlage wird hauptsachlich Rousseaus Freund Rene Louis de Girardin zugeschrieben, auf dessen Landsitz sich der Philosoph wenige Wochen vor seinem Tod zuruckgezogen hatte. Der Landsitz mit seinem Park gilt als ein fruhes Beispiel fur die Ubernahme des englischen Gartenstils auf dem europaischen Kontinent und stellt den Versuch dar, nach Rousseaus Briefroman Julie oder Die neue Heloise das Idyll einer „unberuhrten Natur“ zu zeigen. Hierbei bediente sich Girardin des von Thomas Whately gepriesenen Konzepts der Ornamental Farm nach dem Vorbild des Anwesens The Leasowes des Dichters William Shenstone. Vorbilder lieferten ferner Motive in Pastoralen und heroischen Landschaften, wie er sie auf Gemalden von Jacob van Ruisdael, Nicolas Poussin oder Claude Lorrain vorfand. Durch antikisierende Staffagen nach Ruinenmotiven und Architekturideen des Malers Hubert Robert machte Girardin Rousseaus Grabinsel zum Hohepunkt einer uberaus erfolgreichen arkadischen Landschaftsinszenierung seines Parks. Sie wurde bald zu einem Exempel romantischer Sepulkralkultur, fand Eingang in die zeitgenossische Gartenliteratur und wurde sodann in zahlreichen Rousseau-Inseln nachgeahmt. Unter Beifugung einer Illustration der Pappelinsel (Stich von Medardus Thoenert nach einer Vorlage von Jean-Michel Moreau) schrieb der deutsche Gartentheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld uber einen Besuch des Parks von Ermenonville in seiner Theorie der Gartenkunst (1780):
Das Bild der Pappelinsel wurde durch eine Vielzahl weiterer Reiseberichte, durch illustrierte wie nicht illustrierte Beschreibungen, Gartenbucher, Itinerare, Journale und durch Werke der Dichtung und Literatur derart bekannt und brachte Werk, Leben und Tod des Philosophen Rousseau so intensiv zum Ausdruck, dass es zur Chiffre des Naturideals der Aufklarung avancierte und bis ins 19. Jahrhundert als Bestandteil einer semantischen Struktur sinnbildlich herangezogen wurde. Das Bild diente als personifizierte Gedachtnisstutze und ubernahm zeitweise sogar die Funktion eines Portrats des Philosophen. Als eine Fortentwicklung wird die Seepyramide im Branitzer Park angesehen, in der Hermann von Puckler-Muskau seine Frau Lucie und sich bestatten ließ. Einen spatromantischen Nachklang fand die Pappelinsel in dem symbolistischen Gemalde Die Toteninsel von Arnold Bocklin.
Literatur Gerard J. van den Broek: Rousseau’s Elysium. Ermenonville Revisited. Sidestone Press, Leiden 2012, ISBN 978-90-8890-090-7.
Sibylle Hoiman: Rousseau recycled. Zur Rezeption der Pappelinsel von Ermenonville. In: Topiaria helvetica. Jahrbuch 2006, S. 30–42 (PDF).
Martin Calder: Promenade in Ermenonville. In: Martin Calder (Hrsg.): Experiencing the Garden in the Eighteenth Century. Peter Lang, Bern 2006, ISBN 3-03910-291-5, S. 110 ff. (online).
Ulla Link-Heer: Die Pappelinsel von Ermenonville. Rousseaus letzte Ruhestatte als ‚retour a la nature‘. In: kultuRRevolution, 35/1997, S. 79–86.
Arsene Thiebaut de Berneaud: Voyage a l’ile des peupliers. Lepetit, Paris 1798, S. 42 ff. (Digitalisat).
Jean Marie Morel: Theorie des jardins. Pissot, Paris 1776, S. 236 f. (Beschreibung des Parks von Ermenonville).
Weblinks Einzelnachweise
|
Die Pappelinsel, franzosisch ile des peupliers, ist im Park von Ermenonville, 50 Kilometer nordostlich von Paris, eine mit Pyramidenpappeln und einem Kenotaph gestaltete Insel, die als Memoria an den Naturphilosophen Jean-Jacques Rousseau erinnert. Sie war Vorbild fur zahlreiche Rousseau-Inseln.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Pappelinsel"
}
|
c-470
|
Cell (The Last Climb) ist eine Installation der franzosisch-US-amerikanischen Kunstlerin Louise Bourgeois aus dem Jahr 2008.
Beschreibung Das Kunstwerk hat die Form eines elliptischen Zylinders mit den Maßen 384,8 × 400,1 × 299,7 cm. Es besteht aus Stahl, Holz, mundgeblasenem Glas, Gummi und Faden.
Eine Wendeltreppe mit vierzehn Stufen, die nach oben hin großer werden, steht in der Mitte eines zylindrischen Kafigs aus rostigem Maschendraht. An ihrem oberen Ende befindet sich in der Deckenplatte eine annahernd herzformige Offnung. Ursprunglich sollte das Publikum diese Treppe begehen konnen, doch bei Ausstellungen ist dies mit Rucksicht auf die Fragilitat des Kunstwerks nicht erlaubt.
Um die Treppe herum sind in unterschiedlichem Abstand 20 verschieden große blauliche Kugeln aus mundgeblasenem Glas angeordnet, von denen die meisten durchsichtig sind. Sie sind mit dunnen Staben an den Kafigwanden befestigt, zwei auch an der zentralen Saule, und scheinen zu schweben. Sie befinden sich in unterschiedlicher Hohe: Unten sind kleinere, oben großere Kugeln, die letzte etwa auf einer Hohe mit dem Ende des Treppengelanders.
Die Treppe ist von einem Kafig aus Maschendraht umgeben. Durch die großen Maschen fließen Innen und Außen zu einem Raum zusammen. Die schmale, bogenformige Tur ist nach außen halb geoffnet.
Hinter der Treppe liegen am Boden gegenuber der Tur zwei große Kugeln aus hellem, gemaserten Holz, die tiefe Risse zeigen. Zwischen ihnen ist die Treppe. Die Kugeln reichen bis zur dritten Treppenstufe.
Auf halber Hohe der Treppe hangt ein weiß-blauliches tropfen- oder tranenformiges Element. Darin stecken Nahnadeln mit gelblich-beige-blaulichen Faden, die von zwolf Fadenspulen an der Innenseite der Kafigwand kommen.
Entstehung Cell (The Last Climb) wurde von Louise Bourgeois 2008, zwei Jahre vor ihrem Tod, als letzte der mehr als 20 großformatigen Cell-Skulpturen geschaffen, die im Lauf von 30 Jahren entstanden. Als Zellen bezeichnete sie große Skulpturen, die die Form eines Raumes hatten. Cell (The Last Climb) ist eines der letzten Kunstwerke von Bourgeois uberhaupt. Es besteht aus Objekten, die die Kunstlerin im Lauf ihres Lebens angesammelt hatte.
Hauptelement dieser Zelle ist die Wendeltreppe. Ende 2005 musste die Kunstlerin ihr Atelier in Brooklyn verlassen, in dem sie 25 Jahre lang gearbeitet hatte, weil das Gebaude abgerissen wurde. Davor ließ sie jedoch die Wendeltreppe ausbauen, die sie in den 1980er Jahren nach eigenen Entwurfen hatte anfertigen lassen und die uber Jahrzehnte ein Teil ihres kunstlerischen Alltags war.
Die Installation wurde 2010 von der National Gallery of Canada in Ottawa angekauft.
Deutung und Einordnung ins Werk Fruhere Zellen vermittelten den Eindruck von Schmerz und Bedrohung. Diese beschreibt, so der Titel, den letzten Weg im Diesseits als Aufstieg. Cell (The Last Climb) wirkt als einzige der Zellen nicht beklemmend, sondern frei von Angst. Im Kafig herrscht kein Chaos, die Anordnung der Elemente wirkt harmonisch. Als einzige ist diese Zelle oben offen, die Treppe fuhrt ins Freie. So wird die Installation zum Symbol von Freiheit. Florence Water sah diese Installation als Metapher des Todes. Vor dem Hintergrund dessen, dass Bourgeois Kunst als Uberlebensmaßnahme und als Mittel gegen die Furcht betrachtet wurde, wird der auffallend positive Charakter dieses Werks besonders deutlich.
Das tranenformige Element im Zentrum von Cell (The Last Climb) wird als Reprasentation der Kunstlerin gedeutet.
Treppen, die nirgendwo hinfuhren, kommen im Werk wiederholt vor, so als Leiter schon 1947 in der Serie von Radierungen He Disappeared into Complete Silence. In ihrer Offenheit lasst die Treppe an eine Himmelsleiter denken. Die Spirale ist ein haufiges und mehrdeutiges Motiv bei Louise Bourgeois. Die Kunstlerin sagte hierzu: „Spiralen – in welche Richtung auch immer – verkorpern die Zerbrechlichkeit in einem offenen Raum. Angst halt die Welt in Bewegung.“ Die Spirale ist „vollig berechenbar“, eine „potenziell unvollendete Form, die unendlich weitergedacht werden kann.“ Damit wird sie zu einem Versuch zur Kontrolle des Chaos. Von außen nach innen betrachtet steht die Spirale fur Ruckzug, Furcht vor Kontrollverlust und Einengung. In die andere Richtung vermittelt sie Vitalitat, Vertrauen, Bejahung, positive Energie, das Loslassen von Kontrolle und das Ende der Furcht. So verwendet die Kunstlerin die Spirale, um widerspruchliche Gefuhle und das Vergehen der Zeit sichtbar zu machen. Als Kind, so Bourgeois, habe sie zusammen mit anderen die Tapisserien aus der Werkstatt der Familie im Fluss nach dem Waschen in sich gedreht und ausgewrungen. Spater habe sie davon getraumt, der Geliebten ihres Vaters den Hals umzudrehen, um sie loszuwerden. So bedeute die Spirale fur sie Kontrolle und Freiheit.
Die Kugeln lassen an aufsteigende Blasen in einer Flussigkeit denken, die von unten nach oben großer werden und durch ihre Anordnung wie die Treppe aus dem Kafig hinaus weisen. Sie konnen als Symbole des Himmels gelesen werden. Blau, so die Kunstlerin, reprasentiere Frieden, Meditation, Flucht. Die beiden Holzkugeln stehen fur die Eltern der Kunstlerin.
Wie das Motiv der Spirale, so hangen auch Nadel und Faden mit der Tapisseriewerkstatt aus ihrer Kindheit zusammen. Hier ist es die Kunst, die die Schaden heilen soll, die durch Furcht angerichtet wurden. Die Kunstlerin außerte hierzu: „Die Nahnadel dient dazu, Schaden wiedergutzumachen. Sie fleht um Vergebung. Sie ist niemals aggressiv, sie ist keine Stecknadel.“ Die Faden stehen fur Beziehungen, die die Kunstlerin zu Familie, ihrem sozialen und beruflichen Umfeld und anderen vertrauten Personen hatte. Aber sie lassen auch an Faden oder Garn als Metapher fur das Leben denken, wie er im Mythos der Parzen zum Ausdruck kommt: Nona spinnt den Lebensfaden, Decima entscheidet uber das Lebensgeschick, Parca/Morta durchtrennt den Faden. Auch der Gedanke an die Nabelschnur steht in diesem Kontext.
Rezeption Der US-amerikanische Lyriker, Kunstkritiker und -wissenschaftler Donald Kuspit lasst das letzte Gedicht im vierten Gedichtband The Gods & Other Beings (2020) mit dem Titel for louise bourgeois mit den Worten on the last climb beginnen.
Ausstellungen Die Installation wurde unter anderem in folgenden Ausstellungen gezeigt:
2015: Louise Bourgeois. Strukturen des Daseins: Die Zellen. Haus der Kunst, Munchen.
2015/2016: Louise Bourgeois. Strukturen des Daseins: Die Zellen. Garage Museum of Contemporary Art, Moskau.
2016: Louise Bourgeois. Strukturen des Daseins: Die Zellen. Guggenheim Museum, Bilbao.
2016/2017: Louise Bourgeois. Strukturen des Daseins: Die Zellen. Louisiana Museum of Modern Art, Danemark.
2023/2024: Louise Bourgeois. Unbeirrbarer Widerstand. Unteres Belvedere Museum, Wien.
Weblinks Video mit Detailansichten des Kunstwerks ab 2:48
Belege
|
Cell (The Last Climb) ist eine Installation der franzosisch-US-amerikanischen Kunstlerin Louise Bourgeois aus dem Jahr 2008.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Cell_(The_Last_Climb)"
}
|
c-471
|
Die Bahnstrecke Niamey–Dosso ist die einzige Bahnstrecke in Niger und eine Investitionsruine. Sie fuhrt von Niamey Terminus nach Dosso. Abgesehen von dem Eroffnungszug wurde sie nie befahren und weist keinen Betrieb auf.
Geschichte Die Strecke Niamey–Dosso war als erster Abschnitt einer Strecke gedacht, die Niamey mit der Hafenstadt Cotonou in Benin verbinden sollte – ein seit 100 Jahren angestrebtes Ziel. Von Cotonou bestand mit der Bahnstrecke Cotonou–Parakou (2024 ohne Verkehr) bereits eine Schienenverbindung, die etwa 40 % der Gesamtstrecke Niamey–Cotonou abdeckte.
2013 erklarte der franzosische Unternehmer Vincent Bollore, im Rahmen eines großeren Projekts in Westafrika auch eine Bahnstrecke zwischen Parakou und Niamey bauen zu wollen. 2014 begann er damit, noch ohne eine Konzession zu besitzen, aber unter der Protektion des nigrischen Staatsprasidenten Mahamadou Issoufou. Die Erlaubnis wurde nachtraglich am 13. August 2015 erteilt. Bollore erhielt zugleich die Genehmigung, je ein Guterumschlagzentrum in Niamey und Dosso zu errichten. Der Bau der Strecke Niamey–Dosso schritt schnell voran und war Ende 2015 abgeschlossen.
Bei den Testfahrten entgleiste ein Zug. Die Strecke wurde am 29. Januar 2016 eroffnet, der kommerzielle Verkehr aber nie aufgenommen.
Am 21. Dezember 2021 verkaufte Bollore sein Afrika-Logistik-Geschaft einschließlich der Bahnstrecke Niamey–Dosso an die Mediterranean Shipping Company (MSC).
Ausstattung = Infrastruktur =
Die etwa 140 km lange Strecke wurde eingleisig und in Meterspur in relativ flachem Gelande verlegt und fuhrt uber weite Strecken entlang der Straße von Niamey nach Dosso. Es gibt kaum Ingenieurbauwerke. Lediglich ein Sumpf sowie einige Wadis mussten gequert werden. Die Infrastruktur ist minimalistisch: Außer in den beiden Endbahnhofen gibt es keine Ausweichgleise, Empfangsgebaude fehlen, außer an den beiden Endpunkten besitzt nur die Haltestelle Birni N’Gaoure ein Wartehauschen, in Koure besteht die gesamte Ausstattung lediglich aus einem Bahnhofsschild, selbst ein Bahnsteig fehlt. Durch fehlende Nutzung und Pflege der Anlagen sind sie inzwischen unbefahrbar.
= Fahrzeuge =
Der Fahrzeugbestand umfasst zwei gebrauchte sechsachsige Diesellokomotiven aus Indien, ein Zweiwegefahrzeug sowie sechs gebrauchte Personenwagen der schweizerischen Zentralbahn, die diese wiederum von der Brunigbahn ubernommen hatte.
Zwischenfalle In der Nacht vom 5. auf den 6. Mai 2019 sturzte in Niamey, unmittelbar neben den Gleisen, ein mit Treibstoff beladener Lkw um und Treibstoff lief aus. Menschen versuchten, den Treibstoff aufzufangen, als es zu einer Explosion kam. Dabei starben etwa 80 Menschen. Durch den Druck und die Hitze der Explosion wurden auch die Gleise erheblich verbogen, deren Bettung beschadigt und bisher nicht repariert.
Galerie Literatur Gabriella Korling: I vantan pa jarnvagen: Megaprojekt och drommar om framtiden i Niger. In: Gabriella Korling, Susann Baez Ullberg (Hrsg.): Megaprojekt – Kritiska perspektiv pa storskalig infrastruktur (= Ymer. Jg. 141). Svenska Sallskapet for Antropologi och Geografi, Lund 2021, ISBN 978-91-982150-7-6, S. 97–118 (schwedisch, researchgate.net [PDF]).
Anmerkungen Einzelnachweise Weblinks
|
Die Bahnstrecke Niamey–Dosso ist die einzige Bahnstrecke in Niger und eine Investitionsruine. Sie fuhrt von Niamey Terminus nach Dosso. Abgesehen von dem Eroffnungszug wurde sie nie befahren und weist keinen Betrieb auf.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke_Niamey–Dosso"
}
|
c-472
|
Hejo, spann den Wagen an ist ein Kanon, dessen Melodie seit Ende des 16. Jahrhunderts in England uberliefert ist. Mit seinem deutschen Liedtext ist er als Volks- und Kinderlied verbreitet, daneben wird er noch in verschiedenen anderen Sprachen gesungen. Das Lied gehort zum Repertoire zahlreicher Interpreten. Mit dem Text Wehrt euch, leistet Widerstand dient die Melodie Protestierenden seit den 1970er Jahren als politisches Lied. Das melancholisch anmutende Volkslied ist ein klassisches Erntelied und wird oft zu den Jahreszeitenliedern gezahlt. Die Ursprunge der Melodie liegen im Dunkeln. Aufgrund des originalen englischen Textes wird die Herkunft in englischen Heischebrauchen vermutet, bei denen Sangergruppen von Haus zu Haus ziehen, um milde Gaben zu erbitten. Die schriftliche Uberlieferung des Kanons setzte im 16. Jahrhundert ein.
Herkunft Die Ursprunge der Melodie liegen im Dunkeln. Aufgrund des originalen englischen Textes wird die Herkunft in den englischen Brauchen des Wassailing oder Caroling vermutet, Heischebrauchen ahnlich den Sternsingern, bei denen Sangergruppen von Haus zu Haus ziehen, um milde Gaben zu erbitten.
Die schriftliche Uberlieferung des Kanons setzte im 16. Jahrhundert ein. Er findet sich auf der auf 1580 datierten handschriftlichen Pergamentrolle eines Thomas Lant, die in der Rowe Music Library (Teil der King’s College Library in Cambridge) aufbewahrt wird.
In dem satirischen Drama The Knight of the Burning Pestle von Francis Beaumont und John Fletcher, das 1607 aufgefuhrt wurde, aber erst 1613 im Druck erschien, ist der Kanon im vierten Akt Teil der Buhnenhandlung.
Im Jahr 1609 veroffentlichte Thomas Ravenscroft, englischer Sanger, Musiktheoretiker und Komponist der Renaissance, eine Sammlung mit dem Titel Pammelia, die uberwiegend nicht aus Eigenkompositionen Ravencrofts, sondern aus alteren englischen Tavernenliedern, Liedern aus Theatervorstellungen, Straßenverkauferrufen und Kanons besteht und die Noten des Kanons Hey Ho, Nobody Home erstmals in gedruckter Form enthalt. Der Kanon erscheint hier funfstimmig („Canon in the vnison. 5 Voc.“) und in Moll.
1644 gab Dirck Janszoon Sweelinck beim Musikverleger Joost Jansen in Amsterdam einen erweiterten Nachdruck des ursprunglich 1560 bei Pierre Phalese in Lowen erschienenen Livre septieme heraus. Dieser Druck enthielt erstmals eine niederlandische Fassung unter dem Titel Hola, niemant in huis. Der Liedforscher Otto Holzapfel missverstand diese Fassung als Vorlage fur das englische Lied, die jedoch in keiner der Ausgaben vor 1644 enthalten ist. Im Gegensatz zur englischen Vorlage erscheint der niederlandische Kanon dreistimmig und in Dur.
Es gibt mindestens eine weitere Traditionslinie mit einer Melodie, die so ahnlich ist, dass sie zusammen mit „Hey ho, nobody home“ als Kanon gesungen werden kann. Der Catch „Nose, nose, nose, nose“ wurde zuerst in den 1760er Jahren in Charles Lampes Sammlung The Catch Club or Merry Companions gedruckt (siehe zum Londoner Catch Club Catch (Musik)#Geschichte des Catch). Es handelte sich um ein Lied uber die physiologischen Folgen des Alkoholkonsums, namlich die rote Schnapsnase. Wie die Folkloristin Jennifer Lynne Michael angab, wurde der Text in einem Prozess der Sauberung von anstoßigen Inhalten (Bowdlerization) im 20. Jahrhundert in unverfangliche Formen gebracht, die sich zuerst auf eine rote Rose und dann auf den Frauennamen „Rose“ bezogen. Dabei verschwand letztlich auch das Adjektiv „rot“ (red) und wurde durch „verheiratet“ (wed) ersetzt, eine Fassung, die schließlich als die ubliche Form des Traditionals empfunden wurde.
Der mundlich uberlieferte deutsche Text wird gelegentlich auf das 19. Jahrhundert datiert, ohne dass dies durch Quellen belegt ware. In deutschen Liederbuchern wie Lieder der Arbeitsmaiden und Lieder fur Frauengruppen erschien das Lied zum ersten Mal 1938. Unter dem Liedtitel sendete der Rundfunk aus Leipzig 1938 mehrmals einen Beitrag mit dem Untertitel Bei den Arbeitsmaiden in Wulferstedt. Seit 1939 wurde das Lied haufig in Gebrauchsliederbuchern abgedruckt. Das blieb auch nach 1945 so, der Kanon findet sich etwa seit 2001 auch in dem Fahrten-Liederbuch Die Mundorgel. Der Dichter des Liedtextes ist nicht bekannt.
Inhalt = In deutscher Sprache =
Das melancholisch anmutende Volkslied ist ein klassisches Erntelied und wird oft zu den Jahreszeitenliedern gezahlt. Es berichtet allerdings nicht von der Ernte des Getreides selbst, sondern von dem nachsten Schritt. Das Lied spielt in einer Zeit, in der das frisch gemahte Getreide noch zum Trocknen in Garben, also in große Buschel, gebunden wurde. Eile scheint geboten, die fertig gebundenen goldenen Garben noch rechtzeitig vor dem herannahenden Regen mit dem Pferdewagen trocken und sicher in die Scheune zu bringen.
Liedtext und Abwandlungen:
Das Stuck wurde insbesondere auf Grund seiner einfachen und leicht zu singenden Melodie als Kinderlied in vielen Landern popular, mit inhaltlich jeweils abweichenden Liedtexten. In einer von dem Musikwissenschaftler Gottfried Kuntzel zwischen 1980 und 1993 systematisch durchgefuhrten Befragung von Studentinnen und Studenten der Universitat Luneburg im Erst- und Zweitsemester benannten die Probanden als den Ort der positiven Erstbegegnung mit dem Lied am haufigsten die Schule ab 5. Schuljahr. Heute wird es haufig als Kanon in den Grundschulklassen gesungen, idealerweise mit bis zu drei Stimmen, aber auch mit bis zu sechs Stimmen bzw. Gruppen. Jeweils nach der ersten Zeile Hejo, spann den Wagen an setzt eine neue Stimme zum Singen an; dabei bleiben Melodie und Tonart in jeder Strophe gleich, was das Lied am Ende mit der letzten Stimme melodisch ausklingen lasst.
Versionen des Liedes Hejo, spann den Wagen an gehorten zum Repertoire u. a. folgender Interpreten verschiedener Genres:
Die Dramatikerin Theresia Walser bediente sich des Liedes in ihrer Groteske Der Turm zu Basel, die am 15. September 2016 im Theater Basel uraufgefuhrt wurde.
Philipp Thimm verwendete 2024 eine Variation des Liedes in der Filmmusik der Tatort-Episode Pyramide.
Eine Parodie mit neuem Text findet sich 1954 im funften Teil von Der Turm, einer großen Sammlung von Liedern der Jugendbewegung. Dort lauten die Worte, die „aus den Jugendgruppen“ stammen sollen:
In mehreren Auflagen von Claus Silvester Dorners Buch Freude, Zucht, Glaube. Handbuch fur die kulturelle Arbeit im Lager aus den Jahren 1937 bis 1943, herausgegeben vom Kulturamt der Reichsjugendfuhrung, wird neben politischer Erziehung, Hitlerzitaten, Anleitungen zum Lagerbau unter anderem in der Rubrik „Der lustige Lagernachmittag“ eine Scharade mit dem Titel „Raubritter“ vorgeschlagen, in deren Verlauf das Lied mit dem Text „Blut, Blut, Rauber saufen Blut, Mord und Raub und Pulverdampf sind gut“ zur Melodie von „He, ho, laßt uns doch herein“ [sic] gesungen werden sollte.
Die deutsche Folk-Metal-Band Subway to Sally ließ 1996 ein junges Madchen eine Variation des Rauber-saufen-Blut-Liedtextes im Intro, im Mittelteil und im Outro ihres Stuckes Julia und die Rauber einsprechen.
= Als Protestlied =
Als typisches politisches Lied der deutschen Anti-Atom-Bewegung gelten die auch als „Brokdorf-Kanon“ bezeichneten Zeilen: „Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen das Atomkraftwerk (Atomprogramm) im Land! Schließt euch fest zusammen, schließt euch fest zusammen!“, die nach der Melodie von Hejo, spann den Wagen an erstmals am 30. Oktober 1976 bei der ersten Demonstration gegen das Kernkraftwerk Brokdorf gesungen wurden und auch die osterreichische Bewegung erreichten. „Damit kommt ihr hier nicht durch! / Schaltet erst die Kernkraftwerke ab. / Uns gehort die Straße, uns gehort die Straße“ stammt von der X-tausendmal-quer-Blockade im November 2010, in Dannenberg und Gorleben wurde im Herbst dieses Jahres die Alternativversion „He jo, jetzt ist aber Schluss / weil es endlich anders werden muss. / Den Atomkraftausstieg musst du selber machen!“ gesungen. Bei den Protesten in Wyhl und Gorleben (1979, 1996) wie auch gegen das Kernkraftwerk Fessenheim in Neuenburg am Rhein im Marz 2011 fanden abgeanderte Texte Anwendung, so z. B.: „Hejo, leistet Widerstand / gegen diesen Wahnsinn hier im Land! / Los, geht auf die Straßen / Los, geht auf die Straßen!“
Auch bei anderen Protesten in Deutschland wurde das Lied je nach Thematik variiert; so sangen zum Beispiel:
Demonstranten gegen den Bau der Frankfurter Startbahn West um 1980 „keine Startbahn West in unserm Land“,
Protestierende gegen die Stationierung von US-amerikanischen Pershing-II-Atomraketen auf der Mutlanger Heide bei Schwabisch Gmund Anfang der 1980er-Jahre „gegen die Raketen hier im Land“,
Teilnehmer des Protestes gegen Stuttgart 21 im Jahr 2010 „gegen das Milliardengrab im Land“,
Anhanger der Bewegung Fridays for Future 2019 bei verschiedenen Aktionen „gegen die Braunkohle hier im Land“,
Aktivisten von Extinction Rebellion bei der Blockade einer Kreuzung in Hamburg-Harburg im August 2019 „gegen die Zerstorung hier im Land“,
„Querdenker“ 2020/21 bei Protesten gegen Schutzmaßnahmen zur COVID-19-Pandemie „gegen die Corona-Diktatur im Land“,
Teilnehmer der bundesweiten Demonstrationen, die sich 2024 nach dem Treffen von Rechtsextremisten in Potsdam gegen Rechtsextremismus und die Partei AfD richteten, „gegen den Faschismus hier im Land“; wie auch bei Protesten gegen Rechtsextremismus in Osterreich. Die Thematik wurde von The Busters ft. Katharina Wackernagel in ihrer Version Wehrt Euch! aufgegriffen.
Die Zeilen „Wehrt Euch, leistet Widerstand“ mit der einhergehenden Melodie hielten zudem in das Rechtsrock-Umfeld Einzug. So beschwor die National-Socialist-Black-Metal-Band Nordglanz 2005 „Widerstand“ unter anderem gegen „Volksverrater“, „Besatzer“, „Abschaum“ und „Verdummung hier im Land“.
Das auf 2020 datierte XR Liederbuch – Singen furs Uberleben der Organisation Extinction Rebellion schlug weitere Abwandlungen unter dem Titel „Solidarity/Widerstand“ vor, zwei davon in englischer Sprache. Die deutsche Version vermeidet den sonst ublichen stereotypen Reim „Widerstand/im Land“: „Steht auf, reicht uns jetzt die Hand, leistet mit uns friedlich Widerstand“.
= Rezeption =
Der Liedermacher Walter Mossmann, der selbst bereits zu den Bauplatzbesetzungen am geplanten Kernkraftwerk Wyhl politische Lieder geschrieben hatte, horte den Kanon im November 1976 bei einer Demonstration in Brokdorf und fuhlte sich an dorische Chorale erinnert, wie sie auch ihn selbst bei seinen Kompositionen inspiriert hatten. Die Melodie erschien ihm „trutzig, von weit her, mythisch, schicksalsschwer“. Doch es mangle dem Lied an einem Gegengewicht in Text und Rhythmus. Der Text umfasse „nicht mehr als drei Satze, drei Parolen“, er erzahle keine lebendige Geschichte, und dem Rhythmus fehle die „Leichtfußigkeit“, wie sie etwa amerikanische Spirituals in den Kirchengesang brachten: „Immer geht es schwer und ohne Auftakt vom Grundton abwarts …“ So assoziierte er mit dem Gesang eine „heroische Defensive“, vergleichbar dem Endkampf der Goten an den Hangen des Vesuv in Felix Dahns Ein Kampf um Rom, „sehr fremd und sehr deutsch“. Der Musikwissenschaftler Ulrich Morgenstern kommentierte 2009, Mossmann habe sich offensichtlich an das Lebensgefuhl und Musikverstandnis der bundischen Jugend erinnert gefuhlt, von der er sich schon seit Jahren distanziert hatte.
Im selben Band wie Mossmann, dem 1978 erschienenen Buch Alte und neue politische Lieder, ubte der Musikwissenschaftler Peter Schleuning heftige Ideologiekritik an dem Lied. Ihm hafte von seiner Vorlage, dem Kanon Hejo, spann den Wagen an, „diese ganze landliche Lugensphare“ an, „Scholle, Boden und Bauernstarke!“ Diese Assoziation werde noch gefestigt durch den Kontext, in dem gesungen werde, denn es klinge auch immer der Gedanke mit: „Wir stehen an der Seite der Landbevolkerung.“ Das Lied ziehe „seine ganze Existenzberechtigung aus dem unausgesprochenen Einvernehmen mit unbewußten Erinnerungen und Assoziationen“. So fuhre man den Kampf gegen Atomkraftwerke auch musikalisch nicht mit Argumenten, fur die schon der Text fehle, sondern „mit dem dumpfen Bodensatz der Ahnungen und Dammerungen“. Dazu passe auch die Form des Kanons, die den Text irrelevant mache: Im Kanon reiche es schon aus, wenn er eine „einheitliche Stimmung“ verbreite und ein „Versinken in dem Zusammenklang, in den standigen, hypnotisierenden Klangkreisen“ ermogliche. Schleuning schloss eine Kritik an einer Plattenaufnahme der „Initiative fortschrittlicher Kulturschaffender“ im Verlag Arbeiterkampf (1977) an, die neben anderen Brokdorf-Liedern auch Wehrt euch enthielt. Hier sei das text- und melodiearme Lied mit Besetzungs- und Aufnahmetricks auf die passende Lange gebracht worden: Windesrauschen, Begleitung sukzessiv mit Gitarren, Orgel und Schlagzeug, Ein- und Ausblenden der Kanonstimmen. „Jede neue Stimme taucht geheimnisvoll auf, und am Schluß verschwinden alle wieder in der Ferne. Ein Geisterzug!“
Mossmann und Schleuning erwahnten, ebenso wie die meisten spateren Kritiker, den elisabethanischen englischen Kanon nicht und beschrankten sich auf den deutschen Text und die Gesange im Zuge der Demonstrationen.
Der Musikwissenschaftler Wolfgang Martin Stroh merkte 1991 an, dass der dem Lied Wehrt Euch, leistet Widerstand zugrunde liegende Kanon Hejo! Spannt den Wagen an! zwar in vielen Lieder- und Musikbuchern zu finden sei. „Das Lied ist aber nicht unumstritten: es laßt bei alteren BurgerInnen [sic!] aufgrund seines Entstehungs- und Verwendungszusammenhangs Assoziationen an HJ, Nazis und Arbeitslager aufkommen; daruber hinaus ist die Thematik ‚Spann den Wagen an, Seht, der Wind treibt Regen ubers Land, holt die goldenen Garben‘ nicht bloß ein uraltes Problem der Landwirtschaft, sondern auch nordisch-trutziges Symbol fur die Vorkehrungen vor herannahendem Kriegssturm.“
Der Publizist Gunther Jacob erklarte 2001: „Ob man nun den Pop-Mythos von Revolte ausnutzen wollte oder fur den Brokdorf-Kanon Wehrt euch, leistet Widerstand, gegen das Atomkraftwerk im Land auf das das Landleben verklarende Hejo, spann den Wagen an zuruckgriff – die Musik gilt jedes mal nur als Verpackung. Biedersinn und Warenlogik dringen auf diese Weise immer wieder in die musikalische Struktur von Protestsongs und linkskabarettistischer Kleinkunst ein. Wie in den Werbesendungen dient die Musik in diesen Fallen als stereotyper Ausloser regressiver Stimmungen, etwa von Sentimentalitat, die dann ‚Solidaritat‘ genannt wird.“
Der deutsche Musikwissenschaftler Ulrich Morgenstern schrieb 2009: „Wehrt Euch ist kein Marschlied, auch kein Kampflied, kann aber durch das Andante moderato leicht im Gehen gesungen werden. Der Musikwissenschaftler Wolfgang Martin Stroh verweist auf seine ‚Endlos-Funktion‘. Die physisch-artikulatorische Anstrengung halt sich durch das Tempo, die eher langen Notenwerte und die uberwiegend tiefere Tonlage in Grenzen. Die Form des Kanons erzeugt mit einfachsten musikalischen Mitteln eine kontrastreiche Wahrnehmung der Stimmgruppen und eine machtige harmonische Bewegung durch den standigen Wechsel von Tonika und Molldominante (‚archaische Kadenz‘). Die Wirkung dieses nicht zufallig in Norddeutschland entstandenen Liedes, gesungen von Hunderten junger Leute auf dem sturmumwehten Deich vor dem Hintergrund der weiten Elbmarsch, muss enorm gewesen sein. Der Zusammenhalt der Gruppe, an den die letzte Zeile appelliert, konnte durchaus wortlich genommen werden, man sang das Lied gerne eingehakt, und es darf davon ausgegangen werden, dass vielfach eine weitere ritualisierte musikalische Primarfunktion, namlich die Uberwindung der Geschlechterbarrieren, mit ihm verbunden war. Entsprechend harsch fallt die Kritik dieses textarmen, aber atmospharisch starken Liedes von seiten pragmatisch denkender Protagonisten des linken politischen Liedes aus“, wie eben von Mossmann und Schleuning.
Morgenstern fugte hinzu, ein solches Lied sei verstandlicherweise „vom Standpunkt des Agitationsliedes aus suspekt. Nicht zufallig spricht Schleuning dem ritualisierten Gesang die Qualitat als Lied ab, so wie auch in der Ethnomusikologie auf rituelle Vokalformen haufig der Liedbegriff nicht anwendbar ist. Fast schon entmutigt klingt das funf Jahre spater folgende Eingestandnis Strohs und Schleunings uber die anhaltende Beliebtheit des trotz heftiger Ideologiekritik nicht verschwundene[n] Kanons.“
Die Anti-AfD-Proteste in Berlin am 21. Januar 2024 kommentierte Carola Tunk von der Berliner Zeitung: „…beeindruckender war aber der Moment, als Tausende ihre Smartphone-Taschenlampen einschalteten und in die Hohe hielten. Gansehaut. Die Menschen sangen: ‚Haltet fest zusammen, wehrt euch, leistet Widerstand‘. Das war ein Gefuhl von Gemeinschaft. Von #Wirsindmehr. Es fuhlt sich gut an, doch hat es eher Kuschel- als Aufstandscharakter. Das Lied wird nach der Melodie von ‚Hejo, spann den Wagen an‘ gesungen. Die Anti-Atom-Bewegung sang es in den Siebzigern in ahnlicher Form. Der Unterschied war, dass man bei Gorleben gegen die Regierung protestierte. In der Hauptstadt […] versammeln sich hingegen Menschen, die von der Bundesregierung aufgefordert wurden, gegen rechts beziehungsweise gegen die AfD, also die politischen Gegner der Regierung, zu demonstrieren, die ja gar nicht an der Macht sind.“
= In anderen Sprachen =
Die Ubersetzungen sind nur hilfsweise angefertigt.
Englisch: Hey Ho, Nobody Home (Hey ho, keiner zu Hause)
In spateren Versionen wurde der letzte Vers geandert:
Versionen des Liedes Heigh Ho, Nobody Home gehorten zum Repertoire u. a. folgender Interpreten:
The Wagoners, 1955
Peter, Paul and Mary – A’ Soalin’, 1963; ein Medley, das mit Hey ho, nobody home als Intro dem traditionellen Soul-cake-Lied vorangestellt ist, welches zum Schluss mit God Rest You Merry, Gentlemen kombiniert wird.
Pentangle – Hunting Song, 1969; enthalt ein Zwischenspiel, das der Melodie von Hey ho, nobody home folgt
Greg Joy & Mark Bracken, 1991
Atwater & Donnelly, 1997
Drunken Prayer, 2013
David Baerwald, 2017; Soundtrack zu S01E08 der Fernsehserie Mr. Mercedes
Variante Nose, Nose, Nose, Nose
Diese Variante ist zuerst um 1762 in der zitierten Sammlung des Londoner Catch Club dokumentiert; zudem gibt es eine handschriftliche Kopie im 1779/1780 entstandenen Hooke Journal, dem Journal des britischen Armeeoffiziers George Philip Hooke aus dem Amerikanischen Unabhangigkeitskrieg. Jennifer Lynne Michael nannte dieses Lied als ein Beispiel dafur, wie die „weitverbreitete Praxis“ der Entscharfung anstoßiger Texte vor sich gegangen sei, oft mit dem Resultat, dass die entscharfte Fassung zur neuen Standardform wurde. Sie zitierte zunachst eine Fassung von 1946, in der der Kanon durch Ersetzung von „Nose“ durch „Rose“ zum harmlosen Lied uber eine bluhende Rose wurde, dann eine Fassung von 1965, in der durch Ersetzung von „red“ durch „wed“ (verheiratet) eine Frau angesprochen wurde, die den Blumennamen tragt, und schließlich eine Fassung von 1975, in der „wohl durch ein Missverstandnis des Worts ‚marry‘“ die heute ubliche Form entstanden sei:
Rose, Rose, Rose, Rose
Weitere Varianten, teilweise mit etwas abweichenden Melodien, die aber mit Hey Ho, Nobody Home oder Rose, Rose zusammen im Kanon gesungen werden konnen und auch so gesungen wurden:
Als Nguyen Thi Binh 1969 bei den Pariser Verhandlungen zum Vietnamkrieg die Vietkong-Seite als Außenministerin reprasentierte, zeigten sich US-amerikanische Feministinnen begeistert. Bei Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag wurde ein Mme.-Binh-Kanon auf die Melodie Hey ho, nobody’s home gesungen:
Franzosisch: Vent frais, vent du matin (Frischer Wind, Morgenwind)
In Frankreich bekanntere Version:
In der Westschweiz bekanntere Version:
Versionen des Liedes Vent frais, vent du matin gehorten zum Repertoire u. a. folgender Interpreten:
Veronique Chalot, 1979
Vincent Malone, 2005
Laurent Voulzy, 2019
Cecile Corbel, 2021
Hebraisch: מה טובו (Ma Towu)
Italienisch: Vento sottile, vento del mattino (Sanfter Wind, Morgenwind)
Versionen des Liedes Vento sottile, vento del mattino gehorten zum Repertoire u. a. folgender Interpreten:
Collettivo Mazzulata, 2013
Golconda, 2014
Coro I Piccoli Cantori di Milano, 2014
Niederlandisch: Hola, niemant in huis (Hola, keiner zu Hause)
Weblinks Hejo, spann den Wagen an bei Discogs
Hey ho, nobody at home Liedblatt (Noten, Text, Ubersetzung) der Klingenden Brucke
Einzelnachweise
|
Hejo, spann den Wagen an ist ein Kanon, dessen Melodie seit Ende des 16. Jahrhunderts in England uberliefert ist. Mit seinem deutschen Liedtext ist er als Volks- und Kinderlied verbreitet, daneben wird er noch in verschiedenen anderen Sprachen gesungen. Das Lied gehort zum Repertoire zahlreicher Interpreten. Mit dem Text Wehrt euch, leistet Widerstand dient die Melodie Protestierenden seit den 1970er Jahren als politisches Lied. Das melancholisch anmutende Volkslied ist ein klassisches Erntelied und wird oft zu den Jahreszeitenliedern gezahlt. Die Ursprunge der Melodie liegen im Dunkeln. Aufgrund des originalen englischen Textes wird die Herkunft in englischen Heischebrauchen vermutet, bei denen Sangergruppen von Haus zu Haus ziehen, um milde Gaben zu erbitten. Die schriftliche Uberlieferung des Kanons setzte im 16. Jahrhundert ein.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hejo,_spann_den_Wagen_an"
}
|
c-473
|
Clara Louise Tice (* 22. Mai 1888 in Elmira, New York; † 2. Februar 1973 in Forest Hills, New York City) war eine amerikanische Avantgarde-Kunstlerin, die als Illustratorin, Grafikerin, Buhnenbildnerin, Publizistin und „Konigin von Greenwich Village“ bekannt war.
Leben und Werk Clara Tice war die Tochter von Benjamin und Mary Eckenberger Tice. Als sie noch ein Kind war, zogen die Eltern mit ihr und ihren Geschwistern Sarah und Clifford nach Manhattan, wo ihr Vater eine neue Stelle als Superintendent der „Children’s Aid Society“ ubernommen hatte. Sie wohnten in der West 32nd Street uber dem Heim fur Jungen, das ihr Vater leitete. Clara Tice malte bereits als Kind und wurde von ihren Eltern darin unterstutzt, ihre kunstlerischen Ambitionen weiter zu verfolgen. Clara Tice begann am Hunter College zu studieren, wechselte aber um 1908 zur Ashcan School von Robert Henri, als dieser sie als Studentin akzeptierte und ihr erlaubte, unublich in der damaligen Zeit, in der Mannerklasse zu arbeiten. Außerdem besuchte sie die Art Students League of New York. Sie entwickelte schnell einen eigenen Stil und beteiligte sich 1910 an der Planung der von Robert Henri durchgefuhrten juryfreien „First Exhibition of Independent Artists“, wahrend der sie ihre Federzeichnungen verkaufte. Schon bald begannen modernistische Publikationen auf sie aufmerksam zu werden. 1911 heiratete sie P. Scott Stafford, die Ehe wurde aber nach kurzer Zeit geschieden.
Im Marz 1915 wurde Clara Tice schlagartig sehr bekannt, als der Leiter der „New York Society for the Suppression of Vice“ (Gesellschaft zur Unterdruckung des Lasters) Anthony Comstock einen „Kreuzzug gegen die ‚obszone, unzuchtige und laszive‘ Kunst und Literatur, die die Buchhandlungen fullte und an den Wanden von Kaffeehausern, Restaurants und kleinen Galerien hing“ fuhrte, um die Bohemiens aus Greenwich Village zu vertreiben. Eine Reihe von Tices Aktzeichnungen, die im Restaurant Polly’s ausgestellt waren, konnte nur durch den spontanen Kauf eines Mazens vor der Beschlagnahmung bewahrt werden. Die New York Tribune berichtete auf der Titelseite uber den Vorfall, Vanity Fair veroffentlichte Tices kontroverse Bilder und engagierte sie dann als Mitarbeiterin fur das Magazin. Tices Arbeiten erschienen auch 1917 im Cartoons Magazine, im Quill, Rogue, Bruno’s Weekly und in der New York Times.
Durch ihre neue Beruhmtheit kam sie vermehrt mit modernistischen Kunstlern und Schriftstellern in Kontakt und erhielt Zugang zu New Yorks eng verbundener Gruppe avantgardistischer Kunstler. Sie freundete sich mit Marcel Duchamp an und trat Anfang 1917 dem von Walter Conrad Arensberg und Louise Arensberg, wohlhabenden Forderern der Kunste, veranstalteten „Arensberg Circle“ bei. Drei- bis viermal pro Woche fanden Treffen in der Wohnung der Arensbergs in der West 67th Street statt, bei denen Tice auch Francis Picabia, Henri-Pierre Roche, Edgar Varese, Alfred Stieglitz, Man Ray, William Carlos Williams, Wallace Stevens, Beatrice Wood, Marius de Zayas und Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven kennenlernte. Mit Mina Loy begann sie fur Zeitschriften und Publikationen zusammenzuarbeiten und illustrierte deren Gedichte. 1917 nahm Tice an der ersten Ausstellung der „Society of Independent Artists“ teil und veroffentlichte eine Zeichnung in der lokalen Dada-Zeitung The Blind Man. Daneben entwarf sie Einladungskarten fur Kostumballe, Programmhefte, Plakate und Vorhange, meist fur das Greenwich Village Theatre. Im Greenwich Village Theatre stand sie fur einige Vorstellungen auf der Buhne, so etwa 1919 in der von John Murray Anderson betreuten Musikrevue The Greenwich Village Follies. In den 1920er Jahren illustrierte sie zumeist erotische Literatur. Mit ihrem extravaganten Auftreten mit modischer Bob-Frisur und Hund war Tice eine bekannte Personlichkeit der kunstlerischen Boheme und wurde auch die „Queen von Greenwich Village“ genannt.
Ende der 1920er Jahre zog Tice mit ihrem langjahrigen Geliebten „Harry“ Patrick Cunningham und ihren Tieren, darunter Hunde und ein Pferd, ins landliche South Britain bei Southbury in Connecticut, wo sie weiterhin Bucher illustrierte. Mit Beginn der Great Depression 1929 erhielt Tice kaum noch Auftrage. 1933 kehrte sie nach New York zuruck, wo sie 1934 ihre letzte große Ausstellung hatte. Das von ihr selbst verfasste und illustrierte Kinderbuch ABC Dogs wurde 1940 noch einmal ein großerer Erfolg. Ab 1940 lebte sie in Danbury in Connecticut, 1945 kehrte sie nach Greenwich Village zuruck, bis sie mittellos wurde und zu ihrer Schwester nach Queens zog. Dort schrieb sie mehrere Entwurfe zu einer Autobiografie, die aber nie veroffentlicht wurde. Da sie an einem Glaukom und an Arthritis litt, musste sie in den 1950er und 1960er Jahren die kunstlerische Arbeit allmahlich aufgeben. Clara Tice starb 1973 in ihrem Studioapartment in Queens.
Werk Clara Tice trat vereinzelt in Theaterauffuhrungen auf, illustrierte mehrere Bucher, darunter die von der „Pierre Louys Society“ verlegten bibliophilen Privatdrucke Les Aventures du roi Pausole und Aphrodite 1926, The Twilight of the Nymphs und La femme et le pantin 1927 sowie Mademoiselle Maupin von Theophile Gautier 1927. 1940 veroffentlichte sie ihr eigenes Kinderbuch ABC Dogs. Daneben schuf sie Illustrationen fur Zeitschriften, Buhnenvorhange und Programmhefte. Neben diesen Theater- und Varietemotiven fertigte sie Portrats von prominenten Zeitgenossen und zahlreiche Tierbilder.
Ihre Tuschezeichnungen und Aquarelle zeichnen sich durch „dynamische, mit lockerem Strich meist auf wenige Linien und Flachen reduzierte Darstellungen“ aus.
Ausstellungen (Auswahl):
1910: First Exhibition of Independent Artists, New York
1915: Bruno’s Garret, New York, Einzelausstellung
1917: Ausstellung der Society of Independent Artists
1922: Animals and Nudes. Anderson Galleries, New York, Einzelausstellung mit 130 Werken
1933: Grand Central Galleries
1933: Braxton Art Gallery, New York
1934: Schwartz Galleries, New York, Einzelausstellung
1996: Making Mischief: Dada Invades New York. Whitney Museum of American Art, Manhattan
2006: Daughters of New York Dada. Francis M. Naumann Fine Arts, New York
2007: Clara Tice: a Dada woman. Demuth Museum, Lancaster, Pennsylvania
2011: On With the Show: Clara Tice Drawings of the New York Stage. Meredith Ward Fine Art, New York
2019: New York Dada and the Arensberg Circle of Artists. Francis M. Naumann Fine Arts, New York
Literatur Helmut Kronthaler: Tice, Clara. In: Allgemeines Kunstlerlexikon. Die Bildenden Kunstler aller Zeiten und Volker (AKL). Band 109, De Gruyter, Berlin 2020, ISBN 978-3-11-023275-2, S. 147.
Marie T. Keller: Clara Tice, „Queen of Greenwich Village“. In: Women in Dada. Essays on Sex, Gender, and Identity. MIT Press 2001, ISBN 978-0-262-69260-1, S. 415–441
Weblinks Einzelnachweise
|
Clara Louise Tice (* 22. Mai 1888 in Elmira, New York; † 2. Februar 1973 in Forest Hills, New York City) war eine amerikanische Avantgarde-Kunstlerin, die als Illustratorin, Grafikerin, Buhnenbildnerin, Publizistin und „Konigin von Greenwich Village“ bekannt war.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Clara_Tice"
}
|
c-474
|
Die Brenzkirche im Stadtteil Monchhalde (Am Kochenhof 7) in Stuttgart-Nord, die nach dem Reformator Johannes Brenz benannt ist, ist eine von vier Kirchen der evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-Nord. Das Gebaude wurde von 1932 bis 1933 nach Planen des Architekten Alfred Daiber erbaut. Wie Gebaude in der naheliegenden Weißenhofsiedlung von 1927 ist die Kirche im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut und war zur Zeit ihrer Entstehung ein Zeugnis des Neuen Bauens, des Internationalen Stils und des Funktionalismus. Maßgeblich waren hierfur neben den Flachdachern die großformatigen asymmetrischen Fensterfronten, die runde Nordwestecke, der offene Glockenturm, die Wege- und Lichtfuhrung und der nuchtern gestaltete Kirchensaal im Obergeschoss. Multifunktionalitat war ein treibendes Prinzip, um die vorhandenen Raume moglichst effizient nutzen zu konnen.
Zur Reichsgartenschau 1939 wurde das Außere der Kirche, die dem Haupteingang der Schau gegenuber lag, maßgeblich umgestaltet, um der Bauauffassung des NS-Regimes zu entsprechen. Im Zuge des Umbaus, der von dem Architekten Rudolf Lempp verantwortet wurde, verlor die Kirche alle außeren Elemente des Neuen Bauens. Sie erhielt Satteldacher und einen hoheren geschlossenen Glockenturm. Die runde Nordwestecke wurde rechtwinklig abgeschlossen. Es entstand ein unharmonisches Gesamtbild. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche durch Brand- und Sprengbomben schwer beschadigt. Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde auch der Kirchensaal so umgestaltet, dass er nicht mehr den liturgischen Reformvorstellungen um 1930 entsprach.
1983 wurde die Kirche als ein Zeichen fur den Kampf des Dritten Reichs gegen die moderne Kunst zum Baudenkmal erklart. Somit sind nicht nur die ursprungliche Architektur, sondern auch die nachtraglichen Veranderungen des Baus dem Denkmalschutz unterworfen. 2023 wurde ein Realisierungswettbewerb fur den Umbau der Kirche durchgefuhrt. Das Konzept des mit dem 1. Preis ausgezeichneten Entwurfs sieht vor, dass zentrale Ideen des ursprunglichen Baus von 1933 wieder erlebbar gemacht werden, ohne aber nur zu rekonstruieren. Vielmehr sollen zum einen die verschiedenen Zeitschichten sichtbar bleiben und zugleich mit innovativen Architekturelementen ein zukunftsweisendes Erscheinungsbild entstehen.
Lage Die Brenzkirche steht auf dem Killesberg, der Teil eines Hohenzugs ist, der nordwestlich der Innenstadt den Stuttgarter Talkessel begrenzt. Ein seit dem 18. Jahrhundert dort bewirtschaftetes Hofgut hatte den Namen Weißenhof. Ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde im zugehorigen Wohnhaus eine Gastwirtschaft betrieben, die ein beliebtes Ausflugsziel war. Wahrend des Ersten Weltkriegs kaufte die Stadt Stuttgart das Hofgut. Die Gastwirtschaft wurde 1927 aufgegeben und Teile des Hofgelandes 1929 wurden an die Erlosergemeinde verkauft. Das spater fur die Kirche vorgesehene Grundstuck hat einen L-formigen Zuschnitt und liegt entlang der Straße Am Kochenhof, Ecke Landenbergstraße. Es war der ehemalige Auffullplatz der angrenzenden bis 1904 betriebenen Steinbruche.
Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts dehnte sich Stuttgart immer mehr in die Halbhohenlagen rund um den Talkessel aus. Das fuhrte dazu, dass neue protestantische Stuttgarter Pfarrgemeinden geschaffen und neue Kirchen gebaut wurden, darunter 1908 die von Theodor Fischer entworfene Erloserkirche unterhalb des Killesbergs. Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte die Bautatigkeit am Killesberg weiter. Es entstanden unter anderem die Siedlungen am Weißenhof und am Viergiebelweg. Deshalb richtete der Oberkirchenrat 1928 an der Erloserkirche eine weitere Stadtvikarstelle zur Betreuung des rasch wachsenden Außenbezirks am Killesberg ein. Die Gottesdienste des Außenbezirks wurden zunachst im Sitzungssaal, spater im Festsaal des Neubaus der Kunstgewerbeschule von 1913 gehalten. 1931 wurde die „Kirchengemeinde auf dem Weißenhof“ – so die bis dahin verwendete Selbstbezeichnung – als Teilkirchengemeinde der Stadt Stuttgart anerkannt und daraufhin der erste Kirchengemeinderat gewahlt.
= Planung und Bau der Brenzkirche =
Schon 1928 begannen Planungen fur eine Kirche fur die „Weißenhofgemeinde“. Anfang 1929 erwarb die Stuttgarter Gesamtkirchengemeinde das Grundstuck gegenuber der Kunstgewerbeschule. Der Architekt der Bauabteilung der evangelischen Kirchenpflege, Zacharias Schaffer, erarbeitete einen Vorentwurf unter dem Projekttitel „Betsaal und Wohnungsbau am Kochenhof“, der im Januar 1930 dem Verwaltungsausschuss der Gesamtkirchengemeinde vorgelegt wurde. Der Grundstucksform folgend ging Schaffers Vorentwurf von einem Ensemble aus Pfarr- und Gemeindehaus entlang der Straße Am Kochenhof und einem frei stehenden Kirchenbau an der Landenbergerstraße aus.
Nach einem Gutachten des Architekten Heinz Wetzel, Professor fur Stadtebau an der Technischen Hochschule Stuttgart, entschloss sich die Kirchengemeinde am 13. April 1930, einen Architekturwettbewerb auszuschreiben. Dabei strebte der Gesamtkirchengemeinderat einen Entwurf an, der sich an die Architektur der Weißenhofsiedlung anpasste. Vier Inhaber Stuttgarter Architekturburos wurden eingeladen, darunter Alfred Daiber, dessen Entwurf das Preisgericht am 11. Juni 1930 den 1. Preis zuerkannte. Daiber hatte noch 1925/26 eher traditionell mit Satteldachern und expressionistischen Zierformen gebaut, aber bei einigen offentlichen Bauauftragen ab 1928 funktional im Sinne der Moderne. Sein zunachst eingereichter, noch sehr konventioneller Entwurf fur die Brenzkirche passte zur Weißenhofsiedlung und sah eine geschlossene Bebauung vor, mit einem großen Kirchenbau entlang der Landenbergerstraße und einem Wohntrakt an der Straße Am Kochenhof, der an das Nachbargebaude anschließen sollte. Die schwierige stadtebauliche Situation loste Daiber, indem er den Eingang von der Schmalseite der Kirche auf die Langseite schob und so einen kleinen Vorplatz anlegen konnte. Sudlich schloss ein Querbau an, in dem die notwendigen Wohnungen und Amtszimmer untergebracht wurden. Der Entwurf sah keinen eigenstandigen Kirchturm, sondern nur einen Dachreiter vor.
Im Oktober legte Daiber dem Engeren Rat der Gesamtkirchengemeinde einen weiterentwickelten Entwurf vor. Als Baukosten veranschlagte er rund 480.000 Reichsmark, fast das Doppelte der Summe, die Schaffer fur seinen Vorentwurf kalkuliert hatte. Daibers Entwurf wurde zwar gelobt, doch angesichts der sich entwickelnden Weltwirtschaftskrise uberstiegen die avisierten Baukosten die Moglichkeiten der Gesamtkirchengemeinde. Daiber wurde daher gebeten, ein reduziertes Projekt zu entwickeln.
Daibers zweiter Entwurf sah nur noch einen einzelnen Baukorper entlang der Landenbergerstraße vor, der mehrere Funktionen abdecken sollte: Funktionsraume im Erdgeschoss und einen Gemeindesaal mit Sangerempore im Obergeschoss, dazu Wohnungen und Amtszimmer, die unmittelbar neben dem Kirchenraum lagen, jedoch mit eigenem Eingang erschlossen wurden. Der Entwurf verzichtete nun weitgehend auf die klassischen Erscheinungsformen einer Kirche, wozu Daiber sich 1933 außerte:
Die Kombination von in einem Gebaude zusammengefasstem Kirchensaal und Gemeinderaumen war zwar bei evangelischen Bauten in Wurttemberg nicht neu, aber in der Konsequenz der nun mit Daibers Neuplanung vorgelegten Multifunktionalitat absolut zukunftsweisend. Als Baukosten wurden 300.000 Reichsmark veranschlagt.
Am 29. Mai 1931 genehmigte der Gesamtkirchenrat den Bau. Die Gemeinde selbst wollte der Kirche den Namen Weißenhofkirche geben. Doch der Gesamtkirchenrat entschied sich, die Kirche nach dem Wurttemberger Reformator Johannes Brenz (1499–1570) zu benennen, einem Wegbereiter der protestantischen Theologie. Damit setzte man sich von der avantgardistischen Weißenhofsiedlung ab, die den Namen Weißenhof seit 1927 prominent besetzte.
Im Dezember 1931 reichte Daiber mit einer inzwischen nochmals uberarbeiteten Planung das Baugesuch ein, das das Baurechtsamt im Januar 1932 genehmigte. Im Marz 1932 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Wegen der schlechten Bodenbeschaffenheit war eine Pfahlgrundung des Gebaudes notwendig. Im Fruhsommer kam es zu einer Bauunterbrechung, nachdem es innerkirchlich eine Kontroverse gegeben hatte, weil keine zweite Pfarrwohnung vorgesehen war. Ab Juli wurde der Bau fortgesetzt und bis zum Jahresende im Rohbau fertiggestellt. Bis Marz 1933 erfolgte der Innenausbau.
Die Fertigstellung der Brenzkirche fiel in die Anfangszeit des Dritten Reichs und geriet wegen ihrer architektonischen Gestaltung ins Visier der Nationalsozialisten. In der Stuttgarter Presse wurde sie heftig angefeindet. Im Schwabischen Merkur vom 25. Marz 1933 wurde sie wegen der mangelnden sakralen Ausstrahlung als „Seelensilo“ und „Musterbeispiel fur unverstandene Sachlichkeit“ verhohnt und Daiber als „bloßer Techniker“ kritisiert. Der Kampfbund fur deutsche Kultur veroffentlichte in der Suddeutschen Zeitung vom 23. Marz 1933 eine Erklarung zur Brenzkirche: „Deutsche Frommigkeit und deutsches Kulturgefuhl werden durch dieses Bauwerk auf tiefste verletzt.“ Der Kampfbund brandmarkte die Architektur der Brenzkirche als „undeutsch“. Vor allem der fehlende markante Glockenturm scheint die Abwehr hervorgerufen zu haben, denn weitere Stuttgarter Kirchen, die zur gleichen Zeit entstanden und ebenfalls eine moderne Formensprache verwendeten, entgingen der Kritik. Diese Kirchen, etwa die Kreuzkirche in Hedelfingen von 1928/30, hatten alle einen markanten Kirchturm. In der Erklarung des Kampfbundes stand, dass die Anbringung der Glocken „besonders unangenehm“ auffalle, da sie „nach beinahe afrikanisch anmutender Manier etwa zwei Meter uber dem Dachstuhl frei sichtbar an Balken aufgehangt“ seien. Die Redaktion der Zeitung erganzte die Erklarung um die polemische Frage: „Sollte hier etwa eine Art von Uebergangsstil von der marokkanischen zu unserer sonst gebrauchlichen mitteleuropaischen Bauart geschaffen werden?“ Hier gibt es Parallelen zur Kritik an der Weißenhofsiedlung als „Araberdorf“ im gleichen Jahr. Im Stuttgarter NS-Kurier stand am 27. Marz 1933: „Diese Kirche ist wohl das Ungeheuerlichste, was ein Architekt in den letzten Jahren sich geleistet hat.“
Am 2. April 1933 wurde die Kirche eingeweiht. In einer feierlichen Zeremonie zog die Gemeinde von der Kunstgewerbeschule zu ihrer neuen Kirche. Dabei trugen die Kirchengemeinderate die neuen Tauf- und Abendmahlsgerate, die in der Metallabteilung der Kunstgewerbeschule nach einem Entwurf von Paul Haustein angefertigt worden waren. Die Predigt zur Einweihung hielt Reinhold Haug, der 1931 als Stadtpfarrverweser fur die Betreuung der Weißenhofgemeinde eingesetzt worden war. Im Anschluss sprach Theopil Wurm, seit 1929 Kirchenprasident der Evangelischen Landeskirche. Dabei reagierte er auf die Außerungen in der Presse in den vorherigen Wochen. Die „außere Form“ sei „nie die Starke des Protestantismus gewesen“. Er ermutigte die Gemeinde, sich von der Kritik nicht beirren zu lassen. Im gleichen Jahr wurde als erster Pfarrer Friedrich Hilzinger, ein Anhanger der Deutschen Christen, berufen.
2017 beschrieb der Architekturhistoriker Jan Lubitz die Brenzkirche von 1933 als kongeniale Umsetzung der liturgischen Reformtendenzen der Zeit – vor allem auch mit dem Hinweis auf Postulate des Evangelischen Kirchbaukongresses in Magdeburg 1928. Jedoch flossen in die weiter entwickelten Planungen dann auch neuere Ideen aus den damals bis in den Anfang der 1930er Jahre gefuhrten Debatten um den angemessenen protestantischen Kirchenbau ein. Die architektonische Gestaltung mit der Wege- und Lichtfuhrung im Innern der Kirche hebt Lubitz als „raffiniert“ hervor und lobte, dass die „markante Nordfassade mit ihrem asymmetrisch geformten Fensterfeld […] spannungsvoll gestaltet“ gewesen sei und sich durch eine „abstrakte Anmutung“ ausgezeichnet habe. Die Brenzkirche zahlte zu den wichtigsten Werken des Neuen Bauens in Stuttgart.
= Umbau 1939 zur Reichsgartenschau =
Im Zuge der vergeblichen Bemuhungen des neuen Oberburgermeisters Karl Strolin um die Auszeichnung „Fuhrerstadt“ fur Stuttgart erhielt die Stadt 1936 den Zuschlag fur die Ausrichtung der Reichsgartenschau im Jahr 1939. Als Areal fur die Reichsgartenschau wurde der ehemalige Steinbruch am Killesberg ausgewahlt. Der geplante Haupteingang im Sudosten des Gelandes lag schrag gegenuber der Brenzkirche. Der Architekt Gerhard Graubner entwarf Ausstellungshallen, die sich um einen „Ehrenhof“ anordneten, zu dem eine terrassenformige Treppenanlage hinfuhrte. Strolin mahnte im Hinblick auf die Reichsgartenschau Stadtverschonerungsmaßnahmen an. Das veranlasste den Kirchengemeinderat der Brenzkirche sich im Mai 1938 zu fragen, „ob nicht angesichts der sich nahernden Reichsgartenschau i. S. 1939 irgend welche baulichen Veranderungen der Kirche notwendig werden, da der Baustil der Kirche im schonen Gegensatz zu der Bauauffassung des Dritten Reichs“ stehen wurde. Zudem verliere die Brenzkirche „jeden Anschluß an die auf der Weißenhofhohe bestehende Siedlungbauweise“, wenn die Stadt Stuttgart entsprechend ihres „allmahlich als sicher bekanntgewordenen Plans“ das ganze Weißenhofgelande an den Staat zu militarischen Zwecken verkaufen und fast alles Bestehende niederreißen wurde. Im Juni 1938 drangte auch die Stadt auf einen Umbau der Kirche: „Ihre architektonische Gestaltung lasst leider in auffallendem Masse liberalistische Baugesinnung der verflossenen Systemzeit erkennen. Die Kirche fugt sich in keiner Weise in die stadtebauliche Umgebung ein und wirkt darum storend im Stadtbilde.“ Im Sommer 1938 wurden bereits Vorentwurfe angefertigt und der Stadt vorgelegt. Mit der eigentlichen Planung wurde dann der Architekt Rudolf Lempp beauftragt. Daiber war zwar schon 1932 der NSDAP beigetreten, doch da er seit 1936 Leiter des Hochbauamtes in Hamburg war, stand er nicht zur Verfugung. Fur Lempp sprach, dass er sowohl Gemeindemitglied als auch Vorstandsmitglied im Verein fur Christliche Kunst war.
Im September 1938 legte Lempp erste Plane fur eine Aufstockung der Kirche vor. Die Kirche sollte ein Satteldach bekommen und so das Flachdach verlieren, das als Charakteristikum des Neuen Bauens galt. Daruber hinaus wurde die gerundete Ecke neben dem Haupteingang durch einen Mauervorbau rechtwinklig abgeschlossen und die schrage Verglasung der Nordfassade, die dem innenliegenden Treppenverlauf folgte, wurde durch eine von vier auf drei Fensterfelder verkleinerte Glasflache ersetzt, jedoch nur noch auf Hohe des oberen Foyers. Ahnliche Umbauten gab es auch in anderen Stadten an Gebauden des Neuen Bauens, um sie zu „arisieren“.
Schon im Dezember des gleichen Jahres entschied der Engere Rat der Gesamtkirchengemeinde, die Brenzkirche entsprechend Lempps Planen umzubauen, und stellte Mittel in Hohe von etwa 55.000 Reichsmark dafur zur Verfugung, wofur man sich notigenfalls auch verschulden wurde. Jan Lubitz bewertete die Vorgange so, dass die Evangelische Kirche in Stuttgart 1938 so weit vom nationalsozialistischen Denken durchsetzt war, dass die Kirche auf eigene Kosten umgebaut wurde, obwohl der Anstoß von der Stadt Stuttgart kam, die sich mit der Reichsgartenschau regimekonform dem Reich prasentieren wollte. Im Februar 1939 stimmte der Oberkirchenrat dem Umbau zu und am 1. Marz 1939 wurde das eingereichte Baugesuch baupolizeilich genehmigt. Die Genehmigung enthielt die Auflage, sofort mit den Bauarbeiten zu beginnen, damit der Umbau bis zur Eroffnung der Reichsgartenschau abgeschlossen werden konnte. Dies gelang. Am 22. April 1939 wurde die Reichsgartenschau mit der umgebauten Kirche vis-a-vis eroffnet.
Die Proportionen des Gebaudes hatten sich durch den Umbau ungunstig verandert. Die Grundrissgeometrie erlaubte es nicht, alle Gebaudeteile mit Dachern gleicher Neigung zu versehen, was zu einer insgesamt unharmonischen Wirkung fuhrte. Im Zuge der Umbauten wurde in der Kirche zudem ein Luftschutzraum eingebaut. Dort wurden wahrend des Zweiten Weltkriegs Einrichtungsstucke anderer Stuttgarter Kirchen untergebracht. Dazu gehorte das Grabdenkmal des Obersten Freiherrn Benjamin von Bouwinghausen-Wallmerode (1570–1635) aus der Hospitalkirche, das so erhalten blieb. Erst um 2000 wurden im ehemaligen Luftschutzraum mehrere große gotische Plastiken aus der Stiftskirche entdeckt, die nach Restaurierung nun wieder in der Stiftskirche aufgestellt sind.
= Beschadigungen im Zweiten Weltkrieg =
Wahrend des Zweiten Weltkriegs wurde die Brenzkirche stark beschadigt. Bei einem nachtlichen Bombardement am 21. Februar 1944 trafen zwei Brandbomben und eine Luftmine die Kirche. Durch die Luftmine wurden viele Fenster zerstort und das Dach großtenteils abgedeckt, so dass im Kirchensaal keine Gottesdienste mehr stattfinden konnten. Stattdessen wurde der Gemeindesaal im Untergeschoss genutzt. Ende Juli 1944 kam es zu einer neuerlichen Serie von Luftangriffen, bei der das Dach erneut weitgehend zerstort und Fenster und Turen beschadigt wurden. Bei einem Angriff vom 12. auf den 13. September wurden Brande ausgelost, die die Nutzung der Kirche und der Pfarrwohnung weiter beeintrachtigten. Bei diesem Angriff wurde auch die Polizeidirektion in Stuttgart ausgebombt und daraufhin in die Brenzkirche umquartiert. Sonntags wurden aber weiterhin Gottesdienste gehalten. Ein weiterer Angriff am 19. Oktober 1944 loste durch Brandbomben erneut Feuer aus. Die Empore und die Orgel im Kirchensaal waren danach schwer beschadigt. Ein Angriff mit Sprengbomben in der gleichen Nacht beschadigte die Kirchenwand an der Ostseite und die Wand uber dem Haupteingang.
= Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg =
Die Konstruktion der Brenzkirche war nach den Angriffen noch weitgehend intakt, die Kirche hatte aber mehrere Schaden erlitten. Bereits am 24. Mai 1945 drangte Georg Kopp, Vorsitzender des Vereins fur Christliche Kunst, auf Schadensbeseitigung – vornehmlich in Bezug auf das Dach und die Schließung von Bombenlochern. Er verlangte aber auch einige Anderungen: Die Großfenster an der Westfassade sollten deutlich verkleinert werden, um die Wirkung des Winddrucks zu verringern. Den Auftrag fur die Gestaltung erhielt erneut Lempp. Wunschgemaß mauerte er die Fenster an der Westfassade weitgehend zu und erganzte als Pendant und fur mehr Licht ahnliche Fenster an der Ostfassade. Damit ging die von Daiber bewusst entworfene Asymmetrie und die Lichtfuhrung des Kirchensaals verloren. Außerdem anderte Lempp die Innengestaltung des Kirchensaals grundsatzlich (siehe Innenraume). Am 27. April 1947 wurde die Kirche mit einem Gottesdienst wiedereroffnet.
In den folgenden Jahren gab es mehrmals Anderungen. 1953 wurde uber dem Haupteingang eine Kreuzigungsgruppe aus Terrakotta eingefugt. 1968 wurde der Kirchenraum renoviert und dabei von dem Architekten Hannes Mayer weiter umgestaltet. Der bis 1975 im Erdgeschoss untergebrachte Weißenhofkindergarten zog 1975 aus, worauf der Gemeindesaal mit der angeschlossenen Kuche und der Garderobe erneuert wurde.
= Anerkennung als Baudenkmal =
1983 war das 50-jahrige Jubilaum zur Einweihung der Kirche. In diesem Zusammenhang wurde sie als Baudenkmal ausgewiesen. Die Begrundung hebt im Wesentlichen auf den Umbau von 1939 ab und sieht die Brenzkirche vor allem als ein Denkmal fur den Kampf des Dritten Reiches gegen die moderne Kunst. Der Status als Baudenkmal stand von da an dem immer wieder geforderten Ruckbau in den ursprunglichen Zustand im Wege.
Jan Lubitz kritisierte 2017 die Denkmalbegrundung, weil die „architekturhistorische Vielschichtigkeit“ der Brenzkirche darin keinerlei Beachtung gefunden hatte. Ulrike Plate vom Landesamt fur Denkmalpflege verteidigte dagegen im gleichen Jahr die Bewertung. Das Besondere dieses Kirchenbaus sei vor allem „sein Zeugniswert fur eine Zeit, in der eine traditionelle Architekturvorstellung mit Staatsgewalt durchgesetzt werden konnte: fur die Zeit der nationalsozialistischen Regierung, die auch die Gesinnung in der Stuttgarter Stadt- und Bauverwaltung bestimmte.“ Die „Zeitschicht von 1933“ sei architektonisch seit Langem verloren.
Das Erscheinungsbild der Kirche wird allgemein kritisiert. Der Architekturhistoriker Klaus Jan Philipp beschrieb die Kirche als „langweilige[n] Kasten mit Steildach, kaum wirksamem Turm und aus dem eierschalenfarbigen Putz geschnittenen schmalen, hochrechteckigen Fenstern. Wurde nicht eine Kreuzigungsgruppe den Eingang in eine Kirche markieren, dann konnte es sich auch um irgendeinen Profanbau handeln.“ Fur Caroline Kraft von der Bauwelt hat das rot geziegelte Satteldach den Baukorper in einem gewaltvollen Zangengriff. Die Architektur weise Elemente des Heimatschutzstils auf.
= Umbau zur IBA’27 =
In die festgefahrene Diskussion um Ruckbau und Sanierung der Brenzkirche kam Bewegung, als 2016 zwei Hauser der Weißenhofsiedlung zum Weltkulturerbe erklart wurden und die Internationale Bauausstellung zum 100-jahrigen Jubilaum der Weißenhofsiedlung fur 2027 (IBA’27) geplant wurde. 2017 gab die Gemeinde ein Bauheft zur Brenzkirche heraus. 2019 wurde der Forderverein Brenzkirche e. V. gegrundet, um innovative Losungen fur die Brenzkirche voranzutreiben. Im Marz 2023 lobte die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart in Kooperation mit der IBA’27 und dem Evangelischen Oberkirchenrat einen eingeladenen internationalen Realisierungswettbewerb mit einer Wettbewerbssumme von insgesamt 50.000 € aus. Die 16 beteiligten Buros sollten Losungen dafur finden, die Kirche den Anforderungen eines zukunftsfahigen Gemeindezentrums entsprechend weiterzuentwickeln und dabei die herausragende Bedeutung der ursprunglichen Architektur zu wurdigen, ohne die Spuren der wechselvollen Geschichte auszuloschen. Die Vorbereitungen waren unter Einbeziehung der Denkmalbehorden und deren Vertretung auch in der Jury erfolgt. Am 21. Juni 2023 vergab das Preisgericht unter dem Vorsitz des Architekten Wolfgang Riehle, fruher Prasident der Architektenkammer Baden-Wurttembergs, den 1. Preis an das Architekturburo Wandel Lorch Gotze Wach aus Frankfurt am Main und Saarbrucken. Das allgemein gelobte Konzept mit dem Namen „Palimpsest“ sieht entsprechend der Ausschreibung vor, zentrale Ideen des ursprungliches Baus von 1933 wieder sichtbar zu machen, vermeidet aber bewusst eine direkte Rekonstruktion. Wieder zu sehen sein werden das Flachdach, die Fenster des Altarraumes und des Treppenaufgangs sowie die abgerundete Ecke neben dem Eingang. Die Satteldacher von 1939 sollen bei einer kubischen, jedoch transparenten Aufstockung des Quertraktes und eines neuen Obergeschosses des Kirchturms, bei dem auch die Glocken wieder von außen sichtbar werden, zu erkennen bleiben. Die Blindfenster der Nachkriegszeit an der Ostfassade sollen ebenfalls noch nachvollziehbar bleiben. In Verbindung mit dem Umbau soll die Kirche eine vollig neue Haustechnik erhalten, energetisch saniert und an die neuen Baustandards angepasst werden.
Im Juli 2024 hat der Aufsichtsrat der IBA’27 GmbH die Brenzkirche als IBA’27-Projekt aufgenommen. Die Bauarbeiten sollen 2025 beginnen.
= Entwicklungen im Gemeindeleben =
1997 schlossen sich die Teilkirchengemeinden Brenzkirche, Erloserkirche und Martinskirche zur Kirchengemeinde Stuttgart-Nord zusammen. 2011 wurde Karl-Eugen Fischer Pfarrer an der Brenzkirche. Seit 2015 gibt es in der Brenzkirche regelmaßig Veranstaltungen der Atelierkirche, bei der Kunstlerinnen und Kunstler im Kirchenraum mit Interessierten arbeiten. Der Kirchenraum wird zum „Atelierraum zwischen Kunst, Spiritualitat und Alltag“.
2014 wurde der Gemeindesaal im Erdgeschoss in Dora-Veit-Saal benannt. Dora Veit (1912–1988) stammte aus einer judischen Familie und ließ sich mit zwanzig Jahren taufen. Nach den Nurnberger Rassegesetzen galt sie trotzdem als Judin und verlor 1937 ihre Arbeitsstelle in der offentlichen Jugendpflege. Daraufhin begann sie im Juni 1937 eine Krankenpflegeausbildung im Diakonissenmutterhaus von Schwabisch Hall. Da sie als Nichtarierin zunachst keine Zulassung zum staatlichen Examen erhielt, wechselte sie im Juni 1938 zu einem Kurs in kirchlicher Jugendarbeit im von der Bekennenden Kirche geleiteten Burckhardthaus in Berlin-Dahlem. Die Schwabisch Haller Diakonissenanstalt stellte ihr ein internes Prufungszeugnis aus. Vor Kriegsausbruch floh sie im Juni 1939 aus Deutschland nach England, wo sie eine theologische Ausbildung absolvierte. Obwohl ihre Eltern 1942 in Theresienstadt ermordet worden waren, kehrte sie 1946 zuruck und engagierte sich als Religionslehrerin uber Jahrzehnte fur die heimische Landeskirche. Ab 1977 war sie Kirchengemeinderatin der Brenz-Gemeinde.
Architektur = Außenbeschreibung =
Die in Stahlbetonskelettbauweise errichtete Kirche von 1933 war kompakt und kubisch, was durch die ubereinander angeordneten Sale im Innern erreicht wurde. Die Seiten waren mit Mauerwerk ausgefacht. Die Fassade war weiß verputzt, die Stahlfenster waren bundig eingesetzt. Die relativ komplizierte Wegfuhrung in den Kirchensaal im Obergeschoss (siehe Innenraume) zeichnete Daiber an der nordlichen Außenfassade nach. Dort war eine großzugige, dem innenliegenden Treppenlauf folgende, asymmetrische Fensterreihe angebracht, die Einblicke ins Gebaude erlaubte und das Treppenhaus hell ausleuchtete. Auch die gerundete Nordwestecke, die dem Bau eine asymmetrische Komponente gab, hatte ein Pendant in den Innenraumen und sollte die Wegfuhrung unterstutzen. An der Westseite war der obere Kirchensaal fast uber die ganze Lange großflachig verglast. Auf der Ostseite gab es im Obergeschoss keine Fenster. Das Dach des Gebaudes gestaltete Daiber als Flachdach.
Der Teil des Gebaudes mit den Wohnungen und der Verwaltung war an der Westseite abgesetzt und ragte aus dem Gebaude hervor. Statt eines Kirchturms gab Daiber der Kirche einen einfachen Glockentrager an der Ostfassade, der das Kirchendach nur so weit uberragte, dass dort eine Uhr mit zwei auf der Nord- und Sudseite angebrachten Ziffernblattern untergebracht werden konnte. Nach Osten und Westen war der Turm offen. Dort hingen drei Glocken, die von außen zu sehen waren. Die Ausdrucksformen des Neuen Bauens zeigten sich am Flachdach, an den großformatigen und teils asymmetrischen Fensterfronten und der runden Nordwestecke. Diese Stilelemente nahmen Bezug auf die Architektur der Weißenhofsiedlung in unmittelbarer Nahe.
Wahrend des Umbaus im Jahr 1939 wurde der Kirche ein Satteldach aufgesetzt. Da die Proportionen ein symmetrisches Dach uber den gesamten Komplex nicht zuließen, wurde der Wohntrakt mit einem quer liegenden Satteldach uberformt, wodurch er der Hohe der anderen Gebaudeteile angeglichen wurde. Trotzdem hatten die Satteldacher der verschiedenen Gebaudeteile keine einheitliche Neigung, da sonst eine komplette Uberdachung nicht moglich gewesen ware. Der offene Glockenturm wurde ebenfalls aufgestockt, geschlossen und mit einem Satteldach versehen, auf den ein Wetterhahn aufgesetzt wurde. Zudem wurde die runde Nordwestecke rechtwinklig uberformt und die Fensterreihe der Nordfassade sowohl rechts als auch unten so ruckgebaut, dass eine gerade, rechteckige Form entstand. Dadurch wurde die ursprungliche Intention, dem Treppenlauf zu folgen, gebrochen und das Treppenhaus deutlich dunkler. Die dunklen Fensterprofile aus Metall wurden durch weiße Holzprofile ersetzt und die Westfenster des Kirchenraums zusatzlich noch durch Vertikalprofile kleinteilig gegliedert.
Beim Wiederaufbau der Kirche nach 1945 wurde die großflachige Verglasung der Westfassade zu schmalen hohen Fenstern zuruckgebaut und die bis dahin vollig geschlossene Ostseite analog mit schmalen, hohen Fenster versehen. Erst 1953 wurde die kriegsgeschadigte Wandflache uber dem Haupteingang neu gestaltet. Dort hatte zuvor ein großes Metallkreuz gehangen, nun wurde eine Kreuzigungsgruppe aus Terrakotta angebracht, ein Entwurf von Helmuth Uhrig (1906–1979). Zudem erinnert neben dem Eingang eine Tafel an die Kriegstoten.
Außenseite der Brenzkirche
= Innenraume =
Der Kirchensaal, in Daibers Entwurf als „Gemeindesaal“ bezeichnet, liegt im Obergeschoss. Ein ebenerdiger Zugang zum Kirchensaal im Obergeschoss war nicht moglich. Daher legte Daiber den Haupteingang an die Nordwestecke des Gebaudes und schuf vor den Salen im Erdgeschoss ein Foyer, an das sich eine Treppenanlage anschließt. Sie besteht aus drei Stufen auf ein großes Zwischenpodest hin. Nach einer 180-Grad-Drehung fuhrt die Haupttreppe ins Obergeschoss in ein weiteres Foyer. Von dort aus ist der Kirchensaal durch zwei seitlich platzierte Flugelturen zuganglich. Durch die entlang der Treppe bodentiefen Fenster war der Weg ins Obergeschoss hell beleuchtet, wahrend der Eingangsbereich im Erdgeschoss eher dunkel gehalten war. Der ursprunglichen runden Nordwestecke des Gebaudes (siehe Außenbeschreibung) entspricht im Inneren eine noch vorhandene konkave Rundung am oberen Ende der Treppe. Besucherinnen und Besucher wurden durch das Licht auf die Treppe und ins Obergeschoss geleitet und durch die Rundung zu den Eingangsturen des Saals.
Der Kirchensaal, ein langsrechteckiger Raum mit Abmessungen von 25 × 10,5 Metern und einer Hohe von 6 Metern, war ursprunglich, 1933, bewusst einfach gehalten. Bankreihen, die Platz fur etwa 350 Personen boten, zogen sich uber die gesamte Breite. Der Saal war nur durch eine großflachige Fensterfront auf der Westseite belichtet, die in zweieinhalb Meter Hohe ansetzte. Die großflachige Verglasung ware mit der klassischen Mauerwerksbauweise nicht zu verwirklichen gewesen, doch die Skelettkonstruktion des Gebaudes machte sie moglich. Auf der Ostseite war die Wand dagegen vollig geschlossen, wodurch der ansonsten streng symmetrische Raum eine asymmetrische Ausrichtung auf die Kanzel in der Sudostecke erhielt. Das wurde durch eine Reihe von Kristallkugelleuchten auf der ostlichen Raumseite noch verstarkt.
Der Altarbereich bestand aus einer weißen Wand mit einem Betonrelief als Altarbild, einem schlichten Altar und der links angebrachten Kanzel. Von Anfang an wurde bemangelt, dass dem Raum die sakrale Aura einer Kirche fehlte. Das von Alfred Lorcher geschaffene Relief besteht aus drei Teilen und zeigt in der Mitte sitzend Christus, mit geoffneten Armen den Blick auf die Gemeinde gerichtet. Von den Seiten nahern sich je drei Personen, links Kinder und Jugendliche, rechts altere Menschen. Auf dem Altarbild befindet sich die Inschrift „Kommet her zu mir alle“ (Matthaus 11,28). Der eigentlich zum Bibelvers gehorende Teil „die ihr muhselig und beladen seid“ fehlt. Reinhard Lambert Auer, ehemaliger Kunstbeauftragter der Evangelischen Landeskirche, betonte, dass durch diese Auswahl der Worte (zusammen mit den offenen Armen der Figur) der einladende Christus und nicht Christus als Herrschergestalt herausgestrichen wurde. Ohne Bedingungen, ohne vorausgesetzte Bekenntnisse sollten alle willkommen sein, eine bemerkenswerte Besonderheit angesichts der politischen Verhaltnisse der Zeit.
Im Erdgeschoss, direkt unter dem Altarraum, hatte Daiber einen großen Raum fur die Kinderschulklasse und einen weiteren als Gemeindesaal gestaltet, der einen Buhnenbereich mit Teekuche und Garderobe umfasste. Die beiden Raumen ließen sich miteinander verbinden. Horizontal gereihte Fenster erhellten die Sale.
Kirchensaal im Jahr 2023
Mit dem Wiederaufbau nach 1945 wurde der Kirchensaal grundsatzlich umgestaltet. Durch die neuen Fenster auf der Ostseite wurde die bis dahin bestehende Asymmetrie des Saals auf die Predigtkanzel hin aufgelost. Dies unterstutzte der Architekt Rudolf Lempp noch durch eine andere Gestaltung der Kirchenbanke. Außerdem schuf er einen Mittelgang zwischen den Banken, sodass Durchgang und Durchblick auf den Altar direkt moglich wurden. Hinter dem Altar baute er eine Rundbogennische ein, in der ein Altarbild von Lorcher aufgehangt ist. In der Nische, um das Betonrelief herum, stehen nun in heller Schrift auf rotem Grund Seligpreisungen aus der Bergpredigt (Matthaus 5,3-12): „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getrostet werden“ usw. Laut Lempp war die Auswahl der Inschrift vom Kriegsende beeinflusst. Auer kritisierte 2023, dass mit den Seligpreisungen die ursprungliche Botschaft des Altarbildes umgedeutet worden sei.
Der Lichteinfall durch die Ostfenster erwies sich in den Morgenstunden beim Gottesdienst als storend. Bei der Renovierung des Kirchenraums 1968 durch den Architekten Hannes Mayer wurden eine Holzdecke sowie ein neuer Bodenbelag aus Spaltklinkern eingebaut und noch bestehende Wasser- und Brandschaden aus dem Krieg am Fußboden beseitigt. Mayer erneuerte zudem Kanzel, Altar und den Taufstein. Die ehemals dunkelbraunen Kirchenbanke wurden in einem lichten Blauton gestrichen. Eine neue Luftung und eine Schwerhorigenanlage wurden eingebaut.
Der Gemeindesaal im Untergeschoss, der heute Dora-Veit-Saal heißt, hat eine durchgehende Fensterfront sowohl im Westen als auch im Osten und ist genauso groß wie der Kirchensaal, aber in unterschiedliche Bereiche gegliedert: Er enthalt eine Kuche und Bereiche, die flexibel geteilt bzw. geoffnet werden konnen. Darin sind offene Bereiche fur unterschiedliche Nutzung wie Sport oder Tanz enthalten, eine Bibliothek und ein Spielbereich fur Kinder. Der Zugang zu diesem Gemeindesaal erfolgt entweder direkt aus der Eingangshalle, aus der auch die Treppe in den Kirchensaal fuhrt, oder uber einen Eingang an der Westfront nahe den Verwaltungs- und Wohnbereichen. Dieser Bereich wurde in den Jahrzehnten nach dem Bau der Kirche architektonisch wenig uberformt, ist aber zurzeit (Stand 2023) stark sanierungsbedurftig.
Gemeindesaal (Dora-Veit-Saal)
Glocken Noch vor der Einweihung der Kirche, am 5. Marz 1933, wurden drei Glocken in den Glockenturm der Kirche eingehangt. Sie waren im Dezember 1932 in der Stuttgarter Glockengießerei Kurtz gegossen worden und waren in den Tonen g, a und h gestimmt. Im Januar 1942 wurde das Gelaut abgenommen. Die beiden großeren Glocken gingen als Metall in die Rustungsindustrie. Erst 1950 wurden die Glocken ersetzt. Die Weihe der beiden wiederum von der Gießerei Kurtz gegossenen Glocken war am 29. Oktober 1950 im Rahmen einer Festveranstaltung mit Festpredigt und Kirchenkonzert.
Literatur Jan Lubitz, Reinhard Lambert Auer, Karl-Eugen Fischer, Mariella Schluter: Die Brenzkirche (= Stuttgarter Bauheft. Nr. 1). Schaff-Verlag, Jorg Schilling, Hamburg 2017, ISBN 978-3-944405-31-5.
Reinhard Lambert Auer: Die Brenzkirche in Stuttgart am Weißenhof. In: Die Brenzkirche (= Stuttgarter Bauheft. Nr. 1). Schaff-Verlag, Jorg Schilling, Hamburg 2017, ISBN 978-3-944405-31-5, S. 4–13.
Jan Lubitz: Die Geschichte der Brenzkirche. In: Die Brenzkirche (= Stuttgarter Bauheft. Nr. 1). Schaff-Verlag, Jorg Schilling, Hamburg 2017, ISBN 978-3-944405-31-5, S. 14–50.
Mariella Schluter: Die Brenzkirche – eine Rekonstruktion? In: Die Brenzkirche (= Stuttgarter Bauheft. Nr. 1). Schaff-Verlag, Jorg Schilling, Hamburg 2017, ISBN 978-3-944405-31-5, S. 51–54.
Ulrike Plate: Die Brenzkirche in Stuttgart. Neues Bauen in Zeiten des Dritten Reichs. In: Denkmalpflege in Baden-Wurttemberg – Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege. Band 46, Nr. 2, 31. Mai 2017, ISSN 0465-7519, S. 136–142, doi:10.11588/nbdpfbw.2017.2.38877.
Ute Schuler: Die Brenzkirche am Weißenhof. Stuttgart 1988 (brenzkirche-stuttgart.de – unveroffentlichte Magisterarbeit am Institut fur Kunstgeschichte der Universitat Stuttgart, wiedergegeben auf Homepage des Fordervereins Brenzkirche e.V.).
Weblinks Portrait Brenzkirche auf den Seiten der Evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart Nord
Stuttgart-Nord: evang. Brenzkirche (1933). In: Kirchbau.de
Forderverein Brenzkirche Stuttgart e. V. mit Geschichte der Brenzkirche und Ergebnissen des Architekturwettbewerbs 2023
Die Brenzkirche – Zuruck in die Zukunft. In: IBA27.de. Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart GmbH; abgerufen am 17. Juli 2023.
Klaus Jan Philipp: Zuruck in die Zukunft? Vorwarts in die Vergangenheit! In: Marlowes. 4. Juli 2023; abgerufen am 8. August 2023.
Webprasenz der Atelierkirche
Einzelnachweise
|
Die Brenzkirche im Stadtteil Monchhalde (Am Kochenhof 7) in Stuttgart-Nord, die nach dem Reformator Johannes Brenz benannt ist, ist eine von vier Kirchen der evangelischen Kirchengemeinde Stuttgart-Nord. Das Gebaude wurde von 1932 bis 1933 nach Planen des Architekten Alfred Daiber erbaut. Wie Gebaude in der naheliegenden Weißenhofsiedlung von 1927 ist die Kirche im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut und war zur Zeit ihrer Entstehung ein Zeugnis des Neuen Bauens, des Internationalen Stils und des Funktionalismus. Maßgeblich waren hierfur neben den Flachdachern die großformatigen asymmetrischen Fensterfronten, die runde Nordwestecke, der offene Glockenturm, die Wege- und Lichtfuhrung und der nuchtern gestaltete Kirchensaal im Obergeschoss. Multifunktionalitat war ein treibendes Prinzip, um die vorhandenen Raume moglichst effizient nutzen zu konnen.
Zur Reichsgartenschau 1939 wurde das Außere der Kirche, die dem Haupteingang der Schau gegenuber lag, maßgeblich umgestaltet, um der Bauauffassung des NS-Regimes zu entsprechen. Im Zuge des Umbaus, der von dem Architekten Rudolf Lempp verantwortet wurde, verlor die Kirche alle außeren Elemente des Neuen Bauens. Sie erhielt Satteldacher und einen hoheren geschlossenen Glockenturm. Die runde Nordwestecke wurde rechtwinklig abgeschlossen. Es entstand ein unharmonisches Gesamtbild. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche durch Brand- und Sprengbomben schwer beschadigt. Beim Wiederaufbau nach 1945 wurde auch der Kirchensaal so umgestaltet, dass er nicht mehr den liturgischen Reformvorstellungen um 1930 entsprach.
1983 wurde die Kirche als ein Zeichen fur den Kampf des Dritten Reichs gegen die moderne Kunst zum Baudenkmal erklart. Somit sind nicht nur die ursprungliche Architektur, sondern auch die nachtraglichen Veranderungen des Baus dem Denkmalschutz unterworfen. 2023 wurde ein Realisierungswettbewerb fur den Umbau der Kirche durchgefuhrt. Das Konzept des mit dem 1. Preis ausgezeichneten Entwurfs sieht vor, dass zentrale Ideen des ursprunglichen Baus von 1933 wieder erlebbar gemacht werden, ohne aber nur zu rekonstruieren. Vielmehr sollen zum einen die verschiedenen Zeitschichten sichtbar bleiben und zugleich mit innovativen Architekturelementen ein zukunftsweisendes Erscheinungsbild entstehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Brenzkirche_(Stuttgart)"
}
|
c-475
|
Daniel Edward Reeves (* 19. Januar 1944 in Rome, Georgia; † 1. Januar 2022 in Atlanta, Georgia) war ein US-amerikanischer American-Football-Trainer und -Spieler. Mit den Dallas Cowboys gewann er als Spieler den Super Bowl VI.
Fruhe Jahre Reeves wuchs in Americus, Georgia, auf. Dort ging er auch zur Highschool, wo er American Football, Baseball und Basketball spielte. Spater ging er auf die University of South Carolina, wo er zwischen 1962 und 1964 fur das Collegefootballteam auf der Position des Quarterbacks spielte. In dieser Zeit passte er fur 2561 Yards und 16 Touchdowns. Außerdem spielte er fur das Collegebaseballteam.
2006 wurde er in die South Carolina Athletic Hall of Fame aufgenommen.
NFL = Karriere als Spieler =
Reeves wurde im NFL-Draft 1965 nicht ausgewahlt, unterzeichnete jedoch noch in demselben Jahr einen Vertrag bei den Dallas Cowboys, wo er sodann zum Runningback umgeschult wurde. In der Saison 1966 gelang ihm auf dieser Position sein Durchbruch: Er erlief 757 Yards fur 8 Touchdowns und fing Passe fur 557 Yards. Ein Jahr spater erlief er 603 Yards und fing Passe fur 490 Yards. Im Spiel gegen die Atlanta Falcons erzielte er am achten Spieltag vier erlaufene Touchdowns, was einen Franchise-Rekord darstellte. In der Saison 1971 gewann er mit den Cowboys den Super Bowl VI. Aus gesundheitlichen Grunden trat er am 22. Februar 1972 als Footballspieler zuruck und wurde Assistenztrainer bei den Cowboys.
= Karriere als Trainer =
Assistenztrainer Reeves war 1972 und zwischen 1974 und 1980 Assistenztrainer bei den Dallas Cowboys unter Head Coach Tom Landry. In der Saison 1977 gewann er mit den Cowboys den Super Bowl XII.
Head Coach Im Jahr 1981 stellten die Denver Broncos Reeves als Head Coach vor. Hier blieb er elf Jahre lang. In dieser Zeit erreichte er sechsmal die Play-offs und dreimal den Super Bowl (XXI, XXII und XXIV), jedoch gingen alle drei Spiele verloren.
Zur Saison 1993 heuerte Reeves bei den New York Giants an. In seinem ersten Jahr als dortiger Head Coach holte er elf Siege aus 16 Spielen und wurde zum NFL Coach of the Year ernannt. Im Jahr 1995 konnte Reeves mit dem Team nur funf Siege erringen, 1996 nur sechs, woraufhin er nach der Saison entlassen wurde.
Vor der Saison 1997 unterzeichnete er einen Vertrag als Head Coach bei den Atlanta Falcons. Ein Jahr spater wurde er erneut zum NFL Coach of the Year gewahlt, als er mit den Falcons 14 Siege aus 16 Spielen erzielte und sie bis zum Super Bowl XXXIII fuhrte. Jedoch verlor er erneut den Titelkampf, diesmal mit 34:19 gegen seinen Ex-Klub Denver Broncos. In der NFL-Saison 2002 erreichte er mit den Falcons erneut die Play-offs. Eine Saison spater wurde er drei Spieltage vor Saisonabschluss entlassen.
Radiokommentator Nach seiner Trainerkarriere kommentierte Reeves mehrere Spiele bei Westwood One, einem lokalen Radiosender aus New York City.
Personliches Reeves war verheiratet und hatte drei Kinder und sechs Enkelkinder. Am 1. Januar 2022 starb er an Komplikationen, welche seine Demenzkrankheit mit sich brachte, im Alter von 77 Jahren. Sein Neffe David Andrews spielt 2024 auf der Position des Centers bei den New England Patriots in der NFL.
Weblinks Einzelnachweise
|
Daniel Edward Reeves (* 19. Januar 1944 in Rome, Georgia; † 1. Januar 2022 in Atlanta, Georgia) war ein US-amerikanischer American-Football-Trainer und -Spieler. Mit den Dallas Cowboys gewann er als Spieler den Super Bowl VI.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Dan_Reeves_(Footballtrainer)"
}
|
c-476
|
Be Thankful for What You Got ist ein Soulsong, der von William DeVaughn geschrieben und eingesungen wurde. Die Platte verkaufte sich nach der Veroffentlichung im Fruhjahr 1974 fast zwei Millionen Mal und erreichte Platz 1 der US-amerikanischen R&B-Charts sowie Platz 4 der Billboard Hot 100. 2021 listete der Rolling Stone die Nummer auf Platz 374 der 500 Greatest Songs of All Time. Bekannt ist das Lied auch fur die Zeile „Diamond in the back, sunroof top, diggin’ the scene with a gangsta lean“, die im Hip-Hop oft zitiert und variiert wurde.
Entstehung Der Regierungsangestellte William DeVaughn aus Washington, D.C., fuhr mit seiner Komposition eigens nach Philadelphia, um sie gegen Bezahlung von 900 US-Dollar bei Omega Sound, einem Pay-to-Play-Studio, aufzunehmen. Der Chef der Firma erkannte das Potenzial der Komposition und heuerte den Produzenten John Davis an, der eine professionelle Aufnahme erstellte. Hierzu wurden die Profimusiker Larry Washington (Congas), Ronnie Baker (E-Bass), Earl Young (Schlagzeug) und Norman Harris (Gitarre) von der Studioband MFSB, die fur den ortstypischen Phillysound bekannt ist, engagiert. DeVaughn intoniert mit seiner hohen Tenorstimme einen Text, der weltlichen Statussymbolen wie einem Cadillac mit Schiebedach („sunroof top“) und Weißwandreifen („Gangsta whitewalls“) eine Absage erteilt. Stattdessen fordert er von seinen Zuhorern Dankbarkeit und Selbstvertrauen ein („You may not have a car at all but you can still stand tall“).
Die fertige Aufnahme wurde anschließend an das Independent-Label Chelsea Records bzw. deren auf Soul und R&B spezialisiertes Sublabel Roxbury Records verkauft. Das Lied wurde wegen seiner Lange von sieben Minuten in zwei Teile geteilt (Parts 1 & 2) und als Single veroffentlicht. Die Single, die im Klang an Curtis Mayfield erinnert und ihm falschlicherweise oft zugeschrieben wird, entwickelte sich schnell zu einem Hit und wurde auch das Titelstuck des folgenden Albums. 1980 nahm William DeVaughn eine zweite Version fur sein Album Figures Can’t Calculate auf.
Rezeption = Bestenlisten =
2021 listete es der Rolling Stone auf Platz 374 der 500 besten Songs aller Zeiten.
= Charts und Chartplatzierungen =
Coverversionen Das Soulstuck erfreute sich rasch großer Beliebtheit und wurde noch im selben Jahr von der Phillysound-Gesangsgruppe The Intruders fur das Album Energy of Love gecovert. Es folgte die kalifornische Band Love mit einer Version auf dem Album Reel to Real (1975). Es schlossen sich mehrere Coverversionen aus dem Reggae-Bereich an, so zum Beispiel die von Lee Perry produzierte Single Be Thankful von Bunny „Rugs“ Clarke (1975). Deren B-Seite enthalt mit Dubbing in the Back Seat eine Dub-Version von den Upsetters. Andere Reggaeversionen stammen von Don Carlos (1975), One Blood (1979) und Winston Curtis (1984). Der Organist Jackie Mittoo nannte seine Instrumentalversion A Big Car. Eine weitere Coverversion kommt von der US-amerikanischen Indie-Band Yo La Tengo und ist auf deren EP Little Honda von 1998 enthalten.
= Massive-Attack-Cover =
Die Band Massive Attack aus Bristol nahm den Song unter dem leicht veranderten Titel Be Thankful for What You’ve Got auf und veroffentlichte ihn 1991 auf dem Debutalbum Blue Lines. Im selben Jahr wurde eine Promo-Single mit verschiedenen Mixen des Songs ausgekoppelt. Im Folgejahr erschien ein Remix von Paul Oakenfold auf ihrer Massive Attack EP. Diese Coverversion verhalf dem Track zu neuer Popularitat in der Clubkultur. Fur den Song wurde ein Musikvideo produziert.
= Hip-Hop-Samples =
Be Thankful for What You Got wurde haufiger von Rappern rezipiert, die die Zeile „Diamond in the back, sunroof top, diggin’ the scene with a gangsta lean“ aufgriffen und in veranderter Form verwendeten. Das Hip-Hop-Trio De La Soul hat die Zeile gleich zweimal verwendet. In Keepin’ the Faith (enthalten auf De La Soul Is Dead, 1991) heißt es: „Diamond in the back, sunroof top, waiting for the credit card so she can go and shop“, und in dem Song Brakes (auf der LP Stakes Is High, 1996) heißt es: „Diamonds on your wrist, sunroof top, but niggas out front makin’ guns go pop.“
Bei Outkast lautet die Zeile in West Savannah (1998): „Nine in my hand, ounce in my crotch, diggin’ the scene with a gangsta slouch.“
Der Rapper Ludacris machte Samples aus Be Thankful for What You Got zur Grundlage seines Songs Diamond in the Back (2004). Dabei verwendete er die Zeile „Diamond in the back, sunroof top, diggin’ the scene with a gangsta lean“ unverandert, verkehrte aber die ursprungliche Kritik am Konsumismus durch ein eingeschobenes „I wanna (diamond in the back), I wanna (sunroof top), I wanna (diggin’ the scene with a gangsta lean)“ ins Gegenteil.
Literatur 1974. Ein Jahr und seine 20 Songs. Suddeutsche Zeitung, Munchen 2006, S. 72.
Weblinks Be Thankful for What You Got Lyrics
Be Thankful for What You Got bei AllMusic (englisch)
Be Thankful for What You Got bei Discogs
Be Thankful bei Bandcamp
Musikbelege
William DeVaughn: Be Thankful for What You Got (Parts 1 & 2) auf YouTube
William DeVaughn: Be Thankful for What You Got (1980 Version) auf YouTube
Bunny „Rugs“ Clarke & The Upsetters: Be Thankful (Discomix Version) auf YouTube
Massive Attack: Be Thankful for What You Got (2012 Mix/Master) auf YouTube
Einzelnachweise
|
Be Thankful for What You Got ist ein Soulsong, der von William DeVaughn geschrieben und eingesungen wurde. Die Platte verkaufte sich nach der Veroffentlichung im Fruhjahr 1974 fast zwei Millionen Mal und erreichte Platz 1 der US-amerikanischen R&B-Charts sowie Platz 4 der Billboard Hot 100. 2021 listete der Rolling Stone die Nummer auf Platz 374 der 500 Greatest Songs of All Time. Bekannt ist das Lied auch fur die Zeile „Diamond in the back, sunroof top, diggin’ the scene with a gangsta lean“, die im Hip-Hop oft zitiert und variiert wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Be_Thankful_for_What_You_Got"
}
|
c-477
|
Das Lowendenkmal auf dem Theodor-Heuss-Platz in Remscheid ist ein 1939 eingeweihtes Denkmal, das den Bergischen Lowen darstellen soll und als eines der Wahrzeichen der Stadt gilt.
Lage und Architektur Das Denkmal steht auf dem Theodor-Heuss-Platz vor dem Rathaus Remscheid. Auf der 13,5 Meter hohen Stele aus Muschelkalk steht die Skulptur eines Lowen. Eine in die Oberflache der Stele eingelassene Inschrift lautet „Wappentier des Bergischen Landes seit 1225“. Die frei aus dem Stein gemeißelte, uber dreieinhalb Meter hohe Lowenskulptur weicht von ublichen Darstellungen des Bergischen Lowen ab; so steht er nicht aufrecht und es fehlt der ihm typische Doppelschweif. In seinem monumentalen Erscheinungsbild entspricht das Denkmal dem Stil der Skulpturen der Zeit des Nationalsozialismus.
Geschichte Das Denkmal wurde auf Anregung von Oberburgermeister Walther Hartmann im Auftrag des Remscheider Stadtrats vom Kolner Bildhauer Willy Meller geschaffen und am 1. Mai 1939 vor 27.000 Parteimitgliedern der NSDAP-Ortsgruppen bei einer Kundgebung mit Fahnenweihe feierlich enthullt. Das damals Adolf Hitler gewidmete Denkmal trug die Inschrift „Dem Schopfer des Großdeutschen Reiches in Dankbarkeit“. Den Zweiten Weltkrieg und den verheerenden Luftangriff vom 30. auf den 31. Juli 1943 uberstand das Denkmal unbeschadet.
Nach Kriegsende wurde die Inschrift entfernt. Bei der Neugestaltung des Rathausplatzes 1966 blieb das Lowendenkmal an seinem Standort. Im Dezember 1986 wurde es unter Denkmalschutz gestellt. Im Zuge seiner Sanierung 2019 kamen Forderungen auf, auf einer Informationstafel an die Ursprunge des Denkmals zu erinnern.
2025 entschieden die Gremien der Stadt, dass eine neue Infotafel angebracht wird. Diese soll die Geschichte des Denkmals historisch korrekter einordnen. Folgender Text wurde verabredet:
Weblinks Zur Einweihung des Bergischen Lowen. (Artikel uber die Einweihungsfeier)
Einzelnachweise
|
Das Lowendenkmal auf dem Theodor-Heuss-Platz in Remscheid ist ein 1939 eingeweihtes Denkmal, das den Bergischen Lowen darstellen soll und als eines der Wahrzeichen der Stadt gilt.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Löwendenkmal_(Remscheid)"
}
|
c-478
|
Klaus-Peter „Pit“ Schubert (geboren am 2. Dezember 1935 in Breslau; gestorben am 28. Februar 2024) war ein deutscher Kletterer, Bergsteiger und Sachbuchautor. Er war Grundungsmitglied und langjahriger Leiter des Sicherheitskreises des Deutschen Alpenvereins.
Leben Schubert wurde in Breslau geboren und verbrachte dort seine Kindheit. Im Herbst 1944 wurde er mit seinen Geschwistern evakuiert und fand am Fuße des Riesengebirges Unterschlupf. Sein Vater wurde bereits im Herbst 1945 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen und fand seine Kinder durch Zufall wieder. Der Vater und die Kinder ließen sich in Konigstein im Taunus nieder. Die Mutter war seit der Evakuierung Dresdens verschwunden, erst im Fruhjahr 1948 konnte sie durch den Suchdienst des Roten Kreuzes in Mittersill ausfindig gemacht werden und die Familie wurde wieder vereint.
Pit Schubert absolvierte zunachst eine Ausbildung zum Werkzeugmacher und studierte anschließend Maschinenbau in Frankfurt am Main, das Studium beendete er im Fruhjahr 1961. Als Maschinenbauingenieur zog es ihn nach Munchen, wo er rund 15 Jahre in der Luft- und Raumfahrtindustrie tatig war. Schubert war verheiratet und hatte zwei Kinder, zuletzt lebte er in Niederndorf in Tirol. Er starb am 28. Februar 2024.
Leiter des Sicherheitskreises des DAV Am 28. Oktober 1968 war er Grundungsmitglied des DAV-Sicherheitskreises, dessen Vorsitzender er bis zum Eintritt in den Ruhestand im Jahr 2000 war. Anfangs umfasste der Kreis neun Mitarbeiter, die alle ehrenamtlich arbeiteten. Auch Schubert ubte die Tatigkeit zuerst ehrenamtlich aus, da die Arbeit aber immer umfangreicher wurde, schuf der DAV eine Stelle, in der Schubert ab 1978 diese Tatigkeit hauptamtlich ausfuhrte. Die Hauptarbeit des Sicherheitskreises wird mit „Analyse und Prophylaxe von Berg- und Kletterunfallen sowie die Prufung von alpintechnischer Ausrustung und deren Normung“ definiert. Diese Arbeit erfolgte in enger Zusammenarbeit mit der UIAA und der von der UIAA durchgefuhrten Normung. Die UIAA-Normung basiert auf Europaischen Normen und geht geringfugig daruber hinaus. Im Jahr 2024 erfullen alle Hersteller die vorgegebenen Normen, es ist ein Qualitatsmerkmal. Zu Beginn waren die Hersteller allerdings nicht immer begeistert, da es ihre Produktion zum Teil deutlich verteuerte.
Schwerpunkte seiner Arbeit waren Materialtests wie solche fur Seile; die erste Seilnorm verlangte nur 2 gehaltene Seilsturze. Schubert hat sich dafur eingesetzt, die Anzahl der Normsturze zu steigern – seit 1981 mussen Kletterseile 5 Normsturze aushalten. Durch die Verbesserung des Materials sind Seilrisse sehr selten geworden; Seilrisse enden in der Regel todlich. Diese Materialtests umfassten auch Karabiner, Reepschnure und anderes beim Klettern eingesetztes Material. Die Tests an Karabinern zeigten, dass die von den Herstellern angegebenen Bruchlastwerte deutlich von der Wirklichkeit abwichen, auch Eispickel waren nicht bruchsicher. Eine Norm fur Klettergurte, an der Schubert mitgearbeitet hat, wurde 1979 herausgegeben und ist noch heute (Stand 2024) gultig. Kletterhelme erhielten im Jahr darauf ebenfalls eine Norm, die deren Bruchlast definiert. Alle Materialtests mussen wissenschaftlichen Kriterien standhalten und reproduzierbar sein, das Ziel ist, eine nachprufbare Norm zu schaffen. Damit wurden neue Standards gesetzt.
Schubert setzte sich auch fur eine Sanierung von Routen ein, hier werden am Fels alte Normhaken durch moderne Bohrhaken ersetzt. Dies hat die Sicherheit am Berg betrachtlich gesteigert, auch wenn das einzelnen Puristen wie Reinhold Messner nicht gefallt, von der uberwiegenden Mehrzahl der Kletterer aber sehr positiv aufgenommen wurde. Besonders im Wilden Kaiser und im Oberreintal sanierte er fast alle klassischen Routen, d. h., er ersetzte die alten rostigen Haken durch neue sichere Bohrhaken. Schubert war es wichtig, nur dort neue Bohrhaken zu setzen, wo vorher alte Haken waren, um den Charakter der Klettertour nicht zu andern. Andrerseits pladierte Schubert dafur, die gegebenen Moglichkeiten auszuschopfen, um eine solide Sicherungskette herzustellen und damit eine moglichst hohe Sicherheit zu gewahrleisten. Die Moglichkeiten dafur seien in den letzten 40 Jahren deutlich besser geworden und diese gelte es zu nutzen.
Ein weiteres Gebiet der Sicherheitstests lag in den verwendeten Techniken, insbesondere wie der Seilpartner gesichert wird. Es hat sich schnell erwiesen, dass kein Mensch in der Lage war, mit den in den 1960er Jahren ublichen Methoden einen großeren Fangstoß zu halten. Dies kann den Absturz des Seilpartners zur Folge haben. Nach vielen Tests entschied sich der Sicherheitskreis Ende der 1970er Jahre, die von Werner Munter entwickelte Halbmastwurf-Sicherung (HMS) zu empfehlen. Schubert hatte aufgrund von Bremskraftmessungen erkannt, dass diese Methode die sicherste ist. Sie besticht auch durch ihre einfache Anwendung. Erst ab 2000 wurden neue Sicherungsgerate entwickelt, die mit der HMS-Methode mithalten konnen.
Schubert beschaftigte sich auch mit der Mitreißgefahr von angeseilten Teams im vergletscherten Hochgebirge. Auf Gletschern ist es ublich, dass alle Mitglieder eines Teams sich hintereinander in das Seil einklinken und gemeinsam gehen, aber an keinem Fixpunkt gesichert sind. Sturzt ein Mitglied der Sicherungskette, kann es die anderen mitreißen. Die Gefahr steigt bei harterem Firn und bei zunehmender Hangneigung. Schubert propagierte daher, dass bei stark geneigtem Hang und hartem Firn immer uber einen Fixpunkt (eine Eisschraube oder ein eingegrabener Eispickel) gesichert wird. Das bedeutet zwar einen Zeitverlust, erhoht aber die Sicherheit gewaltig.
Ebenso untersuchte er 2008 durch Bremsversuche in Firn und Eis, wie beim Gehen auf dem Gletscher bei Gleichgewichtsverlust ein Sturz mit dem Pickelrettungsgriff abgefangen werden kann: Immer mit der Haue bremsen; d. h., die Pickelschaufel zeigt in der Hand immer nach vorn und die Haue immer nach hinten.
Die Erkenntnisse aus den Sicherheitstests hat Schubert immer wieder publiziert, zuerst in Fachveroffentlichungen des DAV, zunehmend aber auch in anderen Zeitschriften, es sind etwa 200 Fachaufsatze. Daruber hinaus hat er etliche Bucher geschrieben, die Sicherheit und Risiko in den Bergen thematisierte. Einige der Bucher avancierten zu den Standardwerken und zu Alpinen Lehrschriften, die in der Bergfuhrerausbildung verwendet werden (siehe Werke), die teilweise in mehrere Sprachen ubersetzt wurden.
Weiterhin war er von 1996 bis 2004 Prasident der UIAA-Sicherheitskommission sowie seit 2008 UIAA-Ehrenmitglied.
Alpinistische Karriere Als Sechzehnjahriger trat Pit Schubert der Sektion Frankfurt am Main des Deutschen Alpenvereins bei, in der er die notigen Klettertechniken und wesentlichen Sicherungsmaßnahmen am Fels lernte. Schnell fand er Freude am Bergsteigen und Klettern und wollte dies ausweiten. Mit 17 Jahren fuhr er mit dem Fahrrad zum ersten Mal in die Alpen. Dabei bestieg Schubert das Rubihorn (1957 m) im Allgau, sein erster richtiger Alpengipfel. In den folgenden Jahren wurde er immer besser und er durchstieg immer schwerere Kletterrouten. Sein Weg fuhrte ihn auch in die Dolomiten an die großen Wande: 1960 gelang ihm die Hasse-Brandler an der Rotwand und er durchstieg die Nordwand der Großen Zinne auf der Comici (V+ A0). Im gleichen Jahr machte er auch viele klassische Touren an der Fleischbank, am Predigtstuhl und am Totenkirchl, alle im Wilden Kaiser.
1961 hatte Schubert ein Kletterniveau erreicht, dass er die damals schwierigsten Routen der Nordwande der Großen und der Westlichen Zinne durchsteigen konnte. Mit Willi Pecher als Seilpartner gelang ihm die Diretissima (VIII+, VI A2, 550 m) von Hasse/Brandler an der Großen Zinne; damals galt diese Klettertour als die schwerste der Alpen. Zwei Tage spater machte das Duo die Schweizerfuhre (VIII+, VI A3) an der Nordwand der Westlichen Zinne, die auch als extrem schwierig galt. Im Fruhjahr 1962 startete er mit Jurgen Winkler (spaterer Bergfotograf und Bergfuhrer) in den Wilden Kaiser, in dem sie viele klassische Touren wie die Totenkirchl Westwand, Dulfer an der Fleischbank und noch viele andere Klettertouren durchstiegen. Danach machte das Duo mehrere Eistouren, bevor sie in die Brenta wechselten, von dort in das Ortlergebiet, danach an den Piz Palu und den Piz Badile. In allen Gebieten war ihr Ziel, die wesentlichen klassischen Touren zu durchsteigen, ein Vorhaben, das gelang. Danach ging es nach Chamonix, hier absolvierten sie die 5. Begehung des Peutereygrates und die Durchsteigung des Walkerpfeilers an den Grandes Jorasses. Zum Abschluss wiederholten sie schwierige Touren im Rosengarten, Dolomiten. Im August gelang Schubert zusammen mit 3 Linzer Bergsteigern die Durchsteigung der Matterhorn-Nordwand. Das war eine fur die 1960er Jahre einmalige Bilanz an Klettertouren in kurzester Zeit.
Ende Juli 1964 durchstieg Schubert mit 3 Kameraden die Eiger-Nordwand. Damit hatte er alle drei klassischen Nordwande durchstiegen und gehorte zur damaligen Bergsteigerelite. Er war damit einer der ersten deutschen Bergsteiger, dem das gelang.
Der nachste Schritt fur Schubert war die Eroffnung neuer Routen, was er 1967 mit der Via Schubert am Piz Ciavazes in den Dolomiten verwirklichte. Diese Tour geht durch den zentralen Teil der Wand. In deren Mitte ist das „Gamsband“, das die Tour in einen unteren und oberen Teil trennt. Uber das Gamsband kann auch aus der Wand ausgequert werden. Die Tour, oder besser deren unterer Teil, avancierte in den nachsten Jahrzehnten zu einer der besten und schonsten Klettereien in den Dolomiten. Dieser Erstbegehung folgten noch etliche andere.
Schubert war auch im Hohenbergsteigen sehr aktiv, das erste Mal war er im Fruhjahr 1969 im Himalaya. Mehr als 70 Mal war er dort, in manchen Jahren bis zu 3 Mal. Es gelangen ihm auch mehrere Gipfelanstiege. Im Mai 1976 war das Ziel, die Sudflanke des Annapurna IV (7525 m) zu durchsteigen, ein Anstieg auf den Gipfel, der noch nie gemacht wurde. Diese Flanke gehort zu den hochsten der Welt, ist steil und lawinengefahrdet. Schubert und Heinz Baumann wollten es trotzdem versuchen und stiegen ein. Aufgrund der großen Hurden erreichten sie erst neun Tage nach dem Aufbruch den Gipfel, funf Tage spater als erwartet. Sie hatten zuerst den falschen Nebengipfel erreicht, waren nochmals umgekehrt, um den richtigen zu besteigen, Schubert wurde durch eine Lawine verschuttet, ein Schneesturm zwang sie zum Warten und schließlich fiel Schubert noch in eine Gletscherspalte. Da die Funkgerate ausgefallen waren, konnten sie keine Verbindung zum Expeditionsteam aufnehmen. Als sie abgestiegen waren, fanden sie alle Lager einschließlich dem Basislager verlassen und abgebaut vor – das Team hatte angenommen, dass Schubert und Baumann gestorben seien, und hatten den Ruckzug angetreten. Somit mussten sich die beiden ohne Nahrung und Hilfe allein nach unten durchschlagen. Dabei erlitten sie erhebliche Erfrierungen, Schubert mussten spater alle Zehen abgenommen werden. Am Wandfuß wurden die erschopften Bergsteiger letztlich von einem einheimischen Jager gefunden, der sie versorgte und spater das Expeditionsteam benachrichtigte.
Durch die Erfrierungen und nachfolgenden Amputationen gilt Schubert als 60 % schwerbeschadigt und er litt einige Jahre unter erheblichen Schmerzen. Vom Klettern und Hohenbergsteigen hielt ihn das allerdings nicht ab, er bewaltigte noch viele schwierige Touren. Im Juli 2002 gelang ihm mit einem ahnlich alten Partner die Erstbegehung der Altherrenpartie im Oberreintal, den Namen wahlten sie wegen ihres Alters. Im Sommer 2004, inzwischen 68 Jahre alt, bewaltigte er mit zwei italienischen Seilpartnern, beide uber 70, die Dulfer an der Fleischbank Ostwand, frei geklettert eine Tour im oberen VI. Schwierigkeitsgrad. Im Juli 2017, bereits uber 80, durchstieg er mit ahnlich alten Seilpartnern die Juniperus (V-, 5 Seillangen) am Plombergstein bei St. Gilgen.
Erstbesteigungen/Erstbegehungen Schubert gelangen mehr als drei Dutzend Erstbegehungen, auch viele Zweit- und Drittbegehungen. Eine Auswahl davon:
1967: Piz Ciavazes: Sudwand, Via Schubert (VI+, 220 m), unterer Teil mit Karl-Heinz Matthies am 26. Mai 1967, oberer Teil mit Klaus Werner am 3. Juni 1967, Sellagruppe, Dolomiten
1968: Guglia di Brenta: SW-Kante, Schubert/Werner (VI, 380 m), Brenta-Gruppe, Dolomiten
1969: Erstbesteigung des Roc Noir (Khangsar Kang, 7485 m), Karakorum
1970: Pala di Socorda, Sudwest-Wand, Schubert/Werner (VI+, 500 m) am 25. August 1970 Rosengarten, Dolomiten
1973: Schusselkarspitze: Schubert/Werner-Fuhre, Wettersteingebirge, mit Klaus Werner am 25. und 26. August 1973
1974 Torre Venezia: Direkte Sudverschneidung, Schubert/Werner/Wojas (VI/A3, 440 m), Civetta, Dolomiten (wegen Bergsturz nicht mehr begehbar)
1975: Fleischbank: Neue Ostwand, Pohlke/Schubert (VIII, 360 m), Kaisergebirge
1976: Erste Durchsteigung der Sudflanke der Annapurna IV (7525 m), Annapurna Himal
2002: Unterer Berggeistturm: Altherrenpartie (V, 210 m) im Oberreintal mit Manfred Thieme am 8. Juli 2002, Wettersteingebirge
Ehrungen Schubert erhielt fur seine Arbeit im Sicherheitskreis viele Ehrungen, dazu gehoren:
das Bundesverdienstkreuz,
die Ehrenmitgliedschaft der UIAA,
Ehrenmitgliedschaft des polnischen und des akademischen tschechischen Alpenvereins,
die „Konig-Albert-Verdienstmedaille“ und
der „Dietmar-Eybl-Preis fur Sicherheit am Berg“.
Werke Bekannt wurde er durch seine Alpinen Lehrschriften, die sich mehrheitlich um Sicherungsfragen drehen. Er hat aber auch Fuhrer und Kurzgeschichten verfasst. Ein Auszug aus seinen Schriften enthalt:
Koniger, Schubert, Werner: Montblanc Gruppe, Bergverlag Rother, 6. Auflage, Munchen 1974, ISBN 3-7633-2418-6
Moderne Felstechnik. Bergverlag Rother, Munchen 1975, ISBN 3-7633-6013-1.
Alpine Eistechnik. 12. neu bearbeitete Auflage. Bergverlag Rother, Munchen 1981, ISBN 3-7633-6055-7.
Die Anwendung des Seiles in Eis und Fels. Bergverlag Rother, 1998, ISBN 3-7633-6082-4.
Alpine Seiltechnik fur Anfanger und Fortgeschrittene. Bergverlag Rother, 2000, ISBN 3-7633-6083-2.
Alpenvereinsfuhrer Kaisergebirge extrem. Bergverlag Rother, 2000. ISBN 3-7633-1272-2.
Alpin-Lehrplan, Bd. 5: Sicherheit am Berg. BLV Verlagsgesellschaft, 2003, ISBN 3-405-16632-2.
Sicherheit und Risiko in Fels und Eis. Bergverlag Rother, Band 1, 7. Auflage, 2004, ISBN 3-7633-6016-6; Band 2, 2002, ISBN 3-7633-6018-2; Band 3, 2006, ISBN 3-7633-6031-X.
Anekdoten vom Berg: Amusante Geschichten vom Bergsteigen, Klettern und Skifahren. Bergverlag Rother, 2010, ISBN 3-7633-7039-0.
Klettersteiggehen. Bergverlag Rother, 7. Auflage, 2020, ISBN 978-3-7633-6019-2.
Weblinks und Literatur Literatur von und uber Pit Schubert im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
Ulrich Remanofsky: Die wilden Alten: Zehn Extrembergsteiger – ein Leben am Limit. Alpinverlag Jentzsch-Rabl GmbH, Bad Haring, 1. Auflage. 2021, ISBN 978-3-902656-30-8.
Einzelnachweise
|
Klaus-Peter „Pit“ Schubert (geboren am 2. Dezember 1935 in Breslau; gestorben am 28. Februar 2024) war ein deutscher Kletterer, Bergsteiger und Sachbuchautor. Er war Grundungsmitglied und langjahriger Leiter des Sicherheitskreises des Deutschen Alpenvereins.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Pit_Schubert"
}
|
c-479
|
Joseph Servan (* 14. Februar 1741 in Romans-sur-Isere; † 10. Mai 1808 in Paris) war ein franzosischer Autor, Offizier und Politiker. 1780 entwarf er das Idealbild eines „Burger-Soldaten“. 1792 war er zweimal kurzzeitig Kriegsminister in von den Girondisten dominierten Regierungen. In der Zeit des Terrors war er in Haft. Unter dem Direktorium und unter Napoleon Bonaparte diente er wieder als General.
Leben = Erste Jahre =
Servan kampfte kurzzeitig im Siebenjahrigen Krieg. Am Hofe Konig Ludwigs XVI. beaufsichtigte er zunachst die Pagen. Den neuen Ideen der Aufklarung stand er aufgeschlossen gegenuber und veroffentlichte in der beruhmten Encyclopedie ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers mehrere Artikel zu militarischen Themen.
= Le soldat citoyen =
In den Jahren 1760 bis 1771 verfasste Servan das Buch Le soldat citoyen („Der Burgersoldat“), das 1780 auf den Markt kam. Darin entwarf er die Idee einer neuen Armee, die franzosische Burger inspirieren wurde, aus Patriotismus Soldaten zu werden und Soldaten als ihre Mitburger zu behandeln. Dabei knupfte er an Gedanken von Jacques Antoine Hippolyte Guibert an. Im Vergleich mit den Hopliten und Legionaren der Antike thematisierte er die Rekrutierung und die Pragung des einzelnen Soldaten. Eine Gesellschaft und ihre Regierung mussten es wert sein, notfalls fur das Vaterland zu sterben, was das Frankreich seiner Gegenwart nicht fur sich in Anspruch nehmen konne: Seine Soldaten seien daher keine naturlichen Helden, sondern gewohnliche Manner, die mit Gewalt oder List in den Militardienst gebracht worden seien. Ihre Ausbildung sei erbarmlich und vor allem bringe man ihnen nicht bei, wofur sie eigentlich kampften. Dazu sei eine grundsatzliche Orientierung am Gemeinwohl, franzosisch bonheur nationale, notig. In diesem Zusammenhang setzte er sich kritisch mit den Kriegen Ludwigs XIV. auseinander: Die Streitigkeiten der Konige seien zwangslaufig zu denen der Volker geworden, und der blinde Ehrgeiz der Militars habe sie den Krieg herbeisehnen lassen. Servan schlug eine allgemeine Wehrpflicht fur alle Stande und Klassen und eine offentliche Anerkennung fur die Burgersoldaten vor. In diesem Zusammenhang sprach sich Servan gegen das Eheverbot fur die Soldaten aus, weil es deren Burgersinn und Ehrgefuhl nicht fordere. Den Franzosen warf er vor:
= Wahrend der Franzosischen Revolution =
Nach Ausbruch der Franzosischen Revolution wurde er 1791 Oberstleutnant eines Regiments. Im gleichen Jahr stellte er gemeinsam mit Jean-Girard Lacuee de Cessac seine Ideen zu einer Militarreform der Nationalversammlung vor, die sie begeistert begrußte. 1792 stieg er zum Marechal de camp auf. Am 9. Mai 1792 luden ihn die Girondisten ein, in ihrer Regierung Kriegsminister zu werden. Weil die Armee aus der Zeit des Ancien Regime potenziell konterrevolutionar war – die Garde du Corps des Konigs war im Mai 1792 aufgelost worden –, regte Servan an, eine „neue Elitearmee aus Burgern aller Kantone“ auszuheben: 20.000 Freiwillige sollten bei Paris in einem Militarlager stationiert und trainiert werden. Am 6. Juni 1792 fasste die gesetzgebende Nationalversammlung einen entsprechenden Beschluss. Zweck war es, eine Verlegung von Truppen, die derzeit noch in Paris stationiert war, an die Front zu ermoglichen. In Paris wurden die so genannten federes aber als gegen innere Feinde gerichtet wahrgenommen. Der Konig legte aber hiergegen und gegen die Deportation der eidverweigernden Priester sein Veto ein. Im Streit daruber wurde die Regierung und mit ihr Servan am 12. Juni 1792 abgesetzt.
Nach dem Tuileriensturm vom 10. August 1792, bei dem der Konig abgesetzt wurde, bekleidete Servan dieses Amt erneut. Als die Invasionstruppen im Ersten Koalitionskrieg die Festung Longwy eroberten, wollten Servan und Innenminister Jean-Marie Roland de La Platiere nach Blois fliehen, doch Justizminister Georges Danton setzte durch, dass die Regierung in Paris blieb.
Im Zusammenhang mit der Versorgung der Truppe wurde Servan Korruption vorgeworfen: So hatte er seinen Cousin und Patensohn, den Adligen Charles Ferdinand de Giller, mit einer halben Million Livre nach Großbritannien gesandt, um Waffen oder Pferde zu kaufen. Giller unterschlug das Geld und kehrte erst nach Ende der Revolution nach Frankreich zuruck. Servan zugutehalten ließe sich, dass er das vorher kaum existierende Versorgungswesen der Armee effektiv ausbaute und so zu den militarischen Erfolgen Frankreichs im Koalitionskrieg beitrug und dass die Vorwurfe von interessierter Seite vorgebracht wurden, namlich den Anhangern des hochverraterischen Generals Charles-Francois Dumouriez, der Servan verachtete, und vom seinerseits korrupten Francois Chabot. In der sich zuspitzenden Polemik zwischen den jakobinisch dominierten Sektionen und der girondistischen Mehrheit im Konvent riet Servan zu Besonnenheit: „Wenn wir ruhig und standhaft bleiben, wird die Sache der Freiheit im Kampf freier Menschen gegen Tyrannen triumphieren.“ Die Radikalen dagegen behaupteten, ein Sieg sei nur moglich nach dem Sturz der Girondisten, die schuld am Kriege seien und auch durch ihr unbegrundetes Vertrauen in General Dumouriez das Land in falsche Sicherheit gewiegt hatten.«Si nous sommes calmes et fermes, la cause de la liberte triomphera dans la lutte des hommes libres contre le tyrans.» Am 30. September trat Servan als Kriegsminister zuruck und ging als Kommandant zur Pyrenaenarmee.
= Haft und Ende =
Nachdem die Girondisten beim Aufstand der Pariser Sansculotten vom 31. Mai bis zum 2. Juni 1793 gesturzt worden waren, wurde Servan abgesetzt und kam in Haft. Dort scheint man ihn vergessen zu haben, denn er wurde wahrend der Terrorherrschaft nicht guillotiniert. Erst im Januar 1795 wurde er aus der Haft entlassen. Unter dem Direktorium erhielt er seinen militarischen Rang zuruck und diente als Truppeninspekteur in Sudfrankreich. 1807 nahm er aus Altersgrunden seinen Abschied und starb kurz darauf. Er wurde mit einer Nennung seines Namens auf dem Arc de Triomphe de l’Etoile geehrt.
Werke Le soldat citoyen, ou Vues patriotiques sur la maniere la plus avantageuse de pourvoir a la defense du royaume. Originalausgabe 1780, Reprint Hachette, Paris 2014, ISBN 978-2-01-347640-9.
Literatur Servan (Joseph) . In. Jean Tulard, Jean-Francois Fayard, Alfred Fierro: Histoire et dictionnaire de la Revolution Francaise. Editions Robert Laffont, Paris 1987, ISBN 2-221-04588-2, S. 1096 f.
Jacques-Francois Lanier: Le General Joseph Servan de Gerbey (Romans, 1741–Paris, 1808). Pour une armee au service de l’homme. Valence, 2001, ISBN 978-2-9504360-7-8.
Weblinks Einzelnachweise
|
Joseph Servan (* 14. Februar 1741 in Romans-sur-Isere; † 10. Mai 1808 in Paris) war ein franzosischer Autor, Offizier und Politiker. 1780 entwarf er das Idealbild eines „Burger-Soldaten“. 1792 war er zweimal kurzzeitig Kriegsminister in von den Girondisten dominierten Regierungen. In der Zeit des Terrors war er in Haft. Unter dem Direktorium und unter Napoleon Bonaparte diente er wieder als General.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Servan_(General)"
}
|
c-480
|
Der Ortelsbruch (offiziell Ortelsbruch ESE von Abtswind) ist ein Geotop in der Gemarkung von Abtswind im unterfrankischen Landkreis Kitzingen. Der Schilfsandstein aus dem Steinbruch wurde insbesondere im 18. Jahrhundert von bedeutenden Kunstlern fur Bauwerke und Bildhauerarbeiten verwendet.
Geografische Lage Der Ortelsbruch liegt auf etwa 385 m u. NHN im Osten der Abtswinder Gemarkung an der Nordseite des zur Gemeinde gehorenden Friedrichsbergs, der bis zum 18. Jahrhundert auch Monchsberg genannt wurde. Nordlich schließt sich die Flurlage Ortel an, von der die Steinbruche ihren Namen haben. Sie wird von der Kreisstraße KT 15 begrenzt, die hier als Rehweiler Straße verlauft. Sudlich der Bruche erhebt sich das Sommerschloss Friedrichsberg. Naturraumlich ist der Bruch im Mittleren Steigerwald verortet, wobei der Friedrichsberg die westliche Begrenzung des Mittelgebirges bildet. Der Ortelsbruch nimmt einen markanten Osthang des Berges ein und wird heute von mehreren Wanderwegen durch den Steigerwald erschlossen.
Etymologie Der Name des Steinbruchs leitet sich aus dem Altsachsischen ab, wobei das Wort „arut“ Erz bzw. Eisenerz zum heutigen Prafix Ortels- abgeandert wurde. Abtswind und seine Gemarkung liegen im sogenannten frankischen Wendland, in dem sich viele Ortsnamen auf verschiedene slawisch-wendische Ursprunge zuruckfuhren lassen. Michael Steinbacher verweist auf den fruhmittelalterlichen Eisenerzabbau im Steigerwald und seinem Vorland. Der weiter im Suden befindliche Ohrenberg bei Marktbreit hat die gleichen sprachlichen Wurzeln. Hinweise auf den Zusammenhang zwischen slawischer Besiedlung und dem Erzabbau finden sich außerdem bei Orten in der bei Berlin gelegenen Schorfheide, wie Ortstein und Ortsteinbach.
Beschreibung Das Geotop nimmt eine Flache von ca. 5000 m² ein und wurde vom Bayerischen Landesamt fur Umwelt mit der Geotopkennung 675A013 versehen. Besonderen Schutz erfahrt der hier sichtbare feinkornige Schilfsandstein mit seiner gleichmaßigen Struktur, der auf einer, fur den Mittleren Steigerwald typischen, Gipskeuperschicht aufliegt. Im Steinbruch wurden bereits im 19. Jahrhundert Schachtelhalm-Fossilien ausgegraben, die zu den altesten wissenschaftlich ausgewerteten fossilen Pflanzenfunden Frankens zahlen. Der Steinbruch wird seit 1997 wieder in zwei Lagen mit jeweils zwei bis drei Metern Machtigkeit von einer Firma aus Kleinlangheim abgebaut. Das Geotop ist aufgrund seiner Lage als Exkursions-, Forschungs- und Lehrobjekt interessant, der geowissenschaftliche Wert wird mit „wertvoll“, dem zweithochsten Wert, angegeben.
Besondere Bedeutung hat der Ortelsbruch allerdings fur die regionale und uberregionale Kunst- und Kulturgeschichte. Der Steinbruch diente bereits seit dem Mittelalter als bedeutende Quelle fur den grunen Schilfsandstein. So wurde der Bamberger Reiter aus den Blocken des Gesteins gehauen. Die farbliche Zusammensetzung des Gesteins und die leichte Bearbeitbarkeit bei gleichzeitig langer Haltbarkeit weckte vor allem im Barock das Interesse unterschiedlicher Baumeister und Bildhauer. Wahrend die meisten Bauten in Abtswind selbst mit Steinen aus dem Ortelsbruch errichtet wurden, konnte die Verwendung außerdem auf den Baustellen Balthasar Neumanns (barocke Klosterkirche Munsterschwarzach, Wurzburger Residenz) und bei Ferdinand Dietz (Figuren auf der Alten Mainbrucke in Wurzburg) nachgewiesen werden. Außerdem sollen sie in Werken von Matthaus Daniel Poppelmann und des Bildhauers Balthasar Permoser (Dresdner Zwinger) zu finden sein.
Literatur Matthias Reimann, Hermann Schmidt-Kaler: Wanderungen in die Erdgeschichte 13. Der Steigerwald und sein Vorland. Munchen 2002.
Weblinks Umweltatlas Bayern: Ortelsbruch ESE von Abtswind
Einzelnachweise
|
Der Ortelsbruch (offiziell Ortelsbruch ESE von Abtswind) ist ein Geotop in der Gemarkung von Abtswind im unterfrankischen Landkreis Kitzingen. Der Schilfsandstein aus dem Steinbruch wurde insbesondere im 18. Jahrhundert von bedeutenden Kunstlern fur Bauwerke und Bildhauerarbeiten verwendet.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Ortelsbruch"
}
|
c-481
|
Das Gebiet mit der Bezeichnung Tote Reuss-Alte Reuss ist eine Gewasserlandschaft an der Reuss und ein 1992 ausgewiesenes Naturschutzgebiet im Schweizer Kanton Aargau. Die Auenlandschaft von nationaler Bedeutung umfasst neben einer mehrere Kilometer langen Flussstrecke im Unteren Reusstal verschiedene Altwasser mit Feuchtgebieten und dem See Stille Reuss (nicht zu verwechseln mit dem Schutzgebiet «Stille Reuss» 12 km weiter flussaufwarts).
Das Areal ist eines von sieben Auenschutzgebieten am Unterlauf der Reuss im Schweizer Mittelland. Es wird in der Weltdatenbank der Schutzgebiete (WDPA) unter der Objektnummer 148601 gefuhrt und entspricht als Biotop- und Artenschutzgebiet der IUCN-Kategorie IV. Es befindet sich mitten in der geschutzten Region «Reusslandschaft» des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmaler von nationaler Bedeutung und in einem Projektgebiet des Auenschutzparks Aargau.
Landschaftsgeschichte Die 80 Hektar grosse Auenlandschaft liegt zwischen den Stadten Bremgarten und Mellingen an der nach Norden fliessenden Reuss auf dem Gebiet der Gemeinden Bremgarten, Eggenwil, Kunten und Fischbach-Goslikon. Im flachen Talboden, der auf der Hohe von 357 m liegt und ringsum von Hugellandschaften und Moranen gesaumt ist, schuf die Reuss seit dem Ende des Eiszeitalters ein Flussbett mit vier grossen, maanderartigen Schlaufen. Der Talboden besteht aus fluvioglazialen Sedimenten mit Seebodenlehm, Sand- und Schotterablagerungen, Auelehm und (ausserhalb des oft gefluteten Flussbetts) Oberboden. Weiter unten durchquert der Fluss in einer Schlucht die vom eiszeitlichen Reussgletscher geschaffene Schotterterrasse von Niederwil und die Endmorane des Reussgletschers wahrend des sogenannten Schlierenstadiums. Dort liegen im Flussbett der Reuss zahlreiche freigelegte Findlinge.
Im 19. Jahrhundert liess der Kanton Aargau nach einem Vorschlag des Ingenieurs Johann Gottfried Tulla durch zwei weit ausholende Bogen der Reuss ein kurzeres Flussbett ausheben und zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Hinterland auf beiden Seiten mit hohen Leitdammen gegen Uberschwemmungen schutzen. Um 1820 entstand zuerst der Durchstich bei Fischbach, und der nun abgeschnittene Altarm wurde spater «Tote Reuss» genannt. Kurz danach wurde mit grossem Aufwand auch durch die Flussterrasse der Rohrau bei Sulz ein Kanal gegraben, der jedoch den alten Lauf der Reuss noch nicht ganz abschnitt, sondern vorerst nur eine grosse Insel schuf. Erst mit dem Bau des Damms am rechten Ufer entstand in diesem Altarm ein Stillgewasser. Auf einem Teil der trockengelegten Flachen gewannen die Dorfer neues Ackerland, wahrend im alten, von Wald gesaumten Flussbett feuchte, sumpfige Senken mit einigen Weihern ubrig blieben, die zunehmend verlandeten.
Bei der Ortschaft Sulz in der Gemeinde Kunten am rechten Ufer der Reuss liegt der Altarm mit der Bezeichnung «Alte Reuss» oder auch «Altwasser Rohrau». Durch die lange, schmale Rinne mit Geholz, feuchten Uferstreifen und einem See fliesst jetzt ein kleiner Bach, der im Gebiet Giesse den Quellbach aus der Holenau und bei Sulz den Kuntenerbach aufnimmt. Um 1920 passte der Kanton Aargau an dieser Stelle die Gemeinde- und Bezirksgrenzen den neuen Gegebenheiten an; die ehemalige Halbinsel «Rohrau» gehorte vor der Gewasserkorrektion zu Fischbach-Goslikon im Bezirk Bremgarten und wurde jetzt der Gemeinde Kunten im Bezirk Baden (Aargau) zugeschlagen. Dort, wo die Gemeindegrenze von Eggenwil und Kunten das ehemalige Flussufer erreicht, steht ein alter Grenzstein aus dem 18. Jahrhundert mit den Wappen der damaligen Territorien Grafschaft Baden und Landvogtei Freie Amter.
Im Gebiet des abgeschnittenen Flussbogens auf der linken Seite, das heute «Tote Reuss» genannt wird, liegen zwei kleine, nur zum Teil verlandete Seen mit ausgedehnten Schilfgurteln. Das nordliche Gewasser, das 1911 beim Bau eines Reussdamms entstand, bezeichnet man in der Region auch als «Stille Reuss», das sudliche auch als «Altwasser Kalberweid». Die offene, landwirtschaftlich genutzte Flache im Inneren des Bogens hat den Namen «Insel»; fruher hiess sie «Sulzerinsel», weil sie vom Dorf Sulz aus zuganglich war, das seit der Korrektion des Flusses auf der gegenuberliegenden Seite liegt. In die Tote Reuss mundet der eingedolte Wissbach.
Zum Auenschutzgebiet gehort ausserdem der Flussabschnitt mit der oberhalb der Alten Reuss liegenden Flussschlaufe, wo auf beiden Seiten breite Streifen von Auwald erhalten geblieben sind. Um 2005 wurden im rechtsufrigen Auengebiet «Foort» in einem Revitalisierungsprojekt des Programms «Auenschutzpark Aargau» die feste Uferverbauung an der Reuss wieder entfernt und zwei Nebengerinne ausgebaggert, die jetzt manchmal bei Hochwasser uberflutet sind. Am gegenuberliegenden Steilhang mundet der Mauchbach, der das Amphibienlaichgebiet im Dickholzli entwassert, in die Reuss.
Flussabwarts umfasst das Auengebiet nordlich von Goslikon noch die Sumpf- und Moorlandschaft «Holl», einen durch die naturliche Flussdynamik abgeschnittenen Altarm. In diesem Bereich mundet der Hollbach in die Reuss. Auf der anderen Seite erreicht der Grossmattbach beim Campingplatz von Sulz den Fluss.
Etwa ein Dutzend Flachen in diesem Abschnitt des Reusstals sind Schutzgebiete der Schweizer Naturschutzorganisation Pro Natura, die zusammen mit dem Kanton Aargau die Revitalisierung des Gebiets «Foort» durchfuhrte und fur die Pflege der Areale zustandig ist. Wichtig ist besonders das regelmassige Mahen oder Beweiden der Gebiete um die neuen Amphibientumpel.
Die Uferzone an der Reuss ist mit einem Netz von Verkehrswegen erschlossen. Durch das Kulturland und die Nutzwalder fuhren Feld- und Waldstrassen, die zum Teil auch von der Schweizer Armee genutzt werden; die auf dem Waffenplatz Bremgarten stationierten Genietruppen benutzen einen Raum an der Reuss als Ubungsbruckenstelle. Den beiden Flussufern folgen Wanderwege, zu denen der uberregionale «Aargauer Weg» gehort. Im Bereich zwischen der Alten Reuss und der Toten Reuss erlaubt in den Sommermonaten an Wochenenden eine Fahre das Uberqueren des Flusses; sie wird vom Fahriverein Sulz-Fischbach betrieben. Die Gemeindebehorden planen den Bau eines ganzjahrig benutzbaren Fussgangerstegs, der die Lucke in der Reihe der Reussbrucken zwischen Bremgarten und Gnadenthal schliessen wurde. Das Projekt wird von den Umweltverbanden BirdLife, Pro Natura und WWF Schweiz unterstutzt, weil durch die vorgesehenen okologischen Ausgleichsmassnahmen die Naturlandschaft der Flussaue aufgewertet wird.
Bei Fischbach-Goslikon und Eggenwil durchquert die Swissgas-Pipeline von Staffelbach nach Schlieren das Reusstal und das Auenschutzgebiet. Der 1974 gebaute Anschluss des Gasverbunds Ostschweiz an die internationale Transitgasleitung unterquert im Schutzgebiet «Foort» mit einem Duker die Reuss.
Schutzgebiete Im Auengebiet «Tote Reuss-Alte Reuss» sind die Wasserzone und einige Abschnitte auf beiden Seiten des Flusses durch das kantonale Reussuferschutzdekret vom 17. Marz 1966, durch Paragraf 42, Absatz 5 der Verfassung des Kantons Aargau, der den Auenschutzpark betrifft, sowie durch die Auenschutzverordnung des Bundes vom 28. Oktober 1992 geschutzt.
Die Verordnung uber den Schutz der Amphibienlaichgebiete von nationaler Bedeutung vom 15. Juni 2001 bezeichnet in dieser Landschaft alle Uferbereiche neben der Reuss und die Altwasser zudem auch als national bedeutende Amphibienlaichgebiete. Als einzelne Naturreservate fuhrt das Bundesinventar der Amphibienlaichgebiete von nationaler Bedeutung die Flachen «Eichholz-Hegnau», «Foort», «Letzi», «Alte Reuss», «Tote Reuss» und «Zelgli/Holl» auf. Weitere wichtige Amphibienlaichgebiete liegen in unmittelbarer Nahe im gleichen Abschnitt des Reusstals. Im Schutzgebiet sind gemass dem kantonalen Amphibieninventar der Kammmolch, der Bergmolch, der Feuersalamander, der Fadenmolch, die Gelbbauchunke und die Kreuzkrote nachgewiesen.
Die Feuchtgebiete der Flache «Tote Reuss» sind ausserdem im Bundesinventar der Flachmoore von nationaler Bedeutung ausgewiesen. Die Vegetation dieser Zone ist gepragt von Schilfrohricht, Gross- und Kleinseggenried, Pfeifengraswiesen und Geholz.
1985 bis 1986 liess der Kanton Aargau den verlandeten See im inneren Altwasser «Tote Reuss» wiederherstellen. 2022 wurden im Gewasser «Stille Reuss» Sedimente entfernt, um den fur viele Pflanzen- und Tierarten wertvollen Lebensraum zu erhalten. Die mit der Reuss durch einen Bach verbundenen Seen sind gerade auch wegen der verbreitet vorkommenden Schwimmblattpflanzen wie der Weissen Seerose und der Grossen Teichrose bedeutende Fischlaichgewasser. Die Vegetation in der flachen Zone zwischen beiden Seen weist wertvolle geschutzte Pflanzengemeinschaften mit dem Lungen-Enzian, der Sibirischen Schwertlilie und dem Teufels-Abbiss auf. In der «Hegnau» wurde 2012 ein kunstlicher Weiher als Lebensraum fur Fische und Amphibien geschaffen.
Naturkundliche Erhebungen in den 1980er Jahren wiesen fur das Gebiet «Tote Reuss» 28 Libellenarten und neue Erhebungen von 2001 bis 2019 fur beide Seen zusammen sogar 39 dieser zum Teil bedrohten Arten nach. In den Schutzgebieten kamen in den 1970er Jahren 12 Vogelarten vor, darunter der stark gefahrdete Eisvogel. Im Gebiet «Stille Reuss» wurden 21 Fischarten festgestellt.
2015 erneuerte die Organisation Pro Natura Aargau in einem Revisionsprojekt zusammen mit Kantonsbehorden und den Gemeinden das Informationskonzept in den Naturreservaten. Zahlreiche alte Informations- und Gebotstafeln unterschiedlicher Herkunft wurden durch visuell einheitliche Kennzeichnungen ersetzt, die teils die gultigen Vorschriften anzeigen und teils uber okologische Sachthemen informieren. Die grafische Gestaltung der Tafeln richtet sich nach dem neuen, 2016 vom Bundesamt fur Umwelt veroffentlichten Markierungssystem fur Schweizer Schutzgebiete.
Schutzziel Fur die Naturschutzgebiete an der Reuss gelten aufgrund der Kantonsverfassung, des Reussuferschutzdekrets und der Verordnungen zu den verschiedenen Bundesinventaren mehrere Schutzziele:
Erhaltung der Auenlandschaft
Forderung der naturlichen Flussdynamik
Schutz der Lebensraume fur seltene und gefahrdete Tier- und Pflanzenarten
Offenhalten der Flachgewasser
Forderung des naturlichen Auwaldes
Bilder Literatur Christoph Flory: Die Auenrenaturierung im Gebiet Foort, Eggenwil. 2006.
Tobias Liechti (u. a.): Stille Reuss Fischbach-Goslikon Aufwertungsprojekt. Okologie und Materialverwendung. Erganzung zum Auflageprojekt. Hrsg.: Ortsburgergemeinde Bremgarten. 2020.
Franz Studer: Reusskorrektion. In: Dorfchronik Fischbach-Goslikon 1048–1991. 1991, S. 103–111.
Hans Annaheim, Alfred Bogli, Samuel Moser: Die Phasengliederung der Eisrandlagen des wurmeiszeitlichen Reussgletschers im zentralen schweizerischen Mittelland. In: Geographica Helvetica. Schweizerische Zeitschrift fur Geographie, 13. Jg., 1958, S. 217–231.
Weblinks Karte des Auenschutzgebiets
Tote Reuss-Alte Reuss in der World Database on Protected Areas
Auenschutzpark Aargau. Unteres Reusstal auf stiftung-reusstal.ch
Auenschutzpark Aargau im Geoportal des Kantons Aargau
Naturschutzgebiet Foort (AG). Wo Biber holzen und Eisvogel fischen. Auf der Website von Pro Natura
Einzelnachweise
|
Das Gebiet mit der Bezeichnung Tote Reuss-Alte Reuss ist eine Gewasserlandschaft an der Reuss und ein 1992 ausgewiesenes Naturschutzgebiet im Schweizer Kanton Aargau. Die Auenlandschaft von nationaler Bedeutung umfasst neben einer mehrere Kilometer langen Flussstrecke im Unteren Reusstal verschiedene Altwasser mit Feuchtgebieten und dem See Stille Reuss (nicht zu verwechseln mit dem Schutzgebiet «Stille Reuss» 12 km weiter flussaufwarts).
Das Areal ist eines von sieben Auenschutzgebieten am Unterlauf der Reuss im Schweizer Mittelland. Es wird in der Weltdatenbank der Schutzgebiete (WDPA) unter der Objektnummer 148601 gefuhrt und entspricht als Biotop- und Artenschutzgebiet der IUCN-Kategorie IV. Es befindet sich mitten in der geschutzten Region «Reusslandschaft» des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmaler von nationaler Bedeutung und in einem Projektgebiet des Auenschutzparks Aargau.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Tote_Reuss-Alte_Reuss"
}
|
c-482
|
Die Marienkirche ist ein geschutztes Kulturdenkmal mit der Objekt-ID 3093 im Denkmalschutzgesetz in Hemmingstedt, einer Gemeinde im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein. Die Kirchengemeinde, die neben Hemmingstedt den Nachbarort Lieth umfasst, gehort zum Kirchenkreis Dithmarschen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
Geschichte Das Kirchspiel Hemmingstedt ist zuerst in einer Urkunde von 1323 erwahnt. Die Kirche ist nach der Gottesmutter Maria benannt.
Nach dem Sieg in der Schlacht bei Hemmingstedt am 17. Februar 1500 stifteten Dithmarscher aus Dankbarkeit ihrer Schutzpatronin Maria gegenuber 1502 in der Nahe des Schlachtfeldes ein Benediktinerinnenkloster. In der kurzen Zeit seines Bestehens diente die Hemmingstedter Pfarrkirche den Nonnen als Klosterkirche. Dafur wurde der Chor vergroßert. Da sich jedoch nicht genugend Dithmarscher Jungfrauen fanden, die sich der Klosterregel unterwerfen wollten, wandelte das Hamburger Domkapitel als geistliche Obrigkeit die Stiftung 1513 in ein Franziskanerkloster um und verlegte es nach Lunden. Von den laut Bolten holzernen Konventsgebauden neben dem Friedhof hat sich nichts erhalten.
Wahrend der Letzten Fehde 1559 wurde auch die Hemmingstedter Kirche beschadigt. Die Landkarte, auf der Peter Boeckel im selben Jahr die Eroberung Dithmarschens durch den danischen Konig pries, aber auch die Zerstorungen dokumentierte, zeigt die Marienkirche umgeben von einem Wall etwas abseits des Ortes „Hennckste“. Aus den getrennten Dachern fur Langschiff und Chor schlagen hohe Flammen. Anschließend waren großere Umbaumaßnahmen notwendig. Da fast das gesamte Inventar erst spater angeschafft wurde, ist davon auszugehen, dass auch der Großteil der Kirchenausstattung damals verloren ging.
Baubeschreibung Die um 1300 erbaute fruhgotische Feldsteinkirche soll einen holzernen Vorgangerbau gehabt haben. Die mittelalterliche Kirche wurde Anfang des 16. Jahrhunderts nach Osten verlangert, um als Klosterkirche dienen zu konnen, und in der zweiten Halfte des Jahrhunderts durch einen Umbau stark verandert. Die ursprunglich zwei Joche des Langhauses wurden mit dem eingezogenen, gerade geschlossenen Chor im Osten unter einem Dachstuhl zwischen Giebeln aus Backsteinen zusammengefasst. Dabei wurde das vermutlich durch den Brand 1559 zerstorte Gewolbe durch eine Flachdecke ersetzt. Die Fenster wurden bei einer Restaurierung 1873 vergroßert, die zugemauerten ursprunglichen Fenster sind an den Außenwanden noch zu erkennen. Gleichzeitig wurde der Chorbogen erweitert.
Aus dem Satteldach des Langhauses erhebt sich ein Dachreiter mit einer Turmuhr und spitzem Helm. An der Sudwand des Chores wurde im 16. Jahrhundert ein Vorhaus angebaut. Ein Kriegerdenkmal an der Nordseite baute 1953 Gerhard Langmaack an.
Ausstattung Zur Kirchenausstattung gehoren ein Kruzifix von etwa 1500 an der Sudwand des Chores und eine Kanzel im Renaissancestil von 1560, auf deren Brustung die vier Evangelisten zwischen schlichter Rankenschnitzerei aufgemalt sind. Es ist die alteste erhaltene Kanzel in Dithmarschen. Allerdings wurde sie erst 1652 in der Hemmingstedter Kirche aufgestellt und mit dem damals hergestellten Schalldeckel erganzt. Moglicherweise stammt sie aus einer in der Burchardiflut 1634 untergegangenen Kirche.
Das Altarretabel von 1570 ist wie ein gotischer Flugelaltar gestaltet und in seiner Form und Gestaltung einzigartig. Die manieristischen Gemalde zeigen im Mittelbild die Kreuzigung und auf den Innenseiten der Flugel mit dem Verhor vor dem Hohepriester, der Kreuztragung, Kreuzabnahme und Grablegung vier Szenen der Passionsgeschichte. Vier chronologisch davorliegende Szenen mit dem Abendmahl, dem Gebet in Getsemane und der Festnahme Jesu befinden sich auf den Außenflugeln. Einige dieser Bilder entstanden nach Vorbild von Albrecht Durers Kleiner Passion. Die Predella zeigt in vier quadratischen Feldern vier Brustbilder bartiger Manner, die anhand ihrer Attribute als der Apostel und Evangelist Matthaus, der Evangelist Markus mit Buchrolle – es konnte sich auch um den Apostel Paulus handeln – und die Apostel Petrus mit Schlussel und Andreas mit Andreaskreuz zu erkennen sind. Uber den Rahmen erinnert eine Inschrift an die Renovierung des Altars 1681, bei der die Bilder stark ubermalt wurden. Ein schmales Brett enthalt weitere Brustbilder, von denen nur der nackte Christus in der Mitte und ein Engel eindeutig zu identifizieren sind. Der Aufbau besteht aus drei halbrunden Tafeln. Die rechte Tafel stellt statt der im ublichen Bildprogramm zu erwartenden Auferstehung die Szene dar, wie der Auferstandene beim Brotbrechen in Emmaus erkannt wird. Entgegen dem biblischen Bericht sitzen drei statt zwei Manner neben Jesus am Tisch. Links ist die Himmelfahrt Jesu abgebildet. Das mittlere, großte Bild zeigt das Jungste Gericht. Ungewohnlich fur eine evangelische Darstellung knien Maria und Johannes der Taufer als Furbitter vor dem auf der Weltkugel thronenden Weltenrichter.
Neben dem Altar steht eine Marienfigur von Otto Flath. Flath stellte 1963 auch den holzernen Taufbeckenhalter her. Dieser ersetzte ein Kalksteintaufbecken, das seit 1873 in der Kirche stand. Damals verkaufte die Kirchengemeinde die um 1300 in einer Luneburger Werkstatt hergestellte Bronzefunte an einen Schrotthandler. Uber einen Umweg nach England gelangte das Taufbecken 1879 ins Germanische Nationalmuseum. Die auf drei Tragerfiguren ruhende Funte ist mit kleinen Reliefs von Heiligen geschmuckt und ahnelt sehr der Bronzefunte im Meldorfer Dom.
Auf 23 Seitenwangen des Gestuhls befinden sich Wappen der ansassigen Geschlechter von 1579/80. Besonders haufig sind die Hogenworder vertreten, die einen halben Adler und neun Rauten im Wappen fuhrten. Dasselbe Wappen findet sich auch auf dem Epitaph, das der 64-jahrige Kirchspielbevollmachtigte Jakob Heldt seiner 1672 mit 37 Jahren verstorbenen Frau Anna Wolffen setzte. Es zeigt in einem Rahmen aus Knorpelwerk ein geschnitztes Kruzifix von 1909, das vermutlich ein alteres Kreuz ersetzt, vor einer gemalten Stadt mit Saulengangen, backsteinroten Hausern und einer doppelturmigen Kirche. Der Platz fur den Sterbeeintrag des Stifters blieb frei.
Glocken Nordwestlich der Saalkirche steht ein Campanile als Glockenturm, dessen holzerner Vorganger 1958 durch ein Feldsteinbauwerk ersetzt wurde. In seinem Glockenstuhl hangen drei Glocken, von denen die alteste 1453 gegossen wurde; sie tragt die Inschrift: „Maria bin ick geheten, das Kaspel in Hemminghstede het mi geheten“. Unten im Turm steht eine 1888 umgegossene Glocke als Erinnerung fur die Hemmingstedter Gefallenen beider Weltkriege.
Eine weitere Glocke hangt als Stundenglocke im Dachreiter; sie wird „Luther-Glocke“ genannt. Der Sage nach soll sie von dem Geld gegossen worden sein, das papsttreue Dithmarscher Bauern sammelten, um ein Attentat auf den Reformator Martin Luther durchzufuhren und so die Einfuhrung der Reformation zu verhindern. Angeblich habe man zu diesem Zwecke kurz nach dem Mord an Heinrich von Zutphen einen Bauern namens Nicolaus Craisbach als Attentater nach Wittenberg entsandt. Dieser habe sich jedoch von Luther bekehren lassen und sei als lutherischer Prediger nach Dithmarschen zuruckgekehrt. 1596 habe er kurz vor seinem Tod von dem Blutgeld die Hemmingstedter Glocke gießen lassen. Johann Adrian Bolten berichtete zwar auch von einem von „Papisten“ zum Morder gedungenen jungen Mann ahnlichen Namens, ohne jedoch einen Zusammenhang mit der Hemmingstedter Glocke zu ziehen. Laut Bolten stammte dieser Johannes Creisbach aber aus Westfalen und sei um 1529 als junger Monch nach Wittenberg gekommen, um mit Luther zu disputieren, habe sich jedoch schnell von dessen Lehre uberzeugen lassen und sei fur einige Zeit Luthers Gehilfe gewesen, ehe er eine Pfarrstelle in seiner Heimat annahm. Nach Dithmarschen kam er erst nach Luthers Tod 1548, weil er das Augsburger Interim nicht annehmen wollte, und wurde zunachst in Neuenkirchen Pastor und 1559 – im Jahr der Letzten Fehde – Pastor und spater auch Propst in Wohrden.
Literatur Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler, Hamburg, Schleswig-Holstein. Deutscher Kunstverlag, Berlin, Munchen 2009, S. 366.
Weblinks Herzlich Willkommen in der Kirchengemeinde Hemmingstedt. Abgerufen am 4. Januar 2023.
Einzelnachweise
|
Die Marienkirche ist ein geschutztes Kulturdenkmal mit der Objekt-ID 3093 im Denkmalschutzgesetz in Hemmingstedt, einer Gemeinde im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein. Die Kirchengemeinde, die neben Hemmingstedt den Nachbarort Lieth umfasst, gehort zum Kirchenkreis Dithmarschen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Marienkirche_(Hemmingstedt)"
}
|
c-483
|
Thando Bulane-Hopa (* 1989 in Sebokeng) ist ein sudafrikanisches Model, Aktivistin und Juristin. Sie ist der erste Mensch mit Albinismus, der auf der Titelseite einer Vogue abgebildet wurde.
Werdegang Thando Hopa wuchs in Lenasia South, einem Stadtteil von Johannesburg, auf und lebte spater in Walkerville. Sie hat drei Geschwister, darunter einen Bruder, der ebenfalls von Albinismus betroffen ist. Sie selbst sagte spater, dass sie eine schone Kindheit hatte, mit hilfsbereiten Eltern und einer liebevollen Großmutter. Als Kind gehorte sie zu den Darstellern in den ersten Staffeln von Takalani Sesame (der sudafrikanischen Ausgabe der Sesamstraße), die von Thando Hopas Mutter, Seipati Bulane-Hopa, produziert wurde, einer der ersten Dokumentarfilmerinnen Afrikas.
Insbesondere nach ihrer Einschulung wurde Hopa bewusst, dass ihre Haut eine andere Farbe als die ihrer Mitschuler hatte. Nachbarskinder und Schulkameraden nannten sie „Isimawa“ (die Verfluchte) und mieden Beruhrungen mit ihr, Erwachsene spuckten vor ihr aus, weil das angeblich Gluck bringe. In der Oberschule versuchte sie zunachst, ihren Albinismus mit Kopfbedeckungen zu kaschieren. Weil sich die Leute daruber mokierten, ging sie ohne Sonnenschutz, um dieselbe Hautfarbe wie ihre Schulkameraden zu erlangen, weshalb sie sich einen lebensgefahrlichen Sonnenbrand zuzog.
Hopa besuchte die private St. Martin’s High School in Johannesburg und erwarb an der Witwatersrand-Universitat einen Bachelor-of-Laws-Abschluss; in dieser Zeit begann sie, mit Mode und ihrem Aussehen zu experimentieren. Zwei Jahre spater wurde sie Staatsanwaltin bei der Nationalen Anklagebehorde (National Prosecuting Authority = NPA). Sie war die jungste in ihrer Johannesburger Gruppe von Neulingen und vorrangig mit Sexualdelikten befasst. Hopa sagt, ihre großte Herausforderung sei nicht nur gewesen, zu lernen, mit Menschen umzugehen, sondern auch, ihre eigenen Vorurteile abzulegen.
Anfang der 2010er Jahre wurde Thando Hopa in einem Einkaufszentrum von dem sudafrikanischen Modemacher Gert-Johan Coetzee angesprochen, der sie als Model verpflichtete. Da sie wegen des Albinismus sehbehindert ist und vorher niemals hohe Schuhe getragen hatte, bedeuteten ihre ersten Laufstegerfahrungen bei der „South African Fashion Week“ eine Herausforderung fur sie. Albinismus ist in der internationalen Modelbranche nicht neu; zu den Topmodels gehoren Stephen Thompson, Diandra Forrest und Shaun Ross. Das erste Model mit Albinismus der Welt war Connie Chiu aus Hongkong, die 1994 fur Jean Paul Gaultier in Paris arbeitete.
2018 wurde Hopa als „Princess of Hearts“ fur den Pirelli-Kalender gecastet und war damit die erste sudafrikanische Person of Color, die darin erschien, und sie spielte die Rolle der Artemis in der britisch-amerikanischen Miniserie Troja – Untergang einer Stadt. Im Jahr 2020 wurde Thando Hopa Stipendiatin des „Narratives Lab“ des Weltwirtschaftsforums und wurde von der Singer-Songwriterin, Schauspielerin und Aktivistin Angelique Kidjo betreut. Sie war Jurymitglied bei der Wahl der Miss South Africa 2019. Im selben Jahr war sie als erster Mensch mit Albinismus auf dem Cover von Vogue Portugal unter der Uberschrift „Africa Motherland“ zu sehen.
Hopa engagiert sich fur die Akzeptanz von Albinismus. Menschen mit dieser Stoffwechselstorung sind vor allem in Ostafrika von Verfolgung und Diskriminierung bedroht, die auf Aberglauben beruhen: Zum einen glaubt man, dass Korperteile von Menschen mit Albinismus Wunderheilkrafte besitzen, weshalb sie getotet und zerstuckelt werden, oder sie gelten als „verflucht“. In vielen afrikanischen Sprachen werden sie zudem mit verachtlichen Begriffen bezeichnet. Daher komme Thando Hopas Modelkarriere einer Revolution gleich, so die deutsche Zeitung Die Welt. 2018 wurde Hopa mit dem 100-Women-Award der BBC fur ihr Engagement fur Vielfalt und Inklusion ausgezeichnet.
Weblinks Thando Hopa bei IMDb
Thando Hopa. In: models.com. Abgerufen am 6. Januar 2024.
Einzelnachweise
|
Thando Bulane-Hopa (* 1989 in Sebokeng) ist ein sudafrikanisches Model, Aktivistin und Juristin. Sie ist der erste Mensch mit Albinismus, der auf der Titelseite einer Vogue abgebildet wurde.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Thando_Hopa"
}
|
c-484
|
Edward Ullendorff (* 25. Januar 1920 in Berlin; † 6. Marz 2011 in Oxford) war ein britischer Semitist und Athiopist deutscher Herkunft. Er lehrte von 1964 bis 1979 als Professor fur Athiopistik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) und hatte dort von 1979 bis zu seiner Emeritierung 1982 den Lehrstuhl fur Semitische Sprachen inne.
Leben Ullendorf wuchs als Einzelkind in einer großburgerlichen, wenig religiosen, judischen Familie in Berlin-Prenzlauer Berg auf. Sein Vater war der Großkaufmann Friedrich Ullendorff (1887–1935), der insbesondere die Deutsche Reichsbahn mit Salz belieferte, er starb kurz vor Edwards 15. Geburtstag. Seine Mutter Cilli (geb. Pulvermann) war teilweise in Liechtenstein aufgewachsen. Anders als seine Eltern interessierte sich Ullendorff sehr fur die judische Religion und insbesondere die hebraische Sprache. Nach der Grundschule in der Pasteurstraße besuchte er von 1930 bis 1938 das altsprachliche Gymnasium zum Grauen Kloster. Bereits in seinem Aufnahmeantrag fur das Gymnasium gab Ullendorff als Berufswunsch an, orientalische Sprachen zu studieren. Er war regelmaßig Primus (Klassenbester) in Latein und Griechisch. In seiner Freizeit lernte er Hebraisch, war in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße gelegentlich Kantor und brachte Bar-Mitzwa-Kandidaten die Kantillation der Hebraischen Bibel (Tanach) bei. Mit Erlaubnis von Ismar Elbogen durfte er bereits vor dem Abitur Vorlesungen in Hebraisch, Bibel- und Talmudkunde an der Hochschule fur die Wissenschaft des Judentums besuchen.
Im Marz 1938 legte Ullendorff das Abitur ab. Angesichts der zunehmenden Verfolgung von Juden im NS-Staat emigrierte er im September desselben Jahres, zwei Monate vor den Novemberpogromen, mit Hilfe der Kinder- und Jugend-Alija ohne seine Familie nach Palastina. Die Mutter floh spater nach Belgien, wo sie 1940 an einem Herzinfarkt starb. Seine Großmutter wurde im Holocaust ermordet. In Jerusalem nahm Edward Ullendorff ein Studium der Semitistik an der Hebraischen Universitat auf, sein pragendster akademischer Lehrer war Hans Jakob Polotsky. Durch Zufall wohnte Ullendorff zu Beginn seines Studiums in Jerusalem in der Athiopischen Straße, nahe des athiopisch-orthodoxen Klosters Debra Gennet. Als erster Student der Hebraischen Universitat schloss er 1942 mit einem Mastergrad in Semitischer Philologie ab.
Anschließend trat er in den Dienst der britischen Militarverwaltung in Eritrea, das die britischen Truppen im Zuge des Ostafrikafeldzugs 1941 von der Kolonialmacht Italien erobert hatten. In Asmara arbeitete Ullendorff zunachst bei der britischen Zensurbehorde, wo er aufgrund seiner Kenntnisse semitischer Sprachen Dokumente auf Amharisch und Tigrinya prufte. Er heiratete 1943 Dina Noack, die er seit seiner Studienzeit in Jerusalem kannte und deren Familie ebenfalls aus Berlin kam. Von 1945 bis 1946 amtierte Ullendorff als stellvertretender politischer Sekretar der britischen Militarverwaltung von Eritrea. In dieser Funktion grundete er die Eritrean Weekly News, die erste Zeitung in Tigrinya-Sprache. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Ullendorff zunachst nach Jerusalem zuruck, wo er 1946 bis 1947 als Registrar in der Verwaltung der Hebraischen Universitat arbeitete. Nach dem Bombenanschlag der revisionistisch-zionistischen Irgun auf das King David Hotel in Jerusalem bearbeitete er fur die britische Mandatsverwaltung Entschadigungszahlungen fur Opfer von Terroranschlagen. Ullendorff wurde auch selbst einmal von Irgun entfuhrt.
Nach der Unabhangigkeit Israels 1948 ging er nach Großbritannien, wo er zunachst am Institut fur Kolonialstudien der Universitat Oxford kunftigen Kolonialbeamten Arabisch beibrachte. Bei Godfrey Rolles Driver promovierte Ullendorff 1951 in Oxford mit einer Arbeit uber die Beziehung der modernen athiopischen Sprachen zum altathiopischen Ge’ez zum DPhil. Bereits ein Jahr zuvor wurde er zum Lecturer fur semitische Sprachen an der University of St Andrews in Schottland ernannt, 1956 stieg er zum Reader auf. Ullendorff wurde 1959 als Professor fur semitische Sprachen und Literaturen an die University of Manchester berufen.
Funf Jahre spater wechselte er auf eine eigens fur ihn geschaffene Stiftungsprofessur fur Athiopistik an der School of Oriental and African Studies (SOAS) der Universitat London, dies war der erste spezifisch athiopistische Lehrstuhl weltweit. Ullendorff war von 1968 bis 1978 Vorsitzender des Herausgeberbeirats des Bulletin of the School of Oriental & African Studies (BSOAS). Von 1972 bis 1979 war er Direktor der Afrikaabteilung der SOAS. Von 1975 bis 1979 und erneut von 1981 bis 1985 amtierte er als Vizeprasident der Royal Asiatic Society. Als Nachfolger Judah B. Segals wurde Ullendorff 1979 auf den Lehrstuhl fur semitische Sprachen der SOAS berufen. Mit seinem Eintritt in den Ruhestand 1982 ernannte die Universitat London ihn zum Professor emeritus sowohl fur semitische Sprachen als auch fur Athiopistik. Zu seinem Bedauern wurde aber keiner der beiden Lehrstuhle neu besetzt.
Im Jahr 1965 wurde Ullendorff zum Mitglied der British Academy (F.B.A.) gewahlt, deren Vizeprasident er von 1980 bis 1982 war. Er hielt 1967 die Schweich Lecture on Biblical Archaeology zum Thema Athiopien und die Bibel. Der athiopische Kaiser Haile Selassie zeichnete ihn 1972 mit dem Haile Selassie International Prize for Ethiopian Studies aus. Ullendorff war personlich mit dem 1974 gesturzten und im Jahr darauf ermordeten Monarchen bekannt. Er ubersetzte und kommentierte Haile Selassies Autobiographie, die 1976 erschien. Die Accademia dei Lincei wahlte ihn 1998 zum auswartigen Mitglied.
Gegenuber der Los Angeles Times berichtete Ullendorff 1992, dass er wahrend seiner Zeit beim britischen Militar 1941 die Kirche St. Maria von Zion in Aksum besucht habe, in der nach athiopischer Uberlieferung die biblische Bundeslade aufbewahrt wird. Er habe dort aber nur eine Nachbildung aus dem mittleren bis spaten Mittelalter gefunden, wie es sie in vielen athiopischen Kirchen gibt. Diese Erkenntnis publizierte Ullendorff jedoch aus Rucksicht auf die religiosen Gefuhle der athiopischen Christen nicht, sondern außerte sie erst als Entgegnung auf Graham Hancocks pseudowissenschaftliches Buch uber die Bundeslade.
Nach seinem Tod stiftete die British Academy 2012 die jahrlich vergebene Edward Ullendorff Medal als Auszeichnung fur wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der semitischen Sprachen und der Athiopistik.
Veroffentlichungen (Auswahl) The Semitic languages of Ethiopia. A comparative phonology. Taylor, London 1955.
The Ethiopians. An introduction to country and people. 3. Auflage. Oxford University Press, Oxford 1973 [1960].
An Amharic Chrestomathy. Introduction, Grammatical Tables, Texts, Amharic-English Glossary. 2. Auflage. School of Oriental and African Studies, London 1978 [1965].
Ethiopia and the Bible. Oxford University Press, London 1968.
Als Ubersetzer und Herausgeber: My life and Ethiopia's progress, 1892–1937. The autobiography of Emperor Haile Sellassie I. Oxford University Press, London 1976.
Is Biblical Hebrew a Language? Studies in Semitic languages and civilizations. Harrassowitz, Wiesbaden 1977.
A Tigrinya (Tegrenna) chrestomathy. Introduction, grammatical tables, Tigrinya texts, letters, phrases, Tigrinya-English glossary, select bibliography. Steiner, Stuttgart 1985.
The Two Zions. Reminiscences of Jerusalem and Ethiopia. Oxford University Press, Oxford 1988.
From the Bible to Enrico Cerulli. A miscellany of Ethiopian and Semitic papers. Steiner, Stuttgart 1990.
Literatur David L. Appleyard: Obituary: Edward Ullendorff, 1920–2011. In: Bulletin of SOAS, Band 74, Nr. 3 (2011), S. 463–468.
Geoffrey Khan (Hrsg.): Semitic Studies in honour of Edward Ullendorff. (= Studies in Semitic Languages and Linguistics. Band 47). Brill, Koln/Leiden 2005.
Geoffrey Khan, Simon Hopkins, David L. Appleyard, Michael A. Knibb: Edward Ullendorff 1920–2011. In: Biographical Memoirs of Fellows of the British Academy, Band XII (2013), S. 405–432.
Einzelnachweise
|
Edward Ullendorff (* 25. Januar 1920 in Berlin; † 6. Marz 2011 in Oxford) war ein britischer Semitist und Athiopist deutscher Herkunft. Er lehrte von 1964 bis 1979 als Professor fur Athiopistik an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) und hatte dort von 1979 bis zu seiner Emeritierung 1982 den Lehrstuhl fur Semitische Sprachen inne.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Ullendorff"
}
|
c-485
|
Nils Mattias Andersson, sudsamisch Næjla Maahke Andersson (* 25. April 1882 in Vilhelmina; † 22. Januar 1974 in Tarnaby), war ein schwedisch-samischer Rentierhalter und Joiker, dessen poetische Improvisation in der literatur- und musikwissenschaftlichen Forschung zum Joik große Beachtung fand.
Leben Nils Mattias Andersson wurde im Weiler Marsfjall in Vilhelmina geboren, wo er seine Kindheit verbrachte und danach in der Rentierherde seiner Eltern Anders Lars Larsson und Kristina Regina Nilsdotter arbeitete. Er wuchs mit Sudsamisch als Muttersprache auf. Wegen besserer Verdienstmoglichkeiten zog er 1907 nach Ryfjall im umesamischen Tarnaby um. Dort bewarb er sich erfolgreich um eigenes Rentierweideland (schwedisch lappskatteland) und bekam 1909 vom Amt des Landshovdings das Gebiet in der Gegend des Gletschers auf dem Berg Avlavuelie (sudsamisch, norwegisch Olfjellet) zugewiesen. Er liegt auf der norwegischen Seite der Grenze und gehort zur damaligen Siida Umbyns lappby (schwedisch, heute umesamisch Ubmeje tjealddie). 1910 heiratete er Anna Sofia Zakrisdotter und arbeitete danach zusammen mit seiner Frau als Mitglieder der Siida in ihrer eigenen Herde. Aufgrund von gesundheitlichen Problemen gaben Nils Mattias und Anna Sofia die Rentierhaltung 1927 auf und versorgten sich danach als sesshafte Kleinbauern im Weiler Mellansjo (heute Ortsteil von Tarnaby). Die Frau starb 1959. Das Paar hatte sechs Kinder, von denen aber nur zwei die Eltern uberlebten. Das Schicksal ihres zweiten Sohnes Anders Oskar Soren, der 1913 im Alter von nur knapp zwei Jahren ertrank, ist in einem veroffentlichten Joik des Vaters uberliefert.
Werk Andersson war kein Kunstler im heutigen Sinne, sondern Gewahrsperson fur die Forschung. Seine Joiklyrik (sudsamisch vuolle) wurde von bekannten Ethnographen und Musikwissenschaftlern aufgezeichnet – zuerst 1914 von Karl Tiren (1869–1955) und etwa 40 Jahre spater von Matts Arnberg (1918–1995) sowie von Israel Ruong (1903–1986). Danach folgten Veroffentlichungen in musikethnologischen Sammlungen. Uber die Wissenschaft hinausgehende Verbreitung fanden die Lieder erst spater.
= Die Renherde von Avlavuelie =
Fur ein Projekt von Sveriges Radio, das in den 1950er Jahren die Joik-Traditionen verschiedener Regionen von Sapmi dokumentierte, joikte Andersson in seiner Muttersprache Sudsamisch. Diese Dokumentation wurde 1969 von Matts Arnberg, Israel Ruong und Hakan Unsgaard auf 7 LPs sowie in einem Buch mit den schwedischen und englischen Ubersetzungen der Liedtexte herausgegeben, und der darin enthaltene Joik von Andersson Avlavuelien raantjoeh (sudsamisch, dt. 2019 Die Renherde von Avlavuelie) bildet bis heute eine wichtige Quelle fur die Erforschung des mundlichen Ursprungs der heutigen samischen Lyrik.
Anderssons epische Dichtung verflicht mehrere parallele Handlungen in kunstlerisch bemerkenswerter Weise: der Mann, die Frau, die Rentierherde, die Berge mit gefahrlichen Gletscherspalten und die erloschene Erinnerung. Ruong bezeichnet das Werk deshalb als „komplexen Joik“ und meint damit das thematische Ineinanderfließen von Mensch, Tier und Natur. Auch der samische Literaturwissenschaftler Harald Gaski (geb. 1955) hebt Anderssons lyrische Qualitaten hervor.
= Rezeption =
Neben der Forschung uber seine Joiklyrik wurde Andersson in einem Dokumentarfilm von Pal-Nils Nilsson (1929–2002) sowie in einem literarischen Essay von Klaus-Jurgen Liedtke (geb. 1950) portratiert. Nilssons Dokumentation thematisiert die kulturelle Praxis des samischen Joiks zu Beginn der 1960er Jahre und wurde im schwedischen TV erstausgestrahlt. Liedtkes Text enthalt auch eine deutsche Ubersetzung des Joiks uber „die Renherde“.
Veroffentlichungen = Diskographie (in Zusammenstellungen) =
In: Same jiena : The Karl Tiren Collection of Sami Joik – The Spring Journeys of 1914. Digitales Audio. Caprice Records, 2019.
Nils Mattias Andersson Till sonen Anders Oskar Soren som drunknade ar 1913, 1 ar 10 man gammal
Nils Mattias Andersson Marknadssang
In: Matts Arnsberg, Israel Ruong, Hakan Unsgaard (Hrsg.): Jojk/Yoik – En presentation av lapsk folkmusik/A presentation of Lapp Folk Music (7 LPs mit Begleitbuch). Sveriges Radio forlag, Stockholm 1969 (sudsamisch, schwedisch, englisch).
Nils Mattias Andersson Prasten som kom pa besok i katan
Nils Mattias Andersson Renhjorden pa Oulavuolie
= Lyrik (in Anthologien, Original oder Ubersetzungen) =
Nils Mattias Andersson: Avlavuelien raantjoeh. In: Harald Gaski, Lena Kappfjell (Hrsg.): Avtese jahta : aarjelsaemien tjaalegh jih tjaalegh aarjelsaemien. DAT, Guovdageaidnu 2005, ISBN 82-90625-47-2 (sudsamisch).
Nils Mattias Andersson: Avlavuelien raantjoeh/Die Renherde von Avlavuelie. In: Johanna Domokos, Christine Schlosser, Michael Rießler (Hrsg.): Worte verschwinden / fliegen / zum blauen Licht. Samische Lyrik von Joik bis Rap. Albert-Ludwigs-Universitat Freiburg, Freiburg 2019, ISBN 978-3-9816835-3-0, S. 40–49 (sudsamisch, deutsch).
Nils Mattias Andersson: Csorda az Oulavuolie-gleccseren. In: Laszlo Keresztes, Judit Por (Hrsg.): Aranylile mondja tavasszal : lapp kolteszet. Europa Konyvkiado, Budapest 1983, ISBN 963-07-2390-5, S. 9–12 (ungarisch).
Literatur Lena Kappfjell: Vuelieh jih tjihtesh. CalliidLagadus, Karasjohka 2008, ISBN 978-82-92044-63-6 (sudsamisch, Studie zu samischer Literatur, die Nils Mattias Anderssons Werk Avlavuelien raantjoeh sowie zwei zeitgenossische Kunstler portratiert).
Nils John Porsanger, Harald Gaski: Gaallabaernieh. DVD, 00:25:00. Ninne Film AS, 2004 (sudsamisch, Lehrmittel zu samischer Literatur, das 3 Kunstler portratiert, darunter Nils Mattias Andersson).
Weblinks dhatamam: Da, nar jag var mannen pa Oulavuolie. Del 1.vob auf YouTube, 19. Mai 2011 (schwedisch, sudsamisch).
Nils Mattias Andersson (1882–1974). In: calliidlagadus.org. CalliidLagadus, 15. August 2021, abgerufen am 15. August 2021 (sudsamisch).
Helen Blind Brandsfjell: Nils Mattias Andersson. In: ndla.no. Nasjonal digital læringsarena, 23. November 2018, abgerufen am 15. August 2021 (sudsamisch).
Kjell-Ake Lundstrom: Nils Mattias Andersson fodd 1882-04-25, dod 1974-01-22. In: sijtijarnge.no. Samisk sprak- og utviklingssenter Sijti Jarnge, abgerufen am 17. August 2021 (schwedisch).
Einzelnachweise
|
Nils Mattias Andersson, sudsamisch Næjla Maahke Andersson (* 25. April 1882 in Vilhelmina; † 22. Januar 1974 in Tarnaby), war ein schwedisch-samischer Rentierhalter und Joiker, dessen poetische Improvisation in der literatur- und musikwissenschaftlichen Forschung zum Joik große Beachtung fand.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Nils_Mattias_Andersson"
}
|
c-486
|
Blauer Hibiskus ist der erste Roman der feministischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Er erschien 2003 im englischen Original mit dem Titel Purple Hibiscus bei Algonquin Books und wurde 2005 in einer Ubersetzung von Judith Schwaab im Luchterhand Literaturverlag auf Deutsch veroffentlicht. Das Buch wurde sowohl international als auch in Deutschland ausgezeichnet. Unter anderem stand das Buch auf der Longlist des Booker-Preises. Purple Hibiscus wurde vielfach ubersetzt; so liegt das Buch unter anderem auch in Franzosisch, Polnisch und Spanisch vor.
Inhalt Blauer Hibiskus erzahlt eine Familiengeschichte aus der Sicht der 15-jahrigen Kambili, außer der es einen Sohn in der Familie gibt. Der Roman spielt in Enugu, im Suden Nigerias. Die Kernfamilie lebt in der Hauptstadt dieses Staates, Enugu, sie ist sehr wohlhabend, stark katholisch-christlich gepragt und besteht aus den Eltern und zwei Kindern. Eine alleinerziehende Tante vaterlicherseits, Ifeoma, mit ebenfalls einer Tochter und zwei Sohnen sowie der Großvater vaterlicherseits spielen ebenfalls wichtige Rollen. Die Familie mutterlicherseits findet nur wenig Erwahnung.
Der Roman beginnt mit einer Szene, in der der Vater, Eugene, die Beherrschung verliert und mit einem Gebetbuch nach seinem Sohn Jaja wirft. Die Szene wird als Wendepunkt beschrieben, nach dem nichts mehr wie vorher ist. Anschließend wird ausfuhrlich dieses Vorher geschildert. Dabei wird schnell deutlich, dass der Familienvater stark kontrollierend agiert. Er wird einerseits als bewunderns- und liebenswerter Mensch mit vielen Tugenden wie Freigiebigkeit, Festigkeit im Glauben und einer aufrichtigen demokratischen Haltung geschildert, andererseits als jemand, der viele Vorschriften, Ge- und Verbote fur seine Kinder erlasst und sie damit unter Druck setzt. Im Verlauf des Buches wird immer klarer, dass er diese Regeln mit Gewalt durchsetzt, teils extremer Gewalt bis hin zu Folter, die die Gesundheit seiner Kinder dauerhaft schadigt. Es wird nach und nach deutlich, dass er auch seine Frau Beatrice misshandelt und damit auch Fehlgeburten auslost. Bei diesen Gewaltausbruchen missbraucht er Religion als Kontroll- und Unterwerfungsinstrument.
Ifeoma, die an der University of Nigeria lehrt und mit ihren Kindern in Nsukka wohnt, sowie der Großvater leben komplett andere Lebensentwurfe, die insbesondere die Verbindung mit den Igbo-Traditionen der Familie einbeziehen. Eugene versucht, seine Kinder von dem Einfluss dieser auf mehr Freiheiten ausgerichteten Lebensentwurfe fernzuhalten, sieht sich aber auch in der Pflicht, familiare Bande zu pflegen. Unter dem Vorwand, die Kinder auf eine Pilgerfahrt mitnehmen zu wollen, gelingt es der Tante, Kambili und Jaja fur einige Zeit zu sich nach Hause einzuladen. Die beiden Heranwachsenden lernen dort neben mehr Freiheiten auch gleichberechtigte Teilhabe und Freude ebenso kennen wie nicht-christliche nigerianische Traditionen und Werte. Kambili erlebt dort auch ihre erste Liebe zu einem Priester, der Religion ganz anders lebt und lehrt als ihr Vater. Sie erleben aber auch das Leben mit massiven materiellen Beschrankungen, da Ifeoma aufgrund politischer Unruhen seit langerem keine Bezuge mehr erhalt.
Als der Großvater im Haus Ifeomas stirbt, wahrend Kambili und ihr Bruder dort zu Besuch sind, verscharft das die Spannungen in der Familie. Es kommt zu der anfangs geschilderten Szene mit dem Wurf des Gebetbuches. Kurz darauf kommt es zu einem weiteren Gewaltausbruch des Vaters, bei dem er Kambili beinahe totet. In der Folge bringen die Kinder sich bei der Tante vor ihm in Sicherheit. Die Gesundheit des Vaters verschlechtert sich in dieser Zeit. Er stirbt und die Polizei fuhrt eine Obduktion durch, bei der Gift gefunden wird. Jaja bekennt sich schuldig, da er erkennt, dass seine Mutter schuldig ist, und er sie schutzen will. Er wird verhaftet und zu einer Gefangnisstrafe verurteilt. Das Buch endet nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren mit einer Szene, in der Kambili und Beatrice Jaja im Gefangnis besuchen und ihm Hoffnung auf eine baldige Freilassung machen.
Das Familiendrama spielt vor dem Hintergrund einer politisch unruhigen Zeit in Nigeria. Eugene ist als Herausgeber einer kritischen Zeitung politisch aktiv; sein Einsatz fur Demokratie und Freiheit steht im Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten als Familienoberhaupt. Ifeoma wird durch die politischen Unruhen, die auch Universitatsschließungen und teils gewaltsame Studentenproteste mit sich bringen, in ihrer Existenz bedroht. Sie tragt sich lange mit der Entscheidung, ob sie Nigeria verlassen und nach Amerika auswandern soll, und entscheidet sich letztlich fur die Auswanderung. Uber diese Erzahlstrange sowie uber die Rolle des Katholizismus setzt sich das Buch auch stark mit dem Thema des Kolonialismus und seinen Folgen auseinander.
Rezeption In der Zeit lobt Ludwig Fels den Roman als „anruhrend“ und „verstorend“, bescheinigt ihm „Warme, Lebendigkeit, Dramatik und Ambitioniertheit“, die „streckenweise verstummen macht“. Tobias Doring sieht das Buch fur die FAZ deutlich kritischer und urteilt: „Welten trennen die subtilen Erzahlgeflechte und Figurenkonstellationen eines Achebe und anderer nigerianischer Autoren auch der jungeren Generation von der kunstgewerblichen Collage Adichies, die darauf angelegt zu sein scheint, das Erwartungsrepertoire an afrikanische Romane – Masken, Mutter, Mythen und Gewalt – artig zu bedienen.“ Auch der Kirkus Review ist nicht vollstandig uberzeugt von Purple Hibiscus und vermutet, Adichie habe sich zu viel vorgenommen, so dass ihr Bild von Nigeria in diesem Buch zwar faszinierend sei, aber fragmentarisch bleibe.
Preise 2020 Hermann-Hesse-Preis
2005 Best First Book Commonwealth Writers’ Prize
2004 Best Book for Young Adults der American Library Association
2004 Hurston/Wright Legacy Award als bestes literarisches Debut
Ubersetzungen und Ausgaben Eine deutsche Taschenbuchausgabe, ebenfalls in der Ubersetzung von Judith Schwaab, erschien 2007 bei btb. 2015 erschien eine weitere Taschenbuchausgabe sowie ein E-Book in derselben Ubersetzung im S. Fischer Verlag.
Weblinks Webseite fur das Buch auf Chimamanda Ngozi Adichies Homepage
Einzelnachweise
|
Blauer Hibiskus ist der erste Roman der feministischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie. Er erschien 2003 im englischen Original mit dem Titel Purple Hibiscus bei Algonquin Books und wurde 2005 in einer Ubersetzung von Judith Schwaab im Luchterhand Literaturverlag auf Deutsch veroffentlicht. Das Buch wurde sowohl international als auch in Deutschland ausgezeichnet. Unter anderem stand das Buch auf der Longlist des Booker-Preises. Purple Hibiscus wurde vielfach ubersetzt; so liegt das Buch unter anderem auch in Franzosisch, Polnisch und Spanisch vor.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Blauer_Hibiskus"
}
|
c-487
|
Vorlage:Infobox Gemeinde in Frankreich/Wartung/abweichendes Wappen in Wikidata
Pontoise [pɔtwaz] () ist eine franzosische Stadt der Region Ile-de-France mit 31.623 Einwohnern (Stand 1. Januar 2022). Sie liegt rund 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Paris. Die Einwohner werden Pontoisiens genannt.
Seit dem 1. Januar 1968 ist Pontoise de jure Hauptstadt des Departements Val-d’Oise, dessen Prafektur wurde indes 1970 in die Nachbarstadt Cergy velegt.
Durch den langen Aufenthalt des impressionistischen Malers Camille Pissarro, der die Stadt in zahlreichen Werken darstellte, wurde Pontoise beruhmt. Im Jahr 2006 wurde ihr der Titel Ville d’art et d’histoire (Stadt der Kunst und der Geschichte) verliehen.
Geografie Die Stadt Pontoise liegt in der Grande Couronne, am rechten Ufer des Flusses Oise, etwa 28 Kilometer nordwestlich des Pariser Stadtzentrums. Sie bildet den historischen Teil des Gemeindeverbandes (Ville Nouvelle) Cergy-Pontoise. Das historische Zentrum von Pontoise liegt auf einem Felsvorsprung am Zusammenfluss der Flusse Oise und Viosne. Die 717,02 Hektar der Gemeindeflache verteilen sich auf 463,95 Hektar bebautes Stadtgebiet (65 % der Gesamtflache), 130,41 Hektar unbebautes Stadtgebiet (18 % der Gesamtflache) und 122,66 Hektar landliches Gebiet (17 % der Gesamtflache). Entlang des Flusschens Viosne verlauft in Sudost/Nordwest-Richtung eine Eisenbahnlinie aus dem 19. Jahrhundert, welche die Stadt in zwei etwa gleich große Halften teilt. Im Norden liegt der eher historische Teil mit der Zitadelle, der Kathedrale und kleineren Hausern aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Im Suden bzw. Sudwesten liegt der gewerbliche Teil der Stadt mit Industrieanlagen, Burogebauden, großen Einkaufszentren, großen Wohnanlagen und Sporteinrichtungen. Der Sudosten zeichnet sich aber auch durch schone Wohnsiedlungen mit Parkanlagen aus.
Geologie Der Untergrund der Stadt besteht aus geologischen Schichten, die zu einem großen Teil aus dem Tertiar stammen, das vor etwa 65 Millionen Jahren begann und 60 Millionen Jahre dauerte. Sedimentgestein, das durch Ablagerungen in Lagunen und flachen Meeren entstanden ist, bildet diese Schichten.
Dort wo heute das Zentrum liegt, bestehen die machtigsten Schichten aus sehr feinem Sand, dem sogenannten Beauchamps-Sand, in den große Sandsteinplatten eingelagert sind. Darauf folgen Mergel- und Kieselschichten, im Wechsel mit zerbrochenem Kalkstein sowie Lehm- und Sandbetten. Schließlich folgt der Lutetianische Kalkstein, der in Pontoise eine Dicke von etwa 30 Metern erreicht. Daruber liegen der Sables de Cuise, grobe grunlich-graue Sande, in denen sich auch der Grundwasserspiegel befindet.
Am Ende des Tertiars, wahrend des Pliozans (5,3 Millionen Jahre bis 1,9 Millionen Jahre) und des Calabriums (Unteres Pleistozan) wirkte die quartare Erosionsdynamik. Das Flusssystem (Oise und Epte) floss auf dem Lutetianischen Kalksteindach zwischen den alteren, oligozanen Hugeln in Richtung der Sequanianischen Rinne, des Vorlaufers der Seine. Das periglaziale Regime bewirkte das Kriechen großer Materialmengen. Starken Schwankungen des Meeresspiegels (Isostase und Resistase) fuhrten zur Eintiefung der Taler und zur Entstehung von sekundaren Drainagen. Im Mittelpleistozan fuhrte die quartare Dynamik mit den aufeinanderfolgenden Eiszeiten zu einer lossartigen Sedimentation und einem fluvialen Regime, das die Taler weiter eingrub. Im Jungpleistozan (Oberes Pleistozan bis vor etwa 10.000 Jahren) wurden große Mengen an Gesteinsmaterial in den Flussbetten abgelagert, die in den Kalkstein gegraben waren.
Hydrologie und Risiko von Naturkatastrophen Das Gemeindegebiet durchziehen zwei Wasserlaufe, die Oise und die Viosne. Die Oise entspringt in Belgien und mundet nach 341,1 km bei Conflans-Sainte-Honorine, einige Kilometer flussabwarts von Pontoise, in die Seine. Die Viosne durchschneidet das Vexin-Plateau in einem engen Tal auf einer 28,8 km langen Nord-Sud-Achse und mundet bei Pontoise in die Oise.
Die geografische Lage von Pontoise macht die Stadt anfallig fur Naturkatastrophen. Der gesamte Steilabfall des Vexin-Plateaus, das uber dem Schwemmland der Oise liegt, sowie der großte Teil des Stadtzentrums (Kalksporn des Mont Belien) unterliegen dem Risiko von Bodenbewegungen. In den Niederungen besteht eine hohe Uberschwemmungsgefahr bei Hochwasser der Oise, insbesondere im Stadtteil Chou, im Bahnhofsviertel, auf der Ile de la Derivation und im unteren Teil des Stadtteils Larris.
Klima Pontoise befindet sich in der gemaßigten Klimazone, praziser ausgedruckt in der verandert ozeanischen Zone. In dieser Ubergangszone ist das Klima stark von der Entfernung zum Meer und der Nahe zu angrenzenden Hohenlagen beeinflusst. Die Jahresmitteltemperatur betragt 11,2 °C und die durchschnittliche Jahresniederschlagsmenge belauft sich auf 635,7 mm. Der warmste Monat ist der Juli mit im Mittel 18,8 °C, der kalteste Monat ist der Januar mit durchschnittlich 4,3 °C. Der meiste Niederschlag fallt im Dezember mit 68,2 mm im Mittel, der wenigste Niederschlag fallt im April mit durchschnittlich 43,9 Millimetern.
Verwaltung Obwohl Pontoise Hauptstadt des Departements Val-d’Oise ist, befindet sich die Prafektur seit der Grundung des Gemeindeverbandes Cergy-Pontoise in der Nachbargemeinde Cergy, was im franzosischen Mutterland ein einmaliger Fall ist. Pontoise ist auch Verwaltungssitz des Arrondissements Pontoise. Die Stadt besitzt einen der wichtigsten Gerichtsstande des Landes.
Seit ihrer Abtrennung von der Diozese Versailles im Jahr 1966 ist die Stadt Sitz des Bistums Pontoise. Die Bischofskirche ist die Kathedrale Saint-Maclou.
Bevolkerungsentwicklung und Wohnsituation Die Einwohnerzahl der Gemeinde Pontoise nimmt seit 1962 kontinuierlich zu, wahrend die Anzahl der Personen pro Haushalt von 3,8 im Jahr 1968 auf 2,29 im Jahr 2020 abnahm.
Die Gesamtzahl der Wohnungen in der Gemeinde Pontoise stieg von 12.816 im Jahr 2008 uber 13.494 im Jahr 2014 auf 15.030 im Jahr 2020. Im Jahr 2020 waren 91,0 % Hauptwohnsitze, 1,5 % Zweitwohnsitze und 7,5 % Leerstand. 21,5 % des Wohnraums waren Einfamilienhauser und 77,0 % Wohnungen. Die Gemeinde verfugt uber den im Artikel 55 des SRU-Gesetzes festgelegten Anteil von mindestens 25 % Sozialwohnungen. Am 1. Januar 2014 hatte Pontoise 4.249 Sozialwohnungen, was einem Anteil von etwa 32,8 % entspricht. Der Anteil hat sich bis 2022 auf 37 % erhoht.
Verkehr Pontoise besitzt einen eigenen Bahnhof und ist gut an das offentliche Nahverkehrsnetz des Großraumes Paris angebunden. Der Bahnhof Pontoise ist mit den Bahnhofen Paris-Saint-Lazare (Transilien J) und Paris-Nord (Transilien H) verbunden. Seit September 2000 wird er auch von der RER C bedient und damit vom Bahnhof Paris-Austerlitz. Pontoise ist auch in wenigen Minuten mit mehreren Buslinien vom Bahnhof Cergy-Prefecture aus zu erreichen, wo die RER A und die Transilien L verkehren.
Der Hafen wird kaum genutzt, da die Oise sehr schmal ist. Dennoch werden einige Schuttgut-Transporte mit Weizen und Mais aus dem Vexin in den Norden und nach Belgien durchgefuhrt. Ein kleiner Jachthafen mit einem schwimmenden Ponton befindet sich am rechten Ufer gegenuber der Touristeninformation.
Weiterhin gibt es den kleinen Flugplatz Pontoise-Cormeilles.
Geschichte Auf dem Mont Belien, einem Kalksteinsporn, der durch die Taler der Oise, der Viosne und des Ru du Fond Saint Antoine von der Vexin-Hochebene abgetrennt ist, liegt ein leicht zu verteidigender, strategischer Punkt, der das Tal kontrolliert. An dieser Stelle kann die Oise durch eine Furt uberquert werden. Die Furt zwang die Schiffe zu einer Portage, d. h., sie mussten ihre Waren umladen, um das Hindernis zu uberwinden. Es gibt Hinweise auf eine neolithische Besiedlung an dieser strategischen Stelle aus der Zeit 3000 v. Chr.
Pontoise ist die Hauptstadt des historischen Vexin. Es wurde bereits zur Romerzeit als Pontisara gegrundet. Pontoise lag zu dieser Zeit an der wichtigen Julius-Casar-Straße zwischen dem ehemaligen Lutetia und Rotomagus (Rouen). Pontoise trug damals den gallischen Namen „Briva Isara“, was „Brucke uber die Isara“ bedeutet. Im 7. Jahrhundert wurde der Name zu „Pons Isarae“ latinisiert, woraus „Pontoise“ entstand. Im Jahr 2024 wurde bei Bauarbeiten eine ausgedehnte gallische Nekropole entdeckt und anschließend ausgegraben. Das Graberfeld enthalt hauptsachlich Graber aus der galloromischen Zeit (3. und 4. Jahrhundert n. Chr.), die altesten Graber reichen aber bis in die Bronzezeit (1. und 2. Jahrhundert v. Chr.) zuruck.
Die Volkerwanderung und die spatere Bedrohung durch Wikinger zwangen die Einwohner, sich auf dem Felssporn uber der Oise niederzulassen, wo sich auf dem Mont Belien die mittelalterliche Handelsstadt entwickelte: Als befestigte Stadt an den Grenzen des Konigreichs erlebte Pontoise seine Blutezeit im 12. und 13. Jahrhundert. Im Jahr 1188 gewahrte Philipp II. eine Gemeinde-Charta, die ihr als Gegenleistung fur die Instandhaltung der Stadtmauern eine weitgehende Verwaltungs- und Justizautonomie sowie bedeutende Handelsvorteile einraumte. Haufig hielten sich die franzosischen Konige im Schloss von Pontoise auf, und Ludwig IX. machte es zu seinem ordentlichen Wohnsitz. Der Dichter Francois Villon sprach spater ironisch von „Paris bei Pontoise“, der machtigen und wohlhabenden Konigsstadt.
Pontoise spurte die Auswirkungen des Hundertjahrigen Krieges erst spat. Dennoch litt die Stadt unter dem Konflikt. Das 16. Jahrhundert war von den Religionskriegen gepragt. Trotz der Befestigungen wurde Pontoise mehrmals gesturmt und zerstort. Die Belagerungen von 1589 und 1590 setzten den Stadtmauern zu. Die Befestigungen wurden daraufhin erneuert und so erganzt, dass sie Artillerieangriffen standhalten konnen. Wiederholte Belagerungen und Pest-Epidemien ließen die Stadt in dieser Zeit der Unruhen ausbluten.
Heinrich III. begann 1589 mit dem Bau einer Zitadelle in der Rue de Gisors, die jedoch nie fertiggestellt wurde. Im Laufe der Jahre vergroßerte sich das Konigreich und so verlor Pontoise im 17. Jahrhundert nach und nach seine militarische Bedeutung. Die Stadtverwaltung war aber weiterhin fur die Instandhaltung der Stadtbefestigung zustandig. Angesichts der finanziellen Schwierigkeiten der Gemeinde und des schlechten Zustands der Stadtmauer wurden die Festungsanlagen schließlich aufgegeben. Die Graben wurden zugeschuttet, der eine wurde in einen offentlichen Garten umgewandelt (den heutigen Jardin de la Ville) und der andere in einen Boulevard (den heutigen Boulevard Jean-Jaures).
Im 19. Jahrhundert beeinflussten zwei Ereignisse das Schicksal der Stadt: der Bau der Eisenbahn und die Ausdehnung von Paris. Durch die Eisenbahn ruckte Pontoise naher an Paris heran, wahrend durch das Wachstum der Vorstadte Paris naher an Pontoise heranruckte.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Stadt eine Erneuerung. Pontoise profitierte von der Schaffung gemeinschaftlicher Einrichtungen und dem Bau neuer Stadtviertel sowie der Verwaltungsreform der Region Paris. Pontoise wurde 1964 zur Hauptstadt des neuen Departements Val d’Oise. Vor allem aber profitierte Pontoise von der Verwirklichung des Ballungsraums Cergy-Pontoise.
Bedeutende Bauwerke = La cathedrale Saint-Maclou =
Die Kathedrale Saint-Maclou ist die Bischofskirche des 1966 gegrundeten romisch-katholischen Bistums Pontoise. Die Kirche wurde in der Mitte des 12. Jahrhunderts im Ubergang von der Romanik zur Gotik errichtet und im 15. Jahrhundert umgebaut und erweitert. Neben einer Grablegungsgruppe besitzt die Kirche Bleiglasfenster aus der Renaissance. Bereits im Jahr 1840 wurde die Kirche mit dem Patrozinium des heiligen Machutus (Maclou) als Monument historique in die Liste der Baudenkmaler in Frankreich (Base Merimee) aufgenommen.
= Hotel de Monthiers =
Das Herrenhaus war von 1571 bis 1958 im Besitz der Familie de Monthiers, deren Mitglieder uber zwei Jahrhunderte lang das Amt des Leutnants des Vogts von Senlis innehatten. Der Aufbau des Gebaudes folgt dem typischen Aufbau eines Herrenhauses; das Hauptgebaude liegt zwischen dem gepflasterten Hof und dem Garten. Dank eines Scharwachtturms mit Kegeldach konnte das Haus seinen mittelalterlichen Charakter bewahren. Solche Anwesen sind durch ein Tor von der Straße getrennt und haben in der Regel denselben Grundriss: In der Mitte befindet sich ein Ehrenhof; in den rechten und linken Flugeln befinden sich die Galerie fur Empfange, die Dienstraume und die Stallungen.
Im 20. Jahrhundert kaufte die Familie des Malers Henri Matisse das Anwesen, um die Werke des Kunstlers dort aufzubewahren. Es wurde von dem Bildhauer Jean Matisse, Sohn des Malers, bewohnt. Heute organisieren die Eigentumer Ausstellungen in den ubereinanderliegenden Kellern des Hauses.
= Cave des Moineaux =
Die Cave des Moineaux war im 12. bis 13. Jahrhundert ein Netz von Galerien und Steinbruchen, das sich unter der gesamten Place des Moineaux und daruber hinaus erstreckte. Einige Stollen erreichten die Rue de l’Hotel de Ville und moglicherweise den ehemaligen Couvent des Cordeliers (Franziskanerkloster, siehe unten). Die Galerien waren uber Schachte zuganglich, die auch dem Abtransport der abgebauten Steinblocke dienten. Das ausgedehnte Netzwerk aus Stollen, Hallen und Gangen reichte bis funf Ebenen unter die Erde. Der Brunnenschacht, der im 13. Jahrhundert gegraben wurde, war ursprunglich der einzige Zugang zu den Steinbruchstollen der unteren Ebenen.
Nach dem Ende des Steinbruchbetriebs im 14. Jahrhundert wurde das Gelande wieder als Keller genutzt. Aus dieser Zeit stammen der gotische Keller, der Beluftungsschacht und die vier Treppen mit Gelander. Der gotische Keller, das Hauptelement der Cave des Moineaux, ist ein Kellergewolbe mit zwei Kreuzrippen, die durch einen Doppelbogen getrennt sind. Er war einst der Keller einer Privatperson. Der daneben befindliche Luftschacht lasst vermuten, dass er als Lager eines Lebensmittelgeschaftes oder Weinkeller genutzt worden sein konnte.
Der Keller war vom 16. bis Anfang des 18. Jahrhunderts durchgehend bewohnt, im 18. und 19. Jahrhundert aber nur noch sporadisch. Ab dem 17. Jahrhundert wurden die Keller mit Schutt aufgefullt. Die Cave des Moineaux diente auch als Senkgrube, was an den vom Urin zerfressenen Steinen zu erkennen ist. Anfang der 1980er Jahre, als die Stadt einen Fußgangerweg im Stadtzentrum anlegen wollte, wurde eine Bestandsaufnahme der unterirdischen Hohlraume des Viertels durchgefuhrt. Der Club Speleo de Pontoise (Hohlenforscherverein) begann mit der Freilegung der Cave des Moineaux unter Mithilfe von 300 Freiwilligen.
= Le couvent des Cordeliers (Franziskanerkloster) =
Cordeliers ist der Name, den sich die in Frankreich ansassigen Franziskaner gaben. Der Name geht auf das Seil zuruck, das um die Hufte geschlungen wird, um die Kutte zusammenzuhalten.
Das ehemalige Kloster der Cordeliers befand sich an der Stelle, an der heute das Rathaus steht. Es wurde zunachst vor 1233 von Blanka von Kastilien, der Mutter von Ludwig IX., genannt Heiliger Ludwig, außerhalb der Stadtmauern gegrundet. Im Jahr 1356 wurde es zerstort. Da es in der Nahe der Stadtmauer lag, konnte es Angreifern Schutz bieten und den anruckenden Feind verbergen. Die Einwohner schenkten oder verkauften den Monchen mehrere Hauser und Garten rund um den Place de l’Etape aux vins. Die Monche ließen sich 1360 an dem neuen Standort nieder.
Jahrhundert lang wurde das Kloster erweitert und eine neue Kirche wurde gebaut. Von der Kirche sind heute nur noch die beiden vom Rathausplatz aus sichtbaren Arkaden aus dem spaten 15. Jahrhundert erhalten. Zwischen 1854 und 1861 wurden bei der Vergroßerung des Place de l’Etape die Reste der Kirche abgerissen.
1854 kaufte die Stadtverwaltung das ehemalige Kloster, um darin das Rathaus unterzubringen und den Garten als Park zu nutzen. Die Rathausuhr und ihr Giebel wurden 1886 an der Fassade angebracht, um das Gebaude an seine neue Funktion als Rathaus anzupassen. Das Rathaus wurde mehrfach umgebaut, wobei die Buros auf das Erdgeschoss und den ersten Stock verteilt wurden. Der Innenhof des Rathauses, der ehemalige Kreuzgang des Klosters, wurde 1966 im ursprunglichen Stil restauriert.
= L’eglise Notre-Dame =
Im Jahr 1177 errichteten Ordensleute der Abtei Saint-Martin de Pontoise die Kapelle Notre-Dame, um den Glaubigen an deren Wohnort den Gottesdienstbesuch zu ermoglichen. Die Erhebung zur Pfarrei erfolgte 1247 durch Eudes Rigaud, den Erzbischof von Rouen. Es ist nicht bekannt, in welchem Jahr die Kapelle durch eine großere Kirche ersetzt wurde, der Stil der Marienstatue lasst aber vermuten, dass der Bau der Kirche unmittelbar nach der Grundung der Pfarrei begonnen wurde. Es gibt weder eine bildliche Darstellung dieser großen gotischen Kirche noch eine Beschreibung ihrer teilweisen Zerstorung durch die Englander im Jahr 1435 wahrend des Hundertjahrigen Krieges. Der Wiederaufbau begann sofort nach der Zerstorung unter dem Schutz von Johanna von Navarra. Wahrend der Herrschaft von Karl VII. wurde sie in eine Basilika umgewandelt und die Reparatur beendet. Die Weihe der Kirche wurde am 21. Oktober 1480 gefeiert.
Die Basilika Notre-Dame wurde bei der Belagerung von Pontoise durch Heinrich III. und Heinrich IV. im Verlauf des achten Religionskriegs (1585–1598) im Juli 1589 erneut beschadigt. Die Kirche wurde sehr schnell wieder aufgebaut und bereits im Jahr 1599 geweiht. Im Jahr 1600 wurden die Giebel sowie der Glockenturm vollendet, wie das Datum auf der Ruckseite der Westmauer zeigt. Die Arbeiten wurden fortgesetzt, bis die Kirche 1729 mit der Fertigstellung des Vorbaus ihr heutiges Aussehen erreichte.
Der Sarkophag des Walter von Pontoise aus dem 12. Jahrhundert befindet sich in der Kirche Notre-Dame. Der Sarkophag ist wie ein Reliquienschrein geschaffen und hat vier durchsichtige Bleiglasfenster in Form von Vierpassen, damit die Wallfahrer die Reliquie sehen konnten.
= Die unterirdische Kapelle =
Unter dem Pfarrhaus (franzosisch Presbytere) an der Kreuzung zwischen der Rue Thiers und der Rue de la Bretonnerie liegt ein Keller mit zwei Raumen unterschiedlicher Breite. Dieser Keller hat zwei Kreuzrippengewolbe, die durch einen Doppelbogen getrennt sind. Obwohl er aus dem Mittelalter stammt, ist er nicht genau datiert. Seine Bauart gab es in Pontoise zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert haufig. Die anschließende kreisformige Galerie wurde in spaterer Zeit als Steinbruch genutzt. Ein Durchgang sollte den Zugang zu einer viel großeren Abbauhalle mit einer Flache von etwa 200 m² ermoglichen. Der Abbauort befand sich weniger als 15 m unter dem Niveau der Rue de l’Hotel de Ville. Die Galerien und Steinbruche unter der Rue de la Bretonnerie sind teilweise eingesturzt.
Die Kapelle wurde eingerichtet, als die Pfarrer im 20. Jahrhundert in das daruberliegende Haus einzogen.
= Das Museum Tavet-Delacour =
Das Tavet-Delacour-Museum zeigt die historischen Sammlungen der Stadt und befindet sich in einem Herrenhaus aus dem spaten 15. Jahrhundert. Es war einst der Wohnsitz des Großvikars von Pontoise. Das Anwesen mit seinen Eckturmchen, Biberschwanz-Dachziegeln, Sprossenfenstern und frei liegenden Balken ist ein Zeugnis der spatgotischen zivilen Architektur. Es erinnert an das Hotel de Cluny in Paris. Ein dominanter Treppenturm teilt die Fassade in zwei Halften. Um diese zentrale Treppe herum sind die Raume der Hauses angeordnet.
Wahrend der Franzosischen Revolution verkaufte die Kirche das Gebaude, das daraufhin in eine Prafektur und spater in ein Zivilgericht umgewandelt wurde. Im Jahr 1889 schlug Herr Tavet, einer der Grunder der Societe historique von Pontoise, der Stadt vor, dort seine Kunstsammlungen unterzubringen und ein Museum einzurichten. Das Gebaude wurde daraufhin mit Spenden restauriert und zum Museum umfunktioniert.
= Weitere Kavernen unter der Stadt =
Mehrere alte, unter der Stadt liegende Steinbruche und Kavernen konnen besichtigt werden:
La petite carriere du Chateau (Kleiner Steinbruch des Schlosses): Trotz dieses Namens war der Hohlraum nie Keller oder Lagerort fur das konigliche Schloss, das sich an dieser Stelle befand. Die Gewinnung der Steine aus dem Steinbruch, die zunachst durch den noch sichtbaren Forderschacht erfolgte, ermoglichte den Bau von Pontoise. Eine schone, sehr gut erhaltene gewolbte Treppe mit 66 Stufen ermoglicht seit dem 15. Jahrhundert den Abstieg in den Steinbruch. Gleich nebenan befindet sich auch der „Große Steinbruch des Schlosses“, mit einer Flache von 500 bis 600 m² und einer Gewolbehohe von 8 bis 10 Metern. Er diente wahrscheinlich dem Bau des koniglichen Schlosses und kann derzeit nicht besichtigt werden (Stand Januar 2024).
La cave du Pont (Keller der Brucke): Der Ursprung und die genaue Funktion dieser Hohle, die unter dem Mont Belien entstanden ist, sind unbekannt. Der Kalkstein ist sehr bruchig und grunlich und kann nicht zum Bauen verwendet werden. Dieser Komplex wurde wahrscheinlich als Lagerraum gegraben. Pontoise brauchte Lagerraume, weil die Stadt am Schnittpunkt zweier wichtiger Handelswege lag, des Wasserwegs, der Oise, und des Landwegs, der alten Romerstraße. Hier wurden Fische aus dem Armelkanal sowie Getreide und Wein aus dem Vexin umgeschlagen.
La Cave Fayolle (Keller Fayolle): Diese Kaverne aus dem 13. Jahrhundert besteht aus zwei nicht ubereinanderliegenden Etagen. Sie soll sich an der Stelle des ehemaligen „Hotel-Dieu“ befinden. Das erste Stockwerk des Kellers war Lagerraum, das zweite Steinbruch. Das erste Stockwerk hat ein Kreuzrippengewolbe aus drei unregelmaßigen Feldern, die auf Pfeilern oder Stelzen ruhen. Das zweite Stockwerk ist in Form einer Galerie uber 6 m tief in die Erde gegraben. Doppelte Rundbogen und starke diagonale Bogen stutzen die Decke der Galerie. Eine außergewohnlich breite (1,80 m) und hohe Treppe verbindet die die beiden Stockwerke miteinander.
Kunst und Kultur Wahrend der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts lebten und arbeiteten zahlreiche Maler in Pontoise und der Umgebung. Zu ihnen gehoren Camille Pissarro, Maximilien Luce, Paul Cezanne, Charles-Francois Daubigny und Gustave Caillebotte.
Das Musee d’Art et d’Histoire Pissarro-Pontoise befindet sich in einem burgerlichen Herrenhaus aus dem spaten 19. Jahrhundert. Es steht an der Stelle des ehemaligen mittelalterlichen Schlosses der Stadt, das schon vor der Revolution zerstort wurde. Der Park dieses Herrenhauses besteht aus einem von Wallen umgebenen Felsplateau, das die Oise uberragt und im Nordosten einen schonen Blick auf das Oise-Tal in Richtung Auvers-sur-Oise und im Suden einen Blick auf die Altstadt mit ihren Kirchen und das Karmeliter-Kloster ermoglicht. Das Museum zeigt in seiner standigen Ausstellung eine Auswahl von Werken aus dem 17. bis zum 21. Jahrhundert von zahlreichen Kunstlern, die mit der Geschichte der Region Pontoise verbunden sind. Dazu gehoren Camille Pissarro und seine funf Sohne (Lucien, Georges-Henri, Ludovic-Rodolphe, Felix und Paulemile), Otto Freundlich, Gustave Caillebotte, Charles-Francois Daubigny, Louis Cabat, Henri Matisse, Emilio Boggio, Ludovic Piette, Marcoussis, Valmier, Louis Hayet und Shirley Goldfarb.
Im Musee-Tavet-Delacour sind die historischen Sammlungen der Stadt und die Allee couverte von Dampont aus dem Dorf Us untergebracht sowie mittelalterliche Skulpturen. Die historischen Sammlungen wurden Ende des 19. Jahrhunderts zusammengetragen. Das Museum besitzt außerdem eine reichhaltige Kunstsammlung aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Sammlung wurden 1968 durch die Otto Freundlich Schenkung bereichert, die aus dem Atelierbestand des Kunstlers bestand. Das Museum besitzt damit die weltweit bedeutendste Sammlung seines Werks. Seitdem hat sich das Museum auf moderne und zeitgenossische Kunst spezialisiert und Werke von Henri Matisse, Hans Arp, Albert Gleizes, Geer van Velde, Aurelie Nemours, Gregory Masurovsky, Shirley Goldfarb, Jean Legros, Roger Chastel, Diego Giacometti, Herbin, Valmier, Reichel, Fleischmann, Gargallo und Marcelle Cahn erworben oder geschenkt bekommen.
Das Museum ist derzeit geschlossen (Stand Januar 2024) und ein Teil der Sammlung befindet sich im Musee d’Art et d’Histoire Pissarro.
Auch Vincent van Gogh lebte in der Gegend von Pontoise. Im Nachbarort Auvers-sur-Oise malte er einige seiner außergewohnlichsten Werke, bevor er 1890 dort starb.
Die Stadt ist die Heimat der Metal-Band Zuul FX.
Veranstaltungen Festival Baroque de Pontoise: Im September findet hier alljahrlich ein internationales Barockmusikfestival statt.
Stadtepartnerschaften Pontoise pflegt Stadtepartnerschaften mit:
Deutschland Boblingen (Deutschland), seit 1956
Italien Arenzano (Italien), seit 1958
Vereinigtes Konigreich Sevenoaks (Vereinigtes Konigreich), seit 1964
Niederlande Sittard-Geleen (Niederlande), seit 1972
Personlichkeiten Walter von Pontoise (* um 1030; † 1099), Benediktinermonch, Abt und Heiliger
Nicolas Flamel (* um 1330; † um 1413), Alchemist
Jacques Lemercier (1585–1654), Architekt, Ingenieur und Gartengestalter
Joseph de Guignes (1721–1800), Orientalist und Sinologe
Pierre-Francois-Leonard Fontaine (1762–1853), Architekt des Neoklassizismus
Charles Victoire Emmanuel Leclerc (1772–1802), General de division
Aimee Davout (1782–1868), Ehefrau von Marschall Louis-Nicolas Davout
Edouard Alfred Martel (1859–1938), Hohlenforscher
Jules Dubois (1862–1928), Radrennfahrer
Michel Giraud (1929–2011), Politiker
Francois Dyrek (1933–1999), Theater-, Film- und Fernsehschauspieler
Jacques Vallee (* 1939), Astronom und Informatiker
Liza Del Sierra (* 1985), Pornodarstellerin
Jean-Eric Vergne (* 1990), Automobilrennfahrer
Yacine Qasmi (* 1991), Fußballspieler
Amine Harit (* 1997), Fußballspieler
Ousoumane Camara (* 1998), franzosisch-guineischer Fußballspieler
Serge-Philippe Raux Yao (* 1999), Fußballspieler
Kevin Monzialo (* 2000), Fußballspieler
Niels Nkounkou (* 2000), Fußballspieler
Brice Dessert (* 2003), Basketballspieler
Literatur Le Patrimoine des Communes du Val-d'Oise. Flohic Editions, Band 2, Paris 1999, ISBN 2-84234-056-6, S. 709–739.
Weblinks Webprasenz der Stadt Pontoise (franzosisch)
Tourismusinformation der Stadt (franzosisch, englisch)
Musee d’Art et d’Histoire Pissarro
Musee Tavet-Delacour zur Zeit geschlossen, Stand Januar 2024
Anmerkungen Einzelnachweise
|
Vorlage:Infobox Gemeinde in Frankreich/Wartung/abweichendes Wappen in Wikidata
Pontoise [pɔtwaz] () ist eine franzosische Stadt der Region Ile-de-France mit 31.623 Einwohnern (Stand 1. Januar 2022). Sie liegt rund 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Paris. Die Einwohner werden Pontoisiens genannt.
Seit dem 1. Januar 1968 ist Pontoise de jure Hauptstadt des Departements Val-d’Oise, dessen Prafektur wurde indes 1970 in die Nachbarstadt Cergy velegt.
Durch den langen Aufenthalt des impressionistischen Malers Camille Pissarro, der die Stadt in zahlreichen Werken darstellte, wurde Pontoise beruhmt. Im Jahr 2006 wurde ihr der Titel Ville d’art et d’histoire (Stadt der Kunst und der Geschichte) verliehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Pontoise"
}
|
c-488
|
Jasmin (Slogan bis Anfang 1973: Die Zeitschrift fur das Leben zu zweit, dann: Das Magazin fur die Frau) war eine zwischen 1968 und 1973 zweiwochentlich montags erscheinende deutsche Illustrierte.
Geschichte Die Zeitschrift startete 1968 im Kindler & Schiermeyer Verlag, einer Tochtergesellschaft des Axel-Springer-Verlags, unter Chefredakteur Will Tremper mit einer Auflage von 900.000 Exemplaren nach der Vorbereitung durch eine 72-kopfige Redaktion in Munchen. Nach drei Heften betrug die Auflage 1,5 Millionen, damit gehorte die Zeitschrift zu den meistverkauften Illustrierten ihrer Zeit. Die Entwicklungs- und Einfuhrungskosten wurden auf 20 Millionen Mark geschatzt. Das Magazin war auf ein Publikum von 8,7 Millionen Lesern ausgerichtet, das zu 60 Prozent aus Frauen und zu 40 Prozent aus Mannern zwischen 18 und 40 Jahren aus der Oberschicht bis zur unteren Mittelschicht bestand. Fur das Konzept waren Karl-Heinz Hagen und Gunter Prinz verantwortlich.
Die Illustrierte, die mit dem von Springer durch eine aufwendige Kampagne beworbenen Slogan „Die Zeitschrift fur das Leben zu zweit“ auf die Sexwelle reagierte, richtete sich an Parchen und enthielt Geschichten zu den Themen Erotik und sexuelle Aufklarung. Zu Beginn enthielt jedes Heft eine Folge des Lexikons der Erotik, das verschlossen im ungeschnittenen Beiheft zu finden war.
Franz Josef Wagner berichtete fur die Zeitschrift aus dem Vietnamkrieg. 1971 erschien eine Homestory bei Albert Speer von James P. O’Donnell. Elisabeth Grafin Werthern, Geschaftsfuhrerin der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft, hatte eine Kolumne zu Fragen der Etikette. Nach einer Geschichte im Nouvel Observateur (Le manifeste des 343 salopes), bei der 343 Franzosinnen im April 1971 bekannten, abgetrieben zu haben, erfuhr Alice Schwarzer von den Planen der Jasmin-Redaktion, eine ahnliche Geschichte in Deutschland zu produzieren. Sie wandte sich daraufhin an den Stern, der im Juni die Schlagzeile Wir haben abgetrieben! veroffentlichte.
Nach drei Monaten verkaufte Springer als Reaktion auf die Kartellbedenken der Gunther-Kommission Jasmin zusammen mit der Bravo, Eltern und Twen an den Stuttgarter Kunstbuchverleger Hans Weitpert. Dieser verkaufte Jasmin Anfang der 1970er-Jahre an Gruner + Jahr weiter. Zu Beginn des Jahres 1973 wurde der Slogan Die Zeitschrift fur das Leben zu zweit abgeschafft und ein 16-seitiger Teil aus der Zeitschrift Cosmopolitan eingefuhrt. Die Redaktion zog von Munchen nach Hamburg um.
Zum Ende des Jahres 1973 wurde Jasmin wegen Unwirtschaftlichkeit eingestellt. Der Spiegel urteilte, die Mischung aus Frauen- und Gesellschaftsjournal, Herrenmagazin und Yellow Press habe kein festumrissenes Publikum an sich binden konnen. Als Problem nannte Chefredakteur Adolf Theobald das Dilemma fur Werbekunden, sich an beide Geschlechter richten zu mussen.
Rezeption Der Verleger Axel Springer, in dessen Verlag die Zeitschrift entwickelt wurde, bezeichnete sie verachtlich als „Fick-Blatt“. Der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz widmete ihr 1968 ein Portrat in der FAZ und einen Essay im Spiegel. Darin schrieb er:
In Elfriede Jelineks Roman wir sind lockvogel baby! (1970) sind Texte aus der Zeitschrift montiert. Der Journalist Oliver Gehrs lobte Jasmin im Freitag in einem Essay aus dem Jahr 2020 uber die Zeitschriften der Sexwelle. Sie sei ein Beispiel dafur, dass die gesellschaftspolitische Betrachtung der Sexualitat auch zu medialen Hohenflugen gefuhrt habe:
Weblinks Der Leser: Fur Ehe und Geld: Die Zeitschrift Jasmin (1968–1973) | DerLeser.net. 22. August 2013.
Oliver Gehrs: „Schießen ist Ficken“, Der Freitag, 29. Dezember 2020.
Literatur Kurt Koszyk: The „Illustrierten“ – German reader’s favourite glossies. In: Gazette XV / 1 (1969), S. 9–21.
Gisela Oestreich: Elternladen. Familie zwischen Klischee und Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1981, S. 105ff.
Walter Nutz: Die Regenbogenpresse. Eine Analyse der deutschen bunten Wochenblatter. Opladen, Westdt. Verl., 1971.
Einzelnachweise
|
Jasmin (Slogan bis Anfang 1973: Die Zeitschrift fur das Leben zu zweit, dann: Das Magazin fur die Frau) war eine zwischen 1968 und 1973 zweiwochentlich montags erscheinende deutsche Illustrierte.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Jasmin_(Zeitschrift)"
}
|
c-489
|
Die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 ist ein Schutz- und Beistandsvertrag, der von 19 Stadten der Hanse geschlossen wurde. Seine vier Ausfertigungen wurden in vier Hansestadten verwahrt; im Laufe der Zeit wurden zwei Urkunden zerstort. Im Mai 2023 wurde die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 als Teil einer Auswahl wichtiger Dokumente zur Geschichte der Hanse in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.
Geschichte = Etymologie =
Etymologisch handelt es sich bei dem Substantiv Tohopesate [to:'ho:pe-'sa:te] um eine Zusammensetzung aus den mittelniederdeutschen Worten toho(o)pe (fur zuhauf, im Sinne von zusammen) und sate (von sitten fur sitzen). Das reflexive Verb tohopesaten bedeutet sich vereinigen, ein Bundnis (miteinander) schließen.
Zur Zeit der Hanse, also uber einen 600-jahrigen Zeitraum vom 12. bis zum 17. Jahrhundert, wurde unter einer Tohopesate ein Bundnis zwischen Hansestadten zur Wahrung ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhangigkeit verstanden.
= Historischer Hintergrund und Bedeutung =
Braunschweiger Kaufleute waren seit dem 13. Jahrhundert am hansischen Handel beteiligt. Braunschweig war zusammen mit Magdeburg einer der zwei „Vororte“ der sachsischen Hansestadte. Am 29. Mai 1669, beim letzten Hansetag, gehorte Braunschweig neben Bremen, Danzig, Hamburg, Hildesheim, Koln, Lubeck, Osnabruck und Rostock zu den letzten neun verbliebenen Stadten der Hanse.
Ihre Blutezeit hatte die Hanse im 14. Jahrhundert. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts, an der Schwelle vom Spatmittelalter zur fruhen Neuzeit, sahen jedoch viele Hansestadte ihre Unabhangigkeit von erstarkenden Territorialfursten bedroht. Einige Stadte wurden von den Herrschern gezwungen, aus dem hansischen Stadtebund auszutreten, um dann – nunmehr schutzlos geworden – in eine Abhangigkeit von den jeweiligen Fursten gezwungen zu werden. Allein die Stadt Braunschweig hatte aus diesem Grund zwischen dem 13. Jahrhundert und dem Ende des 15. Jahrhunderts uber 50 derartige Bundnisabkommen geschlossen. Außerdem entwickelte sich im 14. Jahrhundert in (Alt-)Sachsen parallel zur Hanse ein Bund von bis zu 25 sachsischen Stadten, der, wie die Hanse, ebenfalls im 15. Jahrhundert seine Blutezeit erlebte. Die Fuhrungsrolle in diesem Bundnis hatten die Stadte Braunschweig und Magdeburg. In Braunschweig fanden die meisten der regelmaßig stattfindenden Treffen der Bundnispartner statt, auch wurden samtliche Finanzangelegenheiten dieses Stadtebundnisses von Braunschweig aus geregelt.
Um dieser bedrohlichen Entwicklung entgegenzuwirken, hatte es bereits seit 1474 intensive Gesprache zwischen verschiedenen Hansestadten gegeben, die auch zu verschiedenen gegenseitigen Beistandsvertragen gefuhrt hatten. Im Fruhjahr 1476 hatte es Gesprache in den norddeutschen Hansestadten Uelzen und Luneburg zwecks Abschlusses einer wendisch-sachsischen Tohopesate gegeben.
Auf dem vom 27. August bis zum 13. September 1476 in Bremen abgehaltenen Hansetag wurde eine Tohopesate zwischen den anwesenden 25 Stadten verhandelt und angenommen. Sie genugte aber einigen Stadten nicht, da sie lediglich unspezifische Absichtserklarungen enthielt. Deshalb kamen Mitte Oktober des Jahres die Burgermeister und Abgesandten von 19 Stadten aus dem Nord- und Ostseeraum sowie aus dem sachsisch-wendischen Quartier in Hildesheim zusammen, um einen eigenen Beistandspakt auszuhandeln, aus dem schließlich die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 als Abschlussdokument hervorging. Das Dokument wies zahlreiche Parallelen zu einer bereits im Dezember 1450 verabschiedeten gesamthansischen Tohopesate auf.
Das Ende 1476 ausgehandelte Abkommen von 19 Stadten war zunachst ein auf sechs Jahre befristetes Bundnis gegenseitiger politischer, finanzieller und militarischer Unterstutzung bei Bedrohung von Wirtschaft und Handel sowie der stadtischen Freiheit. Dabei wurde auch festgelegt, welche Stadt in welchem Umfang militarischen Beistand zu leisten habe, allen voran die Stadte Lubeck und Hamburg, gefolgt von Magdeburg, Braunschweig, Luneburg und Halle.
Die 19 Stadte, die die Tohopesate durch Anhangen ihres Stadtsiegels beurkundeten, waren: Braunschweig, Bremen, Einbeck, Goslar, Gottingen, Halberstadt, Halle (Saale), Hamburg, Hannover, Hildesheim, Lubeck, Luneburg, Magdeburg, Rostock, Stade, Stendal, Stralsund, Uelzen und Wismar. Das Dokument wurde in vier Exemplaren ausgestellt und anschließend im Umlaufverfahren von allen 19 Stadten besiegelt. Anschließend wurden die Exemplare in Braunschweig, Hamburg, Lubeck und Magdeburg niedergelegt.
Nach Ablauf der Sechsjahresfrist sollte das Bundnis 1482 erneuert werden. Dazu war vereinbart worden, sich sechs Monate vor Ablauf dieser Frist auf Einladung Lubecks in Luneburg fur neue Verhandlungen bzw. zur Verlangerung einzufinden. Zu dieser Einladung und zum Abschluss einer neuen Tohopesate kam es jedoch nie. Im Gegenteil, trotz der starken Worte des Bundnisvertrages und des sich darin gegenseitig zugesicherten (militarischen) Beistandes im Falle einer Bedrohung von außen geschah bereits kurz darauf nichts. 1478, nicht einmal zwei Jahre nach Besiegelung, sah sich Halle a.d.S. massiv vom magdeburgischen Erzbischof Ernst II. von Sachsen bedrangt und hatte zur Verteidigung seiner Unabhangigkeit die Hilfe der anderen Hansestadte benotigt, so wie es der Bundnisvertrag vorsah. Außer Lippenbekenntnissen der anderen Stadte wurden jedoch keine Truppen entsandt, und so verlor Halle seine Selbstandigkeit, was einen großen Verlust fur die Hanse darstellte. 1482 wurde fur vier Jahre ein Nachfolgebundnis von 15 Hansestadten geschlossen.
Der Druck der Territorialfursten auf die Hansestadte stieg in der Folge kontinuierlich, sodass viele niedersachsische Stadte im Laufe des 16. Jahrhunderts aus der Hanse austraten, was schließlich zum politischen und wirtschaftlichen Niedergang der Hanse beitrug.
= Erhaltene Exemplare =
Von den ursprunglich vier gefertigten Urkunden wurde die in Magdeburg verwahrte im Dreißigjahrigen Krieg bei der zynisch als Magdeburger Hochzeit bezeichneten großflachigen Zerstorung der Stadt im Mai 1631 durch kaiserliche Truppen unter Tilly und Pappenheim zerstort. Das Hamburger Exemplar wurde wahrscheinlich beim Stadtbrand von 1842 vernichtet, sodass heute nur noch die Urkunden in Lubeck und Braunschweig erhalten sind.
Die in Braunschweig erhaltene Tohopesate wird im Stadtarchiv Braunschweig unter der Signatur A I 1: 885 verwahrt. Die Urkunde ist aus Pergament. Am unteren Rand sind an Pergamentstreifen die Siegel der 19 Teilnehmerstadte angebracht. Ohne die angehangten Siegel ist die Urkunde 46 cm hoch und 62 cm breit. Das in Braunschweig verwahrte Dokument ist das erste in das Welterberegister aufgenommene, das aus einem Archiv in Niedersachsen stammt.
Die in Lubeck erhaltene Tohopesate wird im Stadtarchiv Lubeck unter der Signatur 01.1-01 (1) : 06436 verwahrt.
Beurteilung durch die UNESCO Am 18. Mai 2023 entschied der fur das Weltdokumentenerbe (Memory of the World) zustandige Exekutivrat, 17 Einzeldokumente unterschiedlicher Dokumentgruppen zur Geschichte der Hanse in die Liste des Weltdokumentenerbes aufzunehmen. Zuvor hatte unter Federfuhrung des Archivs der Hansestadt Lubeck eine internationale Konferenz stattgefunden, auf der diejenigen Dokumente ausgewahlt wurden, die schließlich bei der UNESCO zur Prufung bzw. Aufnahme in das Memory of the World eingereicht wurden; sie stammen aus elf Archiven in Belgien, Danemark, Deutschland, Estland, Lettland und Polen.
Bei den ausgewahlten Dokumenten handelt es sich um Zollbucher, Sitzungsprotokolle, Privilegien und Urkunden aus den Jahren 1192 bis 1547, die sich in folgende sechs Kategorien einteilen lassen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der Geschichte der Hanse reprasentieren: Hansetage, Handelsvertrage und Privilegien, Kontore, Seerecht, Konflikte und Bundnisse sowie kaufmannische Uberlieferung.
Die verschiedenen, von der UNESCO aufgenommenen Hanse-Dokumente sind Zeugnis der Entwicklung Nordeuropas vor uber 600 Jahren. Der freiwillige Zusammenschluss einer großen Anzahl europaischer Kaufleute aus etwa 200 Hansestadten erstreckte sich uber ein Gebiet, das heute 25 Staaten Europas umfasst. Auch die einmalige Dauer der Hanse von mehreren Jahrhunderten sowie deren Entwicklung von einer Vereinigung von Kaufleuten (Kaufmannshanse) hin zu einem Zusammenschluss von Stadten (Stadtehanse) ist von nicht zu unterschatzender historischer Bedeutung, wie auch die regelmaßig abgehaltenen Hansetage, auf denen Entscheidung per Mehrheitsbeschluss getroffen wurden.
Die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 ist dabei von besonderer historischer Bedeutung, weil sie ein einzigartiges Beispiel fur hanseatische Kooperation darstellt, bei der die Verschriftlichung von Vereinbarungen eine einzigartige und hochst bedeutsame Rolle spielte. Wie die anderen Hanse-Unterlagen reprasentiert sie exemplarisch Einigungs- und Kommunikationsinstrumente der Hanse sowie deren Schrift- und Erinnerungspraxis.
Literatur Jorgen Bracker, Volker Henn, Rainer Postel (Hrsg.): Die Hanse – Lebenswirklichkeit und Mythos. Katalog der Ausstellung des Museums fur Hamburgische Geschichte in Hamburg 24. August – 24. November 1989. 2 Bde., 4. Auflage. Schmidt-Romhild, Lubeck 2006 (Erstausgabe: Hamburg 1989), ISBN 978-3-7950-1275-5.
Manfred R. W. Garzmann: Ausgewahlte Urkunden zur mittelalterlichen Geschichte der Stadt Braunschweig. In: Gerd Spies (Hrsg.): Festschrift zur Ausstellung Brunswiek 1031 – Braunschweig 1981. Die Stadt Heinrichs des Lowen von den Anfangen bis zur Gegenwart. Stadtisches Museum, Braunschweig 1981. S. 571–593.
Manfred R. W. Garzmann: Burgertum und Landesherrschaft in Braunschweig wahrend des Mittelalters und der Fruhen Neuzeit. In: Jochen Luckhardt, Franz Niehoff (Hrsg.): Heinrich der Lowe und seine Zeit. Herrschaft und Reprasentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995. Band 3, Hirmer, Munchen 1995, ISBN 3-7774-6900-9, S. 20–40.
Matthias Puhle (Hrsg.): Hanse – Stadte – Bunde. Die sachsischen Stadte zwischen Elbe und Weser um 1500. Magdeburg 1996 (= Magdeburger Museumsschriften Nr. 4, Band 1: Aufsatze), ISBN 3-930030-17-9, S. 575–602.
Matthias Puhle: Die Politik der Stadt Braunschweig innerhalb des Sachsischen Stadtebundes und der Hanse im spaten Mittelalter. (= Braunschweiger Werkstucke. Reihe A: Veroffentlichungen aus dem Stadtarchiv. Band 20 = Braunschweiger Werkstucke. Band 63). Waisenhaus-Buchdruckerei und Verlag, Braunschweig 1985, ISBN 3-87884-026-8 (Zugleich: Braunschweig, Technische Universitat, Dissertation, 1984), S. 151–154.
Walther Stein (Hrsg.): Hansisches Urkundenbuch 1471 bis 1485. Band 10, Duncker und Humblot, Leipzig 1907, S. 327–333. (Digitalisat)
Henning Steinfuhrer: Braunschweiger Bundnisurkunde von 1476 ist Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes zur Geschichte der Hanse. In: Historischen Kommission fur Niedersachsen und Bremen (Hrsg.): Niedersachsisches Jahrbuch fur Landesgeschichte 2023. Band 95, Neue Folge der »Zeitschrift des Historischen Vereins fur Niedersachsen« Wallstein, Gottingen 2023, ISBN 978-3-8353-5458-6, S. 33–40.
Henning Steinfuhrer: Kurze Geschichte der Hansestadt Braunschweig. Appelhans, Braunschweig 2017, ISBN 978-3-944939-31-5, S. 20–27.
Weblinks tohopesate bei Digitale Bibliotheek voor de Nederlandse Letteren (DBNL)
Einzelnachweise
|
Die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 ist ein Schutz- und Beistandsvertrag, der von 19 Stadten der Hanse geschlossen wurde. Seine vier Ausfertigungen wurden in vier Hansestadten verwahrt; im Laufe der Zeit wurden zwei Urkunden zerstort. Im Mai 2023 wurde die Tohopesate vom 31. Oktober 1476 als Teil einer Auswahl wichtiger Dokumente zur Geschichte der Hanse in das Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Tohopesate_vom_31._Oktober_1476"
}
|
c-490
|
Die Kirchbach’schen Werke, spater auch Jurid-Werke genannt, in Coswig in Sachsen waren das alteste und großte Unternehmen zur Herstellung von Kupplungs- und Bremsbelagen in Deutschland. Da der letzte Eigentumer nach 1945 Coswig verließ und die Rechte an der Marke Jurid mitnahm, anderten sich die Firma und der Markenname am alten Standort in den 1950er Jahren in Cosid und spater in Cosid-Kautasid. Unter der Marke Cosid produziert TMD Friction in Coswig weiterhin Hochleistungs-Reibmaterialien fur Schienenfahrzeuge und die Industrie, wahrend die Marke Jurid der Federal-Mogul Bremsbelag GmbH in Glinde gehort (Stand 2023).
Hermann Kirchbach Der Kaufmann (Julius) Hermann Kirchbach (* 2. August 1855 in Roßwein; † 8. Juli 1913 in Coswig) stammte aus einer in Roßwein ansassigen Tuchmacherfamilie. Im Alter von 27 Jahren eroffnete er in Senftenberg ein Tuchhandelsgeschaft im damaligen Haus Kreuzstraße 4. Er heiratete (Bertha) Alma geborene Musaus (1853–1927), mit der er 1891 die Zwillinge (Max) Kurt und (Paul) Ernst bekam. Hermann Kirchbach verkaufte im Jahr 1900 das Senftenberger Grundstuck und das Geschaft an den Tuchhandler Max Goldmann (1872?–1950), der noch bis in die 1920er Jahre unter Max Goldmann vorm. H. Kirchbach firmierte.
Die Zwillinge Kurt und Ernst besuchten in Dresden das Konig-Georg-Gymnasium und die Hohere Handelsschule. Ihr Vater grundete im Juli 1910 in Coswig bei Dresden das Unternehmen Chemisch-Technische Werke Hermann Kirchbach, das er schon einen Monat spater in Kirchbachsche Werke Hermann Kirchbach umbenennen ließ (bis 1915 noch ohne Apostroph). Das Grundstuck fur die Fabrik an der damaligen Meißner Straße (heute Dresdner Straße / Industriestraße 9) kaufte Kirchbach vom Gartnereibesitzer Franz Rudolph, der seinen Betrieb 1885 gegrundet hatte und auf Rosenzucht spezialisiert war.
Die Kirchbachsche Fabrik stellte zunachst Packungen fur Stopfbuchsen, Dichtungsmaterialien und chemisch-technische Praparate her. 1912 wurde im Handelsregister beim Amtsgericht Radebeul eine Zweigniederlassung der Kirchbachschen Werke in der bohmischen Gemeinde Altstadt bei Tetschen eingetragen. Der Vertreter Thoner Wenzel in Altstadt Nummer 17 bezeichnete seine gewerbliche Tatigkeit als Metallwarenerzeugung und Vertreter der Kirchbachschen Werke (Stopfbuchsenpackungen, Dichtungsmaterial etc.). Unter anderem wurden auch Wand- und Tapetenreinigungsmittel produziert und vertrieben.
Nach dem Tod von Hermann Kirchbach im Alter von 57 Jahren ubernahm dessen Witwe Alma Kirchbach den Betrieb. Die Zwillingsbruder Ernst und Kurt erhielten Prokura.
Erste Reibbelage ab 1914 Im Jahr 1914 ubernahmen Ernst und Kurt Kirchbach das Unternehmen, das in eine offene Handelsgesellschaft umgewandelt wurde. Ernst war der kaufmannische Leiter, wahrend Kurt die technische Leitung ubernahm. Sie begannen mit der Produktion von Reibmaterialien. Das Militar bestellte 10.000 m Bremsband. Grund war der Ausfall der Lieferungen des von Herbert Frood (1864–1931) gegrundeten Unternehmens Ferodo nach dem Kriegseintritt Großbritanniens. Das Militar zog den Auftrag fur Bremsband zwar zuruck, aber Kirchbachs boten die Ware erfolgreich der Automobilindustrie an. Anfanglich ließ man die Asbestbander in sachsischen Bandwebereien weben und impragnieren, formte und hartete sie jedoch in Coswig.
Parallel dazu wurden weiterhin Patente zu Schmiermitteln eingereicht:
Patent DE302188: Schmiermittelersatz. Angemeldet am 30. Mai 1915, veroffentlicht am 5. Dezember 1917, Anmelder: Kirchbach & Co. Kirchbachsche Werke.
Patent CH79806: Schmiermittel. Angemeldet am 15. Mai 1918, veroffentlicht am 16. Januar 1919, Anmelder: Kirchbach & Co. Kirchbachsche Werke.
Patent ES67616A1: Como producto industrial, un sustitutivo lubrificante. Angemeldet am 13. August 1918, veroffentlicht am 16. September 1918, Anmelder: Kirchbach & Co. Kirchbachsche Werke.
Patent FI7249A: Smorjmedelsersattning. Veroffentlicht am 15. Februar 1919, Anmelder: Kirchbach & Co. Kirchbachsche Werke.
Patent DK24617: Smøremiddelerstatning. Veroffentlicht am 10. Juni 1919, Anmelder: Kirchbach & Co. Kirchbachsche Werke.
Außerdem ließ Kirchbach 1914 zwei Warenzeichen eintragen:
Harepa (Klasse 34; unter anderem fur kosmetische Produkte)
Kleberecht (Klasse 13; unter anderem fur Klebstoffe)
1915 wurde die Firma in Kirchbach’sche Werke Kirchbach & Co.geandert, nun erstmals auch offiziell mit einem Apostroph geschrieben. Gleichzeitig trat der Kaufmann Ernst Ludwig Fischer (1865–1945) aus Dresden in die Gesellschaft als Teilhaber ein. Im gleichen Jahr erfanden die Bruder Kirchbach die Wortmarke Jurid als reines Kunstwort, das zunachst noch nicht beim Patent- und Markenamt eingetragen wurde. Seit 1915 lieferte das Unternehmen Bremsbelage unter diesem neuen Markennamen fur die Automobilindustrie, insbesondere an die Bussing AG, die Neue Automobil-Gesellschaft AG (NAG) und an die Wanderer-Werke AG.
1916 zogen Ernst und Kurt Kirchbach mit ihrer Mutter Alma nach Niederloßnitz. Zu dieser Zeit wurde Ernst von der Kriegsamtstelle Dresden als „dauerhaft unbrauchbar“ ausgemustert, wahrend sein Bruder als fur den Kriegsdienst tauglich galt. Ernst Fischer hatte schon die entsprechende Altersgrenze uberschritten. Um die Kriegswichtigkeit der Belegschaft gab es einen regen Schriftverkehr mit der Kriegsamtstelle, in dem hervorgehoben wurde, dass die Kirchbach’schen Werke an direkten Kriegslieferungen Wagen- und Lederfett sowie Lederol bereitstellten und als indirekte Kriegslieferungen Stopfbuchsenpackungen, Schmiermittel und Geschossfullmasse. 1916 gab es im Betrieb 24 Angestellte, davon waren 13 weiblich.
1919 wurde der bohmische Ort Altstadt Bestandteil der neuen Tschechoslowakischen Republik. Der dortige Zweigbetrieb wurde aus dem Radebeuler Handelsregister geloscht. Ernst Ludwig Fischer schied als Mitinhaber des Unternehmens aus und wurde stattdessen alleiniger Inhaber der Kirchbach’schen Werke in Tetschen und Politz an der Elbe (heute Boletice nad Labem: Stadtteil Decin XXXII). Fischer wohnte jedoch privat bis zu seinem Tod bei dem Luftangriff auf Dresden am 14. Februar 1945 in Dresden im Haus Stephanienstraße 24.
1919 heiratete Kurt Kirchbach seine erste Ehefrau, die 1892 im oberschlesischen Gleiwitz geborene Meta Marie Leonore Fischer, genannt Lore. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs begannen die Zwillinge, neben gewebten Bremsbelagen auch gepresste zu fertigen. Außerdem wurde eine eigene Spinnerei und Weberei eingerichtet. Nach dem Tod seines Zwillingsbruders Ernst in der letzten Welle der Spanischen Grippe 1920 blieb Kurt Kirchbach der alleinige Inhaber des Unternehmens.
Entwicklung 1920 bis 1948 1921 zogen Kirchbachs in die Villa Kaiser-Friedrich-Allee 1b (heute Dr.-Schmincke-Allee 1b) in Radebeul. Anfang der 1920er Jahre wurden zahlreiche weitere Warenzeichen eingetragen, von denen Jurid bis heute noch existiert:
1920: Haematitan (Klasse 2)
1921: Kyren (Klasse 2)
1921: Kyr (Klasse 2)
1921: Ka-We-Co (Klasse 6)
1921: Jurid (Klasse 6)
1923: Ka-We (Klasse 6)
Der Eintritt des von dem Unternehmen Hansa kommenden Ingenieurs Hans Kattwinkel im Jahr 1923 sorgte fur einen ganz erheblichen Aufschwung der Kirchbach’schen Werke. Das Unternehmen wurde 1936 von einer Kommanditgesellschaft in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, an der Kurt Kirchbach noch zu 45 % beteiligt war. Im Jahr 1937 verwendeten „90 Prozent der deutschen und osterreichischen Automobil- und Motorradindustrie […] Jurid als Brems- und Kupplungsbelagmaterial serienmaßig“.
Vermutlich aus steuerlichen Grunden gab es eine Aufspaltung in die Kirchbach’sche Werke AG und die Jurid Vertriebsgesellschaft mbH. Beide Betriebe wurden zwar gemeinsam zur Umsatzsteuer veranlagt, eine Trennung gab es aber bei der Korperschaftsteuer, der Gewerbesteuer und der Einheitlichen Gewinnfeststellung. Spater erfolgte noch die Abspaltung einer Patentverwertungsgesellschaft unter der Firma Kattwinkel, Kirchbach & Co. Wahrend des Zweiten Weltkriegs musste aufgrund von Handelsbeschrankungen der Asbestgehalt reduziert werden. Es wurde auch nach Ersatzstoffen gesucht. Im Jahr 1944 waren rund 2000 Arbeiter und Angestellte im Unternehmen beschaftigt. Das Werk in Coswig uberstand den Zweiten Weltkrieg vollig unbeschadigt, wurde danach jedoch weitgehend demontiert. Ursprunglich wurde eine 100-prozentige Demontage befohlen und mit Maschinen und Anlagen im Werte von 2,6 Millionen Reichsmark (RM) bis Marz 1946 durchgefuhrt. (Dies betraf ubrigens auch einen 1942 auf dem Betriebsgelande angesiedelten Zweigbetrieb eines Herstellers von Stahlwolle als Asbestersatz.) Nach entsprechenden Einspruchen wurden im Juni wieder Maschinen im Werte von 156.000 RM fur eine 30-prozentige Produktion freigegeben. Einige Anlagen standen noch verpackt auf den Verladebahnhofen. Unter anderem durch Probleme bei der Beschaffung von Zement und beim Wiederaufbau des herausgerissenen Kessels verzogerte sich das Vorhaben jedoch. Immerhin gab es noch etwa 600 Beschaftigte vor Ort. Ab 1948 lief die Produktion langsam unter der Firma Jurid wieder an.
Wort-Bild-Marke Jurid 1945 ging Kurt Kirchbach nach einem kurzen Aufenthalt in Duderstadt nach Dusseldorf-Benrath, wo schon im Spatsommer mit funf Arbeitern unter dem Namen Juridwerk Kurt Kirchbach der Betrieb neu begann. 1949 zog die Fabrik nach Dusseldorf-Grafenberg. Das 1921 beim Reichspatentamt eingetragene Warenzeichen „Jurid“ wurde 1952 als Wort-Bild-Marke im Internationalen Markenregister als IR163201 registriert. Sie wurde mehrfach umgeschrieben. 2000 ubernahm die Honeywell International Inc. die Marke Jurid. 2023 war die Federal-Mogul Bremsbelag GmbH Inhaber der Marke. Das Unternehmen wurde 2018 an Tenneco verkauft und produziert nach wie vor in Glinde Bremsbelage.
Neue Wort-Bildmarken Cosid und Kautasid 1952 wurden drei Dresdner Privatunternehmen, die Dichtungen produzierten, zusammengeschlossen und mit den ehemaligen Kirchbach’schen Werken in Coswig vereinigt. Unter dem Namen Cosid wurde am gleichen Standort in einem Volkseigenen Betrieb weiter produziert. Da die Wort-Bild-Barke Jurid nicht mehr zur Verfugung stand, wurde 1955 Cosid neu fur den Coswiger Betrieb eingetragen. Derzeitiger Markeninhaber der Wortmarke Cosid ist die in Leverkusen ansassige TMD Friction, die nach wie vor ein Werk in Coswig am alten Standort der Kirchbach’schen Werke betreibt.
Die Wort-Bild-Marke Kautasit wurde ebenfalls 1955 registriert und gehorte zuletzt dem seit 1970 auch mit diesem Namen firmierenden Volkseigenen Betrieb Cosid-Kautasid-Werke in Coswig. Der Betrieb hat sich in den 1980er Jahren unter anderem aus gesundheitlichen Grunden um den Ersatz von Asbest bemuht. Die Marke Kautasit ist unterdessen abgelaufen und kann nicht mehr neu registriert werden. 2023 nannten sich zwei selbststandige Gesellschaften in Dresden Kautasit: die Kautasit GmbH und die Kautasit-Gummitechnik GmbH.
Nachfolger in Coswig ab 1991 Die Marke Cosid blieb nach der Wiedervereinigung Deutschlands erhalten. Die fruheren VEB Cosid-Kautasit-Werke (Teil des Kombinats Plast- und Elastverarbeitung) am Standort Coswig wurden 1991 von der Rutgers Pagid AG Essen ubernommen. Ab 2001 wurde das Werk von TMD Friction weitergefuhrt. Im Jahr 2010 wurde das 100-jahrige Jubilaum der Werke gefeiert, deren Produktion und Entwicklung in Coswig an der Industriestraße Bestand hat.
2011 wurden TMD und die Nisshinbo-Bremsensparte („NISB“) zusammengeschlossen, sodass das Unternehmen in Coswig unter dem Dach von Nisshinbo Holdings Inc. zu den weltweit großten Herstellern von Bremsbelagen gehort. 2023 wurde die TMD Friction Group weiterverkauft an die 2018 gegrundete Munchener Private-Equity-Gesellschaft Aequita.
Literatur Kirchbach’sche Werke Aktiengesellschaft. In: Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 48. Ausgabe 1943, Band 5, S. 4471.
Filme Jurid (Deutschland 1938) Dokumentarfilm (Regie: Friedrich Wollangk; Kamera: Fritz Lehmann; Musik: Walter Schutze; Produktion: Boehner-Film Fritz Boehner)
Weblinks Fruhe Dokumente und Zeitungsartikel zur Kirchbach’sche Werke AG in den Historischen Pressearchiven der ZBW
Einzelnachweise
|
Die Kirchbach’schen Werke, spater auch Jurid-Werke genannt, in Coswig in Sachsen waren das alteste und großte Unternehmen zur Herstellung von Kupplungs- und Bremsbelagen in Deutschland. Da der letzte Eigentumer nach 1945 Coswig verließ und die Rechte an der Marke Jurid mitnahm, anderten sich die Firma und der Markenname am alten Standort in den 1950er Jahren in Cosid und spater in Cosid-Kautasid. Unter der Marke Cosid produziert TMD Friction in Coswig weiterhin Hochleistungs-Reibmaterialien fur Schienenfahrzeuge und die Industrie, wahrend die Marke Jurid der Federal-Mogul Bremsbelag GmbH in Glinde gehort (Stand 2023).
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Kirchbach’sche_Werke"
}
|
c-491
|
Gezina „Geesje“ Kwak (* 17. April 1877 in Zaandam; † 1899 in Pretoria, Sudafrika) war eine niederlandische Naherin und ein Modell fur den Maler und Fotografen George Hendrik Breitner.
Leben Geesje Kwak war die Tochter des Schiffers Jan Kwak (1843–1913) aus Wormer und der Dienstbotin Willemptje Posch (1847–1893). Sie wurde nach ihrer Großmutter Geesje van Zanden benannt. Sie hatte zwei altere und drei jungere Geschwister. Als sie drei Jahre alt war, zog die Familie 1880 in die Commelinstraat im Amsterdamer Viertel Dapperbuurt. Danach lebten sie an verschiedenen Adressen in Amsterdam, und ihr Vater arbeitete als Bediensteter und einfacher Arbeiter. Mit funfzehn Jahren zog Geesje Kwak im Februar 1893 zu ihrer alteren Schwester Anna (1873–1939). Gemeinsam bewohnten sie ein Zimmer in der Govert Flinckstraat im Arbeiterviertel De Pijp, danach in der Tweede van Swindenstraat. Anna arbeitete in einer der Nahwerkstatten und Geesje Kwak wahrscheinlich auch. Nach dem Tod ihrer Mutter im Oktober 1893 lebten die Schwestern wieder bei ihrem Vater in Dapperbuurt.
Geesje Kwak arbeitete als Naherin, moglicherweise als Hutverkauferin und -macherin sowie als Modell fur den Maler George Hendrik Breitner. Sie folgte ihrer jungeren Schwester Niesje (1879–1911), die im Juli 1895 ausgewandert war, nach Sudafrika. Ein 1897 aufgenommenes Portratfoto aus einem Fotostudio in Pretoria, das die Schwestern gemeinsam zeigt, ist erhalten geblieben. Geesje Kwak starb 1899 wahrend des Zweiten Burenkrieges, als in der von britischen Truppen belagerten Stadt Pretoria Typhus ausbrach. Nach anderer Quelle war Tuberkulose die Ursache fur ihren fruhen Tod. Ihre Schwester uberlebte die Epidemie, heiratete und nannte ihre 1901 geborene Tochter Gezina nach ihrer Schwester Geesje.
Modelltatigkeit Nachdem Geesje Kwak in der Dapperbuurt mit dem Maler George Hendrik Breitner in Kontakt gekommen war, kam sie ab 1893 regelmaßig in sein Atelier im zweiten Stock der Lauriergracht 8, wo sie ihm gegen Entlohnung Modell stand, allein im August 1893 funf Mal. Zwischen 1893 und 1895 posierte sie regelmaßig fur Breitner.
Geesje Kwak stand Breitner Modell fur Entwurfszeichnungen, Vorstudien und Fotografien. Aus dieser Zeit gibt es mehrere Fotografien von ihr, in denen sie, abwechselnd in rote, weiße oder blaue geblumte japanische Kimonos gekleidet, auf einem Diwan sitzt oder liegt, vor einem Paravant oder im Garten steht. Es gibt auch ein Foto, das Breitner von ihr in einem dicken Mantel im Schnee gemacht hat. Außerdem ließ sie sich auch unbekleidet ablichten, wie ein Foto in der Atelierumgebung belegt. Breitner nutzte seine Fotos als Vorlage fur seine Olbilder. Die Fotos entstanden in einer speziell im orientalischen Stil eingerichteten Ecke des Ateliers mit ein paar Perserteppichen, einem Spiegel, einem großen Diwan, uber den ein Kelim ausgebreitet war, und verschiedenen orientalischen Paravents mit Kranich- und Blumenmuster.
Offentliche Wahrnehmung Insgesamt entstanden dreizehn „Japanse meisjes“-Gemalde, die teils kritisiert wurden, weil sie „Frauen mit verdachtigem Aussehen und unverfrorener Haltung“ zeigten und ein zu erotisches Erscheinungsbild hatten. Die Gemaldeserie des „Madchens im Kimono“ fand zwar Beachtung in der Presse, aber Geesje Kwak, Breitners Vorbild, erhielt keine positive Resonanz. In einem Artikel des konservativen Nieuwe Rotterdamsche Courant von 1894 hieß es, dass „das ‚Madchen mit ihrem plebejischen Aussehen, den deformierten Armen und Handen‘ mit der ‚reichen japanischen Umgebung‘ in Konflikt“ geriete. Zu der Aussage uber Geesjes Gliedmaßen findet sich keine weitere Erklarung. Noch im Jahr 1948 beschrieb der christliche Volksschriftsteller Jan Mens in seinem Roman De Blinde Weerelt eine Figur namens „Geesje Kwak“ als „trotteliges Kind“ aus dem Jordaan mit „vorstehenden Zahnen“ und einem „Hasengesicht“. Mit Breitners steigender Bekanntheit erfuhren auch seine Gemalde von Geesje Kwak im Kimono um 1900 wachsende Wertschatzung und wohlwollendere Deutung. Von Kunstlerkollegen wurden sie wegen ihrer „Reinheit“ mit Werken des alten niederlandischen Meister Jan Vermeer verglichen.
Von den dreizehn Kimono-Gemalden befinden sich acht in Privatbesitz. In den Niederlanden sind funf Werke in Museen zu sehen:
Der Ohrring: Museum Boijmans Van Beuningen
Madchen im weißen Kimono. Rijksmuseum Amsterdam
eine Variation von Madchen im weißen Kimono. Rijksmuseum Twenthe
Der rote Kimono. Stedelijk Museum Amsterdam
Madchen im roten Kimono (Geesje Kwak). Kunstmuseum Den Haag
2016 wurden alle dreizehn Kimono-Gemalde und viele Skizzen erstmals gemeinsam im Rijksmuseum in Amsterdam ausgestellt. 2020 waren mit Madchen im roten Kimono, Madchen im weißen Kimono und Der rote Kimono drei der Gemalde von Geesje Kwak im Kunstmuseum Den Haag zu sehen. Geesje Kwak wurde posthum zu einem sehr bekannten Malermodell.
Weblinks Kees Kuiken: Kwak, Geesje (1877-1899). In: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland. Huygens-Institut fur die Geschichte der Niederlande (Hrsg.)
Kwak, Geesje. Biografische Daten und Werke im Niederlandischen Institut fur Kunstgeschichte (niederlandisch)
Einzelnachweise
|
Gezina „Geesje“ Kwak (* 17. April 1877 in Zaandam; † 1899 in Pretoria, Sudafrika) war eine niederlandische Naherin und ein Modell fur den Maler und Fotografen George Hendrik Breitner.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Geesje_Kwak"
}
|
c-492
|
In the Shadows (englisch fur „In den Schatten“) ist ein Lied der finnischen Alternative-Rock-Band The Rasmus. Der Song ist die erste Singleauskopplung ihres funften Studioalbums Dead Letters und wurde am 3. Februar 2003 veroffentlicht. Es ist das kommerziell erfolgreichste Stuck der Gruppe und wurde ein internationaler Charterfolg.
Inhalt In the Shadows ist ein Alternative-Rock-Song, dessen Text vage gehalten ist und sich um das Leben als Soldat drehen soll. So singt Lauri Ylonen aus der Perspektive des lyrischen Ichs unter anderem, dass er lernen musse zu toten, bevor er sich sicher fuhlen konne. Doch er wurde sich lieber selbst umbringen, als ein Sklave zu sein. Sein Leben lang habe er „in den Schatten“ auf einen bestimmten Moment gewartet.
Produktion Der Song wurde von den Musikproduzenten Mikael Nord Andersson und Martin Hansen produziert, wahrend The Rasmus selbst als Autoren fungierten.
Musikvideos Zu In the Shadows wurden drei verschiedene Musikvideos veroffentlicht – eine finnische „Bandit Version“, eine europaische Version sowie eine Version fur den US-Markt.
Die Bandit-Version wurde von Finn Andersson in Helsinki gedreht und verzeichnet auf YouTube uber 1,5 Millionen Aufrufe (Stand Januar 2024). Das Video zeigt die Band, die den Song auf einer halbdunklen Buhne, die an einen Hubschrauberlandeplatz erinnert, spielt. Zudem sind The Rasmus als maskierte Rauber zu sehen, die ein Geschaft mit Tresor uberfallen. Nach dem Uberfall fluchten sie mit einem Transporter vor der Polizei durch die Nacht, wobei Sanger Lauri Ylonen auf der Tresortur hinterhergeschleift wird. In einem Waldstuck verstecken sie sich vor den Polizeihunden und konnen nur knapp entkommen, wobei sie am Ende ihre Masken abnehmen.
Bei der europaischen Version fuhrten Niclas Fronda und Fredrik Lofberg Regie. Sie verzeichnet auf YouTube mehr als 111 Millionen Aufrufe (Stand Januar 2024). Darin spielen The Rasmus in Schwarz gekleidet den Song in einem schwarz-weißen Raum, wobei den Bandmitgliedern schwarze Federn wachsen, die sie zunachst abschutteln. Kurz darauf nahert sich ein Schwarm Krahen dem Raum, zerbricht die Fenster und fliegt um die Band herum. Am Ende losen sich die Musiker selbst in einen Haufen schwarzer Federn auf.
Die US-Videoversion wurde von Philipp Stolzl in Bukarest gedreht und verzeichnet auf YouTube uber 116 Millionen Aufrufe (Stand Januar 2024). Hierbei spielt die Band den Song auf einer Buhne in einer alten Villa vor jubelndem Publikum. Dazwischen werden Szenen aus der Vergangenheit des Gebaudes gezeigt, in dem eine reiche Familie wohnte, bei der ein Dienstmadchen angestellt war, das von dieser schlecht behandelt wurde. Das Dienstmadchen sieht die Bandmitglieder in Spiegeln als Geister, woraufhin ihm Missgeschicke passieren und es den Zorn der Familie auf sich zieht. Schließlich wird das Madchen jedoch von Sanger Lauri Ylonen durch den Spiegel ins Diesseits auf das Konzert der Band gezogen, wo es sich unter das Publikum mischt. Die Familie findet auf der Suche nach dem Madchen am Ende somit nur ein leeres Zimmer vor.
Single = Covergestaltung =
Das Singlecover zeigt das Logo von The Rasmus in Weiß sowie den schwarzen Schriftzug In the Shadows. Im Hintergrund ist eine Seenlandschaft mit Nadelbaumen und wolkigem Himmel zu sehen.
= Titellisten =
Single 1
In the Shadows – 4:18
Everything You Say – 2:46
Single 2
In the Shadows – 4:18
In the Shadows (Revamped) – 3:03
First Day of My Life (Acoustic Demo) – 3:11
= Chartplatzierungen =
In the Shadows stieg am 14. Juli 2003 auf Platz 14 in die deutschen Singlecharts ein und erreichte vier Wochen spater fur eine Woche die Chartspitze. Insgesamt hielt es sich 19 Wochen lang in den Top 100, davon zwolf Wochen in den Top 10. Ebenfalls Rang eins belegte der Song in Finnland und Neuseeland. Weitere Top-10-Platzierungen gelangen unter anderem in Osterreich, der Schweiz, Schweden, Italien, im Vereinigten Konigreich, in Belgien, Frankreich und Danemark. In den deutschen Single-Jahrescharts 2003 erreichte das Lied Position zehn.
= Auszeichnungen fur Musikverkaufe =
In the Shadows erhielt im Jahr 2023 in Deutschland fur mehr als 300.000 verkaufte Einheiten eine Platin-Schallplatte. Die weltweiten Verkaufe belaufen sich auf uber eine Million Exemplare.
Weblinks Songtext mit Interpretationen auf genius.com
Deutsche Ubersetzung des Songtexts auf songtexte.com
In The Shadows bei Discogs, abgerufen am 17. Januar 2024.
Einzelnachweise
|
In the Shadows (englisch fur „In den Schatten“) ist ein Lied der finnischen Alternative-Rock-Band The Rasmus. Der Song ist die erste Singleauskopplung ihres funften Studioalbums Dead Letters und wurde am 3. Februar 2003 veroffentlicht. Es ist das kommerziell erfolgreichste Stuck der Gruppe und wurde ein internationaler Charterfolg.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/In_the_Shadows_(Lied)"
}
|
c-493
|
Die Stadtkirche Trebsen ist der Sakralbau der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Trebsen/Mulde nahe Grimma im sachsischen Landkreis Leipzig.
Geschichte und Ausstattung Die Stadtkirche Trebsen ist eine große romanische Saalkirche aus dem 12. Jahrhundert mit eingezogenem spatgotischem Chor mit Dreiachtelschluss aus dem Jahr 1518. Der Baukorper ist ein verputzter Bruchsteinbau mit Strebepfeilern, Maßwerkfenstern und hohem Satteldach. Der Sakralbau ist steinernes Zeugnis fur neun Jahrhunderte christlicher Bau-, Kultur- und Kirchengeschichte der Region. Er ist gepragt von Romanik, Gotik, Barock, Klassizismus und Historismus.
Der Kirchturm entstand 1552 an der Westseite der Kirche und brannte 1729 ab, wobei auch das Pfarrhaus Feuerbeschadigungen erlitt. Er bekam 1731 die vom Zimmermeister Johann Gebhard aus Trebsen erbaute Zwiebelhaube.
Der Innenraum des Gotteshauses wurde nach 1700 barock ausgestattet. Eine Besonderheit ist das großformatige ovale Deckengemalde von 1701 mit der Himmelfahrt des Elia; Schopfer dieses Kunstwerks war Johann Nikolaus Wilke.
Zu sehen sind zahlreiche Epitaphe, so etwa die aus der ersten Halfte des 12. Jahrhunderts stammende Reliefgrabplatte der Judita von Trebissen, figurliche Grabmaler von Patronsherren und Pfarrfamilien und ein lebensgroßes Kruzifix (um 1500).
Die Glasmalereien im Altarraum von 1912 zeigen den Auferstandenen sowie die Stifter-Fabrikantenfamilie Wiede. Die einstige Sakristei beherbergt ein Kriegergedachtnis mit einer Pieta von 1923 und mit einem Glasmalereifenster von 1953.
Die Platte (Mensa) des Altars gehorte seit 1686 zur Klosterkirche Grimma und ist seit den 1990er Jahren in der Evangelisch-lutherischen Stadtkirche zu Trebsen zuhause.
Orgel Die erste Orgel gab es in der Zeit um 1600, im Jahr 1833 baute Beyer aus Großzschocher ein neues Instrument ein.
Die jetzige Orgel schuf Hermann Eule Orgelbau Bautzen als Opus 161; sie wurde 1926 gestiftet. Das Instrument hat 19 Register, zwei Manuale und Pedal.
Gelaut Die alteste uberlieferte Glocke der Stadtkirche Trebsen, eine Bronzeglocke mit dem Schlagton b′, goss im Jahr 1897 die Gießerei C. Albert Bierling aus Dresden; sie hat einen Durchmesser von 840 Millimeter und ein Gewicht von 240 Kilogramm. Die großeren und schwereren Glocken mussten im Ersten Weltkrieg als sogenannte Metallspende des deutschen Volkes fur Rustungszwecke abgegeben werden und wurden eingeschmolzen.
Das Gelaut konnte erst 1950 mit zwei Bronzeglocken aus der Glockengießerei Schilling in Apolda wieder vervollstandigt werden; sie haben die Schlagtone es′ (unterer Durchmesser 1200 mm; ca. 975 kg) und g′ (unterer Durchmesser 1050 mm; ca. 490 kg).
Außenbereich Auf dem Pfarrhof sind das Diakonat aus dem 16. Jahrhundert mit Doppelportal aus Rochlitzer Porphyrtuff und das Pfarrhaus aus dem 16. und 18. Jahrhundert mit Sitznischenportal (um 1520) zu sehen.
Verschiedenes Die einseitig gebaute zweite Empore hat die architektonische Besonderheit, dass sie an der Kirchendecke befestigt ist – und nicht wie sonst ublich auf Bodensaulen ruht. Auf dieser Empore stehen die ursprunglichen Mannerbanke ohne Ruckenlehnen von 1755: Die Manner saßen damals in Kirchen oben, die Frauen unten – mit Gerade-aus-Blick zu Kanzel und Altar sowie mit Ruckenlehnen an den Banken.
Eine Besonderheit ist die Sonnenuhr, deren Anschaffung in der Zeit des Dreißigjahrigen Kriegs belegt ist. Sie tragt – stark verwittert – die Aufschrift: „Meine Zeit steht in deinen Handen“ (Psalm 31,16).
Die Stadtkirche Trebsen ist eine Station des Lutherwegs.
Der Sakralbau ist unter der Nummer 08966137 auf der Liste der Kulturdenkmale in Trebsen/Mulde eingetragen.
Pfarrer seit 1521 Literatur Lutz Heydieck: Der Landkreis Leipzig – Historischer Fuhrer. Sax-Verlag Beucha Markkleeberg, 2014.
Stadtkirche Trebsen. Texte: Heiko Jadatz, Walter Schormann. Fotos: Frank Schmidt. Hrsg. im Auftrag der Ev.-Luth. Kirchgemeinde Trebsen-Neichen. 32 Seiten, Format A5, mit Literaturverzeichnis. Sax-Verlag, Beucha 2005, ISBN 978-3-934544-80-2.
Walter Schormann: Die Stadtkirche Trebsen. S. 307–319 in: Zur Kirchen- und Siedlungsgeschichte des Leipziger Raumes. Hrsg. Lutz Heydick, Sax-Verlag, Beucha 2001, ISBN 978-3-934544-22-2.
Georg Dehio: Handbuch der deutschen Kunstdenkmaler, Sachsen II, Regierungsbezirke Leipzig und Chemnitz. Deutscher Kunstverlag Munchen Berlin, 1998.
Weblinks Ev. Stadtkirche Trebsen (bei Leipzig). In: architektur-blicklicht.de. Abgerufen am 24. Dezember 2023.
Homepage der Kirchgemeinde
Infos, Lage und Anschrift der Kirche auf Leipzig Travel
Holger Zurch: Sonntagskirche № 104: Stadtkirche Trebsen bei Grimma – Bibel-Ereignis zieht Blicke nach oben. In: Leipziger Internet Zeitung. 11. Februar 2024, abgerufen am 17. April 2024.
Einzelnachweise
|
Die Stadtkirche Trebsen ist der Sakralbau der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens in Trebsen/Mulde nahe Grimma im sachsischen Landkreis Leipzig.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtkirche_Trebsen"
}
|
c-494
|
Die Demobilmachung nach dem Dreißigjahrigen Krieg umfasst die Abrustung der Armeen der verschiedenen Kriegsparteien sowie die Raumung der Ende 1648 von ihnen besetzten Festungen und befestigten Orte. Nachdem der Westfalische Frieden am 24. Oktober 1648 den Dreißigjahrigen Krieg beendet hatte, waren im Heiligen Romischen Reich noch uber 250 feste Platze militarisch besetzt. Bei etwa 200 lagen nicht dem Landesherren gehorende Truppen in den Orten, deren schrittweiser Abzug im Rahmen des Nurnberger Exekutionstags geregelt wurde.
Bis 1650 zogen Kaiser Ferdinand III. und sein Verbundeter Kurbayern sowie auf der gegnerischen Seite Frankreich, Schweden und Hessen-Kassel ihre Truppen auf eigenes Gebiet zuruck bzw. entließen die meisten Soldner und Soldaten aus ihrem Dienst. Danach verblieben noch mehrere sogenannte Sicherungsplatze besetzt als Pfand fur die Zahlung von Ablosungssummen fur die Armeen Schwedens und Kassels sowie einzelne Garnisonen der nicht in den Frieden eingeschlossenen Machte Spanien und Lothringen, die zuvor auf Seiten des Kaisers gekampft hatten. Auch die Niederlande behielten mehrere Garnisonen am Niederrhein.
Auch wenn die politisch umstrittenen und auf dem Exekutionstag vereinbarten Truppenabzuge mit Raumung Frankenthals durch Spanien 1652 und Vechtas durch Schweden 1654 abgeschlossen waren, blieben einzelne kriegsbedingte Besatzungen bis in die 1670er Jahre bestehen.
Uberblick Im Laufe des Dreißigjahrigen Krieges erreichten die Heere nie zuvor gekannte Großen, deren Versorgung die Fahigkeiten fruhmoderner Staaten weit uberforderte. Sowohl der Kaiser wie die Schweden, sein militarischer Hauptgegner seit 1630, waren allein nicht in der Lage, ihre Heere aus eigenen Mitteln ausreichend zu finanzieren und zu versorgen. Dazu waren sie auf Kontributionen (Zwangszahlungen in Form von Geld oder Naturalien) besetzter Gebiete angewiesen, was auf Dauer zu immer starkerer Verwustung und Verarmung des Landes fuhrte. Hinzu kamen Unterstutzungszahlungen verbundeter Machte wie Spanien auf kaiserlicher und Frankreich auf schwedischer Seite, die spatestens mit dem Friedensschluss entfielen. Nach Schatzungen von Antje Oschmann standen Ende 1648 bis zu 150.000 Soldaten im Reich, die nach dem Ende des Kriegs in die Gebiete ihrer Landesherren zuruckgezogen und großtenteils abgerustet werden mussten.
Die Heere des Dreißigjahrigen Krieges bestanden nur zu kleinen Teilen aus einberufenen Milizen und direkt von den Landesherrn rekrutierten Soldaten; nur bei den Schweden gab es großere Kontingente, die mittels des Einteilungswerks in Schweden und Finnland ausgehoben wurden. Die meisten Soldaten waren Soldner, die von den Obristen als Kommandanten und Inhaber der einzelnen Regimenter in Auftrag und Namen ihres Landesherrn angeworben wurden. In allen Armeen, die auf Reichsboden kampften, dienten zum Ende des Krieges mehrheitlich Deutsche aller Konfessionen und aus allen Teilen des Reiches. Die Oberbefehlshaber im Jahr 1648 waren dagegen abgesehen von der hessen-kasselschen Armee Auslander oder stammten aus den Sudlichen Niederlanden. Sozial gab es ein deutliches Gefalle zwischen den Rangen, die Generalitat entstammte meist dem hohen Adel, die Offiziere kamen aus dem niederen Adel und dem Burgertum, die Soldaten wiederum aus den unteren Bevolkerungsgruppen wie Handwerkern, Bauern, Tagelohner oder fahrendem Volk.
Wahrend im Westfalischen Frieden nur zwei Monate fur die Demobilisierung der Armeen und die Raumung besetzter Platze vorgesehen waren, dauerte die tatsachliche Umsetzung fast zwei Jahre. Erst im Herbst 1650 hatten die Schweden ihre Armee fast vollstandig aufgelost und die franzosische und die kaiserliche Armee waren auf eigenes Gebiet zuruckgezogen. Die abgedankten Soldner schlossen sich zum Teil den im Franzosisch-Spanischen Krieg weiterkampfenden Armeen Frankreichs, Spaniens und des Herzogs von Lothringen an. Gleichzeitig warb die Republik Venedig um Soldaten fur den seit 1645 andauernden Krieg um Kreta gegen die Osmanen. Die breite Masse der entlassenen Truppen, schatzungsweise 70.000–80.000 Mann, ließ sich aber mit ihren Familien auf Reichsboden nieder. Haufig kehrten sie in ihre ursprungliche Heimatregion zuruck oder wurden gezielt in entvolkerten Gegenden angesiedelt.
Die Anzahl der von den Armeen besetzten Platze druckte zum Teil den Kriegsverlauf der vorangegangenen Jahre und die militarischen Krafteverhaltnisse aus, in denen Schweden ein Ubergewicht gegenuber dem Kaiser erreicht hatte und auch gegenuber seinen eigenen Verbundeten deutlich dominierte. Die reine Zahl war aber kein praziser Vergleichsmaßstab, da die festen Platze einen hochst unterschiedlichen militarischen und strategischen Wert besaßen. Nur wenige große Festungen wie Benfeld, Frankenthal oder Ehrenbreitstein waren stark genug befestigt und hatten eine ausreichend große Besatzung, um sich unabhangig von einer Feldarmee auf langere Zeit behaupten zu konnen. Bei der Demobilisierung war diese Unabhangigkeit eine Gefahrenquelle. Ohne ausreichende Abdankungsgelder fur die Soldaten waren v. a. die starksten Garnisonen nicht zur Raumung ihres Platzes zu bewegen.
Schwedische Armee Die schwedische Armee war mit etwa 60.000 Soldaten die großte Armee im Reich und besetzte die meisten festen Platze. Diese dienten u. a. zur Durchsetzung der von Schweden verlangten „Militarsatisfaktion“, einer Geldzahlung der Reichsstande, um damit einen Großteil der Soldaten aus ihrem Dienst entlassen zu konnen. Die einheimischen Soldaten in der Armee sollten von den Ostseehafen aus zuruck nach Schweden und Finnland verschifft werden.
Als Boten die Nachricht von der Unterzeichnung des Westfalischen Friedens uberbrachten, stand eine schwedische Feldarmee unter Carl Gustaf Wrangel in Franken, die andere belagerte unter Pfalzgraf Karl Gustav die bohmische Hauptstadt Prag. Anfang November 1648 zog diese Armee sich von Prag zuruck und verließ bis Mitte des Monats Bohmen. Danach wurde die schwedische Armee in den gesamten sieben Reichskreisen (alle außer dem Osterreichischen, Bayerischen und Burgundischen) verteilt, die nach dem Westfalischen Frieden fur die Zahlung der Militarsatisfaktion zustandig waren. Bis zur Umsetzung der wichtigsten Friedensbestimmungen mussten die Reichskreise die Armee weiter versorgen. Die Schweden verteilten die Truppen nach der Große und Finanzkraft der Kreise. Die Kavallerie zog vor allem in den Schwabischen und den Oberrheinischen Reichskreis.
Da im Sudwesten Deutschlands auch die franzosische Armee einquartiert war, kam es zum Streit zwischen den beiden Armeen auf Grund begrenzter Versorgungsmoglichkeiten. Die Franzosen ließen in von ihnen besetzte Stadte keine schwedischen Soldaten hinein und behinderten sogar die Eintreibung der fur Schweden bestimmten Satisfaktionsgelder. Erst der Abzug der franzosischen Feldarmee nach Frankreich im Jahr 1649 entspannte die Situation und verhinderte eine bewaffnete Konfrontation zwischen den eigentlich Verbundeten.
In der Zeit von 1648 bis 1650 besetzte die schwedische Armee folgende feste Platze:
Im Konigreich Bohmen: Bischofteinitz, Brandeis, Brux, Eger, Elbkosteletz, Friedland, Burg Grafenstein, Burg Karlstejn mit Liten, Konopischt, Leitmeritz, Burg Petschau, Prager Kleinseite, Tabor, Tetschen
In der Markgrafschaft Mahren: Eulenberg, Fulnek, Mahrisch Neustadt, Olmutz, Sternberg
Im Herzogtum Schlesien: Bolkenhain, Glogau, Burg Greiffenstein, Hirschberg, Jagerndorf, Jauer, Jeltsch, Leobschutz, Ohlau, Parchwitz, Trachenberg
In Kurbayern: Donauworth, Burg Falkenberg, Neumarkt in der Oberpfalz, Burg Waldeck, Schanze bei Rain am Lech
In Kurbrandenburg (und dem zu Brandenburg fallenden Hinterpommern): Driesen, Gardelegen, Kolberg, Landsberg an der Warthe, Locknitz, Schivelbein
In den Hochstiften Halberstadt und Minden (zu Kurbrandenburg): Aschersleben, Halberstadt, Hornburg, Minden, Osterwieck
In Kurmainz: Erfurt
In Kursachsen: Leipzig, Querfurt
Im Hochstift Bamberg: Vilseck
Im Hochstift Munster: Vechta
Im Hochstift Osnabruck: Fiestel, Furstenau, Vorden, Wittlage
Im Hochstift Straßburg: Benfeld mit Dambach und der Rheinauer Schanze, Oberkirch
Im Herzogtum Braunschweig-Luneburg: Bleckede, Hoya, Nienburg/Weser
Im Herzogtum Mecklenburg-Schwerin: Butzow, Domitz, Plau, Warnemunde
In der Landgrafschaft Hessen-Kassel: Auburg
In der Pfalzgrafschaft Pfalz-Sulzbach: Weiden in der Oberpfalz
In der Grafschaft Lowenstein-Wertheim: Burg Wertheim
In der Grafschaft Mansfeld: Schloss Mansfeld
In der Grafschaft Montfort: Langenargen
In der Grafschaft Pappenheim: Burg Pappenheim
In der Grafschaft Waldeck: Bad Pyrmont
Auf Deutschordensgebiet: Schloss Horneck, Insel Mainau, Burg Neuhaus
In der Herrschaft Wolfstein: Sulzburg
Reichsstadt Dinkelsbuhl
Reichsstadt Nordlingen
Reichsstadt Schweinfurt
Reichsstadt Uberlingen
Reichsstadt Windsheim
Als Anfang 1650 klar war, dass die vollstandige Zahlung der schwedischen Militarsatisfaktion uber 5,2 Millionen Reichstaler noch mehrere Jahre andauern wurde, setzte Schweden auf dem Nurnberger Exekutionstag durch, bis zur vollstandigen Zahlung einen festen Platz als Pfand behalten zu durfen. Wahrend der Rest der verbleibenden schwedischen Garnisonen an drei Terminen uber das Jahr 1650 abgezogen wurde, blieb deshalb Vechta im Niederstift Munster bis 1654 schwedisch besetzt. Auch Kolberg in Hinterpommern verließen die Schweden erst nach einer genauen Grenzregelung mit Brandenburg im Stettiner Rezess 1653.
Die schwedische Armee wurde nach und nach abgerustet, moglichst parallel zur Abrustung der kaiserlichen Armee, auch wenn die Schweden durch die fruhe Entlassung der besonders hoch besoldeten deutschen Kavallerie im Sommer 1649 schneller ihr Offensivpotential verloren als die Kaiserlichen. Der Abzug der 1650 noch verbliebenen Truppen erfolgte nach den Bestimmungen des Nurnberger Hauptrezesses zwischen Kaiser und Schweden in Etappen von Sud nach Nord. Die jeweils starksten Festungen einer Region wurden zuletzt geraumt, um den Abzug der in Richtung der Ostseekuste oder Bremen-Verden strebenden Soldaten zu decken. Die Kaiserlichen protestierten wegen des verspateten Abzugs aus Erfurt und mehreren anderen Orten und schickten Karl Gustav den Offizier Jan van der Croon hinterher, der anschließend den schwedischen Abzug aus Erfurt uberwachte.
Nach der schrittweisen Abdankung der schwedischen Armee in Deutschland behielt die Krone etwa 6000 Soldaten im Reich in Schwedisch-Pommern und Bremen-Verden unter Waffen. Zusammen mit den etwa 14.000 einheimischen Truppen in Skandinavien reduzierte Schweden seine Armee damit bis 1651 auf 20.000 Mann. Zu den festen Platzen, die die Schweden in ihren 1648 als Reichslehen erworbenen Gebieten nun als Landesherrn innehatten, zahlten Bremervorde, Buxtehude, Ottersberg, Rotenburg, Stade und Thedinghausen in Bremen-Verden, Anklam, Demmin, Greifswald, Loitz, Peenemunde, Stettin, Stralsund, Swinemunde, Tribsees, Ueckermunde, Wolgast und Wollin in Pommern sowie Wismar.
Franzosische Armee Die franzosische Armee d’Allemagne mit etwa 10.000 Mann unter Henri de Turenne stand Ende Oktober 1648 in Wurttemberg. Der regierende Minister Jules Mazarin hatte noch im Sommer geplant, die Truppen nach einem Friedensschluss im Reich unmittelbar anschließend in den Sudlichen Niederlanden im Kampf gegen die Spanier einsetzen zu konnen. Da sich der Abschluss des Friedens aber bis in den Herbst verzogerte, sollten die Truppen uber den Winter noch Quartiere im Reich und auf Kosten der Reichsstande beziehen.
In der Zwischenzeit waren in Frankreich die Auseinandersetzungen der Fronde weiter eskaliert. Das Pariser Parlement wurde von fuhrenden Adligen gegen Mazarin und die Krone unterstutzt. Im Februar 1649 schloss sich Turenne den Aufstandischen gegen die Krone an und versuchte, mit seiner Armee den Rhein in Richtung Frankreich zu uberqueren. Allerdings erschien rechtzeitig der von der Krone geschickte General Johann Ludwig von Erlach und bezahlte mithilfe frischer Kredite den Soldaten einen Teil ihres ausstehenden Soldes. Sie verweigerten Turenne die Gefolgschaft und unterstellten sich Erlach, der sie ebenfalls uber den Rhein setzen ließ und sie nun zur Unterstutzung der Krone nach Paris fuhrte. Nach dem Abzug der Feldarmee verblieben im Heiligen Romischen Reich nur noch die franzosischen Besatzungen am Oberrhein und im Elsass.
Die franzosischen Garnisonen lagen eng beieinander, waren aber uberwiegend von sehr kleiner Truppenstarke und wurden nicht mehr von einer Feldarmee unterstutzt. Zwischen 1648 und 1650 zahlten dazu folgende Orte:
In Vorderosterreich: Erbach, Burg Lichteneck, Neuenburg und die Waldstadte (Laufenburg, Rheinfelden, Sackingen, Waldshut)
In Kurkoln: Burg Losnich
In Kurmainz: Bingen, Hochst am Main, Hofheim am Taunus und Mainz
In der Kurpfalz: Alzey, Bacharach, Boxberg, Friedelsheim, Germersheim, Neustadt an der Haardt, Oppenheim und Otzberg
In Kurtrier: Schonburg
Im Hochstift Speyer: Deidesheim und Madenburg
Im Hochstift Straßburg: Zabern mit Burg Hohbarr sowie Dachstein
Im Herzogtum Pfalz-Neuburg: Lauingen
Im Herzogtum Wurttemberg: Heidenheim an der Brenz, Festung Hohentwiel, Horburg, Montbeliard, Reichenweier, Schorndorf und Tubingen
In der Markgrafschaft Baden-Baden: Stollhofen und Kreuznach (gemeinsame Herrschaft Badens mit Pfalz-Simmern)
In der Markgrafschaft Baden-Durlach: Graben
In der Grafschaft Nassau-Saarbrucken: Saarbrucken
In der Grafschaft Rechberg: Burg Hohenrechberg
Im Lehen Geisberg (zu den Grafen von Trauttmansdorff): Burrweiler
Zehnstadtebund (Reichsstadte Colmar, Hagenau, Kaysersberg, Munster im Gregorienthal, Oberehnheim, Rosheim, Schlettstadt, Turkheim, Weißenburg, Landau in der Pfalz)
Reichsstadt Heilbronn
Reichsstadt Speyer
Reichsstadt Worms
Die Truppen in Alzey, Bacharach, Kreuznach, Losnich und der Schonburg liefen 1650 zu Turenne und der Fronde uber. Dadurch verzogerte sich ihre Raumung, die wahrscheinlich erst im Jahr 1651 stattfand.
Im Frieden von Munster und Osnabruck hatte Frankreich den Besitz von Breisach und das Besatzungsrecht in Philippsburg erhalten. Diese Besatzungen blieben dauerhaft bis zur Ruckeroberung Philippsburgs 1676 durch Reichstruppen bzw. der Ruckkehr Breisachs zum Reich im Frieden von Rijswijk 1697. Andere Machte durften diese Stutzpunkte nicht durch den Bau eigener Befestigungen entwerten, entlang des Rheins wurde der Bau neuer Befestigungswerke zwischen Basel und Philippsburg verboten, wahrend die bestehenden Festungen in Zabern und Benfeld vor der Ruckgabe an den habsburgischen Straßburger Bischof Leopold Wilhelm von Osterreich geschleift werden mussten.
Hessen-kasselsche Armee Die Armee der von der Landgrafenwitwe Amalie Elisabeth regierten Landgrafschaft Hessen-Kassel war ebenfalls etwa 10.000 Mann stark und wurde von Johann von Geyso kommandiert. Sie hatte ihre Quartiere aufgrund der haufigen Besetzungen der Landgrafschaft durch kaiserliche Truppen und der schweren Verwustung des Gebiets vor allem im neutralen Ostfriesland und im Westen des Hochstifts Munster an der Grenze zu den befreundeten Niederlanden.
Außerhalb der Grenzen der Landgrafschaft hielt die Armee folgende feste Platze:
In Kurkoln: Kempen, Linn (Krefeld) und Neuss
In der Kurpfalz: Kaub
Im Hochstift Fulda: Hammelburg
Im Hochstift Munster: Ahaus mit Burg Ottenstein, Bocholt, Borken, Coesfeld
Im Hochstift Paderborn: Schloss Neuhaus, Warburg
Im Herzogtum Julich-Berg (zu Pfalz-Neuburg): Duren
In der Grafschaft Isenburg: Birstein
In der Grafschaft Lippe (gemeinsame Herrschaft mit Kurbrandenburg): Lippstadt
In der Grafschaft Ostfriesland: Detern, Schanze vor Diele, Esens, Friedeburg, Greetsiel, Hampoeler Schanze, Jemgum, Stickhausen, Schanze vor Weener, Wittmund
In der Herrschaft Reifenberg: Burg Reifenberg
Reichsstadt Friedberg
Die drei Platze Neuss, Coesfeld und Warburg (statt letzterem war ursprunglich Schloss Neuhaus vorgesehen) durfte Hessen-Kassel als Pfand mit Truppen besetzt halten, bis die umliegenden katholischen Reichsstande die im Westfalischen Frieden zugesicherte Summe von 600.000 Reichstalern an die Landgrafschaft gezahlt hatten.
Bis zum Jahr 1650 zog die hessen-kasselsche Armee sich abgesehen von den drei Sicherheitsplatzen in das eigene Territorium zuruck. Im Juli 1651 gab sie auch Neuss, Coesfeld und Warburg zuruck. Auf eigenem landgraflichem Gebiet inklusive dem 1648 in der Einigung mit Hessen-Darmstadt erhaltenen Marburger Gebiet unterhielt Hessen-Kassel Garnisonen in Kassel, Marburg, der Wasserfestung Ziegenhain und den Burgen Friedewald, Herzberg, Hohenstein, Katz, Rheinfels, Spangenberg und Trendelburg.
Kaiserliche Armee Die Kaiserliche Armee verfugte am Ende des Krieges uber etwa 37.000 Mann, je zur Halfte Kavallerie und Infanterie, und eine unbestimmte Zahl zusatzlich in Festungsbesatzungen. Die Hauptarmee unter Ottavio Piccolomini befand sich im Oktober 1648 auf dem Weg von Bayern nach Bohmen, als Vorhut war eine Entsatzarmee fur das belagerte Prag unter Martin Maximilian von der Goltz auf dem Weg, die am 4. November dort anlangte, kurz nachdem die Nachricht vom Friedensschluss eingetroffen war. Bis Ende des Jahres war die komplette Hauptarmee in Bohmen und damit auf dem eigenen habsburgischen Gebiet. In Westfalen stand die Niederrheinisch-Westfalische Kreisarmee unter Guillaume de Lamboy mit insgesamt 15.000 Mann aus kaiserlichen Immediattruppen und mediaten Truppen der Stande des Niederrheinisch-Westfalischen Reichskreises. Die standischen Truppen in der Kreisarmee stellte hauptsachlich die kurkolnische Armee Kurfurst Ferdinands, der auch Bischof von Munster und Paderborn war. Der Friedensschluss erreichte die Feldtruppen der Kreisarmee in Hoxter.
Die Westfalische Kreisarmee bedrohte unmittelbar schwedische Quartiersgebiete und drang auch nach dem Westfalischen Frieden im Bereich des Hochstifts Minden und der Grafschaft Hoya mehrfach in diese ein, um Gelder fur ihre Verpflegung einzutreiben. Erst auf wiederholte Proteste der eigenen kaiserlichen Gesandten, des Kolner Kurfursten und ausdrucklichen Befehl des Kaisers stellte Lamboy die Ubergriffe ein und zog sich in den Suden des Reichskreises zuruck. Dort bestand nur Konfliktpotential mit den benachbarten hessischen Quartieren.
Zwischen 1648 und 1650 besetzten kaiserliche Truppen folgende landesfremde Orte:
In Kurtrier: Festung Ehrenbreitstein
In Kurkoln: Dorsten und weitere Platze in den vom Kolner Kurfursten regierten Stiften, in denen keine mediaten (standischen) Truppen der Westfalischen Kreisarmee lagen
Im Herzogtum Julich-Berg: Schloss Burg, Reichsburg Landskron, Steinhaus Beyenburg, Siegburg
Im Stift Essen: Essen
In der Furstabtei Corvey: Hoxter
Im Herzogtum Wurttemberg: Festung Hohenasperg
In der Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach: Wulzburg
Reichsstadt Dortmund
Reichsstadt Lindau
Reichsstadt Offenburg
Reichsstadt Regensburg
Reichsstadt Rottweil
Noch vor Abschluss des Westfalischen Friedens raumten die Kaiserlichen im Juli 1648 Burg Windeck im Herzogtum Berg und im August 1648 Hamm in der zu Kurbrandenburg gehorenden Grafschaft Mark. Welche festen Platze genau kaiserliche Truppen im Herrschaftsgebiet Kurfurst Ferdinands von Koln besetzten, wurde in den Verhandlungen auf dem Nurnberger Exekutionstag nicht erwahnt. Ihren Abzug regelte aber eine eigene vertragliche Klausel im Februar 1650, die den Abzug aller landesfremden Truppen auch in nicht namentlich genannten Orten im Reich festlegte, solange es Garnisonen der Vertragspartner Kaiser, Reichsstande und Schweden betraf. Neben Dorsten werden als kurkolnische oder kaiserlich-kurkolnische Garnisonen auch Andernach, Arnsberg, Bonn, Kaiserswerth, Lechenich, Zons und Zulpich im Erzbistum Koln, Cloppenburg, Meppen, Rheine und Warendorf im Bistum Munster, sowie Paderborn erwahnt.
In den eigenen Erblanden unterhielten die osterreichischen Habsburger zahlreiche weitere Garnisonen. In Vorderosterreich blieben Konstanz und Radolfzell bis zum Pyrenaenfrieden zwischen Frankreich und Spanien 1659 mit einer kaiserlichen Besatzung belegt. Wichtige Stutzpunkte in Bohmen, die trotz der schwedischen Invasionen in den Jahren 1645 und 1648 in kaiserlicher Hand blieben, waren die Prager Altstadt, Budweis, Pilsen, Koniggratz, Pardubitz und Burg Elbogen. In Mahren hielten sich Brunn mit der Festung Spielberg und Burg Veveri, Ungarisch Hradisch, das erst Ende 1647 zuruckeroberte Iglau sowie die Burgen Helfenstein, Hochwald und Pernstein. In Schlesien lagen kaiserliche Regimenter im Jahr 1648 in den Orten Brieg, Glatz, Liegnitz, Namslau, Neisse, Schweidnitz und Troppau.
Die niederrheinisch-westfalische Kreisarmee wurde vollstandig aufgelost. Bis zum November 1649 entließ Kurfurst Ferdinand von Koln alle mediaten Truppen der Kreisarmee, die immediaten kaiserlichen Truppen waren um ein Viertel reduziert worden. Die letzten kaiserlichen Feldtruppen in Westfalen erhielten im September 1650 ihre Abdankung. Die dortigen Kreisstande mussten fur einen Großteil der Kosten fur die Auflosung der Armee aufkommen. Die kaiserliche Hauptarmee in den Erblanden wurde dagegen vom Generalkriegskommissar Ernst von Traun nur schrittweise um Stabe, Offiziere und schließlich um große Teile der Kavallerie reduziert, bis ein schlagkraftiger Kern von etwa 20.000 Mann ubrigblieb. Eine konkurrierende Hofpartei um Trauns Rivalen Feldmarschall Hans Christoph III. von Puchheim hatte ursprunglich eine starkere Reduzierung der Truppenstarke gefordert, um die Steuerlast in den Erblanden zu reduzieren.
Der Kaiser hatte ein Interesse daran, seine abgedankten Soldaten moglichst in spanische Dienste zu bringen, weshalb die Entlassungen teilweise unmittelbar im Suden Tirols nahe dem spanischen Herzogtum Mailand durchgefuhrt wurden. Unter großzugiger Auslegung des Assistenzverbotes fur Spanien im Westfalischen Frieden plante federfuhrend Feldmarschall Puchheim die Verlegung von Regimentern an die Grenze, wo sich diese als „Freiwillige“ den Spaniern anschließen konnten. Viele Soldner wollten aber nicht unter Spanien dienen, weil sie dessen strenge Heeresdisziplin furchteten, nicht in die Fremde ziehen wollten oder Sorge hatten, dass man sie um die Abdankungssumme prellen wollte. In Oberosterreich kam es deshalb im Juni 1649 zur Revolte – die Truppen verweigerten den Marschbefehl zur Grenze. Traun ging nachsichtig mit ihnen um, weil er keine guten Soldaten an die Spanier verlieren wollte und deshalb selbst die Planungen ablehnte. Von vorgesehenen 4000 Mann trat wohl nur knapp die Halfte in spanische Dienste uber. Spater erlaubte man den Spaniern die Werbung von Soldaten in Osterreich, was weniger Aufsehen erregte, nicht zu Meutereien fuhrte und das kaiserliche Heer nicht direkt schwachte.
Bayerische Armee Die aus den Streitkraften der Katholischen Liga hervorgegangene chur-bayerische Reichsarmada war offiziell seit dem Prager Frieden 1635 ein Teil der Armee des Kaisers, Kurfurst Maximilian dufte sie aber eigenstandig befehligen. Nachdem die Bayern und die Kaiserlichen unter Piccolomini Schweden und Franzosen im Oktober 1648 aus Bayern verdrangt hatten, stand die bayerische Feldarmee an der westlichen Grenze des Kurfurstentums. Damit waren die Feldtruppen bereits vollstandig innerhalb des bayerischen Reichskreises, der nach den Bestimmungen des Westfalischen Friedens fur die Versorgung und Ablosung der Truppen zustandig war.
Im Herbst 1648 umfasste die bayerische Armee 18.000 Soldaten unter dem Oberbefehlshaber Adrian von Enkevort. Außerhalb ihres Landes hielt sie folgende Garnisonen:
In Vorderosterreich: Freiburg im Breisgau und Villingen
In der Kurpfalz: Heidelberg, Mannheim und Ladenburg
Im Herzogtum Wurttemberg: Burg Albeck, Burg Hohenurach, Hornberg und Schiltach,
Im Furstentum Hohenzollern-Hechingen: Burg Hohenzollern
In der Pfalzgrafschaft Pfalz-Sulzbach: Sulzbach-Rosenberg
In der Grafschaft Furstenberg: Burg Wildenstein
In der Ganerbschaft Rothenberg: Veste Rothenberg
Reichsstadt Augsburg
Reichsstadt Memmingen
Reichsstadt Weißenburg in Bayern
Die wichtigsten Festungen und Stutzpunkte der Armee im eigenen Territorium waren die befestigte Landeshauptstadt Munchen, die Landesfestung Ingolstadt, die befestigten Stadte Aichach, Braunau am Inn, Landsberg am Lech, Rain am Lech, Scharding, Straubing und Wasserburg, die Burg zu Burghausen sowie Amberg in der Oberpfalz.
Anfang 1649 begann Kurfurst Maximilian bereits entgegen den Wunschen des Kaisers mit einer schnellen Auflosung seiner Armee. Ein Jahr spater waren nur noch ein Infanterieregiment und wenige Reiter ubrig. Die letzten außerbayerischen Garnisonen Freiburg, Burg Hohenzollern, der Rothenberg und Villingen wurden im Sommer 1650 geraumt und die Soldaten verabschiedet. Der Rothenberg nahm schon im Jahr 1657 auf Druck Kurfurst Ferdinand Marias wieder bayerische Truppen „zur Verwahrung“ der Veste auf. Endgultig kaufte Bayern die Festung im Jahr 1662 von den Ganerben.
In einigen Fallen kam es zu Rebellionen aufgrund der Hohe der Abdankungsgelder. In der Stadt Memmingen, wo das Regiment Johann von Winterscheidt einquartiert war, zu dem der Soldner Peter Hagendorf gehorte, erzwangen die Soldaten durch ihre vom Kommandanten geduldete Revolte im September und Oktober 1649, dass sie drei statt zwei Monatssolde als Abdankungsgelder ausgezahlt bekamen. Fur den Soldner Hagendorf war bereits die Nachricht vom Frieden weniger von Freude als von Sorge um das Auskommen seiner Familie begleitet. Er brach sofort nach der Abdankung auf und kehrte in seine Heimat zuruck, um sich im November 1649 im Dorf Gorzke im Erzstift Magdeburg niederzulassen und dort eine zivile Existenz aufzubauen.
Spanische Armee Spaniens Feldtruppen standen im Jahr 1648 innerhalb des Reichs ausschließlich auf Boden des Burgundischen Reichskreises, der nicht in den Frieden eingeschlossen war. Dort kampften die Spanier und Lothringer weiterhin im Franzosisch-Spanischen Krieg gegen Frankreich. Nach den Bedingungen des Westfalischen Friedens und des Nurnberger Exekutionstags sollte die 1.000 Mann starke Garnison von Frankenthal in der Kurpfalz unter dem Kommandanten Giulio Antonio Frangipani abziehen und die Festung dem Pfalzer Kurfursten Karl I. Ludwig zuruckgeben.
Insgesamt besetzten spanische Truppen Ende 1648 folgende Platze außerhalb der Franche-Comte und der Spanischen Niederlande:
In der Kurpfalz: Frankenthal
Im Herzogtum Julich-Berg: Festung Julich
In der Grafschaft Wurttemberg-Mompelgard: Clerval, Passavant
Clerval und Passavant waren als burgundische Lehen an die Grafen von Mompelgard verliehen worden. Die Grafschaft Mompelgard wurde vom Haus Wurttemberg regiert, das sich im Dreißigjahrigen Krieg auf Seiten der Schweden und Protestanten gegen die Habsburger gestellt hatte. Daraufhin hatte Spanien die beiden Lehen als verwirkt eingezogen. Im Westfalischen Frieden waren sie dem Herzog von Wurttemberg als Teil seines Vorkriegsbesitzes zuruckgegeben worden. Im Jahr 1650 zogen die Spanier daraus ab und gaben die Orte an Wurttemberg zuruck. In Julich blieben die Spanier dagegen bis nach Beendigung des Franzosisch-Spanischen Krieges im Jahr 1660.
Die kurpfalzische Landesfestung Frankenthal verließen die Spanier erst im Mai 1652 gegen eine Geldzahlung der Reichsstande und die Erlaubnis, im Gegenzug die Reichsstadt Besancon in das Gebiet der spanischen Franche-Comte eingliedern zu durfen. Als Pfand fur den Abzug der Spanier hatten Schweden und der Kaiser im Juni 1650 vereinbart, dass die Kurpfalz das bisher franzosisch besetzte Heilbronn auf Kosten der Reichsstande und des Kaisers besetzen durfte, solange die Spanier in Frankenthal blieben.
Lothringische Armee Die Truppen Herzogs Karl IV. von Lothringen bildeten eine Armee ohne Land, seit der Herzog 1634 vor den franzosischen Besetzern seines Landes geflohen war. Trotz regelmaßiger Kriegszuge nach Lothringen und ins Innere Frankreichs konnte er sich dort nicht dauerhaft militarisch halten und ernahrte seine Armee vor allem durch Plunderungen im westlichen Grenzgebiet des Reiches.
Seine Truppen hielten Ende 1648 folgende feste Platze im Reich besetzt:
In der Kurpfalz (Lehen der Eckbrecht von Durckheim): Windstein
In Kurtrier: Burg Hammerstein
In der Grafschaft Falkenstein: Burg Falkenstein
In der Grafschaft Nassau-Saarbrucken: Homburg, Saarwerden
In der Grafschaft Sickingen: Landstuhl
Verhandlungen zur Raumung der lothringischen Besatzungen mit Herzog Karl IV. auf dem Regensburger Reichstag ab 1653 scheiterten spatestens an Karls Gefangennahme durch die Spanier im folgenden Jahr. Wegen des Vorwurfs einer Konspiration mit den Franzosen wurde er in Brussel verhaftet und nach Spanien in den Alcazar von Toledo gebracht. Danach galt die lothringische Armee, die sein Bruder Nikolaus Franz ubernahm, nicht mehr als starke Bedrohung. Burg Hammerstein wurde im selben Jahr geraumt, Landstuhl dagegen erst 1668 im Pfalzer Wildfangstreit durch Kurpfalzer Truppen von den Lothringern erobert. In Homburg und der nassauischen Grafschaft Saarwerden blieben lothringische Truppen sogar bis 1671 prasent.
Niederlandische Armee Die Republik der Vereinigten Niederlande hielt aus dem Achtzigjahrigen Krieg zur Erlangung der Unabhangigkeit von Spanien heraus noch folgende feste Platze um seine Grenzen herum besetzt:
In Kurkoln: Rheinberg
Im Herzogtum Kleve (zu Kurbrandenburg): Emmerich am Rhein, Gennep, Orsoy, Ravenstein (Herrschaft Ravenstein, mit Pfalz-Neuburg umstritten), Rees, Wesel
Im Hochstift Munster: Bevergern
In der Grafschaft Ostfriesland: Emden
Die Niederlande hatten 1648 im Frieden von Munster nur mit Spanien Frieden geschlossen, an den Verhandlungen mit Schweden, dem Kaiser und den Reichsstanden in Osnabruck und spater in Nurnberg waren sie nicht beteiligt. Deshalb wurde auf dem Nurnberger Exekutionstag auch nicht uber die Raumung niederlandischer Garnisonen verhandelt, obwohl Gesandte des Kaisers und der Reichsstande im Jahr 1649 vergeblich die Ruckgabe von Bevergern an den Bischof von Munster forderten. Wahrend Bevergern im Jahr 1652 durch eine List des Bischofs Christoph Bernhard von Galen zuruck an Munster kam, blieben die niederrheinischen Stadte im brandenburgischen Kleve unter niederlandischer Besatzung, bis sie 1672 im Hollandischen Krieg durch franzosische Truppen erobert wurden. Brandenburg und die Niederlande waren Bundnispartner; der brandenburgische Gouverneur von Kleve, Johann Moritz von Nassau-Siegen, gleichzeitig Kommandant der ortlichen niederlandischen Truppen.
Folgen Das Ende der Soldnerheere und der Ubergang zu auch in Friedenszeiten unterhaltenen großeren Truppenverbanden wird in der Militargeschichtsschreibung traditionell als Beginn der Zeit der Stehenden Heere betrachtet. Im Westfalischen Frieden war allen Reichsstanden durch die Gewahrung des ius armorum das Recht gegeben worden, eigene Truppen aufzustellen. Der Aufbau dauerhaft unterhaltener Heere war aber ein langerer Prozess, der sich bis ins 18. Jahrhundert hinzog. Innerhalb der nachsten Jahrzehnte wurden unter anderem die Steuererhebung ausgeweitet und die Militarverwaltung ausgebaut, um in der Lage zu sein, ganze Armeen regular zu finanzieren und versorgen zu konnen. Am Ende des Dreißigjahrigen Krieges wurde im Reich nur die Kaiserliche Armee unmittelbar in eine stehende Armee uberfuhrt. Die Heeresverwaltung und -finanzierung blieb durch die dezentrale Struktur der Habsburgermonarchie aber auf die Kooperation der Landstande angewiesen und neben dem Hofkriegsrat in Wien existierte noch ein weiterer davon unabhangiger in Graz fur die Verteidigung Innerosterreichs und der Militargrenze gegen die Osmanen.
Auch in Brandenburg-Preußen, das bereits 1641 durch einen Waffenstillstand mit Schweden aus dem Krieg ausgeschieden war, wurden fruh stehende Truppen geschaffen. Kurfurst Friedrich Wilhelm stellte erstmals 1644 solche auf, um ein Machtmittel zur Behauptung seines weitreichenden, aber fragilen Landerkomplexes und mehr politisches Gewicht in den Verhandlungen zum Westfalischen Frieden zu haben. Nach dem Friedensschluss wurden die Truppen bis auf wenige Festungsbesatzungen wieder aufgelost, aber nach den erneuten Rustungen zum Zweiten Nordischen Krieg blieben zum Ende dieses Krieges im Jahr 1660 7000 bis 8000 Mann zuruck und die Strukturen erhalten, um sich in relativ kurzer Zeit auf 20000 Mann zu verstarken. Eine umfangreiche Heeresverwaltung wurde erst nach 1700 aufgebaut.
Nach Bernhard R. Kroener bestehen abgesehen von der kaiserlichen Armee der Habsburger „keine organisatorischen und nur geringe personelle Kontinuitaten“ zwischen den Heeren des Dreißigjahrigen Krieges und den großen stehenden Heeren, die Ende des 17. Jahrhunderts in Europa errichtet wurden. Erst in den 1680er Jahren wurde die enorme Spanne zwischen den Kriegs- und Friedensgroßen der Armeen deutlich geringer und neben dem Kaiser begannen auch die armierten Reichsstande Truppen im Umfang funktionsfahiger Armeen dauerhaft unter Waffen zu halten.
Literatur Antje Oschmann: Der Nurnberger Exekutionstag 1649–1650. Das Ende des Dreißigjahrigen Krieges in Deutschland. Aschendorff, Munster 1991. ISBN 3-402-05636-4. (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 17).
Einzelnachweise
|
Die Demobilmachung nach dem Dreißigjahrigen Krieg umfasst die Abrustung der Armeen der verschiedenen Kriegsparteien sowie die Raumung der Ende 1648 von ihnen besetzten Festungen und befestigten Orte. Nachdem der Westfalische Frieden am 24. Oktober 1648 den Dreißigjahrigen Krieg beendet hatte, waren im Heiligen Romischen Reich noch uber 250 feste Platze militarisch besetzt. Bei etwa 200 lagen nicht dem Landesherren gehorende Truppen in den Orten, deren schrittweiser Abzug im Rahmen des Nurnberger Exekutionstags geregelt wurde.
Bis 1650 zogen Kaiser Ferdinand III. und sein Verbundeter Kurbayern sowie auf der gegnerischen Seite Frankreich, Schweden und Hessen-Kassel ihre Truppen auf eigenes Gebiet zuruck bzw. entließen die meisten Soldner und Soldaten aus ihrem Dienst. Danach verblieben noch mehrere sogenannte Sicherungsplatze besetzt als Pfand fur die Zahlung von Ablosungssummen fur die Armeen Schwedens und Kassels sowie einzelne Garnisonen der nicht in den Frieden eingeschlossenen Machte Spanien und Lothringen, die zuvor auf Seiten des Kaisers gekampft hatten. Auch die Niederlande behielten mehrere Garnisonen am Niederrhein.
Auch wenn die politisch umstrittenen und auf dem Exekutionstag vereinbarten Truppenabzuge mit Raumung Frankenthals durch Spanien 1652 und Vechtas durch Schweden 1654 abgeschlossen waren, blieben einzelne kriegsbedingte Besatzungen bis in die 1670er Jahre bestehen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Demobilmachung_nach_dem_Dreißigjährigen_Krieg"
}
|
c-495
|
Im Boot. Selbstbildnis und Portrat der Kunstlerin M. Jakuntschikowa ist ein Olgemalde im Stil des Russischen Impressionismus des russischen Malers Konstantin Korowin, das 1888 entstanden ist. Der Offentlichkeit zuganglich ist es in der Tretjakow-Galerie in Moskau. Es zeigt von schrag oben die beiden in einem Ruderboot sitzenden Personen: Korowin ein Buch lesend und seine Kunstlerkollegin Marija Wassiljewna Jakuntschikowa ihn dabei beobachtend.
Entstehung Das Bild entstand wahrend eines Besuchs Korowins bei seinem Lieblingslehrer Wassili Polenow im Sommer 1888, der in Schukowka (russisch Жуковка), ca. 35 km sudwestlich von Moskau, ein Haus besaß. Dieser leitete seit 1882 die Landschaftsklasse der Moskauer Schule fur Malerei, Bildhauerei und Architektur. Dieser Ort war fur Korowin produktiv, malte er dort auch noch andere beruhmte Gemalde wie beispielsweise Am Teetisch und Kapuzinerkresse. Wahrend sich Korowin in den Anfangsjahren eher familiaren und landlichen Sujets widmet, nimmt er sich ab 1900 eher urbaner Raume an.
Zu dem Werk gibt es Vorstudien, die sich in Privatbesitz befinden. Diese zeigen verschiedene Haltungen von Marija Jakuntschikowa, in denen der Kunstler versucht, die Naturlichkeit herauszuarbeiten. Polenow hat die Arbeit an dem Bild akribisch betreut und Korowin immer wieder auf die Betrachtung der „Gesamtkomposition“ hingewiesen und „so viel naturliches Material wie moglich zu verwenden“.
Als „brillantester Meister des Silbernen Zeitalters“ gilt Korowin als der wichtigste Vertreter der Pleinair-Malerei wahrend des Impressionismus. Einen starken Einfluss auf diese sich entwickelnde Malweise hatte Polenow, der ihn mit vaterlicher Herzenswarme fuhrte. Er fuhrte seine Schuler zu einer „erhaben-poetischen Haltung [des Malers] gegenuber der Natur“ und forderte so „theatralische Staffage“ und mehr Freiheit in der Verwendung der Farbe.
1887 hatte Korowin im Alter von 26 Jahren ein erstes Jahr in Frankreich verbracht und dort die franzosischen Impressionisten kennengelernt. Begeistert und uberwaltigt von Eindrucken schrieb er nach Hause:
Das Werk Im Boot muss im Zusammenhang mit den anderen dort entstandenen Bildern betrachtet werden, weil sie dann als Gruppenportrats der Familie Polenow gesehen werden konnen, die ihre landliche Umgebung gern mit ihren Gasten teilte. Die Bilder halten weitere Alltagsszenen fest, die mehrere Personen gemeinsam zeigen und sie miteinander verbinden.
Beschreibung und Rezeption Ein ungewohnlicher Blickwinkel von schrag oben, in dem das Boot eine Diagonale des Bildes bildet und nur das Heck zu sehen ist, hat eine fast zufallige Anmutung. Das Boot mit seinen beiden in sich versunkenen Insassen scheint ganz ruhig am Betrachter vorbeizugleiten. Es erhalt dadurch etwas Intimes. Es werden nur wenige Farben eingesetzt. Der Kunstler, das Wasser und das Blattwerk sind dunkel gehalten. Wesentliche Bildelemente wie die Gesichtszuge oder auch die Kleidung sind detailreich dargestellt. Die Maße betragen 53,5 × 42,5 cm.
Der Kunstkritiker Aleksandr Kamensky (1922–1992) außerte sich unzufrieden zu dem Bild, als er schrieb, Korowin „konnte seine kontemplative Passivitat nicht uberwinden, und die vorherrschende Bildidee ist etwas sprode und undeutlich geblieben, wahrend es dem Stil an Harmonie fehlt.“
Einzelnachweise
|
Im Boot. Selbstbildnis und Portrat der Kunstlerin M. Jakuntschikowa ist ein Olgemalde im Stil des Russischen Impressionismus des russischen Malers Konstantin Korowin, das 1888 entstanden ist. Der Offentlichkeit zuganglich ist es in der Tretjakow-Galerie in Moskau. Es zeigt von schrag oben die beiden in einem Ruderboot sitzenden Personen: Korowin ein Buch lesend und seine Kunstlerkollegin Marija Wassiljewna Jakuntschikowa ihn dabei beobachtend.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Im_Boot._Selbstbildnis_und_Porträt_der_Künstlerin_M._Jakuntschikowa"
}
|
c-496
|
Die Vereinigung Sea Women of Melanesia (SWoM) uberwacht den Zustand der empfindlichen Korallenriffe in Melanesien, einer Region mit mehreren Inselstaaten im Sudpazifik. Sie hat das Ziel, einheimische Frauen im Tauchen zu schulen und ihnen meereswissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln. Damit konnen sie den Zustand der Korallenriffe erfassen und Meeresschutzgebiete einrichten sowie wiederherstellen.
Geschichte Das Programm wurde 2017 von der gemeinnutzigen Coral Sea Foundation mit Sitz in Australien ins Leben gerufen. Die Idee entstand, als deren Grunder, Andy Lewis, wahrend seiner Forschungsarbeit in einer abgelegenen indigenen Gemeinde lebte. Eine einheimische Frau interessierte sich fur seine Arbeit und fragte Lewis, ob er ein Programm ins Leben rufen konne, das Frauen befahigt, im Meeresschutz tatig zu werden.
„Sie hatte gerade die 12. Klasse abgeschlossen, hatte keinen Universitatsabschluss und keine wissenschaftlichen Kenntnisse, aber sie engagierte sich leidenschaftlich fur den Meeresschutz“, wie Evangelista Apelis, eine fruhere Co-Direktorin von Sea Women of Melanesia, sagte. Einige Jahre nach dieser Begegnung grundete die Coral Sea Foundation die in Papua-Neuguinea eingetragene gemeinnutzige Vereinigung Sea Women of Melanesia (SWoM). Der Vorstand besteht ausschließlich aus indigenen Frauen. Anfang 2022 hatte die Vereinigung uber 40 Mitglieder und schutzte 43 Meeresgebiete.
Aktivitaten Die Sea Women of Melanesia arbeiten seit 2018 auf den Salomonen und in Papua-Neuguinea, um die Wiederherstellung von Korallenriffen zu fordern und die Einrichtung von Fischereiverbotszonen zu unterstutzen. Sie setzen sich auch fur Meeresschutzgebiete in den beiden Landern ein, um sicherzustellen, dass die Bewohner in den Dorfern auch in Zukunft auf einen reichen Fischbestand zuruckgreifen konnen, den sie zur eigenen Versorgung benotigen.
Die Frauen durchlaufen ein meereswissenschaftliches Ausbildungsprogramm, das durch eine praktische Ausbildung in Riffuntersuchungstechniken und in der Okologie von Korallenriffen erganzt wird. Zur Qualifizierung gehoren eine international anerkannte Tauchzertifizierung und eine Unterweisung im Umgang mit GPS, Unterwasserkameras und Video zur Erfassung von Fisch- und Korallenbestanden in den Riffen des Korallendreiecks. In ihren Gemeinden sammeln sie Informationen uber Riffe und Fischpopulationen, um diese mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen zu kombinieren und die Erhaltungsarbeit voranzutreiben.
Seit der Aufnahme ihrer Arbeit im Jahr 2018 haben die SWoM in den wenigen Jahren bis Ende 2021 die Einrichtung von zahlreichen neuen Meeresschutzgebieten in den regionalen Gewassern angeschoben. Fur ihre Arbeit wurden sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. durch das Umweltprogramm der Vereinten Nationen UNEP als Champion of the Earth im Jahr 2021.
Die Sea Women verandern gleichzeitig die Vorstellungen uber die Rolle der Frau in ihrer Gemeinschaft und ihre Moglichkeiten, eine Fuhrungsrolle zu ubernehmen. Fur die SWoM ist die Verbindung von indigenem Wissen mit der Wissenschaft von zentraler Bedeutung fur ihr Engagement in den Gemeinden. Von den Gemeindemitgliedern zu erfahren, wo es zu einer bestimmten Jahreszeit die meisten Fische gibt, die Farbveranderungen in den Korallenriffen mit den Daten der Unterwassermessungen abzugleichen oder zu verstehen, wie sich die Gezeiten in Abhangigkeit vom Klimawandel verandern konnen, ist wichtig fur die Offentlichkeitsarbeit, mit der sie den Wert der Erhaltung und der Meeresschutzgebiete aufzeigen und die Erhaltungsarbeit vorantreiben.
Inspiriert durch die SWoM und aufbauend auf deren Erfolg rief die Coral Sea Foundation 2022 mit den Sea Women of the Great Barrier Reef eine weitere Initiative ins Leben. Diese soll indigene Frauen ausbilden und vernetzen, die sich dem Schutz des Great Barrier Reefs widmen wollen. Die Sea Women of Melanesia unterstutzten die neue Initiative mit Training und Beratung.
Auszeichnungen 2020: The Ocean Tribute Award
2021: Ocean Award Local Hero der Blue Marine Foundation
2021: Champions of the Earth Award in der Kategorie Inspiration and Action
2023: Commonwealth Innovation Award 2023 in der Kategorie Protect the PLANET and the natural environment in the Commonwealth (Naomi Longa fur die Sea Women of Melanesia)
Weblinks Offizielle Website
Sea Women of Melanesia 2021 Champion of the Earth - Inspiration and Action Video herausgegeben durch UNEP 2021
Ausfuhrlicher Artikel uber die Sea Women of Melanesia in ABC News vom 7. Juni 2023
Einzelnachweise
|
Die Vereinigung Sea Women of Melanesia (SWoM) uberwacht den Zustand der empfindlichen Korallenriffe in Melanesien, einer Region mit mehreren Inselstaaten im Sudpazifik. Sie hat das Ziel, einheimische Frauen im Tauchen zu schulen und ihnen meereswissenschaftliche Kenntnisse zu vermitteln. Damit konnen sie den Zustand der Korallenriffe erfassen und Meeresschutzgebiete einrichten sowie wiederherstellen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Sea_Women_of_Melanesia"
}
|
c-497
|
Johanna Catharina Maria „Hanna“ van de Voort (* 26. November 1904 in Meerlo, Horst aan de Maas; † 26. Juli 1956 in Utrecht) war eine niederlandische Widerstandskampferin.
Leben Hanna van de Voort war das vierte Kind des Konditors Anselmus Theodorus van de Voort (* 1871) und von Maria Katharina Hendrika Everts (1867–1943). Ihre Eltern waren katholisch. Ihr Vater betrieb lange Zeit eine Backerei und ein Cafe-Restaurant-Hotel in Tienray, einem Dorf in der Nahe von Horst aan de Maas. Dort wuchs sie mit zwei Brudern und drei Schwestern in der Stationstraat (heute Spoorstraat 10) auf. Als Erwachsene lebte sie weiterhin im elterlichen Haus und arbeitete als Gemeindekrankenschwester und Entbindungsschwester in Tienray und in den nordlimburgischen Dorfern entlang der Maas in der ehemaligen Gemeinde Meerlo.
Wahrend des Zweiten Weltkriegs rettete Hanna van de Voort, ermutigt von ihrer Mutter und unterstutzt von weiteren Widerstandskampfern, mehr als hundert judische Kinder vor der Deportation und Ermordung. Nach dem Krieg schenkte ihre Schwester Mien ihr das „Tienray-Album“ mit etwa funfzig Fotos und den Erzahlungen der Kinder und ihrer Pflegeeltern, die sie notiert hatte. Viele der Kinder blieben in den Jahren nach dem Krieg in Verbindung mit Hanna van de Voort. Uber ihr Leben nach dem Krieg ist wenig bekannt. Ihre Gesundheit hatte durch ihre Kriegserlebnisse gelitten; sie starb im Juli 1956 wahrend einer dadurch notwendig gewordenen Herzoperation in Utrecht.
= Arbeit im Widerstand =
Ab Mai 1943 existierte ein Netzwerk zur Rettung judischer Kinder, das in der katholischen Provinz Limburg Verstecke fur Kinder aus Amsterdam vermittelte. Die meisten von ihnen kamen durch eine von Piet Meerburg geleitete Amsterdamer studentische Widerstandsgruppe, die mit Hilfe der Leiterin Henriette Pimentel aus der zur Hollandsche Schouwburg in Amsterdam gehorenden Kindertagesstatte judische Kinder herausschmuggelte, deren Eltern gezwungen wurden, sich zur Deportation in die Konzentrationslager zu sammeln. Hanna van de Voort wurde zusammen mit dem Studenten Nico Dohmen (1921–2008), der bei ihrer Familie untergetaucht war, eine Schlusselfigur in dem Netzwerk, da sie durch ihre Arbeit die meisten Menschen in der Region kannte und in der Lage war, Familien zu identifizieren, die vertrauenswurdig genug waren, als Pflegeeltern fur die judischen Kinder in Betracht zu kommen. Der Kontakt zur Amsterdamer Widerstandsgruppe war durch eine ihrer Nichten und einen Bekannten von Nico Dohmen entstanden.
Das erste Kind kam im Juli 1943 nach Tienray, die nachsten am 20. August 1943. Die Amsterdamer Studenten organisierten den Transport nach Venlo oder Venray, wo Hanna van de Voort die Kinder vom Zug abholte und fur einige Tage in ihrem Elternhaus unterbrachte. Versehen mit einem gefalschten Personalausweis des Centraal Bureau voor Kinderuitzending, das die Unterbringung von minderjahrigen Fluchtlingen nach der Bombardierung von Rotterdam 1940 organisierte, sollten sie sich als christliche evakuierte Waisenkinder ausgeben. Zur Tarnung erhielten sie einen falschen Namen, eine Einfuhrung in katholische Sitten und Gebrauche, einen Stadtplan von Rotterdam und einen fingierten Lebenslauf. Nach ein paar Tagen wurden die meisten Kinder bei Familien in der weiteren Umgebung untergebracht. Das Gebiet erstreckte sich uber die ganze Provinz Limburg nordlich von Venlo. Die Kinder besuchten gemeinsam mit den Kindern ihrer Pflegefamilien die ortlichen Schulen und Gottesdienste und lernten den Katechismus. Hanna van de Voort und Nico Dohmen hielten Kontakt zu ihnen, arrangierten bei Gefahr Verlegungen und versorgten sie mit den notwendigen Lebensmittelkarten fur Kleidung und Lebensmittel, die sie aus Amsterdam bekamen. Auf diese Weise retteten sie 123 Kinder.
Daneben versteckte Hanna van de Voort auch andere Personen wie die Familien Peres und Ratzker, die auf der Suche nach einem Versteck unangemeldet zu ihr kamen. Als das Sammellager in der Hollandsche Schouwburg in Amsterdam und die dazu gehorende Kindertagesstatte geschlossen werden sollten, versteckte sie deren judische Leiterin Virginia Cohen bei sich zuhause. Auch mehrere geflohene franzosische Kriegsgefangene gelangten zu ihr und wurden nach einigen Tagen im Haus uber Sevenum nach Belgien gebracht. Die Amerikaner Thomas Wilcox und Mac Neil, die mit ihrem Bomber in der Nahe von Melderslo abgesturzt waren, wurden ebenfalls von Hanna van de Voort und Nico Dohmen in ein Versteck vermittelt.
Ende Juli 1944 wurde Hanna van de Voort von Lucien Nahon aus Gulpen, der seit 1942 im Hotel Wijnhoven in der Kloosterstraat 2 in Tienray wohnte, verraten. Er war Inspektor des 1941 gegrundeten Nederlandse Landstand, dessen Ziel es unter anderem war, alle Organisationen im Bereich Landwirtschaft und Fischerei zu bundeln und unter nationalsozialistische Kontrolle zu bringen. Er hatte herausgefunden, wo die judischen Kinder untergebracht waren, und diese Informationen an den Polizeikommandanten O. Couperus weitergegeben. In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August 1944 wurde Hanna van de Voort verhaftet und in das KZ Herzogenbusch in Vught gebracht; Nico Dohmen konnte fliehen. In der Provinz Limburg wurden bei Razzien in Tienray, Broekhuizenvorst und Venray zwischen zehn und funfzehn versteckte judische Kinder und deren Pflegefamilien festgenommen. Viele von ihnen kamen auf Grund ihrer Tarnung als Rotterdamer Waisenkinder wieder frei, ebenso alle ihre Gasteltern, die fachmannisch gedruckte und amtlich abgestempelte gefalschte Evakuierungsbescheinigungen vorweisen konnten. Hanna van de Voort blieb neun Tage lang eingesperrt, gab aber wahrend der brutalen Verhore keine Informationen preis und behauptete standhaft, sie habe nur Rotterdamer Evakuierten geholfen. Die Medizinstudentin Mieke Mees, die die Kinder aus Amsterdam zu ihren Verstecken in der Provinz begleitete, uberredete den deutschen Kommandanten, Hanna van de Voort freizulassen. Zuruck in Tienray nahm sie ihre illegale Arbeit wieder auf.
Vermutlich sieben oder acht der bei den Razzien entdeckten Kinder wurden im selben Jahr in das KZ Auschwitz deportiert und ermordet. Gesichert ist das bei vier Kindern: Floortje (* 1933) und Wim de Paauw (* 1934) am 6. September 1944, Louis (* 1936) und Dick van Wezel (* 1934) am 18. Oktober 1944. Das Konzentrationslager uberlebt hat die achtzehnjahrige Rebecca „Beppie“ Aldewereld, die unter dem Pseudonym Truuske Smits bei der Familie Martien und Lieske van Leest in der Spoorstraat 45 lebte.
Ehrungen und Gedenken Im Mai 1957 wurde eine Gedenktafel fur Hanna van de Voort an der Fassade ihres Elternhauses in der Spoorstraat 10 in Tienray angebracht. 1971 wurde auf dem nach ihr benannten Hanna van de Voortplein in Tienray ein Widerstandsdenkmal errichtet. Dies wurde im Mai 1989 durch eine Bronzeskulpturengruppe mit drei Kindern der Bildhauerin Elly van den Broek ersetzt, die fur die 123 judischen Kinder stehen, die Hanna van de Voort im Zweiten Weltkrieg beschutzte. Am Sockel befindet sich eine Gedenktafel mit dem Text „In memoriam Hanna v.d. Voort 1904 – 1956. En alle strijders voor recht en vrijheid 1940 – 1945“. Jedes Jahr am 4. Mai findet an diesem Denkmal der Gedenktag statt.
In Jerusalem wurde 1957 in der „Allee der Gerechten unter den Volkern“ ein Baum zu ihrem Gedenken gepflanzt und 1987 wurde sie, zusammen mit Nico Dohmen, posthum mit der Aufnahme in die Liste Gerechter unter den Volkern von Yad Vashem geehrt.
Das „Tienray-Album“ mit den funfzig Fotos und Berichten geretteter Kinder ist seit 1998 Teil der Sammlung des Verzetsmuseum Amsterdam. Dieses Widerstandsmuseum widmete dem Album im September 2003 eine Sonderausstellung.
Literatur Tanja von Fransecky: Sie wollten mich umbringen, dazu mussten sie mich erst haben. Hilfe fur verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940-1945. Lukas Verlag 2016, ISBN 978-3-8673-2256-0
Weblinks Vera Sykora: Voort, Johanna Catharina Maria van de (1904-1956). In: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland. Huygens-Institut fur die Geschichte der Niederlande (Hrsg.)
Einzelnachweise
|
Johanna Catharina Maria „Hanna“ van de Voort (* 26. November 1904 in Meerlo, Horst aan de Maas; † 26. Juli 1956 in Utrecht) war eine niederlandische Widerstandskampferin.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Hanna_van_de_Voort"
}
|
c-498
|
Fahne im Wind (japanisch 風 の 旗 kaze no hata) ist eine Skulptur des japanischen Kunstlers Masayuki Nagare aus dem Jahr 1979. Sie steht auf einer kleinen kunstlichen Insel vor dem Museum fur Ostasiatische Kunst in Koln.
Beschreibung Der Aachener Weiher in Koln ist ein kunstliches, rechteckiges Gewasser im Kolner Inneren Grungurtel, das zu Beginn der 1920er Jahre angelegt wurde. An seiner westlichen Seite befindet sich das Museum fur Ostasiatische Kunst. Das Gewasser hat eine kleine, nahezu rechteckige Einbuchtung mit einer Insel, auf der sich die Granitskulptur Fahne im Wind befindet. Als Kunio Maekawa in der zweiten Halfte der 1960er Jahre mit der Planung des Museumsbaus begann, schlug er Masayuki Nagare als Gartenarchitekt und Bildhauer vor, der den Innengarten sowie die Insel am Weiher und die darauf platzierte Granitskulptur Fahne im Wind gestaltete.
Nachdem die Skulptur im August 1980 in Japan verschifft worden war, wurde sie Mitte Dezember vom japanischen Außenminister Ito Masayoshi und dem japanischen Botschafter in Bonn, Bunroko Yoshino, der Stadt Koln ubergeben und enthullt. Bei diesem Geschenk handele es sich um „die Setzung eines Marksteins in den langjahrigen kulturellen Beziehungen [zu] seiner japanischen Partnerstadt Kioto“, schrieb die Kolnische Rundschau.
Die Skulptur ist 2,60 Meter (nach anderen Angaben 2,85 Meter) hoch, dreigliedrig aufgebaut – aus Basis, Stutze und Last – und ruht auf einer kreisrunden Bodenplatte. Die Oberflachentextur ist gebrochen: ware hada (deutsch: „rissige Haut“). Die obere schwere Last hat die Form eines Kugelsegments, die den leicht abgeschragten Schaft in halber Hohe hat bersten lassen. Dessen Achse ist verschoben und die Kontaktflache zur Kugel eher klein, so dass der Eindruck entsteht, die Kugel konne herabfallen: „Dennoch ruht die Last.“
Fußbroich weiter: „Die dem Granit eigene Schwere steht in Kontrast zum Titel der Skulptur. Durch den Gegensatz von Stabilitat und Instabilitat“ werde „der Betrachter in ihren Bann gezogen.“ Dieter Wellershoff beschrieb die Skulptur im Jahre 1990: „Das Werk heißt ‚Fahne im Wind‘, ein gewagtes Thema fur ein so kompaktes Material. Aber gegen dieses steinerne Wehen ware ein Mobile bloß eine Banalitat. Dies ist kein Spielzeug, sondern eine geistige Gebarde, die den ganzen Luftraum um sich herum zum Leben erweckt.“
Literatur Helmut Fußbroich und Dirk Holthausen: Skulpturenfuhrer Koln. Skulpturen im offentlichen Raum nach 1900. J.P. Bachem, Koln 2000, ISBN 978-3-7616-1415-0, S. 121.
Weblinks Fahne im Wind • NRWskulptur. In: nrw-skulptur.net. Abgerufen am 11. Marz 2024.
Nagare, Masayuki, Fahne im Wind • Kulturelles Erbe Koln. In: kulturelles-erbe-koeln.de. Abgerufen am 11. Marz 2024.
Einzelnachweise
|
Fahne im Wind (japanisch 風 の 旗 kaze no hata) ist eine Skulptur des japanischen Kunstlers Masayuki Nagare aus dem Jahr 1979. Sie steht auf einer kleinen kunstlichen Insel vor dem Museum fur Ostasiatische Kunst in Koln.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Fahne_im_Wind"
}
|
c-499
|
Das Wohngebiet Rauher Kapf ist der kleinste Stadtteil Boblingens und war als Trabantenstadt geplant. Der Architekt Hans Scharoun entwarf das Zentrum der Siedlung aus sechs Hochhausern und einem Ladengebaude. Deren architektonische Bedeutung fuhrte zur Erhebung der Siedlung zum baden-wurttembergischen Kulturdenkmal.
Die Wohnungsnot Ende der 1950er Jahre verlangte nach mehr Wohnraum. Wegen des fehlenden Baulands in der Stadt wurde die Siedlung in einem Waldgebiet außerhalb Boblingens geplant, direkt neben einem IBM-Forschungslabor. Die Erschließung des Baugebietes begann 1962, und Baubeginn war 1964. Der Siedlungsplan sah den Bau von 328 Wohnungen vor, davon 63 in Einfamilienhausern. Der originale Bebauungsplan wurde weitgehend verwirklicht. Auch sein letztes Wohnhochhaus, das Orplid-Hochhaus, verwirklichte Scharoun in Boblingen.
Lage und Namensgebung Das Wohngebiet Rauher Kapf liegt am Sudostrand des schwabischen Keuperberglandes in einem Waldgebiet (Stadtwald Boblingen) sudostlich von Boblingen auf einer Anhohe mit etwa 510 m u. NHN zwischen den Stadten Boblingen und Schonaich. Der submontane Buchen- und Eichenwald steht auf Verwitterungsdecken des Lias, die meist als Lehmboden ausgebildet sind. Die Sudhange sind trocken und windexponiert. Nordlich des Rauhen Kapfes wurde 1922 eine nur 3,030 km lange Nebenstrecke der Schonbuchbahn gebaut. 1954 wurde der Personenverkehr eingestellt und 1959 der Guterverkehr. Nach der Stilllegung wurden die Gleise weitgehend entfernt. Auf dem Gebiet der Siedlung sind keine archaologischen Siedlungsfunde bekannt. Der Flurname Rauher Kapf ist erstmals um 1830 schriftlich nachweisbar. Der Name setzt sich aus dem mittelhochdeutschen Wort „kapfen“ fur „schauen“ oder „gaffen“ zusammen sowie dem Wort „rauh“ fur „steinig“, „unfruchtbar“. Rauher Kapf bezieht sich also auf die Aussichtslage eines unfruchtbaren Landstucks.
Planung und Bau der Siedlung Die Bevolkerung Boblingens war von 12.730 Einwohnern im Jahre 1951 auf 25.960 im Jahre 1961 angestiegen. Bauland war kaum mehr verfugbar. Der Gemeinderat beschloss am 14. Februar 1962 den Bau der Siedlung Rauher Kapf als Trabantenstadt in einem Waldgebiet. Eine aufgelockerte und weitraumige Bebauung sollte den Charakter des Waldgebiets erhalten. Ein weiterer Grund fur die Platzwahl war sicher auch die direkte Nachbarschaft zum IBM-Forschungslabor, dessen Mitarbeiter nahe gelegene Wohnungen benotigten. Trabantenstadte sind nicht-eigenstandige Vororte einer großeren Stadt, die primar aus Wohnanlagen fur Pendler bestehen. Sie bieten nur wenige Arbeitsplatze und eine schwach entwickelte Infrastruktur.
1962 begannen die Erschließungsarbeiten und ein Jahr spater die Bauarbeiten. Der bekannte Architekt Hans Scharoun entwarf das aus sechs Hochhausern bestehende Kernstuck der Siedlung und realisierte deren Bau gemeinsam mit dem Stuttgarter Partner-Architekten Philipp Plotz sowie der Baufirma Universum-Treubau-GmbH. Auftraggeberin war die Stadt Boblingen, Projektleiter war Peter-Fritz Hoffmeyer-Zlotnik und die Bauleitung hatte Kurt Storm inne. Zusatzlich zu den sechs Wohnhausern mit Eigentumswohnungen wurde im Kernbereich ein Ladenzentrum mit Tiefgaragen errichtet sowie in der Peripherie mehrere Zeilenhauser und ein Viertel mit Einfamilienhausern.
Die Grundsteinlegung des Ensembles im Kernbereich fand am 18. April 1964 statt, welcher als Grundungsdatum des Wohngebietes Rauher Kapf betrachtet wird. 1966 war der Kindergarten fertig gestellt. Eine Volksschule war geplant, konnte aber nicht verwirklicht werden. 1990 schlossen der kleine Supermarkt und der Friseur, hauptsachlich wegen der zu geringen Bevolkerung der Siedlung.
Kernstuck der Siedlung Das Herz der Siedlung ist die von Scharoun geplante Bebauung eines ei- oder tropfenformigen Grundstucks mit sechs Wohnhochhausern und dem niedrigeren Ladengebaude. Die Taunusstraße umschließt dieses Grundstuck und bildet so eine großzugige Wendeschleife als Endpunkt der Erschließungsstraße. Die Erschließungsstraße weitet sich funf Mal zu Parkplatzbuchten aus. Das nordlich angrenzende Wohngebiet mit Zeilenhausern sowie das im Suden anschließende Einfamilienhausviertel wurden zur gleichen Zeit wie die Hochhauser geplant und gebaut.
Die zur Bauzeit außergewohnliche Fernwarmeversorgung der Hochhauser durch eine Gemeinschaftsheizanlage erscheint heute (2024) zukunftsweisend. Die Heizzentrale lag unterirdisch neben und in Wohnblock A. Ein unterirdisches Rohrsystem verteilte die Warme in die jeweiligen Hauseinheiten durch einen Hausanschlussraum im jeweiligen Untergeschoss. Das Wohngebiet Rauher Kapf wurde 2022 an das Fernwarmenetz der Stadt Boblingen angeschlossen, nachdem schon 2012 ein energetisches Gesamtkonzept der Stadt erarbeitet worden war.
= Gebaude =
Die Gebaude sind entlang der Taunusstraße (mit ansteigender Hausnummer) von A bis F durchnummeriert. Scharoun plante drei Typen von Gebauden:
Im Westen steht das Ladengebaude mit Gemeinschaftsraumen und der angeschlossenen Tiefgarage.
Die Nordflanke bilden drei sechsgeschossige Wohnhauser mit je drei Wohnungen pro Geschoss. Die Blocke A und C haben im Erdgeschoss zwei Wohnungen plus Fahrradkeller und einen Gemeinschaftsraum, im 1. bis 5. OG je drei Wohnungen und im 6. OG eine Atelierwohnung (18 Wohneinheiten pro Block). Der Block B hat drei Wohnungen mehr, da sich auf vier Etagen vier Wohnungen befinden, in einem Geschoss aber nur zwei Wohnungen (21 Wohneinheiten).
Die Sudseite umfasst drei viergeschossige Wohnhauser mit je drei Wohnungen pro Geschoss (insgesamt 36 Wohneinheiten).
Die Wohngebaude sind in den drei Farben Gelb, Hellorange und Mauve gehalten. Am Ladengebaude steht ein kraftiges Terracotta-Rot in Kontrast zu Weiß und Grau. Die Wohnblocke sind der Geometrie folgend in Flachen geteilt, die jeweils in einem Farbton gestrichen sind. Ubergange sind in Weiß und Grau gehalten, ebenso wie Balkone, Deckenuntersichten, Attika und Sockelzone. Alubleche wurden an Balkonen und Attika angebracht. Scharoun berucksichtigte in seinem Fassaden-Konzept die Farbanderung durch Lichtreflexionen. Die Strukturierung der Oberflache und die Wellenform der Bleche erhohen den futuristischen Charakter der Bauten. Scharoun wechselt je nach Balkonseite zwischen geriffelter Oberflache (als Waffel-Aluminium bezeichnet) und glattem Aluminiumblech. Die Spiegelung des Lichts und die Reflexion von Farben bewirkt eine scheinbare Durchsichtigkeit der Windschutzelemente und Balkonbrustungen.
Die drei Ebenen des Ladengebaudes sind durch Außentreppen zuganglich. Innenliegende Treppenhauser befinden sich in den Nordost- und Sudostecken des Gebaudes. Im Erdgeschoss des Ladengebaudes befanden sich nordseitig der Lebensmittelladen und sudseitig Jugendraume und Spielzimmer. Im ersten Obergeschoss waren an der Nordseite zwei Wohnungen untergebracht, ein Friseursalon und eine kleine Wohnung zeigten nach Suden. Im zweiten Obergeschoss lagen eine Wohnung und ein Einzimmer-Apartment. Heute sind alle Einheiten als Wohnungen genutzt. Im Erdgeschoss befindet sich das Gemeindezentrum. Balkone ermoglichen einen großzugigen Ausblick nach Suden. Interaktionen mit Nachbarwohnungen sind aber durch die geschickte Positionierung, den halbgeschossigen Versatz in der Hohe sowie durch Sichtschutzpaneele weitestgehend unterbunden. Jede Wohneinheit besitzt somit einen geschutzten Freiraum. Vorrichtungen fur die Balkonbepflanzung erganzen das Konzept der „gestapelten Einfamilienhauser“ um den privaten Freibereich.
= Wohnungen =
Fur die sechs Wohnblocke sind die Grundrisse der Regelgeschosse nur in prinzipiellen Punkten festgelegt. Die Architekten bestimmten die Lage der tragenden Mauern und den Grobzuschnitt der Wohneinheiten. Die Raumaufteilung, optische Details sowie die Lage von Innenturen wurden mit den Besitzern abgestimmt. Darum zeigen alle Wohnungen leicht unterschiedliche Raumzuschnitte. Einige Plane sind in der Bibliothek der Akademie der Kunste, Berlin, einsehbar. Die Wohnungen auf der Sudseite liegen in den Blocken A – C ein Halbgeschoss hoher als auf der Nordseite und in den Blocken D – F ein Halbgeschoss tiefer.
Da die Treppenhauser im Zentrum der Gebaude liegen, gestaltet sich der Zugang zu den Wohnungen von den Treppenpodesten außerst platzsparend. Die Treppenhauser der kleineren Wohnblocken bilden einen rechtwinkligen Raum, der vollstandig mit den Treppenlaufen ausgefullt ist. Es sind jeweils zwei Wohnungen vom oberen und eine vom unteren Podest zuganglich. In den hoheren Blocken ist das Treppenhaus trapezformig. Der schmale Luftraum neben den Treppenlaufen verleiht dem Treppenhaus einen leichteren Raumeindruck. Hier werden i. d. R. je eine obere und eine untere Einheit von jedem Podest sowie eine Wohnung uber einen Laubengang erschlossen.
Die Wohnungen werden durch eine großzugige Diele betreten. Sie ist zentraler Punkt der Wohnung und dient als Verteiler in die Wohnraume. Die Raume liegen an drei Seiten der Diele, wobei sich die Wohnzimmer immer nach Suden orientieren und die Schlafzimmer nach Osten oder Westen. Geoffnete Dielenturen bieten Ausblicke in mehrere Himmelsrichtungen. Jeder Raum hat Fenster oder Balkonturen nur an einer einzigen Seite. Sie sind teils leicht um die Ecke gezogen oder als verglaster Einschnitt ausgefuhrt. Kuche, Bad und WC sind klein und innenliegend; die Kuchen besitzen ein Außenfenster zur Entluftung.
Die Gestaltung der Wohnungen zeigen zwei Charakteristika des Entwurfes von Scharoun:
Fur die konsequente Sudausrichtung aller Wohnzimmer wurde eine Auffacherung des Bauvolumens als Entwurfsprinzip eingesetzt. In kubischen Wohnblocks hatten nur zwei der drei Wohnungen einer Etage eine optimale Raumorientierung erhalten konnen.
Die fur Scharoun wichtige Einbettung der Gebaude in das parkahnliche Umfeld hatte eine schmalere Zeilenbauweise nicht erlaubt.
Die Balkone dienten Scharoun als wichtiges Ausdrucksmittel, die den Garten bis in die Wohnungen verlangern sollten. Alle Balkone sind nach Suden ausgerichtet. Sie stehen entweder risalitartig vor der Fassade oder betonen die Gebaudeecken durch ihre expressionistische Form. Bodenplatte, Gelander und Windschutz sind kompositorische Elemente. So hat jeder Balkon ein Gelander aus Stahlrohr mit geriffeltem Aluminiumblech als Wind- und Sichtschutz sowie integrierte Aufhangungen fur Blumenkasten. Als Bodenbelag dienen quadratische Kunststeinplatten.
= Außenanlagen =
Die Siedlung Rauher Kapf liegt in hugeliger Landschaft in einem Waldgebiet der Stadt Boblingen. Der Wald entspricht dem dichten Laubbaumbestand des Schonbuchs. Scharoun greift in seinem Konzept diese naturliche Gegebenheit auf und erganzt sie innerhalb der Ringstraße mit einzelnen Besonderheiten zu einer Wohn-Landschaft.
Einzelnachweise Weblinks
|
Das Wohngebiet Rauher Kapf ist der kleinste Stadtteil Boblingens und war als Trabantenstadt geplant. Der Architekt Hans Scharoun entwarf das Zentrum der Siedlung aus sechs Hochhausern und einem Ladengebaude. Deren architektonische Bedeutung fuhrte zur Erhebung der Siedlung zum baden-wurttembergischen Kulturdenkmal.
Die Wohnungsnot Ende der 1950er Jahre verlangte nach mehr Wohnraum. Wegen des fehlenden Baulands in der Stadt wurde die Siedlung in einem Waldgebiet außerhalb Boblingens geplant, direkt neben einem IBM-Forschungslabor. Die Erschließung des Baugebietes begann 1962, und Baubeginn war 1964. Der Siedlungsplan sah den Bau von 328 Wohnungen vor, davon 63 in Einfamilienhausern. Der originale Bebauungsplan wurde weitgehend verwirklicht. Auch sein letztes Wohnhochhaus, das Orplid-Hochhaus, verwirklichte Scharoun in Boblingen.
|
{
"url": "https://de.wikipedia.org/wiki/Rauher_Kapf"
}
|
Subsets and Splits
No community queries yet
The top public SQL queries from the community will appear here once available.